Jan Terlouw
Aus dem Niederländischen von Eva Schweikart
Urachhaus
Stockdunkel war es, als Michiel sich mit vorgestreckter Hand den befestigten Radweg entlangtastete. In der anderen Hand trug er einen Baumwollbeutel mit zwei Flaschen Milch. »Neumond und dann auch noch dicke Wolken«, brummte er vor sich hin. »Eigentlich müsste ich jetzt am Hof der van Ommens sein.« Er spähte nach rechts, aber so sehr er sich auch anstrengte, es war nichts zu erkennen.
Nächstes Mal geh ich nicht ohne die Lampe, dachte er, dann muss Erica eben zusehen, dass sie um halb acht zu Hause ist. So muss es ja schief laufen …
Er sollte recht behalten. Obwohl er langsam ging und seine Schritte vorsichtig setzte, stieß er mit dem Beutel an einen der Begrenzungspfosten des Feldweges.
Mist! Er befühlte den Stoff. Nass – eine der Flaschen war zerbrochen. Jammerschade um die gute Milch, die ihm zu allem Überfluss auch noch in die Holzpantinen tropfte.
Reichlich verärgert, aber noch vorsichtiger als zuvor ging er weiter. Menschenskind, bei dieser Dunkelheit sah man kaum die Hand vor Augen. Er war gerade mal fünfhundert Meter von zu Hause weg und kannte den Weg wie seine Westentasche, trotzdem würde er es kaum schaffen, vor acht zurück zu sein.
Plötzlich nahm er einen schwachen Lichtschein wahr. Er musste aus dem Haus der Bogaards kommen, die es mit der Verdunkelung nicht so genau nahmen. Mehr als eine brennende Kerze gab es bei ihnen ohnehin nicht zu verdunkeln.
Jetzt kamen jedenfalls bis zur Straße keine Pfosten mehr, und von dort aus würde er schneller vorankommen, weil die Häuser dichter standen und aus manchen spärliches Licht fiel.
Mit einem Mal meinte er, Schritte zu hören. Was eigentlich nicht sein konnte, denn inzwischen war es sicher schon acht, und dann durfte man sich nicht mehr im Freien aufhalten.
Michiel merkte, dass der Untergrund sich änderte: Er hatte die Straße erreicht. Jetzt nach rechts und aufpassen, dass er nicht in den Wassergraben tappte.
Wie vermutet, kam er nun zügiger voran. Er sah die schattenhaften Umrisse der Häuser. Hier wohnten die de Ruiters, da Fräulein Doeven, dort die Familie Zomer, dann kamen die Schmiede, das Gebäude des Grünen Kreuzes … gleich würde er zu Hause sein.
Plötzlich blitzte vor ihm eine elektrische Taschenlampe auf, deren Licht ihm direkt in die Augen schien. Michiel bekam einen Riesenschreck.
»Acht Uhr gewest«, sagte ein Mann in gebrochenem Niederländisch. »Ich nehm dich gefangen. Was tragst du mit dir? Hand-granaten?«
»Mach sofort die Lampe aus, Dirk«, sagte Michiel. »Bist du verrückt, mich so zu erschrecken?«
Trotz der verstellten Stimme wusste er, dass der Sohn ihrer Nachbarn vor ihm stand. Dirk Knopper war einundzwanzig, hatte eine Schwäche für dämliche Scherze und würde es notfalls sogar mit dem Teufel aufnehmen.
»Das härtet ab«, sagte er nur. »Außerdem ist es wirklich nach acht. Der erstbeste Deutsche kann dich abknallen, weil du eine Gefahr fürs Großdeutsche Reich darstellst. Heil Hitler!«
»Pssst! Schrei nicht so rum!«
»Was soll’s«, meinte Dirk leichthin. »Den Namen Hitler hören unsere Besatzer doch gern.«
Gemeinsam gingen sie weiter. Dirk schirmte mit einer Hand die Taschenlampe ab, sodass nur ein schmaler Lichtstreifen auf den Weg fiel. Michiel war heilfroh, dass er den Straßenrand jetzt deutlich sah.
