Jeannette König

Wurst im Kopf

Prolog

Es geht um Kaspar, einen zu Beginn 24jährigen Mann, Schweizer, Muttersprache Deutsch, Student der Betriebswissenschaften, Kontostand 15‘800 Schweizer Franken. Kaspar hat eine Mutter, die seit neustem im Süden Frankreichs lebt, einen längst toten Vater, einen älteren Bruder, der in den USA lebt, eine Patentante, die in Deutschland lebt, zwei Mitbewohner in der Wohngemeinschaft, Mitstudenten und Mitstudentinnen, Sportkumpane und Ursi, die ihm die Haare schneidet. Er hatte einen Zahnarzt, der ihm das Geld für eine fehlerhafte Zahnbehandlung im Vorzimmer der Praxis zurückgegeben hat: Cash auf die Hand, weil Kaspar nicht ausgeschlossen hat vor die zahnärztliche Begutachtungskommission zu gehen. Mit Kaspar könnte gerechnet werden. Die Wirtschaftskrise hält sich. Die Wetten florieren. Too big to fail wird gerettet. Die Zentralbanken pumpen Geld in den Kreislauf. Laut Meinungsumfragen sind die Bürger im Grossen und Ganzen zufrieden. ‚Kleiner Mann, was nun‘ wird auf der lokalen Bühne gegeben. Eine exzellente Aufführung, die man gesehen haben muss. Kaspar geht nicht ins Theater. Das Wetter vollführt gewisse Kapriolen. Von den einen auf die Klimaveränderung zurückgeführt, von den anderen in die Langzeitkurven der natürlichen Abläufe eingereiht. Der Schweiz geht es gut. Die Arbeitslosenquote liegt unter 4%. Im Fernsehen wird über die Beschränkung der Einwanderung debattiert. Die Armutsquote liegt bei 3%.

Davon sind 19,9 Prozent Personen in Einelternfamilien mit Kind(ern). In Genf findet eine Friedenskonferenz statt.

Wahrscheinlich soll irgendein Land in Afrika oder im Nahen Osten oder Sonstiges befriedet werden. Ab und zu geht eine Rohstoffhandelsfirma an die Börse und die ehemaligen Besitzer bescheren einer Gemeinde an einem Seeufer einen Steuersegen, der kurz das Zischeln des Höllenfeuers im ganzen Land hörbar macht. Kaspar hat die Biografie über Marc Rich gelesen. Vielmehr zu lesen begonnen. Die Mutter hat ihm das Buch geschenkt.

„Das musst du lesen“, hatte Mutter gesagt. „Es geht um das reine Geschäft.“

Die ersten Seiten hatten gereicht, um in Kaspar eine Wut auszulösen, die er nicht gebrauchen konnte. Er muss das Studium fertig machen und irgendwo reinkommen. Kaspar hat das Buch vor der Haustür auf den Bürgersteig gelegt, so wie sie es in der WG mit Dingen handhaben, die sie entsorgen wollen. Eine bewährte Methode. Auch Marc Rich war am Morgen nicht mehr da.

Kaspar sitzt im Zug nach Frankfurt.

Kaspar kennt Frankfurt nicht. Im Gymnasium eine Projektreise nach Berlin. C’est tout. Kaspar findet Berlin cool. Im Gymnasium hat Kaspar gelernt, dass Deutschland eine repräsentative Demokratie ist und Autos produziert. Ansonsten weiss Kaspar nichts von Deutschland.

Hitler Deutschland, klar, das weiss jeder. Deutschland interessiert Kaspar nicht. Kanada käme für Kaspar zum Auswandern in Frage. Die Landschaft, die Offenheit der Leute gefällt Kaspar. Der militärische Wiederholungskurs hat Kaspar einen Teil der Semesterferien weggefressen. Mit dem Rest etwas anfangen, ist schwierig. Lisa ist für drei Monate in Südamerika. Lukas und Andy in Rimini in den Ferien. Ute hat ihn nach Moosfeld eingeladen. Zu ihr nach Hause. Auf den elterlichen Bauernhof. Ein Biohof sei es. Das Biosphärenreservat im Dreiländereck Hessen, Bayern und Thüringen sei sehr schön und, wenn er wolle, könne sie ihm auch die ehemalige Deutsch/Deutsche Grenze zeigen. Kaspar weiss zwar nicht, was er da soll. Auf Bauernhofgroove ist er auch nicht scharf, aber er sitzt nun Mal im Zug. Lustlos und ermüdet vom ewigen Lernen mit nichts als Noten am Ende, war Utes Einladung gerade richtig gekommen. Zu realisieren, dass man, wie alle anderen, auf Zahlen konditioniert ist, die bestimmen, ob man weiter kommt, ob man besser oder schlechter ist, als der andere, verlangt eine gewisse Robustheit. Dann waren noch drei Wochen Zeitvertun dazugekommen, mit der einzigen Aufgabe in der Uniform herumzulaufen und das Maschinengewehr zu putzen. Die Nachricht, dass Lukas die Stelle beim internationalen Technologiekonzern nicht bekommen hat, war für Kaspar die Kuvertüre für den Kuchen gewesen.

„Diese faden, sich durchmogelnden Söhne der Väter in den Vorstandsetagen machen das Rennen. Bravo! Ein System, das Leistung predigt und Falschmünzer begünstigt“, denkt Kaspar. Vor dem Zugfenster das aufdringliche Sommergrün. Lukas, einer von Kaspars Wohngemeinschaftskollegen hat einen Vater. Der bringt ihm aber nicht viel. Lukas Vater arbeitet in der Entwicklungshilfe. Entwicklungs-Zusammenarbeit heisst das. Lukas Vater ist in Myanmar.

„Die Schweiz hat eine Botschaft in Myanmar eröffnet, damit sie da ist, wenn der Aufschwung kommt“, hat Lukas gesagt. „Immerhin hat das Land Gas, Staudämme und Gold.“

Lukas Vater hat für die Genehmigungen bis zur Eröffnung der Botschaft nach Thailand reisen müssen, damit er mit dem Schweizer Geld Schulen und Gesundheitszentren bauen lassen konnte. Lukas Vater hat erzählt, Leute aus Myanmar würden von Menschenhändlern in thailändische Fischfabriken geholt und eingesperrt. Lukas hat gesagt, sein Vater habe keine andere Wahl gehabt, als nach Thailand zu reisen für die Bewilligungen. Schweissglänzende, mit blutigen Striemen überzogene schwarze Rücken beugen sich im Fenster vor dem Sommergrün im Gleichtakt vor und zurück.

