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INHALT

Ein böser Traum

Der Tod eines Killers

Verändern wir uns, wenn wir sterben?

Warum sagt einem das keiner, solange man lebt?

Seltsam sind auch meine übrigen Umstände

Einstein?

»Die Materie ist unsere Krankheit«

Ich fange langsam an, neugierig zu werden

Der ängstliche Mörder

Ich gehe durch die Wand

Ich bin astral

Leichenknigge

Irish Whiskey

Ich hab nicht gewusst, dass Tote auch schlafen

Ich möchte nicht wissen, wer sich in meinem Kopf herumtreibt

Eine hoffnungslose Liebe

»Die Seligkeit der Toten«

Wie lerne ich, tot zu sein?

Schule des Todes

»Es gibt eine Einheit von Leben und Tod«

Die Milchstraße

Nette Gesellschaft

Die Nacht mit Gülnare

Romeo und Romeo

Die Welt gehört überhaupt abgeschafft!

Rosamunde und Purzel

Leben ist nicht Chemie

Die weiße Königin

Der Liebesbrief

»Welche Welt?«

Die Nebenbuhlerin

Ein seltsames Mittagessen

Gegensätze küssen sich

Bankgeheimnisse

Eine Amphibie des Seins

»Wir erschaffen nicht nur unsere diesseitige, sondern auch unsere jenseitige Welt«

Schutzengel

ICH bin ein Verbum

Erscheine ich doppelt?

Der schwarze Mann

Das Testament

Aloisia schreibt eine Sms

Überraschung am Ententeich

Fragen und Antworten dürfen nicht heiraten

Wir sind alle Astronauten

Ich spuke!

Metaphysische Atome

Kosmische Liebe

Ballett des Lebens

Eine gespenstische Ohrfeige

Die Killerin

Die Tetraeder-Party

Jenseits von Leben und Tod

EIN BÖSER TRAUM

Ich erwachte mit einem Zettel am großen Zeh, auf dem mein Name stand. Natürlich glaubte ich, noch immer zu träumen. Als eine junge Dame im weißen Laborkittel an mir vorüberging, wackelte ich übermütig mit besagtem Zeh. Statt auf meinen Flirtversuch einzugehen, fing sie laut an zu schreien. Im nächsten Augenblick stürzte ein Herr, gleichfalls in Weiß, herein und rief erschrocken: »Ist der Totenschein schon ausgestellt?«

Nun habe ich schon alles mögliche Verrückte geträumt, man wacht auf und vergisst es. Warum wollte ich diesmal nicht und nicht aufwachen? Vielleicht war es gestern Abend doch ein Glas zu viel. Oder zwei. Oder drei. Ich ergab mich und träumte weiter.

Oder vielmehr, ich fiel in einen schwarzen Tiefschlaf, aus dem ich angenehm erfrischt von der jungen Dame in Weiß geweckt wurde. Diesmal schrie sie nicht, sondern machte sich auf eine Weise an mir zu schaffen, die mich zu einem scharfen Kuss ermutigte, den sie allerdings nicht erwiderte. Ich gab nicht auf, doch war es, als küsste ich Luft.

Mein Gott, das tat ich ja wirklich! Ich küsste die Luft, und nicht genug damit, griff ich mit beiden Händen einfach durch die Schöne hindurch. Verwirrt sprang ich mit einem Satz aus dem Bett, was die Betreffende nicht im Mindesten störte – sie ging weiter ihrer Beschäftigung mit mir nach.

Tatsächlich lag ich noch immer auf dem Bett, während ich doch mit wachsendem Entsetzen davorstand. Als ich merkte, dass ich gestorben bin, war ich ganz schön deprimiert.

Und dann fiel es mir wieder ein. Der Mann mit der dunklen Brille, der traurig einen Schein nach dem anderen vor mich hinblätterte. »Ich bringe es selbst nicht übers Herz«, murmelte er, während ich das Geld, nicht ohne es zu zählen, gelassen einstreifte. »Ich bin viel zu sensibel.« Ich nickte. Eine Krankheit, an der ich selbst nie gelitten habe, der ich aber einen guten Teil meiner Aufträge verdanke.

