Markus Fein: Im Sog der Klänge
Gespräche mit dem Komponisten Jörg Widmann

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Bestellnummer SDP 89

ISBN 978-3-7957-8637-3

© 2015 Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz

Alle Rechte vorbehalten

Als Printausgabe erschienen unter der Bestellnummer NZ 5010

© 2005 Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz

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Diese Publikation entstand anlässlich der 60. Sommerlichen Musiktage
Hitzacker 2005, die ihr Komponistenporträt Jörg Widmann gewidmet haben.

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Mit Unterstützung der ZEIT-Stiftung, der Pro Musica Viva –
Maria Strecker Daelen Stiftung und der Forberg-Schneider-Stiftung

Umschlag: HJ Kropp unter Verwendung
eines Fotos von Christopher Peter (Cover)

© Logo der Sommerlichen Musiktage Hitzacker: Proobjekt

Markus Fein

Im Sog der Klänge

Gespräche mit dem Komponisten Jörg Widmann

Einleitung

Die vorliegende Publikation entwirft in Form von Gesprächen das Porträt eines Komponisten und Interpreten, auf den die Fachwelt bereits seit längerem blickt: Jörg Widmann. Sie ist zugleich der Versuch einer Standortbestimmung: An welchem Punkt seiner künstlerischen Entwicklung sich der Komponist heute sieht, welche charakteristischen Eigenschaften seine musikalische Sprache prägen, auf welchen Grundideen seine musikalische Poetik beruht, sind zentrale Themen der Gespräche. Sie vermitteln das Bild einer Künstlerpersönlichkeit, die vielfache Anerkennung erfahren hat: zahlreiche Förderpreise sowie Kompositionsaufträge von international renommierten Orchestern und Musikfestivals sind hierfür Beleg. Mit dem frühen Erfolg geht für einen jungen Künstler freilich die Gefahr der vorschnellen Etablierung einher. Doch die Sicherheit solch vermeintlich geklärter Verhältnisse ist Jörg Widmanns Sache nicht; 1973 in München geboren, ist er sich bis heute als wandlungsfähiger, facettenreicher und stets neugieriger Komponist treu geblieben. Die hier dokumentierten Gespräche sind deswegen auch weit von einer Rückschau entfernt – sie bewegen sich im Ideenfluss seiner gegenwärtigen Gedanken. Seinen künstlerischen Werdegang von hier aus weiterzuverfolgen, verspricht eine interessante Unternehmung zu sein.

Wie Heinz Holliger, Vinko Globokar oder Mike Svoboda verfügt Jörg Widmann über jene seltene Doppelbegabung, die eine künstlerische Entfaltung als Instrumentalist und Komponist ermöglicht. Auch bei ihm kann man nur schwer das eine vom anderen trennen; fraglos empfängt der Komponist Widmann zahlreiche Impulse durch den Klarinettisten – und vice versa. In den Gesprächen, die das Augenmerk auf seine kompositorische Seite richten, ist deshalb immer wieder auch von den Erfahrungen des Instrumentalisten Widmann die Rede. Beide Betätigungsfelder Jörg Widmanns haben eine gemeinsame Grundierung: sein Musikdenken. Dennoch ergeben sich für beide künstlerischen Äußerungsformen jeweils ganz eigene Fragestellungen, deren Antworten in den vorliegenden Gesprächen entwickelt werden.