»Woher hast du die elektrische Taschenlampe und vor allem die Batterie?«
»Den Moffen geklaut.«
»Das kannst du deiner Oma erzählen.«
»Stimmt aber. Bei uns sind doch zwei Offiziere einquartiert. Diese Woche hatte der eine, der Dicke, du weißt schon, einen Karton mit gut zehn solcher Lampen in seinem Zimmer stehen. Das heißt natürlich, in unserem Zimmer. Da hab ich eine geklemmt.«
»Wie? Du gehst einfach in deren Zimmer?«
»Klar, und zwar jeden Tag. Wenn sie fort sind, peil ich dort die Lage. Ich muss bloß aufpassen, dass mein Vater nichts davon mitkriegt. Der ist ein echter Hasenfuß. Wenn er wüsste, dass ich die Lampe genommen hab, würde er nachts kein Auge mehr zutun. Aber das kann er sowieso nicht, wegen Rinus de Raat. So, ich wär jetzt zu Hause. Siehst du genug?«
»Ja, ich komm schon klar. Grüß deine Eltern.«
Michiels Holzpantinen knirschten über den Kies, als er durch den Vorgarten ging. Er war froh, dass Dirk die zerbrochene Flasche nicht bemerkt hatte, bestimmt hätte er auch darüber blöde Witze gemacht.
Im Wohnzimmer verbreitete die Karbidlampe noch helles Licht, wie immer am frühen Abend, wenn Vater sie frisch aufgefüllt hatte. Wegen des penetranten Gestanks war das Füllen der Lampe eine unbeliebte Arbeit, doch wenn der Behälter erst einmal verschlossen und die Flamme am Brenner entzündet war, roch man nichts mehr. Dann gab die Lampe fast so viel Licht wie eine elektrische. Mit der Zeit wurde es jedoch schwächer, und nach halb zehn brannte nur noch ein kleines blaues Flämmchen, das gerade mal eine grobe Orientierung im Raum ermöglichte.
Michiel las gern. Tagsüber wäre es hell genug dafür, aber da hatte er keine Zeit. Und am Abend, wenn er Zeit hatte, haperte es mit dem Licht. Im Bücherschrank seines Vaters hatte er achtzehn vergilbte Bücher von Jules Verne entdeckt, die er unbedingt lesen wollte. Am frühen Abend ging das ein paar Meter von der Lampe entfernt, später konnte er die Buchstaben nur noch erkennen, wenn er sich an den Tisch setzte und das Buch direkt vor die Flamme schob. Und der Tisch war in aller Regel voll besetzt, vor allem wenn Gäste im Haus waren.
Auch heute wieder. Außer den Eltern und seinen Geschwistern Erica und Jochem saßen noch gut zehn Personen in der Stube, von denen er – abgesehen von Onkel Ben – auf den ersten Blick niemanden kannte. Seine Mutter stellte ihn reihum vor. Er begrüßte Herrn und Frau van der Heiden, die ihn, wie sie sagten, früher auf dem Schoß gehalten hatten. Das konnte durchaus stimmen, denn sie kamen aus Vlaardingen, und dort war Michiel geboren. Dann eine steinalte Dame, die sich Tante Gerdie nannte und ihm ihre runzlige Wange zum Kuss hinhielt. Von einer Tante dieses Namens hatte Michiel noch nie gehört, doch seine Mutter erklärte rasch, sie sei eine Urgroßtante von Vater und dieser habe die Gute vor zwanzig Jahren zum letzten Mal gesehen. Was »die Gute« sogleich heftig bestritt – sooo lange sei das nun auch wieder nicht her! Dazu zwei Frauen, die sich erstaunt darüber gaben, wie groß er inzwischen geworden sei, ein jovialer Mann mittleren Alters, der ihn trotz seiner kaum sechzehn Jahre mit »Bruder« anredete, und noch eine Handvoll weiterer Gäste, die ihn samt und sonders gut zu kennen schienen.
Michiel wusste, dass die Leute aus den großen Städten im Westen des Landes kamen und der Hunger sie nach Osten und Norden trieb, vor allem jetzt, zu Anfang des Winters 1944/45 im fünften Kriegsjahr. Weil keine Züge mehr fuhren, gingen sie zu Fuß, oft weit über hundert Kilometer. Mit Leiterwagen, Kinderkarren und Fahrrädern ohne Reifen auf den Felgen zogen sie die Straßen entlang. Und weil die deutschen Besatzer für abends eine Ausgangssperre verhängt hatten, war es nützlich, wenn man Bekannte hatte, die irgendwo an der Strecke wohnten. Michiels Eltern hatten bisher nicht gewusst, dass sie so viele Leute kannten oder besser gesagt: dass so viele Leute sie kannten.
