Biblischer Roman
Bibelzitate nach der Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift,
© 1980 Katholische Bibelanstalt, Stuttgart
© 2015 Brunnen Verlag Gießen
www.brunnen-verlag.de
Lektorat: Eva-Maria Busch
Umschlagmotiv: Protasov AN/shutterstock
Umschlaggestaltung: Olaf Johannson (spoon design)
Satz: DTP Brunnen
ISBN 978-3-7655-0918-6
eISBN 978-3-7655-7195-4
Meinen Eltern
Ein Gefäß mit Essig stand da.
Sie steckten einen Schwamm mit Essig auf einen Ysopzweig und hielten ihn an seinen Mund.
Johannes 19,29
PROLOG
Erster Teil LAUREOLUS
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Zweiter Teil STEPHATON
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Dritter Teil DER NEUE WEG
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
NACHWORT DES AUTORS
Johannes, den man den Täufer nannte, trug ein Gewand aus Kamelhaaren und einen ledernen Gürtel um seine dürren Hüften. Als Maria ihn im seichten Flussbett des Jordans stehen sah, hätte sie am liebsten kehrtgemacht. Doch wen hatte sie erwartet? Einen Mann in vornehmer Kleidung? Die Menschen hielten ihn für einen Propheten, einige sogar für den Messias. Also stellte sich Maria in die Reihe derer, die gekommen waren, um sich von Johannes taufen zu lassen zur Vergebung ihrer Sünden.
Als sie ihn predigen hörte, begriff sie, dass er in der Tat ein besonderer Mensch war. Johannes sprach vom Nahen des Gottesreiches, seine Stimme bebte, als spräche er im Zorn. „Bringt Frucht hervor, die eure Umkehr zeigt!“, rief er. „Und meint nicht, ihr könntet sagen: Wir haben ja Abraham zum Vater. Gott kann auch aus Steinen Kinder Abrahams machen!“
Nicht alle waren gekommen, um sich taufen zu lassen. Maria bemerkte eine Abordnung von Priestern aus Jerusalem, die abseits standen. Schließlich trat einer von ihnen hervor und wandte sich direkt an den Täufer. „Sag es uns frei und offen, Johannes, Sohn des Zacharias: Bist du der Messias?“
Ruhig begegnete der Täufer dem lauernden Blick des Fragestellers. „Nein, ich bin es nicht.“
„Wer bist du dann? Wir müssen denen, die uns gesandt haben, Auskunft geben!“
„Ich bin nur eine Stimme in der Wüste. Und diese Stimme ruft unablässig: Bereitet dem Herrn den Weg!“
„So bist du ein Prophet wie Elijah oder Jesaja?“
„Ich bin der, der dem Herrn vorausgeht. Ich taufe mit Wasser. Nach mir kommt einer – und er ist schon mitten unter euch –, der wird euch mit dem Feuer des Heiligen Geistes taufen. Ich bin es nicht wert, ihm die Schuhe aufzuschnüren. Schon hält er die Schaufel in der Hand, um die Spreu vom Weizen zu trennen!“
Die Abgesandten zogen sich zur Beratung zurück. Maria fand, dass sie ziemlich ratlos dreinblickten. Aber jetzt war sie an der Reihe, getauft zu werden. Zwei Jünger des Johannes führten sie in den Fluss, bis das Wasser ihr fast zu den Hüften reichte.
Johannes nahm sie in die Arme. „Kehr um, du Tochter Abrahams, denn das Himmelreich ist nahe!“
Sie nahm ihr Kopftuch ab, und dreimal tauchte er sie unter. Als die Jünger sie nach der Zeremonie ans Ufer geleiten wollten, um den nächsten Täufling heranzuführen, fasste sie sich ein Herz und sagte flehend zu Johannes: „Du hast mich getauft, heiliger Mann, doch mein Durst ist nicht gestillt. Die Dämonen sind noch in mir.“
Er sah ihr forschend in die Augen. „Wenn dein Retter dir gegenübersteht“, prophezeite er, „wirst du ihn erkennen, und die Dämonen werden dich auf der Stelle verlassen.“
Das klang wie ein Versprechen. Getröstet machte sich Maria von Magdala wieder auf den Heimweg.
Erster Teil
Im fünfzehnten Regierungsjahr des Tiberius
Ihr seid das Salz der Erde.
Wenn das Salz seinen Geschmack verliert,
womit kann man es wieder salzig machen?