Wer der Musik Jörg Widmanns zum ersten Mal begegnet, ist von ihrer Unmittelbarkeit und Intensität überrascht. Die Musik stürzt nicht selten wie ein Katarakt auf den Hörer ein, sie ist maßlos in ihrer überschäumenden Virtuosität oder in ihrer unendlichen Traurigkeit. Jörg Widmann zählt zu den Grenzgängern unter den zeitgenössischen Komponisten. Er bewegt sich in seinen Werken in Randbezirken und versucht dabei oftmals den dialektischen Brückenschlag zwischen den Extremen. Von entscheidender Bedeutung sind deshalb die «Bruchlinien», entlang derer seine kompositorische Suche stattfindet. Im 1998 komponierten Nachtstück beispielsweise wird die Musik durch zwölf Glockenschläge im tiefen Klavierregister «geerdet», während sich Cello und Klarinette allmählich in extreme Höhen schrauben – es ist, als würde der Klangraum weit aufgerissen. In der dritten Etude für Violine solo schafft Widmann die Illusion einer sich unendlich nach oben katapultierenden Drehfigur. Immer wieder begegnet man in seinen Stücken solchen an Randlagen gedrängten Klangtexturen. Zugleich üben die Kulminationspunkte, die meist das formale Gerüst seiner Werke bestimmen und auf die Jörg Widmann seine Musik zutreibt, eine unentrinnbare Sogwirkung auf den Hörer aus. In den vorliegenden Gesprächen gibt der Komponist wiederholt Einblick in diese zentralen Gestaltungsverfahren seiner musikalischen Poetik. Widmann plant die Prozessform solcher «katastrophischen» Entladungen mit großer Subtilität; er durchzieht das Werk mit subkutanen Schichten, deutet an, antizipiert oder legt einen Keim, der sich erst im Stückverlauf auswächst. Wird etwa die in extremer Länge ausformulierte Einstimmigkeit in Chor für Orchester aus dem Jahr 2004 endlich in den erwarteten und anvisierten vielstimmigen Orchesterklang überführt, ereignet sich, was Widmann von der Kunst im Allgemeinen erwartet: das Eröffnen neuer Bewusstseinsräume. Der utopistische Anspruch seines Musikverständnisses ist ganz auf solche Momente ausgerichtet, die neue Hörerfahrungen ermöglichen.

Wenn hier von der behutsamen Andeutung oder der krisenhaften Zuspitzung auf solche Kulminationspunkte die Rede ist, wird damit ein weiteres Charakteristikum seiner Musik berührt: Das Musikdenken von Jörg Widmann ist in hohem Maße von einem dramatischen Empfinden geprägt. Blickt man auf die Vita des Komponisten, fällt einem das rege Interesse an Formen des Musiktheaters sofort auf. Noch als Schüler legte er 1990 mit Absences sein erstes Werk für das Musiktheater vor; in den Folgejahren empfing er als Theaterkomponist für die Münchner Kammerspiele weitere Impulse für seine musikdramatische Arbeit. Über Kammeropern und kleine musikalische Szenen bahnte sich Widmann schließlich den Weg zu der rund zweieinhalbstündigen Oper Das Gesicht im Spiegel, einem Auftragswerk der Münchner Opernfestspiele, das er 2003 schuf.

In den Gesprächen mit Widmann wird deutlich, in welch hohem Maße sein musiktheatralisches Denken auch auf andere Gattungen übergreift. Der Erzählgestus seiner Musik, ihre Tendenz zur Zuspitzung rühren daher. Auch das Formempfinden – etwa verkürzte Schlussteile nach einer langen Phase der Klimax – dürfte sich aus dieser Vorliebe für das dramatische Format speisen. Der Leser wird ferner beobachten können, dass einzelne Werke durchaus im Sinne eines imaginären Theaters zu verstehen sind; Stücken wie dem als Jagdquartett betitelten dritten Streichquartett liegen Plots zugrunde; die frühe Fantasie für Klarinette und der Arlecchino Rabbioso für selbstspielende Jahrmarktsorgel haben konkrete Vorbilder in der Commedia dell’Arte.

Trotz dieser offenkundigen Bezüge zum Musiktheater würde man fehlgehen, in Beschreibungen äußerlicher Szenen den Kern von Widmanns dramatischer Musikauffassung zu sehen. «Dramatisch» ist seine Musik im Inneren. Aus dieser Spannungslage speisen sich die Energie und Gerichtetheit seiner Stücke. In Werken wie der Fieberphantasie ist das musikalische Material selbst in steter Unruhe. Es ist eine aufflackernde Musik, die auf das Stückende zurast; selbst dort, wo sie scheinbar ruhig dahinströmt, droht sie auszubrechen. Dieses nervöse Drängen zeichnet etliche Kompositionen Widmanns aus – es ist auch das, was der Komponist an vielen Werken Robert Schumanns bewundert. In der Fieberphantasie ist das energiegeladene Treiben eine Hommage an den «leidenschaftlichen Ausdruck» der Musik des großen Vorgängers: Sie zitiert den Themenkopf aus Schumanns erster Violinsonate.