Jeden Abend ab etwa sieben Uhr klingelte es immer wieder an der Haustür, und auf der Schwelle stand dann, wie beispielsweise neulich, eine unbekannte Frau, die freudig rief: »Hallo zusammen! Wie geht’s euch? Erkennt ihr mich denn nicht? Ich bin doch Miep. Miep aus Den Haag. Ich hab ja so oft an euch gedacht.« Man hätte darüber lachen können, wären die Umstände nicht so traurig gewesen. Denn Miep war, wie sich erwies, eine Frau, der Michiels Eltern ein einziges Mal bei gemeinsamen Bekannten begegnet waren. Doch angesichts der Tatsache, dass Miep unterernährt und am Ende ihre Kräfte war, nachdem sie den weiten Weg zu Fuß in zerschlissenen Turnschuhen zurückgelegt hatte, nur um in Overijssel ein paar Kilo Kartoffeln für ihre Enkelkinder zu ergattern, gab Michiels Mutter sich gastfreundlich, bat die erschöpfte Frau ins Haus, stellte ihr einen Teller Erbsensuppe hin und bot ihr ein Bett oder zumindest eine Matratze auf dem Boden als Nachtlager.
Als Michiel die Runde gemacht hatte, griff er nach der Kneifkatze und ging in die Küche. Seine Mutter folgte ihm.
»Ich hab eine Flasche zerbrochen, Mutter. Tut mir leid.«
»Du liebe Güte, auch das noch! Konntest du nicht besser aufpassen?«
Michiel ließ den Hebel der Taschenlampe los, mit dem man sie zum Leuchten brachte, und schob das Verdunkelungsrollo ein Stück hoch.
Tintenschwarze Dunkelheit.
»Der Mond scheint nicht, und ich hatte die Kneifkatze nicht mit«, erklärte er, ließ das Rollo wieder fallen und begann, den Hebel zu drücken, damit sie einigermaßen sehen konnten.
Mutter strich ihm übers Haar, weil ihr die Rüge bereits leid tat. Er arbeitet wie ein erwachsener Mann, dachte sie, und geht mutterseelenallein durch die Dunkelheit, um Milch zu holen, was ich selbst mich nicht trauen würde, und dann mache ich ihm auch noch Vorwürfe …
»War nicht böse gemeint, Michiel«, sagte sie. »Du kannst ja nichts dafür. Es ist mir so rausgerutscht, weil ich an die vielen Leute da in der Stube gedacht habe, die Kaffee trinken wollen.« Richtigen Kaffee gab es schon lange nicht mehr. Auf den Tisch kam eine braune Ersatzbrühe, an der die warme Milch noch das Beste war.
»Noch mal gehen kann ich nicht, es ist schon nach acht«, sagte Michiel. »Wenn du mir eben leuchtest, hol ich die Scherben aus der Tasche.«
»Lass nur, das hat bis morgen Zeit. Gib mir einfach die andere Flasche. Wie ist es denn passiert?«
»Ich bin an einen Pfosten gestoßen, nicht weit von van Ommens Hof. Soll ich die Milch in den Topf gießen?«
»Ich mach das schon.«
Wenige Minuten später standen sie wieder in der Wohnstube, wo Mutter die Milch auf dem eisernen Kohleofen erwärmte. Er wurde mit Holzscheiten beheizt, denn Kohlen gab es nicht mehr.
Beim Kaffeetrinken erzählten die Gäste, wie es in den Städten zuging. Hunger, Kälte und die Angst vor Verhaftungen bestimmten dort das Dasein. Es fehlte an allem, und dazu kam die allgemeine Unsicherheit: Fast jeder hatte einen Bekannten oder Verwandten, der untergetaucht lebte oder in ein Konzentrationslager verschleppt oder durch die Bombardierungen obdachlos geworden war. Man spekulierte, wie lange der Krieg wohl noch dauern würde, freute sich über das Vorrücken der amerikanischen Truppen unter General Patton an der Westfront und tauschte sich über die Verluste der Deutschen im Osten aus.
Unweigerlich folgten Witzeleien über den Krieg. Anton Mussert, der Führer des NSB, der nationalsozialistischen Partei in den Niederlanden, sei – so hieß es – mit seiner eigenen Tante verheiratet. Herr van der Heiden wusste von einem Kinobesuch zu erzählen, bei dem Mussert in der Wochenschau zu sehen war. Jemand ganz vorn im Saal habe »Anton!« gerufen, und daraufhin habe ein anderer weiter hinten mit hoher Stimme »Ja, Tante?« geantwortet. Solche Geschichten munterten die Runde ein wenig auf, und Onkel Ben fragte: »Habt ihr schon gehört, dass Göring, Goebbels und Hitler gewettet haben, wer es am längsten in einem Iltisbau aushält? Nein? Dann hört zu. Göring macht mutig den Anfang. Nach einer Viertelstunde kommt er grün im Gesicht wieder heraus. Nach ihm ist Goebbels an der Reihe. Er hält es eine halbe Stunde aus. Schließlich kriecht Hitler hinein. Fünf Minuten später flüchtet der Iltis aus dem Bau.« Alle lachten und genossen es, dass die Anspannung für kurze Zeit von ihnen abfiel.