Matthäus 5,13
Gelon hatte genug von den alten Dramen und Tragödien. Er war fest davon überzeugt, dass sich die Menschen in Tiberias ebenfalls daran sattgesehen hätten und etwas anderes verdienten. Gewiss, das Theater war gewöhnlich bis auf den letzten Platz besetzt, doch Gelon spürte: Es war Zeit für etwas Neues. Aischylos und Sophokles hatten ausgedient. Selbst die Komödien des Menander brachten keine Abwechslung mehr, wenn man erst einmal zwei oder drei gesehen hatte.
In Sepphoris, wo Gelon neulich Verwandte besucht hatte, war es ihm wie Schuppen von den Augen gefallen. Wie rückständig sie doch hier in Tiberias waren! Im Theater von Sepphoris hatte er Dinge gesehen, die er seiner eigenen Schauspielertruppe bis dahin nicht zugemutet hätte. Die Römer mochten nicht so kultiviert sein wie die Griechen, aber sie wussten die Leute gut zu unterhalten. Sie scherten sich nicht um Ästhetik oder Anspruch, sie liebten es, wenn Unerwartetes geschah, wenn auf der Bühne improvisiert wurde. Die Mimen achteten dabei nicht auf Sittsamkeit oder vornehme Sprache. Ohnehin klang auf Lateinisch alles vulgär, fand Gelon. Für die griechischsprachige Version würde er sich einiges einfallen lassen, auf Masken würde er weitgehend verzichten.
Zunächst hatten ihn, wenn er auch alles andere als prüde war, die gesehenen Darbietungen in Sepphoris ein wenig befremdet, doch als er aufmerksam die Reaktionen der Zuschauer studierte, die sich lachend auf die Schenkel klopften und Tränen aus den Augen wischten, da hatte er beschlossen, der Rückständigkeit auf Tiberias’ Theaterbühne ein Ende zu bereiten. Die Zeit war reif dafür, gefragt war vergnügliche Unterhaltung, nicht Kümmernis und bitterer Ernst. Er musste es nur noch seinen vier Mimen begreiflich machen. Sie würden neue große Erfolge feiern.
Nach Tiberias zurückgekehrt, beraumte Gelon unverzüglich ein Treffen mit seinen Schauspielern an. Die vier setzten sich in die leeren Ränge des Theaters, dort, wo die Abendsonne bereits Schatten warf. Großtuerisch baute sich Gelon vor ihnen auf.
„Von nun an werden wir spielen wie die Römer!“, verkündete er. Das klang wie ein Befehl, denn Gelon hatte nicht vor, die Angelegenheit mit ihnen zu diskutieren. Nicht umsonst war er das Haupt der Truppe. Er bestimmte, was gemacht wurde, schließlich trug er die Verantwortung für seine Mimen. Begeistert erzählte er von den Stücken, die er im römischen Theater von Sepphoris gesehen hatte.
„Also Zoten und Klamauk“, stellte Selenos nüchtern fest. Er war der Älteste in der Truppe, um die vierzig, und damit noch ein paar Jahre älter als ihr Führer.
„Tiberias lechzt nach frischen Komödien“, behauptete Gelon.
„Und was ist mit Chares?“ Selenos fand, dass der Besitzer des Theaters ein Wörtchen mitzureden hätte.
„Mit ihm habe ich gesprochen. Er ist mit allem einverstanden, wenn es ihm nur ordentlich die Kassen füllt. – Stephaton, was denkst du?“
Wenn Gelon auch nicht bereit war, seine Entscheidung infrage stellen zu lassen, so war er doch neugierig auf die Meinung seines besten Schauspielers. Stephaton, Sohn eines Baumeisters, Liebling des Publikums, mit reichlich Talent und männlicher Schönheit ausgestattet, war in Tiberias eine Berühmtheit. Er konnte sich in den Gassen kaum bewegen, ohne dass man ihn ansprach. Eine Erklärung für seine Beliebtheit hatte Stephaton nicht, aber Gelon und die anderen versicherten ihm immer wieder neidlos, es liege an seinem ausdrucksstarken, glaubwürdigen Spiel, dass die Zuschauer ihm zu Füßen lagen, allen voran die Frauenwelt, die ihn zudem wegen des dunklen Kraushaares und aufgrund seines ansehnlichen Körperbaus anschmachtete.
„Wenn du nicht Mime wärst“, sagte Eugenia manchmal im Spaß zu ihm, „dann könntest du den Bildhauern Modell stehen als Herakles, Achilles oder sonst einer dieser Prahlköpfe!“ Kaum zwanzig Jahre zählte er, aber für Gelon war er unentbehrlich.