Schumann ist über diese Komposition hinaus eine wichtige Bezugsperson. Dabei ist Widmanns ästhetisches Interesse nicht auf die «blaue Blume», sondern auf die «schwarze» Seite der Romantik gerichtet – eine Deutung, mit der er dem Romantik-Verständnis des Expressionismus nahe steht. Hermann Bahr (1863-1934), der Vordenker der Wiener Moderne, hat das künstlerische Selbstverständnis der damaligen Jahrhundertwende mit dem Begriff der «Décadence» wie folgt umschrieben: Sie, so Bahr, «sucht wieder den inneren Menschen, wie damals die Romantik. Aber es ist nicht der Geist, nicht das Gefühl, es sind die Nerven, welche sie ausdrücken will. Und sie entdeckt nervöse Künste, welche die Väter nicht kannten.»

Der Musikbetrieb ist schnell darin, Komponisten ein Etikett anzuheften. Jörg Widmann ist es da nicht anders ergangen. Als die Musikwelt durch Aufführungen seiner Werke in Donaueschingen oder bei den Salzburger Festspielen auf ihn aufmerksam wurde, klassifizierte das Feuilleton den Komponisten umgehend als «Ausdrucksmusiker». Wie so oft, so enthält die schlagwortartige Charakterisierung auch im Falle Widmanns einen wahren Kern. Als Musiker-Komponist hält Widmann am Ausdrucksgehalt der Musik fest. Wie kurz andererseits solche Etikettierungen greifen, zeigen die hier veröffentlichen Gespräche mit dem Komponisten. Wer ihnen folgt – und erst recht, wer sich hörend Einblick in sein Werk verschafft –, wird erfahren, dass Widmann eine Musik mit vielen Gesichtern komponiert. Die ausdrucksstarke, nicht selten nervöse Geste ist nur eine Seite seiner Musik. Der Katalog seiner Werke enthält auch Geräuschkompositionen und experimentelle Installationen; die Hallstudie ist hierfür ein Beispiel. Das zweite Streichquartett beschreibt einen hermetisch abgeschlossenen Raum der Introspektion. In der neunten Szene seiner Oper Das Gesicht im Spiegel, im ersten Streichquartett oder im bereits erwähnten Nachtstück spricht aus seiner Musik – dies eine weitere Facette – die Vorliebe für den sanft changierenden Klang. Die Töne verwandeln sich unmerklich in einem mäandernden Klangfluss – ohne dass der Hörer die Quelle der Veränderung aufspüren kann. Woher, von welchen Instrumenten der Klang kommt, ist vielfach eine vom Komponisten bewusst offen gelassene Frage. Neben diesem Interesse für den instabilen Klang ist bei Jörg Widmann ein Nachdenken über die Mechanismen der Wahrnehmung zu beobachten. Mit den Mitteln der Instrumentation und der Kontextualisierung versucht er oftmals, die Klangerfahrung illusionär zu täuschen: Was tonal in der Partitur geschrieben steht, kann dem Hörer als vermeintlich «atonal» entgegentreten. Die Ausdifferenzierung in ein Außenund ein Innenleben der Klänge gehört zu den faszinierenden Aspekten von Widmanns Musikdenken. Sie zielt darauf ab, dem Vertrauten neue Klangpotenziale zugänglich zu machen.

Immer wieder setzt Jörg Widmann seine Kompositionen in ein spannungsreiches Beziehungsfeld: Wie an Reibeflächen entzündet sich die Musik in ihrer geräuschhaften und tonalen, in ihrer brutalen und lyrischen Dimension. Das gilt auch für den Entstehungsprozess der Werke: Sein Komponieren entfaltet sich im Gegenüber und Ineinander von Ausdruck und Konstruktion. Diese Dialektik von strenger Formgebung und emotionaler Entfesselung gewinnt in der Hinwendung zur Polyphonie in den Werken der letzten Jahre eine neue Qualität. Ein weiteres Spannungspaar ist das Verhältnis von Erfindung und Tradition. Jörg Widmann zählt zu einer Komponistengeneration, die nicht mit der Vergangenheit brechen muss, um den Weg für das Neue freizumachen. Seine – wie er sagt – «Expeditionen in unbekanntes Terrain» unternimmt er in der genauen Kenntnis und tiefen Verbundenheit mit der Tradition. Das ist auch der Grund, weshalb seine auf Extreme zusteuernden Kompositionen für den Hörer stets vertraute Anknüpfungspunkte bieten. Doch avanciert ist die Musik Widmanns auch dort, wo ihre Außenseite scheinbar konventionell ist. Widmann überschreitet Grenzen innerhalb der konventionellen Gattungen; Geräusche werden nicht durch elektronische Mittel, sondern auf den herkömmlichen Instrumenten erzeugt; das Neue besteht für ihn nicht in der Aufhebung der traditionellen Form, sondern – wie etwa im fünfteiligen Streichquartett-Zyklus – in ihrer «manischen» und «beharrlichen» Untersuchung.