Die Karbidlampe war inzwischen kurz vor dem Erlöschen. Mit brennenden Kerzenstümpfen suchten alle ihre Betten oder Matratzen auf. Michiel sah noch rasch nach, ob genügend Anmachholz für den nächsten Morgen bereitlag.
Weil keine Kerze mehr übrig war und seine Mutter die Taschenlampe an sich genommen hatte, tastete er sich die Treppe hinauf in sein Dachbodenzimmer, zog sich im Dunkeln aus und schlüpfte ins Bett.
In der Ferne war das Brummen eines Flugzeugmotors zu hören.
»Rinus de Raat«, murmelte Michiel. »Hoffentlich kommt er nicht hierher …« Dann schlief er ein und bekam nichts mehr mit von der tausendsechshundertelften Nacht der deutschen Besatzung.
Als am 10. Mai 1940 deutsche Truppen auf Befehl des Führers Adolf Hitler in den Niederlanden und in Belgien einfielen, war Michiel van Beusekom elf Jahre alt und lauschte den aufgeregten Radiomeldungen von Fallschirmjägern »über Ypenburg, wiederhole Ypenburg« und »Waalhaven, wiederhole Waalhaven«. Den ganzen Tag waren damals verwegen aussehende niederländische Soldaten zu Pferd durchs Dorf gezogen und hatten den Mädchen Scherzworte zugerufen. Michiel war zu dem Schluss gekommen, der Krieg müsse eine spannende Sache sein, und hoffte, dass er recht lange dauern würde.
Die ersten Zweifel stellten sich bereits nach fünf Tagen ein, als das niederländische Heer den ungleichen Kampf aufgab. Vater wurde bleich, als er die Meldung im Radio hörte, und Mutter weinte.
Für viele Familien im Dorf begann nun die Sorge um ihre Söhne, die bei den Soldaten waren. Vierzehn insgesamt. Von acht kam schon bald Nachricht, sie seien unversehrt, von drei weiteren vernahm man ein paar Tage später das Gleiche. Aber von den drei übrigen hörte man nichts. Es waren Gerrit, der Sohn des Bäckers, Hendrik Bosser, ein Bauernjunge, und der Sohn des Gärtners, der wegen seines weißblonden Haarschopfs von allen »Weißer Maas« gerufen wurde. Michiel hatte lange auf der umgedrehten Schubkarre von Maas’ Vater gesessen und zugesehen, wie er bei ihnen im Garten arbeitete. Kein Wort war ihm über die Lippen gekommen, er war seiner Arbeit nachgegangen wie immer. Auch eine Woche später, nachdem Gerrit und Hendrik wieder da waren. Gerrit war in Gefangenschaft gewesen. Grinsend erzählte er, ein deutscher Offizier habe verdutzt auf die Sommersprossen gedeutet, die sein Gesicht über und über bedeckten. »Das sind die rostigen Enden meiner Stahlnerven«, habe er dem Mann erklärt und dabei eine Miene gemacht, als wäre der Krieg noch lange nicht verloren. Hendrik Bosser hatte schlichtweg vergessen, nach Hause zu schreiben. Der Weiße Maas aber lag auf dem Ehrenfriedhof Grebbeberg bei Rhenen. Sein Vater jätete auch danach im Garten von Michiels Eltern und sagte kein Wort.
Schon damals, kurz nach dem 10. Mai 1940, war Michiel klar geworden, dass sein Wunsch dumm gewesen war und der Krieg besser heute als morgen zu Ende ginge. Aber das wiederum war ein frommer Wusch. Vier Jahre und fünf Monate dauerte er inzwischen und war immer schlimmer geworden.
Im Juni 1944 waren die Amerikaner und die Engländer in Frankreich gelandet und nun dabei, die Deutschen zurückzudrängen. Sie hatten bereits den Süden der Niederlande befreit, aber noch nicht die Nordprovinzen jenseits der großen Flüsse. Im September hatten sie einen Vorstoß gewagt, doch bei der Schlacht von Arnheim hatten die Deutschen gesiegt.