„Passt irgendwie nicht zu Palmen Strand und Shrimps“, denkt Kaspar.

„Lukas Vater muss schweigen, sonst gefährdet er das Aufbauprojekt“, denkt Kaspar.

Aung San Suu Kyi hat kurz vor Kaspars Abreise die Schweiz besucht. Kaspar hat in der Zeitung gelesen, dass sie einen Schwächeanfall erlitten hat.

„Vielleicht hat ihr das Knipsen das Blut aus dem Kopf geschossen“, denkt Kaspar.

Lukas ist Kaspars bester Freund. Lukas wird im Mai nächsten Jahres seinen Vater in Myanmar besuchen. Lukas hat Kaspar angeboten, mitzureisen. Kaspar hat offen gelassen, ob er mitgehen wird, obwohl er weiss, dass dies eher nicht der Fall sein wird. Erstens fehlt ihm das Geld und zweitens lockt ihn Asien nicht. Kaspar bewundert Menschen, die Despoten die Stirn bieten und sich auch im Gefängnis nicht brechen lassen.

Kaspar bewundert Menschen, die sich nicht verkaufen. Bis drei Uhr nachmittags, bis vier Uhr nachmittags hatte er geschlafen, als Utes Einladung gekommen war. Beim Erwachen immer der gleiche Song. Was willst denn du? ‚Was willst denn Du?

Unaufhörlich. Was willst denn Du?

“Auch wenn ich nicht weiss, was ich in Deutschland mit Ute auf einem Bauernhof soll, ist es besser unterwegs zu sein, als ewig im Bett zu liegen“, denkt Kaspar.

Andy, sein zweiter WG-Kollege, ist anders drauf. Andy hat zwar auch keinen Vater, er leidet aber nicht darunter.

Molekularbiologen sind gefragt. Ob Lisa einen Vater hat, weiss Kaspar nicht. Lisa ist Andys Freundin. Sie hält sich oft in der WG auf. Sie macht das Höhere Lehramt. Vermutlich wird sich Andy bald aus der Wohngemeinschaft absetzen.

„Der Entscheid Andy in die WG aufzunehmen und nicht Jewa, war trotzdem richtig gewesen“, denkt Kaspar.

Ute ist Kaspars beste Studienkollegin. Kaspar blickt bei Ute nicht ganz durch. Er bewundert ihre Zuversicht, kann sich aber nicht erklären, woher sie diese nimmt. Sie lernen zusammen und Kaspar kann Utes Aufzeichnungen von Vorlesungen benutzen, die er nicht besucht. Kaspar bemerkt vor ihm auf der linken Seite eine Frau in seinem Alter. Sie liest ein ungewöhnlich dickes Buch. Dazu schiebt sie den Mund nach vorne, zieht ihn zusammen, wie eine Koralle, die das Mikroplankton aus dem Wasser filtert. Der Mund zieht ihn an. Die blonden Haare und die langsamen weichen Kontraktionen im unteren Drittel des Gesichts machen ihn an.

„Die schwarze Wanderhose, die breitschultrige Strickjacke passen nicht zum Haar, zum Mund, zum Buch“, denkt Kaspar.

„Sie fällt aus der Welt. Eine Art Göttin“, denkt Kaspar. „Direkt aus Lehm und Wasser entstanden.“

Umi hat Kaspar auf der Nordindienreise von Göttern erzählt, die jederzeit aus einem Felsen, aus verwittertem Rhododendronholz, einem zerfallenen Haus, aus Wasserpflanzen geboren werden können. Verstanden hat Kaspar nichts. Er hat sich bei jedem Tempel schmücken lassen und eine Münze in die ausgestreckte bronzene Hand gelegt.

Kaspar erinnert sich an das blitzschnelle Schliessen und Öffnen der Hände, die die Münzen zum Verschwinden gebracht haben. Kaspar kennt den Trick. Er war im Kinderzirkus Zauberer gewesen. Ein junger Mann, für Kaspar bisher unsichtbar, steht vom Fensterplatz auf der gegenüberliegenden Seite der Frau auf. Ungekämmt, zerknitterte Hosen. Der Mann beugt sich über die Frau, küsst ihr Haar und geht wortlos in Fahrtrichtung davon. Der Alte, der neben der Frau sitzt, fragt, wo sie sich befinden. Ohne seine Position zu verändern, ohne seinen Kopf zu drehen, ohne eine Regung im Gesicht, hat er gefragt, wo sie sich befinden. Die Frau beugt ihren Oberkörper zum Alten hin, als schirmte sie ihn vor einem Luftzug ab. Mit der Hand berührt sie den Ärmel des Wollmantels.

„Er holt dir ein Brot“, sagt die junge Frau.

Der alte Mann will etwas aus der Brustinnentasche seines Mantels ziehen. Die Frau schiebt sich noch enger an den alten Mann heran, hält seinen Arm fest, hindert ihn den Geldbeutel aus der Innentasche zu ziehen.

“ Er ist schon gegangen“, sagt die junge Frau „Er braucht Geld“, sagt der alte Mann.“

„Er hat Geld“, sagt der Korallenmund.

Der alte Mann lässt von der Mantelinnentasche ab. Versinkt wieder in sich hinein.

„Eine Mumie“, denkt Kaspar. „Ein Flüchtling, der sein bestes und wärmstes Stück angezogen hat.“

Das metallene Plättchen des Reissverschlusses der Strickjacke unter dem Mantel blitzt im Licht.

„Berlin ist noch weit“, sagt die Mumie.

Es ist August, nicht sommerlich warm, aber keinesfalls kühl. „Der Alte muss schwitzen“, denkt Kaspar. „Er wird feucht riechen, nach vermodernden Blättern und nach Pilzen“, denkt Kaspar.

Kaspar erinnert sich an den Geruch des Grossvaters, der ihn zitternd zu den Ästen des Kirschbaumes hochgehalten hat.