Mit dem vorliegenden Buch wird erstmals eine umfassende Publikation über den Komponisten Jörg Widmann vorgelegt. Die Gespräche fanden innerhalb eines sechsmonatigen Zeitraums, von Oktober 2004 bis März 2005, an verschiedenen Orten, u. a. in Berlin, Hamburg und Köln, statt. Für die Druckfassung wurden sie behutsam redigiert und vom Komponisten durchgesehen. Über Musik sprechen – für einen Komponisten beinhaltet dies die Chance zur Selbstreflexion, aber auch die Gefahr der Überinterpretation. Jörg Widmann setzt sich als Musiker und Komponist bewusst den Risiken der Selbstentäußerung aus – wodurch der Leser einen intensiven und authentischen Gesprächspartner erleben kann.

Nach dem einleitenden Kapitel, das wichtige Etappen und Bezugspunkte der Biografie resümiert, beleuchten die übrigen Kapitel des Buchs unterschiedliche Aspekte von Widmanns Musikdenken. Unter der Überschrift «Metier & Erfindung» gewährt Widmann Einblicke in die Werkstatt des Komponisten und erläutert sein Verständnis des musikalischen Handwerks. Die nach musikalischen Gattungen gruppierten Werkbetrachtungen verschaffen dem Leser in einem weiteren Kapitel einen Überblick über Widmanns Œuvre. In der Gesamtschau wird dabei nicht nur sein spezifisches Gattungsverständnis, sondern auch die kompositorische Entwicklung innerhalb der letzten knapp 15 Jahre sichtbar. Die Ausführungen zu Schubert, Mozart und Schumann unter der Kapitelüberschrift «Musikgeschichte als Gegenüber» führen in die Gegenwart von Jörg Widmann. Sie sind als «Porträt in Spiegelbildern» gedacht, das sein persönliches Verständnis von Musikgeschichte in Bezug auf einzelne Komponisten behandelt. Im letzten Kapitel schließlich weitet sich der Bezugsrahmen hin zu allgemeinen Fragen: Die Stellung des Komponisten im Musikbetrieb, auch das wechselseitige Verhältnis des Komponisten zum Klarinettisten Jörg Widmann kommen hier zur Sprache.

Jörg Widmann sei herzlich für die bereitwillige, ausführliche und vertrauensvolle Auskunft in all den Gesprächen gedankt. In der Hoffnung, dass das Gedruckte im Ohr klingen und zum aktiven Hören der Musik von Jörg Widmann verführen möge, wünsche ich den Lesern eine anregende Lektüre.

Markus Fein

Hamburg, im März 2005

Inhalt

Das Ich im Spiegel der anderen

Erste Gehversuche als Komponist – Komponieren und Improvisieren – Der erste Kompositionslehrer: Kay Westermann – Miles Davis – Absences – Das Boulez-Erlebnis beim Festival Musica – Unterricht bei Hans Werner Henze und Wilfried Hiller – Spurensuche: ein Werkvergleich (Fantasie für Klarinette, 180 beats per minute, Fantasia für Orgel, Tränen der Musen, Kreisleriana) – Das New Yorker Jahr – Von München nach Karlsruhe: Kompositionsunterricht bei Wolfgang Rihm und Heiner Goebbels – Begegnungen: Aribert Reimann, Heinz Holliger, Christoph Poppen, Kent Nagano, Christoph Eschenbach

Eine Poetik in Umrissen

Musik & Körper – Skelettierung: Jagdquartett – Cellokonzert – Bruckner – Chor – Gestisches Komponieren – Lichtstudie – Holz an Haut, Haut an Holz: Choralquartett – Eingeschlossen, Morsezeichen: Hallstudie – Luft: Ikarische Klage – Musik & Rausch – Baudelaire – Fieberphantasie – Etude III – Nietzsche – Fleurs du mal – Virtuosität – Vexierbilder & Wahrnehmungen: Hallstudie, Fragment in C, Lichtstudie, Choralquartett, erstes Streichquartett, Chor, Cellokonzert – Schatten & Licht – James Turell – Farben aus op. 16 von Schönberg – Das Rembrandt-Braun – Färbung bei Brahms – Zeit