Und nun stand wieder ein Winter vor der Tür. Ein rabenschwarzer Winter. Die deutschen Besatzer, die allmählich ihre Felle davonschwimmen sahen, hausten wie noch nie. Sie beschlagnahmten alles Essbare, um es nach Deutschland zu bringen, sodass vor allem die Bewohner der großen Städte hungerten. Den Luftraum beherrschten mittlerweile amerikanische und englische Jagdflugzeuge, die sämtliche Transportmittel beschossen, sodass die Deutschen gezwungen waren, ihre Transporte im Schutz der Nacht vorzunehmen.
Das Dorf de Vlank, dessen Bürgermeister Michiels Vater war, lag am Nordrand der Veluwe, nicht weit von der Stadt Zwolle. Zwischen Zwolle und de Vlank aber floss die Ijssel, und darüber führten zwei Brücken, eine für Autos und eine zweite für die Eisenbahn. Die Alliierten setzten alles daran, möglichst viele Brücken zu zerstören, um den Deutschen die Transportwege abzuschneiden.
Die Brücken eigneten sich außerdem gut als Kontrollpunkte. Soldaten hielten dort junge Männer an, um sie zum Arbeitseinsatz in deutsche Rüstungsfabriken zu schicken, und verhafteten Leute, die ohne gültigen Ausweis unterwegs waren.
Aus diesem Grund erkundigten sich viele Durchreisende in de Vlank, zu welchen Zeiten man die Autobrücke sicher passieren konnte und wie scharf dort kontrolliert wurde. Der Bürgermeister hatte den Ruf, kein Freund der Deutschen zu sein, weshalb sich jeden Abend zahlreiche Übernachtungsgäste bei den van Beusekoms einfanden.
Am Morgen nach dem Missgeschick mit der Milchflasche stand Michiel früh auf. Zu seiner Verwunderung war Onkel Ben bereits dabei, den Ofen anzuheizen. Michiel und seine Geschwister nannten ihn so, obwohl er nicht mit ihnen verwandt war. Er kam aber oft und blieb meist ein paar Tage. Jeder andere wäre auf Dauer als lästiger Esser betrachtet worden, Onkel Ben jedoch brachte immer etwas mit, diesmal fünfzig Gramm Tee für Mutter und eine Zigarre für Vater.
»Guten Morgen, Onkel Ben.«
»Michiel, du kommst wie gerufen. Ich muss heute zusehen, dass ich einen halben oder noch besser einen ganzen Zentner Kartoffeln auftreibe. Was meinst du, wo gehe ich da am besten hin?«
»Vielleicht zu Bauer van de Bos. Der wohnt ziemlich abgelegen, eine gute halbe Stunde mit dem Rad von hier. Dort kommen nicht viele Leute hin. Soll ich dich begleiten?«
»Gern.«
Allmählich wurde es wohlig warm in der Stube. Der Ofen bullerte und fauchte. Das feuchte Holz, das sie immer zum Heizen verwendeten, konnte so gut nicht brennen. Michiel öffnete den Deckel der alten Eichenkiste. Leer. Onkel Ben hatte doch glatt alles Anmachholz in den Ofen gesteckt!
»Du hast die ganzen Verzweiflungsscheite verbraucht!«, sagte Michiel vorwurfsvoll.
»Die was?«
»Die Verzweiflungsscheite.«
»Was soll das sein?«
»Die dünnen, trockenen Scheite zum Anfeuern aus der Kiste. Weißt du, manchmal ist Mutter am Verzweifeln, zum Beispiel, wenn der Herd ausgeht, bevor sie das Essen fertig hat. Nur dann nimmt sie das Holz aus dieser Kiste. Vater und ich spalten es abwechselnd und lagern es hinterm Ofen, bis es knochentrocken ist.«
Onkel Ben machte eine schuldbewusste Miene. »Ich sorge höchstpersönlich dafür, dass die Kiste wieder voll wird«, versprach er.
Das wird dich eine gute Stunde kosten, dachte Michiel, sagte aber nichts. Er nickte nur und bot auch nicht an, es selbst zu erledigen, denn wer mit dem Anmachholz sinnlos umging, der musste eben dafür geradestehen.
Nach und nach erschienen auch die Übernachtungsgäste. Frau van Beusekom setzte jedem zwei Scheiben Brot und einen Teller Milchbrei vor. Nach dem Frühstück bedankten sie sich und brachen auf; manche nach Norden, wo sie hofften, einen Zentner Roggen oder einen Sack Kartoffeln kaufen zu können, andere nach Westen, nach Hause, wo ihre Angehörigen mit aufgeblähten Hungerbäuchen auf sie warteten.