Beim letzten hat es mich erwischt. Der Zeitpunkt hätte kaum unpassender sein können. Sie kommt, wie besprochen, aus dem Kino, unterm Hemd hab ich schon die Hand am Revolver, und dann das! Mein Opfer, zu dessen Füßen ich auf einmal liege, ruft die Rettung und macht, statt zu sterben, Mund-zu-Mund-Beatmung mit mir. Einen derart würdelosen Tod hab nicht einmal ich verdient.

DER TOD EINES KILLERS

So geärgert habe ich mich nicht mehr, seit mir, während ich geduldig einen Millionär erwürgte, ein Taschendieb die Brieftasche samt dem Honorar zog.

Ich bin Berufskiller, na und? Ich habe mein Geschäft immer anständig gemacht, sauber und schmerzlos. Während mein eigener Herzschlag ganz schön wehgetan hat. Jetzt nicht mehr, natürlich. Aber etwas anderes quält mich. Ich habe gegen Vorauszahlung gearbeitet, billig war ich nicht, und das Opfer lebt. Das ist gegen meine moralischen Grundsätze. Ich bin immer seriös gewesen. Wie kann ich das wiedergutmachen?

Mein Körper liegt jetzt auf einer Bahre und wird fortgetragen. Zuerst laufe ich protestierend mir selbst nach. Bis ich registriere, dass ich offenbar nicht mehr ich selbst bin. Darüber müsste ich nachdenken, aber ich bin viel zu nervös. Eine Zigarette wäre jetzt gut. Und etwas Alkoholisches. Vor allem etwas Alkoholisches.

Mein Opfer steht noch immer an der finsteren Straßenecke, wo ich sie meucheln wollte, herum. Hat sie nichts Besseres zu tun? Jetzt, als hätte sie meine Gedanken erraten – interessant, ich denke ohne Gehirn –, stürzt sie ins nächste Kaffeehaus. Da ich sonst nichts vorhabe, folge ich ihr. Warum der Ehemann sie loswerden wollte, kann ich nicht ganz nachvollziehen. Eine appetitliche Person, kaum älter als dreißig, an den richtigen Stellen gerundet. Jetzt bestellt sie, und was? Schnaps und Zigaretten. Eine Seelenverwandte. Ich fühle mich magnetisch angezogen.

Aber gibt es das? Hätte ich nie für möglich gehalten. Als wäre sie eine Erscheinung, gehe ich einfach in sie hinein. Widerstandslos. Dabei bin doch ich die Erscheinung – oder? Sie scheint nichts zu bemerken. Auch nicht, dass ich mittrinke, mitrauche, tut das gut! Hab ich wirklich gebraucht. Gutes Kind, sie bestellt noch einen. Zündet die nächste Zigarette an. Betrinke ich mich telepathisch? Ein Glück jedenfalls, dass sie nicht tot ist.

Wie ich. Aber den Tod hab ich mir anders vorgestellt. Oder vielmehr, ich hab ihn mir überhaupt nicht vorgestellt. Schon gar nicht, dass man ihn überlebt. Obwohl ich nicht lebe, schließlich habe ich klar und deutlich meinen Leichnam gesehen. Aber was tue ich dann, wieso bin ich noch immer da?

»Ich bin«, erklärt sie leicht lallend dem Herrn am Nebentisch, »eigentlich Antialkoholikerin. Und rauche prinzipiell nicht.« Der Mann schaut sie peinlich überrascht an und beeilt sich, zu zahlen. Noch einen Schnaps, noch eine Zigarette? Sehr angenehm. Aber hoffentlich kommt sie heil nach Haus.