Metier & Erfindung

Melodik – Harmonik – Miles Davis – Passacaglia, Cellokonzert – Form: Fleurs du mal; Skizze, Splitter, Mosaik; Fünf Bruchstücke; Lied; Implosion – Etappen des Kompositionsprozesses – Inkubationsphase – Bezüge – Rausch und Ratio – Instrumentation – Werk – Gegensätze und Parallelen – Komponieren am Klavier – Für Klarinette schreiben – Das «Unerhörte» – Der schöpferische Mechanismus

Musikgeschichte als Gegenüber

Tradition und Neuerung – Schubert-Rezeption: Chor, Oktett – Mozart – Schumann: Fieberphantasie

Im Areal der Gattungen

Konzert, gefährdete Virtuosität: ad absurdum – Aufsplitterung und Nuancierung: Kammermusik: Streichquartette I-V – Musiktheater: Das Gesicht im Spiegel – Orchestermusik: Lied, Chor

Wenn die Musik auf den Hörer trifft

Musikvermittlung – «Für wen komponieren Sie?» – Die Doppelrolle als Klarinettist und Komponist – Hören, wirklich zuhören

Index

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Das Ich im Spiegel der anderen

Zunächst die Frage nach dem Beginn: Erinnern Sie sich, wann und weshalb Sie zu komponieren begannen?

Das Komponieren entstand bei mir aus dem Improvisieren auf der Klarinette. Ich habe mit sieben Jahren mit der Klarinette angefangen, vier Jahre später kam dann das Komponieren hinzu, denn irgendwann spürte ich das Bedürfnis, das Improvisierte zu fixieren. Ich war beim Blockflöten-, später beim Klarinettenspiel von einzelnen Stellen fasziniert und habe aus diesen Stellen heraus beim Improvisieren Dinge weiterentwickelt. Mit diesen improvisierenden Erfindungen fing das Komponieren bei mir an. Das erste Stück, an das ich mich bewusst erinnern kann, ist ein Walzer in F-Dur für Klavier. Vor allem an den Anfangsgestus aus diesem Stück kann ich mich gut erinnern.

Entstand dieser Wunsch nach dem Spielen und Komponieren von Musik aus Ihnen selbst heraus?

Alles wäre ohne meine Eltern nicht möglich gewesen. Meine Eltern sind zwar beide keine Berufsmusiker, aber sie hatten ein Hobbystreichquartett. Ich kann mich gut daran erinnern, wie ich als kleines Kind unter dem Klavier gelegen bin und zuhören durfte, wenn sie im Quartett musizierten, etwa das «Lerchenquartett» von Haydn – ziemlich hoch für die erste Geige und auch schwierig … Ich durfte noch ein bisschen zuhören, ehe ich ins Bett gehen musste. Diese sehr frühe Erfahrung eines Streicherklangs hat mich fasziniert und sie wurde noch durch meine Schwester Carolin verstärkt, die Geigerin ist und die ich meine ganze Jugend hindurch befragen durfte.

Sie sagen, vieles ist in diesen ersten Jahren aus dem Fixieren von Improvisation entstanden. Da ist das Komponieren sehr nah dran am physisch erlebten Klang. Wann hat sich bei Ihnen eine eher abstrakte kompositorische Klangvorstellung herausgebildet?

Ich würde sagen, dass ich oft durch äußere Anlässe ins kalte Wasser geworfen wurde. Das war eine ganz wichtige Erfahrung. Als der Walzer in F-Dur passé war, gab es eine Anfrage von den Münchner Philharmonikern, die Kinderkonzerte veranstalteten und die damals in einer kleinen Besetzung und mit einigen Kindern als Solisten mit einem Mozartprogramm auf eine Japan-Tournee gehen wollten. Die haben sich zu diesem reinen Mozartprogramm ein Stück von mir, Variationen über Mozart, gewünscht. Das war das erste Mal, dass ich eine größere Dramaturgie bauen musste und ich mich nicht mehr auf das verlassen konnte, was ich über das eigene Instrument wusste. Plötzlich durfte ich für ein Horn schreiben! Dieses Stück hat sich noch in Dur-Moll abgespielt, aber schon das nächste hat die Tonalität verlassen, war ein Stück in Bitonalität und mit übermäßigen Akkorden. Dieses zweite Stück – ich war damals vielleicht elf, zwölf Jahre alt – war eine Art Theatermusik zu Geraldine und die Mauseflöte von Leo Lionni, eine Kindergeschichte, in der es um das Wesen der Musik geht. Zum ersten Mal musste ich mich gegenüber einer Textvorlage verhalten.