Nachdem auch die Familie gefrühstückt hatte, fragte Onkel Ben, ob Michiel ihn nun zu Bauer van de Bos begleiten wolle. Michiel warf einen vielsagenden Blick auf die leere Holzkiste und meinte dann, er müsse erst bei Wessels vorbei, dem er ein paar Kaninchen versprochen habe.
Onkel Ben schickte sich drein, suchte ein Beil und ging zum Hackklotz hinter dem Schuppen.
Michiel fütterte erst seine dreißig Kaninchen, wählte dann drei aus, wog sie und machte sich auf den Weg zu Wessels, fest entschlossen, mindestens fünfzehn Gulden zu verlangen.
Zur Schule ging er schon seit Monaten nicht mehr. Offiziell war er in die zehnte Gymnasiumsklasse versetzt worden, aber inzwischen kam man nicht mehr ohne Weiteres nach Zwolle. Am ersten Schultag nach den Sommerferien hatte er, wie üblich, den Zug genommen. Aber schon bei Vlankenerbroek hatte ein englisches Jagdflugzeug über dem Zug gekreist, sodass dieser anhielt und alle Mitfahrenden auf die Felder hinausliefen, um sich in Sicherheit zu bringen.
Kaum waren sie weit genug entfernt, flog der Pilot ein paar Mal niedrig über die Lokomotive hinweg und legte sie mit Maschinengewehrsalven lahm.
Danach war es aus gewesen mit den Fahrten nach Zwolle. Und das Rad konnte Michiel nicht nehmen, weil es keine Fahrradschläuche mehr gab und die Strecke anders nicht zu bewältigen war. Außerdem hielten seine Eltern den Schulweg inzwischen für zu gefährlich und meldeten ihn deshalb vorübergehend ab. Ansonsten trafen sie kaum noch Entscheidungen für ihren Sohn, der durch die harten Kriegszeiten schnell selbstständig geworden war. Tagsüber war Michiel jetzt oft unterwegs, arbeitete bei den Bauern und brachte abends Butter, Eier und Speck mit. Dazu handelte er mit Kaninchen und reparierte für Vorüberziehende kaputte Schubkarren und Leiterwagen.
Von einigen Dorfbewohnern wusste er, dass sie Juden beherbergten, er wusste auch, in welchen Familien man illegale Radio-sender hörte und dass Dirk sich dem Widerstand angeschlossen hatte. Michiel behielt all diese Dinge für sich, weil er vom Wesen her verschlossen war und keinerlei Bedürfnis verspürte auszuplaudern, was ihm so zu Ohren kam.
Als er mit siebzehn Gulden in der Tasche von Wessels zurückkam, traf er am Gartenzaun Dirk.
»Moin.«
»Ich muss mir dir reden«, sagte Dirk. »Unter vier Augen.«
»Komm mit in den Schuppen. Was gibt’s denn?«
Aber Dirk schwieg, bis sie im Schuppen waren.
»Kann uns auch niemand hören?«, fragte er.
»Hier ist kein Mensch, sprich dich ruhig aus. Außerdem kannst du jedem von uns trauen. Also, worum geht’s?« »
Schwör mir, dass du keinem was sagst.« Dirk machte eine ungewohnt ernste Miene.
»Ehre schwöre«, sagte Michiel.
»Heute Abend überfallen wir zu dritt die Zuteilungsstelle in Lagezande«, sagte Dirk leise.
Michiel wurde mulmig bei der Vorstellung. Er fragte sich, weshalb Dirk ihn in diesen gefährlichen Plan einweihte, ließ sich aber nichts anmerken.
»Und warum?«, fragte er nur.
»Weil sich hier in der Gegend viele Untertaucher aufhalten, die keine Marken für Brot, Zucker, Kleidung, Tabak und so bekommen.«
»Verstehe.«
»Gut«, sagte Dirk. »Wir überfallen also die Zuteilungsstelle, nehmen sämtliche Marken mit und verteilen sie an diejenigen, die Leute bei sich versteckt haben.«
»Und wie wollt ihr den Tresor aufkriegen?«
»Ich schätze mal, dass van Willigenburg den brav für uns aufschließt.«
»Wer ist das?«
»Der Amtsvorsteher. Der Mann ist in Ordnung. Ich weiß, dass er heute Überstunden schiebt, also gehen wir hin und fordern die Marken. Ich glaub kaum, dass er Schwierigkeiten macht.«
»Wer sind die beiden anderen?«
»Geht dich nichts an.«
Michiel grinste. Dirk tat natürlich gut daran, keine Namen zu nennen. »Und warum erzählst du mir das alles?«, fragte er.