Nach Haus, fällt mir ein, zu ihrem mörderischen Ehemann. Armes Ding! Wird er sie selbst umbringen oder engagiert er die Konkurrenz? Ich stelle fest, dass mir beides missfällt. Hat mich der Tod sentimental gemacht? Das will ich nicht hoffen. Ein sentimentaler Killer ist völlig ungeeignet für den Beruf.

Allerdings, Killer bin ich wohl nicht mehr. Ich könnte keine Pistole halten, kein Messer. Ich greife durch alles durch. Als wäre die Welt nicht fest, sondern, ja was? Dabei hat sie sich überhaupt nicht verändert. Sie schaut aus wie vorher, sie hört sich an wie vorher. Nur, dass ich sie nicht mehr berühren kann. Ja, und unsichtbar bin ich offenbar auch, sonst hätte mich das Opfer bemerkt. Um sicherzugehen, probiere ich etwas aus. Ich setze mich an den freien Tisch, von dem der Herr vorhin die Flucht ergriffen hat, und bestelle laut einen Kaffee. Der Ober ist entweder taub oder … nein, taub ist er nicht. Unhörbar, wie ich mir schon gedacht habe. Unhörbar bin ich jetzt auch.

Bestellt das Opfer einen vierten Schnaps? Das wäre mindestens einer zu viel, nicht einmal ich würde noch einen trinken. Ah, sehr vernünftig. Sie will nur Kaffee haben. Will ich auch. Besteht da womöglich ein Zusammenhang? Dirigiere ich ihre Wünsche? Ganz schön aufregend. Da könnte ich ja … Mir wird direkt schwindelig von den Perspektiven, die sich da auftun. Zum Beispiel könnte ich das Opfer als Mordwaffe einsetzen. Allerdings, ich habe keine Aufträge mehr. Auch keine Feinde, ein Gefühlsmensch war ich nie. Ich hab nicht verstanden, wie man jemanden so leidenschaftlich hassen kann. Oder so leidenschaftlich lieben, kommt auf dasselbe heraus. Ich bin eher praktisch veranlagt – oder vielmehr, war. Bin ich es, überlege ich, immer noch?

VERÄNDERN WIR UNS, WENN WIR STERBEN?

Eine interessante Frage. Ich werde mich scharf beobachten, ob ich noch derselbe bin. Zwar habe ich nie an eine Seele geglaubt. Wäre aber zu komisch, wenn ich jetzt selbst eine … Eine schwarze vermutlich. Automatisch schaue ich an mir selber herunter. Statt wie gewöhnlich in Jeans und Pullover, stecke ich in einem veilchenblauen Samtanzug. Hab ich mich im Sarg umgezogen? Nein, ich lieg ja noch gar nicht im Sarg. Wahrscheinlich bin ich noch nicht einmal tiefgekühlt.

Ich versteh den Tod nicht. Kein Gott, kein Teufel. Die hab ich auch nicht erwartet. Von Engeln zu schweigen. Dafür Schnaps und Zigaretten, wenn auch secondhand. Materie, die keine Materie ist. Und ein veilchenblauer Samtanzug, das darf doch nicht wahr sein!

Fragt sich, ob es wahr ist? Oder nicht. Ich bin knapp ein halbes Jahrhundert alt und hab über das Sterben nie nachgedacht, obwohl es doch eigentlich mein Metier war. Etwas völlig Natürliches wie Essen, Trinken, Schlafen. Über meinen Schweinsbraten hab ich mir den Kopf auch nicht zerbrochen. Schon in der Schule galt ich als intelligent, aber phantasielos. Später hab ich das für ein Glück gehalten. Hätte ich, mit Phantasie geschlagen, meinen Beruf überhaupt ausüben können? »Gefühlskalt«, hat meine erste und letzte Freundin gesagt. »Du bist gefühlskalt.« Dabei hat sie zu allem Überfluss auch noch geweint.