Wer war Ihr erster Lehrer, der Sie in Komposition unterrichtet hat?

Das war Kay Westermann, den mir Siglind Bruhn, die Leiterin der Musikschule, an der ich Klarinettenunterricht bekam, vermittelte. Ich war damals elf Jahre alt. An die Stücke, die wir uns gemeinsam im Unterricht angehört haben, kann ich mich noch gut erinnern: das war das Klarinettenquintett von Brahms – das hatte ich mir gewünscht – und Strawinskys Sacre du printemps – und zwar ohne Partitur. Kay Westermann fragte mich: «Was sind das für Instrumente?» Im Sacre gibt es so viele Dämpfertechniken und Mixturklänge, dass es nicht einfach war, die einzelnen Instrumentenstimmen herauszuhören. Das war eine faszinierende Welt für mich; aber ich habe sie nicht wirklich verstanden. Ich wusste bloß: Ich möchte mehr darüber wissen.

Wie sah der Unterricht bei Westermann aus? Haben Sie sich in dieser Zeit das klassische Rüstzeug angeeignet: Formenlehre, Satzlehre?

Ob ich mir das zu der Zeit schon wirklich angeeignet habe, wage ich zu bezweifeln. Aber der Unterricht war streng und es ging um handwerkliche Dinge. Ich bin Westermann heute sehr dankbar dafür, dass er damals dieses Fundament legen wollte, nur war das für mich ein sehr, sehr trockenes Brot … Ich habe mich wohl auch geärgert: Warum musste ich das wissen? Ich will doch nur lernen, Musik aufzuschreiben! Schon in der Schule hieß es: «Beethoven ringt mir der Form.» Da habe ich mir gedacht, gut, dann höre ich mir eben Mozart an! [lacht] Wie auch immer – dieser auf Handwerk bedachte Unterricht hat mir nicht sehr geschmeckt. Ich kann mich erinnern, als ich dann zu Henze ging und er sagte: «Ich freue mich sehr auf unsere gemeinsame Arbeit. Was sehr wichtig und Voraussetzung ist, das ist der Fux’sche Kontrapunkt.» Da habe ich mir gedacht: «Oh Gott, schon wieder!» Die sinnliche Lust am Kontrapunkt ist viel, viel später bei mir gekommen, das fing mit meiner Passacaglia für Klaviertrio (2000) an und ist für mich heute von großer Bedeutung. Alle meine jüngeren Stücke, vor allem das vierte und das fünfte Streichquartett, beschäftigen sich fast ausschließlich und intensiv mit Kontrapunkt. Als Jugendlicher hatte ich wenig Sinn für derlei, ich habe die für einen Komponisten so wichtigen Bereiche des Metiers erst durch die Praxis gelernt. Instrumentation etwa nicht durch das wunderbare Buch von Berlioz und Strauss – das habe ich erst mit Mitte zwanzig gelesen –, sondern durch Stücke, in die ich wie ins kalte Wasser geworfen wurde und an denen ich erst einmal scheiterte. In solchen Momenten fängt man an, über handwerkliche Dinge nachzudenken.

Mit ihrem Vorbehalt gegenüber Kontrapunkt und Satzlehre dürften Sie als Jugendlicher nicht alleine dagestanden haben – viele Menschen haben vom Musikunterricht bleibende Schäden davon getragen … Also auch bei Ihnen: mehr Interesse am Fleisch und weniger am Skelett und Knochenbau?

Zusammen mit Schulfreunden habe ich in den Pausen oft Musik gehört, zum Beispiel das Klarinettenquintett von Brahms. Immer und immer wieder, in ziemlicher Lautstärke. Wir waren besoffen von der Musik, so sehr hat uns Brahms narkotisiert! Von Kontrapunkt wollten wir nichts wissen.

Wer waren die ersten Interpreten Ihrer Stücke?