Kaspar mag Kirschen nicht. Sie riechen nach Tod. Die Lindenblüten, die Erinnerung an den Geruch der Linde vor Grossvaters Haus, liebt er. Über seinen stark ausgeprägten Geruchssinn redet Kaspar nicht. Blühende Orangenbäume, die gleichzeitig Früchte tragen sind das Grösste, was Kaspar bisher erinnert. Er würde wieder nach Spanien reisen. Wegen diesem Geruch. Grasse hingegen war für Kaspar nicht erlebbar gewesen. Fläschchen, Holzböden, Rosen, Veilchen, Maiglöckchen. Kaspars Riechschleimhaut hatte ungeordnet Moleküle abgegeben. An die Erregung beim Gemisch aus Staub, Schimmel und Mimosen im Hotel in Nizza mit den schweren weinroten Vorhängen, erinnert sich Kaspar intensiv.

Unter Kollegen geben sie sich Rasierwasser-, Deodorant- und Parfumtipps weiter. Darüber hinaus sind Gerüche kein Thema. Süskinds ‚Parfum‘ hat Kaspar nicht gelesen. Den Lindengeruch liebt Kaspar, weil er ihn unmittelbar ritterlich stimmt. Nicht Löwenherz ist er, der gegen seinen Vater siegt. Auch nicht Eisenherz, der nach der Vertreibung seines Vaters an König Artus Hof kommt und alle Gegner besiegt. Er ist Ritter Tiuri, der zwischen drei verfeindeten Reichen allein seiner eigenen Stimme folgt. Kaspars Mutter hat ihm Rittergeschichten vorgelesen. Später hat Kaspar in die Science Fiction Szene gewechselt. Kaspar ist noch nie nach seinen Geruchswahrnehmungen gefragt worden. Kurz hat Kaspar mit Önologie geliebäugelt. Das war vor der Zeit gewesen, als sich Mutter mit dem neuen Mann zusammen getan hat, der im Süden Frankreichs ein Weingut betreibt. Das Weingut des neuen Mannes seiner Mutter interessiert Kaspar nicht. Kaspar findet es gut, dass seine Mutter noch einmal ein neues Leben begonnen hat.

„Wie ist das für dich, wenn deine Mutter jetzt in Frankreich lebt?“, hat Lukas gesagt.

„Wie soll das sein?“, hat Kaspar gesagt.

Der Freund der Korallenmundfrau kommt zurück. Mit einem Käsesandwich und einem Kaffee. Er stellt die Verpflegung auf das Fenstertischchen, setzt sich an den Fensterplatz und verschwindet aus Kaspars Sicht.

„Blinde können besser riechen als Sehende“, denkt Kaspar.

„Ob der Alte sich selbst riecht?“, denkt Kaspar.

Kaspar stellt sich vor, wie die Wolke Eau de Cologne, über dem Spannteppich schwebend, dem Alten im langen Korridor des Hotels auf dem Weg zum Frühstück zugesetzt haben muss. Der Alte beugt sich zum Haar des Korallenmundes. Die Frau bricht das Sandwich entzwei, legt die eine Hälfte in die Hand des alten Mannes, die andere Hälfte auf das Tischchen.

„Käse“, sagt der Korallenmund.

Der alte Mann isst. Die Kaubewegungen sind langsam, mahlend, als hätte er keine Zähne.

„Der massige Körper, die groben Hände passen nicht zu einem Blinden“, denkt Kaspar.

Die Korallenmundfrau nimmt den Kaffee, legt ihre Hände um den Becher, als müsste sie sie wärmen.

„Keine fröhliche Reisegesellschaft“, denkt Kaspar.

„Die Frau könnte die Enkelin des Alten sein. Ihn an einen Ort begleiten, den er nochmals sehen will“, denkt Kaspar.

Irgendwo hat Kaspar gelesen, dass alte Menschen gegen das Ende hin oft den Wunsch haben Orte ihrer Kindheit aufzusuchen. Über die Rolle des Freundes des Korallenmundes ist sich Kaspar nicht schlüssig. Er spricht nicht mit dem Alten, verständigt sich mit dem Korallenmund wortlos, ist da, wenn er aufsteht und ist nicht da, wenn er sich gegenüber dem Alten und dem Korallenmund hinsetzt. Kaspars Grossvater ist da geboren, wo er gestorben ist.

„Er ist immer an demselben Ort gewesen“, denkt Kaspar.

Mutter hat ihm einmal gezeigt, wo sie Kind gewesen war. Kaspar mag sich an die Bushaltestelle unter der Brücke erinnern. In einer halben Stunde hatten sie das Dorf fertig besichtigt. Sie hatten nicht mehr gewusst, was sie machen sollten und haben unter der Brücke auf den Bus gewartet, der sie zum nächsten Bahnhof gefahren hat. Kaspar erinnert sich an die bröckelnden Mauern um das Anwesen des Käsehändlers, an den Schiesstand, in dem Mutter als Kind Munition ausgegeben und dafür Taschengeld erhalten hat und an die leere Wiese auf der des schwarzen Schneiders Haus gestanden hat, vor dem sich die Kinder gefürchtet hatten. Kaspar erinnert sich, wie Mutter von ihrer Enttäuschung erzählt hat, weil sie nichts gesehen hat, als sie sich einmal ganz allein gewagt hatte durch ein Fenster zu spähen.

„Ein blindes Fenster“, denkt Kaspar.

Kaspars Mutter hat aufgehört zu arbeiten und ist zu Olivier nach Südfrankreich gezogen.

Kaspars Mutter hat ihm Fotos einer Skulptur geschickt.

Ausgestopfte Vögel mit riesigen Rohrschnäbeln auf zerfressenen Felsformationen an einem Fluss. Kaspar kann nichts damit anfangen, aber er findet es gut, wenn seine Mutter macht, was ihr gefällt. Wenn er nichts anderes vorhat, wird er vielleicht über Weihnachten in die Provence fahren, was eher unwahrscheinlich ist, weil er sich auf das Auslandsemester vorbereiten muss. Manchmal wünscht sich Kaspar eine grosse Familie. Alle sitzen an Weihnachten zusammen, reden, lärmen, es ist warm, Anisgeruch, es wird Mensch ärgere dich nicht gespielt. Gleichzeitig vermisst Kaspar nichts. In den Formularen soll er bei Beruf des Vaters Schriftsteller schreiben, hat ihm die Mutter gesagt. Das hat er bis vor kurzem auch getan. In Zukunft würde er Unternehmer hinschreiben.

„Unternehmer ist kein geschützter Titel“, denkt Kaspar.

Kaspar ist am Lernen zu liefern, was zählt.

Vielleicht wird Kaspar doch wieder Schriftsteller in die Vaterrubrik schreiben.