»Weil ich hier einen Brief habe, der zu Bertus van Gelder muss, wenn irgendwas schiefläuft. Machst du das?«
»Bertus Schwerhörig? Ist der etwa auch beim Widerstand?«
»Frag nicht so viel. Gib ihm den Brief und damit hat sich’s. Klar?«
»Ja. Aber es wird doch wohl nichts schieflaufen, oder?«
»Vermutlich nicht, aber wissen kann man’s nie. Hast du ein sicheres Versteck für den Brief?«
»Ja, gib nur her.«
Dirk zog einen Umschlag unter seinem Pullover hervor. Er war zugeklebt und trug keine Aufschrift.
»Wo versteckst du ihn?«
»Geht dich nichts an.«
Jetzt musste Dirk grinsen. »Morgen komm ich und hol ihn wieder«, sagte er.
»Okay. Lass dich nicht erwischen.«
»Ach was. Und du passt gut auf den Brief auf, ja? Tschau.« Pfeifend verließ Dirk den Schuppen.
Michiel öffnete die Tür zum Hühnerstall und ging zu den Legenestern. Er nahm das Stroh aus dem vierten Nest von rechts, hob das Bodenbrett an und schob den Brief darunter. Dann versetzte er alles wieder in den vorherigen Zustand.
Den Brief findet kein Mensch, dachte er, als er in sein Dachbodenzimmer ging. Dort schrieb er mit Bleistift 4R auf die obere Bettlade: viertes Nest von rechts. Er würde es zwar nicht vergessen, aber sicher war sicher.
So, das war erledigt. Was nun? Ach ja, sie wollten doch zu Bauer van de Bos.
Michiel ging nach unten. Am Fuß der Treppe traf er Onkel Ben, der gerade einen Armvoll Anmachscheite in die Stube trug und mit schelmischer Miene fragte: »Na, ist der Chef mit mir zufrieden?«
»Erstklassige Arbeit«, lobte Michiel. »Wollen wir los? Vielleicht kannst du dir Vaters Rad leihen.«
»Hab ihn schon gefragt«, sagte Onkel Ben. »Das geht in Ordnung. Wie steht’s mit deinem Drahtesel, fährt er noch?«
»Auf einem Vollgummi- und einem Holzreifen«, sagte Michiel munter. »Das holpert zwar ordentlich, aber ich bin inzwischen dran gewöhnt.«
»Sehr gut. Dann also Abmarsch.«
Unterwegs erzählte Onkel Ben von seiner Widerstandsgruppe in Utrecht.
»Wir organisieren hauptsächlich Fluchtwege«, sagte er.
»Flucht aus dem Gefängnis? Geht so was denn?«
»Nein, nicht aus dem Gefängnis, auch wenn das durchaus drin ist. Ich meine Fluchtwege ins Ausland. Es werden immer wieder englische oder amerikanische Flugzeuge abgeschossen. Wenn die Piloten überleben, verstecken sie sich und suchen dann Kontakt mit dem Widerstand. Und wir bemühen uns, sie außer Landes zu schleusen. Entweder nachts per Schiff oder auf dem Landweg über Spanien.«
Ein niedrig über sie hinwegrasendes Flugzeug unterbrach Onkel Ben. Dann fuhr er fort: »Es gibt auch Widerständler, die deutsche Soldaten erschießen. So was finde ich absolut unverantwortlich, weil es meist zur Folge hat, dass die Moffen will-kürlich irgendwelche Leute als Geiseln nehmen und sie kurzerhand abknallen.«
Michiel nickte. Auf diese Weise war erst vor Kurzem ein Amtskollege seines Vaters in einer Nachbargemeinde zu Tode gekommen. »Klappt das denn immer mit dem Rausschleusen?«, fragte er.
»Leider nicht. Manche werden unterwegs gefasst und kommen dann in Kriegsgefangenenlager. Und wenn ein Niederländer dabei ist, stellen sie den unweigerlich an die Wand. Natürlich erst, nachdem sie sämtliche Kontakte aus ihm rausgeprügelt haben. Deshalb gehen wir das Ganze so an, dass die beteiligten Fluchthelfer möglichst wenig voneinander wissen.«
»Und du bist einer davon.«
»Nicht direkt. Ich besorge lediglich gefälschte Papiere. Die fertigen ein paar Untertaucher für mich an, die darin so gut sind, dass sie nach dem Krieg große Karrieren als Fälscher machen und steinreich werden könnten.« Onkel Ben lachte.