Ich glaube, ich selbst war der erste – und lange Zeit auch der einzige. [lacht] Bald musste meine Schwester dran glauben, später kamen Freunde in der Schule hinzu – ich habe das Pestalozzi-Gymnasium in München, ein musisches Gymnasium, besucht. David Adorján, der heute im Deutschen Symphonie-Orchester Berlin Cello spielt, seine Schwester, die Klavier gespielt hat, sein Bruder Gabriel, ein Geiger, der heute Konzertmeister an der Komischen Oper Berlin ist – wir haben das ganze klassisch-romantische Repertoire gespielt, einfach für uns. Später, zur Hochschulzeit, habe ich mit Anna Gourari und Gabriel Adorján gespielt. Für Bartóks Kontraste haben wir 18 Proben gemacht! So etwas vergisst man nicht. Auch beim Musizieren kommt das Handwerk natürlich nur durch das Machen. Wenn wir so darüber sprechen: Ich habe schon den Eindruck, dass es damals ein Defizit an Theorie bei mir gab. Wenn ich heute unterrichte, dann spreche ich – ich hätte das nie gedacht – sehr viel über technische Aspekte. Ich bin heute fast pingelig, was handwerkliche und architektonische Fragen anbelangt. Als ich 17, 18 Jahre alt war, zielte die primäre Kraft in eine andere Richtung. Sie zielte auf Praxis und auf direkten emotionalen Ausdruck.

Dass dem emotionalen Ausdruck auch Form entgegengehalten werden muss, haben Sie dann in Ihrer Klaviersonate explizit zum Thema gemacht …

… Es ist vielleicht überhaupt mein Thema. Diese Erfahrung einer dialektischen Grundspannung von Musik war ungemein wichtig und intensiv.

Ich kann mir vorstellen, dass es für Sie als Jugendlicher noch gar nicht so klar war, dass Sie den Weg hin zur Klassik und Neuen Musik gehen würden.

Auch für Pop und Hip-Hop und vor allem für Jazz und Funk habe ich mich interessiert. Das meiste ist für mich heute weit weg gerückt, aber die Faszination für Miles Davis ist bis heute geblieben. Ich habe mit meiner Schwester alle seine Konzerte in München besucht, da ging das ganze Taschengeld drauf. Das erste Miles Davis-Konzert beim Münchener Klaviersommer in der Philharmonie am Gasteig war ein Schock für mich! Ich hatte keine Ahnung, in was ich da reingehe. Und dann Miles Davis! Wie er und was er spielte, vor allem, was er wann nicht spielte, hat mich damals unheimlich fasziniert – die Pausen zwischen zwei Tönen! Miles Davis ist jemand, der bewusst solche Irritationen gesetzt hat. Er hatte auf der Bühne einen Synthesizer und hat bei Breaks haarscharf danebengehauen. Normalerweise hätte er sich aus seiner eigenen Band rausschmeißen müssen, aber er hat dieses Irritationsmoment gebraucht. Das ist etwas, das mich heute als Musiker immer noch interessiert: Ich bin wirklich ein akribischer Prober – aber am Konzertabend muss es eine spontane Lebendigkeit geben. Das waren also die zwei musikalischen Welten, in denen ich lebte.

Findet sich dieser doppelte musikalische Kosmos in Ihren frühen Werken wieder?

In meinem ersten Musiktheaterversuch Absences, einem Schulprojekt aus dem Jahr 1990 für die Münchener Biennale, habe ich genau das zum Thema gemacht: die Spannung zwischen «Klassischer Musik», die ich leidenschaftlich gerne gespielt und komponiert habe, und der Pop- und Jazz-Musik, die ich damals viel hörte. Ich habe damals Stunden und Nächte mit dem Synthesizer zugebracht; dieser Synthesizer, ein Yamaha DX-7, hat mich vollkommen okkupiert. In Absences gibt es eine Band und ein groß besetztes Ensemble, die regelrecht gegeneinander spielen. Das war das eigentliche Thema des Stücks – und zwar fernab von dem, was Plattenfirmen oft gerne als «Fusion» bezeichnen; es war ein hartes Aufeinandertreffen, auch ein Nicht-Funktionieren. Der letzte Akkord symbolisiert dieses Unentschieden – wie ich zu der Zeit selber auch unentschieden war. Auch in Stücken, die später folgten, kann man Reflexe auf diese Musikerfahrung entdecken, etwa in den Tränen der Musen aus dem Jahr 1996. In der Klarinettenfantasie gibt es Reste von Jazz, die Lust am Rhythmus und an der Synkope.

Die andere Welt: das waren Boulez, Messiaen und Bartók. Die karge Zweistimmigkeit in Tränen der Musen bezieht sich auf den sehr unspektakulären zweiten Satz aus den KontrastenTränen der MusenQuatour pour la fin du tempsTränen der Musen