„Man muss sich unterscheiden“, denkt Kaspar. „Whitening machen unterdessen alle“

Ein Schriftsteller als Vater könnte der zappelnde Köder für den Fang der HR-Frau sein. Im HR sitzen meistens Frauen, die manchmal eine Affinität zu Schriftsteller in der Rubrik Vater haben.

„Warum sollte ich nicht die übrig gebliebene Bezeichnung zu meinen Gunsten nutzen“, denkt Kaspar.

Der Alte hat das Käsebrot längst fertig zermahlen. Die zweite Hälfte liegt noch immer auf dem Fenstertischchen. Kaspar stellt sich den Korallenmund mit Zahnspange vor. Alle haben Zahnspangen getragen. Kaspar hat auch eine Zahnspange getragen. Unregelmässige Zähne benachteiligen. Kaspar hat gelesen, dass festgestellt worden ist, dass Zähne auch bei Erwachsenen korrigiert werden können. Die Zahnspange war bei Kaspar medizinisch indiziert gewesen. Geburtsfehler. Ein Zahn zu wenig. Für das Implantat musste die Lücke offen gehalten werden. Der Zahnarzt hat beim Implantat gepfuscht oder die Herstellerfirma, das weiss Kaspar nicht. Die Firma sei nur gegenüber dem Zahnarzt verpflichtet, hatte ihn die Rechtsabteilung des führenden Implantat Herstellers wissen lassen. Mäni hat sich Silikon in die Brüste implantieren lassen. Medizinisch indiziert. Von der Krankenkasse bezahlt. Kaspar schaudert. Seine Hand zuckt, als er daran denkt, wie er über Mänis Silikonbrüste streichen könnte.

„Geschmacksache“, denkt Kaspar.

Die Hand nicht wegziehen. Die Stimme des Biologielehrers zittert im Fensterglas.

Jeder musste die Hand ausstrecken. Wer sie zurückzog, wenn der Biologielehrer den Frosch auf den Handteller setzte, musste eine Abhandlung über das Apartheitsregime des Menschen gegenüber den Kaltblütlern schreiben. Kaspar kann sich nicht erinnern, was er geschrieben hat.

„Vielleicht habe ich den Unterschied zwischen Mensch und Tier ausgeführt“, denkt Kaspar. „Wäre möglich“, denkt Kaspar.

Als Kind hat Kaspar Stammbäume gezeichnet. Die Mutter hat ihm vor ihrem Umzug die Zeichnungen übergeben.

Kaspar guckt zum Korallenmund. Sie hat die Augen geschlossen.

„Vielleicht saugt sie Gedanken ab“, denkt Kaspar.

Kaspar steckt sich die Kopfhörer ins Ohr.

„Mickrige, einseitig gewachsene mütterliche Stammbäume“, denkt Kaspar.

Von Doro weiss Kaspar, dass die Grossmutter väterlicherseits aus einem Kanzleihaushalt gekommen ist und Wert darauf gelegt hatte, dass sie im Schloss des Kreisstädtchens aufgewachsen war. Kaspar hat sich damals nicht lange bei den mickrigen Stammbäumen aufgehalten. Er hat sich welche zusammengestellt, die etwas hergaben. Ein Insektenforscher als Urgrossvater, ein Luftfahrtingenieur als Grossvater, eine Grossmutter als Tochter des Eisenbahnbarons, ein Grossvater als Jazzmusiker, eine Grossmutter aus den Bergen, die Schirennen fuhr, eine Urgrossmutter aus Russland, ein Urgrossvater, der nach Amerika verkauft worden ist. Die Eltern hatte er als Vater und Mutter eingetragen. Nichts weiter. Ob er sich selbst eingezeichnet hatte, erinnert sich Kaspar nicht.

‚Hoshi comes in a other world‘ in den Ohren. Ihr, die zukünftige Elite! Kaspar schwitzt. Der Gymnasialrektor hatte sie bei jeder Rede mit ‚ihr die zukünftige Elite‘ angesprochen. Kaspar dreht um ein Lied zurück. ‚Hoshi comes in a other world‘. Der Korallenmund filtert wieder unermüdlich Wörter aus den Seiten des Wälzers. Der alte Mann sitzt neben ihr.

„Wie ein gesunkenes Schiff, das auf seine Bergung wartet“, denkt Kaspar. „Vielleicht auf sein weiteres Sinken, auf den Grund, wo sich Muscheln und Algen daran setzen werden“, denkt Kaspar.

Kaspar riecht den Käse der Sandwichhälfte, die auf dem Fenstertischchen liegt. Er verspürt Hunger.

„Der Korallenmund macht nicht den Eindruck, als würde sie in der Schlange vor der Tür der Zukunft bald an die Reihe kommen“, denkt Kaspar.

Noch zweieinhalb Stunden bis Frankfurt. In Frankfurt wird er Doro treffen. Seit Doro nach Deutschland umgezogen ist, hat er sie nicht mehr gesehen. Er hat Doro, auch als sie noch in der Schweiz gewohnt hat, selten gesehen. Kaspar mag Doro.

„Ich zeige dir Frankfurt“, hat Doro gesagt.

„Frankfurt ist in der Welt dabei“, denkt Kaspar.

Doro hat ihm als Kind besondere Geschenke gemacht. Senf aus Dijon mitgebracht, eine Musikdose mit drehenden Tännlein und Engelchen aus Polen. Eine Pelzmütze aus Moskau, violette Turnschuhe aus Mailand, Apfelstrudel aus Sent, eine silberne chinesische Schale aus dem Familienbesitz, ursprünglich ein Geschenk von der Frau Botschafterin, die laut Doro nur dummes Zeug daher geredet hat, die man aber trotzdem habe empfangen müssen. Kaspar hat damals die Schale Vera, seiner Schulfreundin geschenkt. Vera war seine Freundin gewesen, weil sie so gross gewesen war und weil sie so anders gesprochen und weil sie gut gezeichnet hatte. Vera war nicht ins Gymnasium gekommen. Sie hatte nicht rechnen können und sie hatte bei den Diktaten so viele Fehler, dass jeder beim Abholen seines Blattes gewusst hatte, dass das rot Übersäte Vera gehörte. Vera soll nach einem Praktikum auf einer Farm in Island geblieben sein. Manchmal denkt Kaspar auch, er könnte auswandern. Kanada vielleicht. Von Mutter weiss Kaspar, dass Doro bis zu ihrer Heirat mit Jacques, dem französischen Lampenmacher, nie Geld gehabt und trotzdem gut gelebt hat. Doro hat Kaspar angeboten, er könne bei ihnen übernachten. Kaspar hat dankend abgelehnt. Er will den Landluft Trip nicht unnötig verlängern. Um 20.00 Uhr wird ihn Ute am Bahnhof in Moosfeld abholen. Ute beeindruckt ihn. Sie weiss genau, was sie will und gleichzeitig erscheint sie rätselhaft.