Das ließ mein Interesse an Weibern für immer erlöschen. Ich habe auch keine Familie mehr, das ist angenehm. Mein Vater kann irgendwer sein, und meine Mutter starb bald nach meiner Geburt. Ich erinnere mich nicht an sie. Es war der Staat, der mehr oder weniger für mich gesorgt hat, und für den Staat empfindet man ja auch keine Gefühle. Vermisst habe ich nichts. Das Gejammere über ihre unglückliche Kindheit, mit der die Menschen ihre Taten und Untaten entschuldigen … Wehleidigkeit war mir schon immer ein Gräuel.

Zum ersten Mal, dass eine Dame für mich bezahlt. Genau das tut das Opfer nämlich. Steht auf und geht, dabei schwankt sie ein bisschen. Meine Schuld! Da ich sonst nichts zu tun habe, folge ich ihr. Sie ruft kein Taxi, sondern steigt brav in die Straßenbahn. Diesmal fahre ich, auch zum ersten Mal, schwarz. Nehme direkt neben ihr Platz und erlebe eine peinliche Überraschung. Bei der nächsten Station setzt sich ein kleiner dicker Mann direkt auf mich drauf. Ich bin groß und kräftig. Oder ich war es. Denn obwohl ich den Dicken empört abschüttle, bleibt er seelenruhig auf mir sitzen. Zu allem Überfluss zieht er eine Zeitung hervor und fängt an zu lesen. Eine Unverschämtheit. Zum Glück hat das Opfer, wäre mir echt peinlich gewesen, nichts bemerkt. Erst jetzt empfinde ich den Tod als Verlust. Ich habe meine Würde verloren. Und werde womöglich noch anderen Demütigungen ausgesetzt sein. Wehrlos ausgesetzt. Passiert das einem Lebenden, bringt er sich eventuell um. Ein Toter kann sich nicht umbringen. Wer stirbt, muss offenbar Einschränkungen in Kauf nehmen. Einschränkungen, mit denen er nie gerechnet hat.

WARUM SAGT EINEM DAS KEINER, SOLANGE MAN LEBT?

Man würde sich hüten, zu sterben. Obwohl man sich wohl nicht davor hüten kann. Ich bin so frustriert, dass ich die Fahrgäste ordinär beschimpfe. Als mir die Beleidigungen ausgehen, erzähle ich unanständige Witze und singe zuletzt lauthals Wirtinnenlieder. Der Tod scheint eine Art Isolationshaft zu sein, womöglich lebenslänglich, und das habe ich nicht verdient. Das hat niemand verdient, der Mensch ist von Natur aus sozial. Sogar ich, ein ungeselliger Typ, hatte schon allein durch meinen Beruf immer wieder mit Leuten – Auftraggeber und Opfer – zu tun.

Mein letztes Opfer, das infolge meines eigenen Verscheidens keines mehr wurde, mein misslungenes Opfer also, steigt gerade aus. Ich kann nur hoffen, dass Hellhörigkeit nicht der Grund dafür ist. Denn so zuwider mir die gesamte Menschheit auch gerade ist, diese Person hat mir nur Gutes getan. Auch Berufskiller sind der Dankbarkeit fähig und so beschließe ich, ein Auge auf sie zu haben.

Wir steigen aus und gehen – ich nicht hinter, sondern ganz offen neben ihr – in die Wiener Hofburg, Michaelerkuppel, wo sie auf der Gottfried-von-Einem-Stiege eine Wohnung aufsperrt. Kommt mir bekannt vor, der Name. Fußballer vielleicht? Jetzt geht eine Tür auf, mein Auftraggeber steht auf der Schwelle, macht den Mund auf und fällt in Ohnmacht.

Erschrocken wirft mein Opfer sich über ihn. »Schatzi!«, ruft sie angstvoll. »Schatzi, Schatzi!« Das Schatzi schlägt die Augen auf und kriecht auf allen vieren ins Innere der Wohnung zurück. Mein Opfer folgt ihm besorgt, worauf er zu schreien anfängt.