Es war nicht ganz einfach, sich über das Rattern von Michiels Holzreifen hinweg zu unterhalten. Außerdem mussten sie nun rechts abbiegen und konnten auf dem schmaleren Radweg nicht mehr nebeneinander fahren. Weil Michiel den Weg kannte, fuhr er voran.
Bauer van de Bos fand sich bereit, Onkel Ben einen halben Sack Kartoffeln zu geben. Eigentlich war es strengstens verboten, Getreide und Ähnliches zu verkaufen, denn die Bauern mussten ihre gesamte Ernte beim Bauernbund abliefern, der wiederum den Deutschen unterstand. Van de Bos musterte Onkel Ben denn auch argwöhnisch, doch weil er in Begleitung des Sohns ihres integren und allseits beliebten Bürgermeisters gekommen war, zögerte er nicht lange und nahm auch nur zwanzig Cent pro Kilo.
»Hochanständige Leute, die hiesigen Bauern«, meinte Onkel Ben auf dem Rückweg. »
Ja, jetzt sind sie gut genug«, sagte Michiel. »Aber vor dem Krieg habt ihr Städter sie ›dämliche Mistbauern‹ und was weiß ich noch genannt.«
»Ich nicht. Vor Bauern hab ich seit jeher große Achtung.«
Der weitere Tag verlief ruhig. Einmal hörte man Schüsse in der Ferne, Richtung Ijssel, aber das war man inzwischen so gewohnt, dass niemand mehr wirklich darauf achtete.
Michiel fütterte die Hühner und seine Kaninchen, trug für seinen Vater einen Brief zu einem Gemeinderat, weil das Telefon außer Betrieb war, und half einem vorbeiziehenden Mann, dessen Karre voller Kartoffeln zusammengebrochen war. Kurzum, er machte sich nützlich und wünschte sich dabei jedes Mal, wenn er an Dirks Vorhaben dachte, es wäre schon morgen. An sich konnte ja nicht viel passieren, denn solche Überfälle kamen öfter vor, aber trotzdem …
Am Abend füllte sich das Haus wie immer mit Fremden, die sich als alte Bekannte ausgaben. Zwischen neun und zehn hörte man das anhaltende Dröhnen von Flugzeugen: amerikanische Bomber, die auf dem Weg nach Deutschland waren.
»Das kostet wieder viele Zivilisten das Leben«, seufzte Frau van Beusekom.
Ihr Mann sowie Michiel und Erica dachten anders darüber. »Selber schuld«, sagte der Bürgermeister laut. »Sie haben mit dem grässlichen Krieg angefangen und als Erste offene Städte wie Warschau und Rotterdam bombardiert. Das ist nun der Preis.«
»Aber das kleine Mädchen in Bremen, das nachher vielleicht einen Bombensplitter ins Bein bekommt, kann doch nichts dazu«, wandte Frau van Beusekom ein. »Der Krieg ist so grausam …«
Mittlerweile war das Dröhnen verklungen, und die Karbidlampe gab allmählich den Geist auf.
Michiel ging ins Freie und spähte zum Nachbarhaus hinüber.
Nichts zu sehen, nichts zu hören. Bestimmt ist Dirk längst wieder zurück, sagte er sich zur Beruhigung.
Er wollte gerade wieder hineingehen, als er ein Auto kommen hörte. Instinktiv presste er sich an die Hauswand.
Das Auto fuhr nicht schnell, weil die abgeklebten Scheinwerfer nur einen schmalen Streifen Licht warfen.
Zu Michiels Schrecken hielt es vor dem Haus der Knoppers.
Eine Taschenlampe flammte auf.
Michiel presste sich noch fester an die Wand.
Den Schritten nach zu urteilen, gingen mehrere Männer durch den Vorgarten. Sekunden später wurde Sturm geklingelt und gegen die Tür getreten.
»Aufmachen!«
Offenbar kam Dirks Vater dem Befehl sofort nach, denn Michiel hörte ihn mit unsicherer Stimme etwas sagen, dann folgten barsche Worte auf Deutsch. Schließlich betraten die Männer das Haus, und es wurde still.
Mist nochmal, es ist schiefgelaufen, dachte Michiel. Sie haben Dirk geschnappt oder wissen zumindest, dass er an dem Überfall beteiligt war. Das Herz schlug ihm bis zum Hals.