„Es kann nicht sein, dass eine Frau, wie Ute, intelligent und mit power regelmässig in den Semesterferien nach Hause fährt um in der Landwirtschaft mitzuarbeiten“, denkt Kaspar. „Interesse an Männern hat sie offensichtlich auch nicht und trotzdem lädt sie mich ein“, denkt Kaspar.

Kaspar weiss, dass Utes Mutter irgendwie behindert ist. Eine Nervenkrankheit.

„Eine Mutter mit einer Nervenkrankheit ist schlimm“, denkt Kaspar.

Deswegen kein eigenes Leben zu führen, findet Kaspar unangebracht.

„Sie erwartet nichts von mir und trotzdem lädt sie mich ein.

Das gibt’s nicht“, denkt Kaspar.

Weil Ute nichts von Kaspar will, mag er sie. Er kann sich mit ihr über alles unterhalten. Er kann auf sie zählen. Deshalb müsste er aber nicht über sechs Stunden Zug fahren. Wenn er nur schon an den Landgeruch denkt, schüttet sein Körper Histamin aus. Die zwei Wochen Landdienst während der Gymnasialzeit waren Horror gewesen. Die wortlosen Tischszenen, der immer gleiche Tagesablauf, der erdige Matsch, vermischt mit Mist und Gülle, die Kinder, die versucht hatten, ihn mit dem Traktor zu überfahren, weil er nicht gewusst hat, wie die Metallsauger richtig am Euter angesetzt werden. Kaspar will sich nicht daran erinnern.

„Der Käse, der Käse war gut gewesen“, denkt Kaspar.

Der Korallenmund saugt Kaffee aus dem Becher, in kleinen Schlucken. Er hat sich einen kornblumenblauen Schal über die Schultern gelegt.

„Der Kaffee, der sie wohl hat wärmen sollen, muss sich abgekühlt haben“ denkt Kaspar. „Der Freund der jungen Frau gehört nicht richtig dazu“, denkt Kaspar.

Kaspar riecht solche Sachen.

„Die Frau und den Alten verbindet ein Geheimnis“ denkt Kaspar. „Obwohl sie Deutsch sprechen, müssen sie aus einer warmen Gegend kommen“, denkt Kaspar. „Vitamin B haben sie keines, aber ihre Schwere hat etwas Behauptendes“, denkt Kaspar.

Ein bisschen bedauert Kaspar, nicht zu ihnen zu gehören. Er steht auf, zieht sein Hemd gerade, geht am filternden Korallenmund vorbei ohne feststellen zu können, ob die Frau sein Vorbeigehen registriert. Drei Wagen muss er durchqueren, um an die Bar im Bordrestaurant zu kommen. Kaspar kauft sich einen Kaffee und ein Käsebrötchen. Ein alter Mann, ein sehr alter Mann, hält sich am Bistrotischchen neben der Theke fest und versucht seinen Mantel anzuziehen. Einen Regenmantel.

„Für alle Fälle“, geht es Kaspar durch den Kopf. „Alte Leute nehmen immer etwas mit für alle Fälle“, denkt Kaspar.

Kaspar hilft dem Mann in den Mantel.

„Junger Mann, sie bringen es zu etwas. Sie können Ihr Benehmen in die Waagschale werfen“, sagt der Alte.

Er bleibt im Gang stehen.

„Mein Grossvater hat die erste Eisenbahnlinie gebaut. Auf Flossen in Hundehütten sind sie der Linie nachgereist, mussten in Ungarn, wegen dem Ungarnaufstand an Land und zu Fuss weiter, sonst wären sie abgeschossen worden“, sagt der Alte. Kaspar hätte den Alten alt sein lassen sollen. Es wurde peinlich. Den Kaffee in der einen Hand, das Brötchen in der anderen, ist Kaspar durch den Alten im Gang blockiert.

„Der Grossvater sagte zu seinem Sohn: Guck der Arzt, wie er in der Kutsche gemächlich durch das Dorf fährt. Mein Vater ist Arzt geworden. Als Assistenzarzt ist er an die Front gegangen. Im Krieg wurde man als Assistenzarzt sofort Leutnant“, sagt der Alte.

Zum Glück hat es ausser einem aalglatt frisierten Typen mit Weisswein keine weiteren Gäste im Bistro.

„Ich werde die Stammbaum Zeichnungen wegwerfen, wenn ich zurückkomme“, denkt Kaspar.

„In einem Unterstand, hat er den Sanitätern gesagt, sie sollten weiter machen, er müsse noch anderswo zum Rechten sehen. Als er zurückgekommen ist, ist der Unterstand weg gewesen.

Er ist allen Ehren enthoben worden. Wer desertiert, wird füsiliert“, sagt der Alte.

Der Mann rezitiert unverkennbar ein Soldatenlied. Kaspar hört weg.

„Junger Mann, es kommt immer darauf an“, sagt der Alte. Kaspar will ihn ablenken. Fragt ihn, ob er auch etwas mit Eisenbahnen zu tun habe. Der Alte lässt sich nicht beirren.

„Als die Deutschen wieder Oberhand gewonnen haben, wurde die Angelegenheit untersucht und es stellte sich heraus, dass es sich genau so zugetragen hatte, wie mein Vater ausgesagt hatte. Er ist rehabilitiert worden“, sagt der Alte.

Der Mann nimmt seine Aktenmappe vom Bistrotisch.

„Feines Leder“, denkt Kaspar. „Jetzt nur nichts sagen und schnell weg.“

Kaspar hat vergessen einen Deckel auf den Pappbecher zu drücken, was die Flucht gefährlich verlangsamt. Erfolgreich findet er den Korallenmund und damit seinen Platz.

„Es ist idiotisch gewesen, sich in diesen Zug zu setzen“, denkt Kaspar.

Der blinde Alte schläft. Mit aufrechtem Kopf.

„Vielleicht schläft er auch nicht“, denkt Kaspar. „Blinde scheinen immer zu schlafen, aber sie beobachten einen ständig. Aus einer andern Welt heraus.“

Der Korallenmund sitzt nahe am Alten.

„Sie muss seinen Körper durch den Mantel hindurch spüren.“, denkt Kaspar. „Sie spürt an seinem Körper, was er sieht“, denkt Kaspar.

Nichts passiert. Der Mund bewegt sich nicht.

Kaspar isst das Sandwich. Trinkt den Kaffee, schluckweise. „Wahrscheinlich blickt sie in das Buch, ohne zu lesen“, denkt Kaspar. „Umnachtet. Nein, nicht umnachtet. Umnachtet sagt man bei Verwirrten. Verinnerlicht. Verinnerlicht ist das richtige Wort“, denkt Kaspar.

Der Zug hält in Offenburg. Kaspar hat Achtung vor Ute, die ihr Studium konsequent durchzieht und dies in der Schweiz. Er kann sich zwar nicht vorstellen, was ein Studium in der Schweiz jemandem aus Deutschland für Vorteile bringen kann. „O.K., es ist auch Ausland. Ohne Auslanderfahrung läuft heute nichts mehr“, denkt Kaspar.

Singapur und Shanghai sind die begehrtesten Destinationen unter den Betriebswirtschaftlern. Madrid ist sprachlich begehrt, hat aber an Wert eingebüsst. Sich auf die Seite von Absteigern zu schlagen, zahlt sich nicht aus. Brasilien ist trotz Boom wegen dem Portugiesisch kaum interessant. USA läuft immer noch. Kaspar hat den Zuschlag für Schweden erhalten. Im Mainstream fühlt sich Kaspar sowieso nicht wohl. Er hat auch kein Interesse an McKinsey und PricewaterhouseCoopers.

„Geh zu McKinsey oder zu PricewaterhouseCoopers. Da musst du durch, dann stehen dir alle Türen offen“. The people‘s voice.

„Alle wissen, wie es geht. Alle wissen immer so genau, wie es geht“, denkt Kaspar.

Er legt seine Hände um den Kaffeebecher, als ob er die Hände wärmen wollte.

„Doro ist nicht so. Doro sagt nicht, wie es geht“, denkt Kaspar. „Doro erzählt von Menschen. Manchmal von Orten, an denen sie gewesen ist. Sie erzählt so genau, dass man lacht und so tut, als sei es eine witzige Story“, denkt Kaspar.

Kaspar weiss, dass Doros Geschichten wahr sind.

„Für das Leben kann Doro nicht viel bieten“, denkt Kaspar, „weil man wissen muss, wie es funktioniert, nicht wie es ist“, denkt Kaspar. „Wer sich nicht nach dem Gang der Dinge richtet, ist vorneweg out, sitzt nicht einmal auf der Ersatzbank“, denkt Kaspar.

Kaspar will trotzdem nicht in eine Wirtschaftsprüfungsfirma einsteigen. Bei den Lunchtalks, die Studenten und Firmen zusammen bringt, ist Kaspar bei den makellosen Präsentationen der Wirtschaftsprüfer übel geworden. Die Floskeln schwammen im Raum herum, streiften sein Gesicht.

Die Luft wurde dünner. Die Typen in den weissen Hemden waren so überzeugt von sich, dass es keine Fragen gab.

Kaspars Magen zog sich zusammen. Der Puls begann zu jagen. Kaspar verliess den Präsentations-Raum.

„Vielleicht haben sie Lachgas verwendet, um die Menge zu narkotisieren und die Dosierung ist ihnen ausser Kontrolle geraten“, denkt Kaspar.

Kaspar schmunzelt über seinen Einfall. Kaspar weiss, würde er sein Erleben offen legen, würden seine Gesprächspartner denken, er sei in der Wirtschaft am falschen Platz. Sie würden es nicht sagen, aber er würde es an ihrer Nettigkeit merken. „Eine Kommunikationsstrategie, um Unpassendes rasch und schmerzfrei auszuscheiden“, denkt Kaspar.

Kaspar wendet sie manchmal auch an. Kaspar redet nicht über das, was in ihm vorgeht und selten über das, was er wirklich denkt. Kaspar weiss, dass es nicht darauf ankommt, wie man ist, sondern wie man wirkt. Eine Frau steht vor ihm im Gang.

Jung, klein, erotische Ausstrahlung, slawisches Gesicht. So wie sich Kaspar slawische Gesichter vorstellt. Sie wedelt mit zwei Ticketkarten. Wahrscheinlich hat sie reserviert. Kaspar hat nicht darauf geachtet. Er steht auf, lässt sie am Fenster Platz nehmen. Sie rutscht auf dem Sitz vor und zurück.

„Eine Katze. Trippelt im Kreis, bis sie sich behaglich niederlässt“, denkt Kaspar.

Schrumpelige Hände. Der Nagellack blättert ab. Rote Tasche.

„Sexwertsteigerung misslungen“, denkt Kaspar.

Auf dem Bahnsteig winkt ihr ein Mann zu. Gross, dick, schmuddelig. Der Zug fährt an. Der winkende Mann auf dem Bahnsteig verschwindet. Die Frau greift zum Handy. Sie spricht akzentfrei Deutsch. Sehr leise.

„Es muss jemand auf der anderen Seite sein, der im Bild ist“, denkt Kaspar.

Das Telefonat geht entgegen Kaspars Erwartung nicht länger als ein paar Minuten.

„Kostenbremse vielleicht“, denkt Kaspar. „Ukraine vielleicht. Wahrscheinlich sprachbegabt“, denkt Kaspar.

Die Frau guckt lange auf ihr Ticket.

„Der Mann hat ihr das Ticket gelöst“, denkt Kaspar, „sie fährt aber wo anders hin.“

Zwei Sitzreihen weiter vorne ist ein Platz frei geworden.

Kaspar überlegt, ob er auf den frei gewordenen Platz wechseln soll. Kaspar hat eine tiefe Abneigung gegen all die Olgas,

Ilenas und Irinas, die auf westliche Männer abgerichtet sind.

Reiche Männer. Halb Reiche.

„Die Dame hat sich vertan“, denkt Kaspar. „Der hat ausgesehen, als meine er es ernst.“

Damals, als Kaspar mit der schönen Alissa im Jule Verne an der Bar gesessen hatte, war ein Designer Typ reingekommen. Den Autoschlüssel demonstrativ in der Hand schwingend, hatte er sich neben Alissa platziert. Knappe zehn Minuten waren vergangen und die beiden hatten zusammen das Lokal verlassen.

„Niks Galerie angucken“, hatte Alissa gesagt.

Beim Weggehen hatte sie über seinen Ärmel gestrichen.

Alissa war nicht zurückgekommen. Nik auch nicht. Kaspar hatte die Tequilas bezahlen müssen.

„Im Film witzig“, denkt Kaspar. Wenn aber der eigene Leib langsam von oben nach unten im Kälteschweiss erstarrt, gibt es nichts mehr zu lachen“, denkt Kaspar. „Frauen fahren allgemein auf reiche Männer ab. Auf Sportwagen sowieso.

Keine östliche Eigenheit“, denkt Kaspar.

Kaspar hat nichts gegen den Osten. Aber er mag auch Jewa nicht. Sie ist für ihn zu ehrgeizig. Wahrscheinlich magersüchtig. Ausser für die Neurowissenschaften interessiert sie sich für nichts. Sie redet und redet, erzählt jedem, der es hören will oder auch nicht hören will, dass ihr Vater an der Ostsee die Schiffe bis zur Öffnung beobachtet und als einer der Ersten mit der Familie eine Aufenthaltsbewilligung in Deutschland erhalten hat, die Mutter psychische Schäden hat, aus der Zeit, als sie als Kind mit ihrer Familie 90 Tage in St. Petersburg eingekesselt gewesen sei.

„Sie setzt die zwei Studienjahre in den USA ein, den besonderen Touch der russischen Herkunft, die versehrte Mutter, das Begabtenstipendium, alles setzt sie ein, um an den Speck zu kommen“, denkt Kaspar.

Kaspar war dagegen gewesen, Jewa in die Wohngemeinschaft aufzunehmen. Kaspar bleibt an seinem Platz neben der Frau sitzen. Sie ist eingeschlafen, den Kopf im Polster, die abgewetzte rote Handtasche auf dem Schoss.

„Warum es immer Rot sein muss“, denkt Kaspar.

Kaspar stellt sich die Mappe des sehr alten Mannes im Bistrowagen rot vor.

„Wahrscheinlich hat der Mann vom Ersten Weltkrieg gesprochen und nicht vom zweiten“, denkt Kaspar.

Wie ein Satellit umkreist Kaspar die vom Alten aufgemachte Zeitspanne. Ein riesiger Krater. „Wahrscheinlich war die erste Eisenbahn, der Grossvater in Ungarn, die Kutsche 19.

Jahrhundert gewesen“, denkt Kaspar. „Der Vater als Arzt im Krieg musste der Erste Weltkrieg gewesen sein. Er selbst musste im zweiten Weltkrieg gewesen sein“, denkt Kaspar.

Wahrscheinlich trägt der Alte seine ganze Vergangenheit in der ledernen Mappe mit sich herum“, denkt Kaspar. „Warum hatte der ihm eigentlich keine Antwort auf seine Frage gegeben, ob er selbst etwas mit Eisenbahnen zu tun habe? Wahrscheinlich hatte der Mann etwas mit Eisenbahnen zu tun und jetzt reist er seine letzten Tage mit der Bahn im Land herum.

Eisenbahnfahren muss eine Lieblingsbeschäftigung der Alten sein“, denkt Kaspar.

Kaspar ist auch schon von Alten in Schweizer Zügen angesprochen worden. Kaspar erinnert sich an ausgetrickst Zeiterfassungsgeräte, an Bodenvibrationen auf dem Flughafen, die das Wetter vorhersagen. An so etwas, wie Eisenbahnlinien durch Ungarn und Unterstände im Krieg, erinnert sich Kaspar nicht. Kaspar hat keine grosse Ahnung von Geschichte. Sicher, die grossen Linien beherrscht er: Gründung Amerikas, British Empire, Russische Revolution, was halt im Gymnasium so behandelt worden ist. Wenn ihn jemand nach der Schweizer Geschichte gefragt hätte, hätte er nicht antworten können.

Sollte ihn jemand fragen, würde er auf Wikipedia verweisen. Auf die Schweizer Demokratie ist Kaspar stolz. Als Kind hat ihn Wilhelm Tell im Historischen Museum fasziniert. Die Armbrust im Anschlag, auf den Apfel auf dem Kopf seines Sohnes zielend. Kaspar bewundert Menschen, die sich nicht vor Despoten verbeugen. Kaspar prüft den Sitz der Ohrknöpfe. In den Ferien will Kaspar Fun haben. Die Drums erregen ihn, seine Stimmung hebt sich. Grosse Kopfhörer wären besser, aber Kaspar will nicht mit einem Gestell auf dem Kopf und gelben Ohrmuscheln so doof aussehen, wie ein Affe im Labor, Ein Mann geht an Kaspar vorbei Richtung Toilette. Blaue Hortensienblüten auf den Fersen.

„Kappen zum Schutz vor dem Reiben der Sandalenriemchen vielleicht oder Abwehr der Tritte von hinten“, denkt Kaspar. Kaspar schliesst die Augen.

‚Ihr seid die Elite‘. Kaspar hat einen Tele-Bericht gesehen, wie die Elite einer Ameisenstrasse gleich am Mount Everest hochsteigt, in Lodges übernachtet. Einzelunterbringung. Video Aufnahmen fürs Geschäft, für die Frauen, die Kinder, die Nachbarn. Stolz nicht höhenkrank geworden zu sein.

„Vorbei mit am Berg ist jeder allein“, denkt Kaspar.

Kaspar erinnert sich an das Alleinsein in den Bergen des Himalayas. Ein indischer Ex-Offizier aus dem Kaschmirkrieg mit seinen Sherpas, ein pakistanischer Koch und Umi, der sie in Delhi abgeholt hatte. Kaspar sieht die feuerroten, violetten und weissen Rhododendronblüten, spürt die Süsse des Nektars in sein Blut diffundieren. Einen kreisenden Adler über der Schlucht. Das bockstillstehende Kind, das sich vor ihnen gefürchtet hatte. Den Schieferstein auf dem Rücken, die Schnur um den Hals. Kilometerlang der Weg zum Schulunterstand.

Die Tänze im Dorf, das Betatschen seines krausen Haares.

Kaspar erinnert sich an seine Angst, er könnte plötzlich ein Gott sein. Kaspar hat immer noch E-Mail - Kontakt zu Umi aus Ladakh, der damals Student gewesen war. Kaspar könnte Umi in Ladakh jederzeit besuchen. Kaspar hatte gezögert, ob er Umis Hochzeitseinladung folgen sollte.

„Was hätte ich an einer indischen Hochzeit anfangen sollen“, denkt Kaspar. Jeder hat genug mit sich selbst zu tun“, denkt Kaspar.

An Frauen heran zu kommen, ist für Kaspar leicht. Sobald sie aber beginnen von der Zukunft zu sprechen, stellt es ihm ab.

„Die meisten Frauen wollen über die Zukunft sprechen“, denkt Kaspar. „Ute ist eine Ausnahme.“

Kaspar vermisst Mélisande. Nach der Trennung war das beklemmende Gefühl weggewesen. Der harzende Atem, das Engegefühl, das er in Monaten mit hoher Pollenkonzentration kennt. Kaspar will jetzt nicht über Frauen nachdenken. Er will überhaupt nicht nachdenken. Er will die paar freien Tage geniessen. Kaspar lässt die Musik weitergleiten, stoppt bei Desmond Myers. Er braucht jetzt etwas Weiches. Kaspar sucht den Blick des Korallenmundes. Der Mund filtert und filtert.

Die Ukrainerin neben Kaspar schläft. Der Zugführer fordert neu zugestiegene Fahrgäste auf ihre Fahrkarte zu zeigen.

„Die Deutschen sind in der Schweiz nicht sehr beliebt“, denkt Kaspar. „Sie meinen immer noch, sie müssten den Ticker spielen“, denkt Kaspar. „Dabei tun sie so, als ob sie nicht meinen, dass sie den Ticker spielen müssten.“

Mäni hat beim Pokern erzählt, dass der deutsche Professor in analytischer Psychologie neulich heraus gelassen habe, wenn ein Individuum so viele Diminutive einsetzen würde, wie dies in der Schweizer Mundart der Fall sei, würde eine degressive Depression diagnostiziert werden müssen. Der sei nicht einmal ausgepfiffen worden, weil noch nicht festgestanden habe, welche Art Prüfung er einsetzen würde. Ute ist anders. Es gibt auch noch andere, die anders sind. Kaspar geht es um den Menschen und nicht um Nationalitäten. Kaspar lebt gern in der Schweiz und der Schweiz geht es gut. Kaspar zieht die Stöpsel aus den Ohren und fotografiert an der schlafenden Ukrainerin vorbei durchs Fenster hindurch die Strommasten mit nichts als dem Horizont im Hintergrund. Kaspar liebt Strukturgitter, Skelette. Er versucht mit der Kamera so etwas wie Röntgenbilder von Landschaften herzustellen. Arzt hätte er niemals werden wollen. Die Vorstellung in einen Körper hinein zu schneiden, schaudert ihn. Kaspar isst auch kein Fleisch.

Fleisch, das nicht wie Fleisch aussieht, isst Kaspar. Hinter ihm telefoniert einer. Auf Englisch. Ersatzforderungen wegen einer verspäteten Lieferung.

„Schlechtes Englisch. Ruhige Stimme. Einer, der am längeren Hebel sitzt“, denkt Kaspar, „scheinheilig zweiter Klasse fährt.“.

Kaspar wischt die Brotkrümel von der Hose.

„Ein richtig Grosser ist das nicht“, denkt Kaspar. „Ein richtig Grosser telefoniert niemals wegen einer Ersatzforderung im Zug. Der reist zwar zweiter Klasse um nicht aufzufallen, lässt aber andere telefonieren und Ersatzforderungen stellen“, denkt Kaspar.

Kaspar will jetzt nicht über Grosse nachdenken. Er will überhaupt nicht nachdenken. Er will einfach sein Leben machen.

„Jeder will gewinnen“, denkt Kaspar. „Ich will auch gewinnen“, denkt Kaspar, „auch wenn ich nicht einmal weiss, wer am Spiel beteiligt ist.“

Kaspar liebt es mit Andy, Lukas, Lisa, Mäni und Silu zu pokern. Ein überschaubares Spiel. Kaspar kennt Andy, Lukas, Lisa, Mäni und Silu. Er kann ihr Verhalten einschätzen. Häufig gewinnt Kaspar. Kaspar kann sich gut verstellen. Ein grosser hagerer Mann, Kurzarmhemd im Dschungeldesign, schwarze Hosen, feiner Stoff, bewegt sich in Richtung Ausstieg.

„Ein weiblicher Typ“, denkt Kaspar, „er könnte der Telefonierende gewesen sein. Einer der Schlangen aus dem Urlaub importiert“, denkt Kaspar.

Kaspar steckt die Stöpsel wieder in die Ohren, streicht Nicki Minaj herbei. Der Zug verlangsamt, fährt durch einen kleinen Bahnhof. Blankenloch. Kein Mensch. Ein einsamer Kleiderund Schuhsammelbehälter auf dem Steg. Stromdrähte und weisse Wolkenformationen auf Kaspars Augenhöhe. Er sieht sich plötzlich Aug in Auge mit dem Himmel.

„Das Zugtrassee muss tiefer liegen“, denkt Kaspar.

Ein Güterzug passiert, verdeckt die Sicht. Unterholz. Wald. Schrebergärten. Deutsche Fahnen, eine Portugiesische und Unbekannte.

„Eroberungen. Ein Stückchen Erde. Den Mond. Das All“, denkt Kaspar.

Kaspar ist aufgeladen, wie vor einem Wettkampf.

„Unzählige Satelliten kreisen im All, kontrollieren die Erde“, denkt Kaspar.

Kaspar liebt Science Fiction Filme immer noch. Den Kampf um Gut und Böse. Beim Korallenmund und dem Alten nichts Neues. Die Ukrainerin feilt ihre Nägel. Der Zug fährt über eine Stahlbrücke.

„Muss der Main sein“, denkt Kaspar.

Frankfurt naht. Unter der Brücke ein Beach. Menschenleer. Zusammengekettet Stühle. Kaspar schaltet bei Einstellungen auf ‚Nicht stören‘. Die Satelliten senden unaufhörlich weiter. Kaspar ist zurzeit nicht interessiert zu wissen, an welchem Punkt der Erdoberfläche er sich befindet und wie er in Beziehung steht zu dem, was ihn umgibt. Er hat immer noch Hunger.

„Doro wird mich bestimmt zum Essen einladen“, denkt Kaspar.