Stephaton dachte eine Weile über Gelons Worte nach. „Ich weiß nicht“, sagte er vorsichtig, denn er hatte nicht vor, den streitbaren Gelon wütend zu machen. „In Tiberias sind die Römer in der Minderheit, und ich bin mir nicht sicher, ob es den Griechen gefällt, wenn wir plötzlich völlig andere Stücke spielen.“
„Unsinn“, widersprach Gelon leidenschaftlich. „Sie werden entzückt sein. Die Zeit ist reif für etwas Neues. Die verfluchten Perserkriege kommen doch allen aus den Ohren heraus.“
„Ich bezweifle, dass ich komische Rollen spielen kann“, warf nun Schapur ein. Der bullige Syrer, einziger Nichtgrieche im Ensemble, pflegte die grimmigen Bösewichte zu spielen, aber auch außerhalb der Vorstellungen sah man ihn selten lächeln.
Gelon verdrehte die Augen. „Auch ich bezweifle das, Schapur. Doch auch alberne Possen brauchen einen Spielverderber wie dich, damit die anderen Darsteller glänzen können.“
Schapur sah das offenbar nicht als Beleidigung, denn er hob unbeeindruckt die Schultern.
Gelon sah sie alle der Reihe nach an. „Was ist mit euch? Traut ihr euch etwa nicht? Was für Schauspieler seid ihr, dass ihr neue Herausforderungen scheut?“
Bei Eugenia, die seine Gefährtin war, blieb sein Blick hängen. Sie war von herber Schönheit, eine zu lange, etwas höckerige Nase sorgte dafür, dass ihr Anblick nicht gleich jedem Mann den Atem raubte. Ihr pechschwarzes Haar trug sie hochgetürmt zu einer kunstvollen Frisur. „Na los, mach schon deinen hübschen Mund auf, meine Nymphe. Du bist es doch auch satt, immer nur zänkische Göttinnen und wehklagende Witwen zu spielen.“
Eugenia schürzte die Lippen. „Du hast es sowieso schon entschieden. Wozu fragst du mich?“
„Ich will wissen, ob du damit einverstanden bist.“
„Oh, das ist tatsächlich etwas Neues. Wie ich vermute, werde ich mich bei den neuen Stücken noch öfter entblößen müssen. Wir wissen ja, wie es in den römischen Theatern zugeht.“
„Als ob dir das etwas ausmachte.“
„Und Schapur darf mich womöglich noch nach Herzenslust betatschen, wie?“
„Auf der Bühne muss man eben manchmal Dinge tun, die keinen großen Spaß machen“, sagte Schapur ungerührt und sorgte für Gelächter, selbst der nüchterne Selenos grinste.
„Man sage über unseren Syrer, was man wolle, aber er ist ein großer Mime. Was mich angeht, so soll es mir gleich sein, ob ich mit Menander oder einem Stück dieser römischen Possenschreiber künftig mein Brot verdiene.“
„Na also!“ Gelon klopfte Selenos wohlwollend auf die Schulter. „Ich wusste es, auf dich ist Verlass. Komm schon, Junge“, wandte er sich flehend wieder an Stephaton, „es wird dir Spaß machen. Die Leute werden dich noch mehr verehren.“
„Allen voran die edle Fausta Decila“, bemerkte Eugenia süffisant.
„Die Römerin ist mir völlig gleichgültig“, beteuerte Stephaton.
„Stimmt, du hast es ja eher auf diese kleine Jüdin abgesehen. Wie heißt sie doch gleich? Maria?“
„Nein, Maria heißt sie nicht“, wusste Selenos.
„Heißen diese Jüdinnen nicht alle Maria?“
„Hör auf damit, Eugenia“, mahnte Gelon. „Wenn ich es nicht besser wüsste, könnte man denken, du bist eifersüchtig.“
„Und ob ich eifersüchtig bin, mein Lieber. Denn wenn dich einmal der Schlag trifft – und das geschieht hoffentlich bald –, dann halte ich mich selbstverständlich an Stephaton.“
„Wenn mich der Schlag trifft, bist du alt und grau, meine Nymphe. Warum sollte Stephaton dann ausgerechnet dich erwählen? Er könnte jedes Weib haben, nach dem ihm der Sinn steht.“
Eugenia warf Stephaton eine Kusshand zu. „Dafür ist er viel zu schüchtern. Zumindest, wenn er nicht gerade auf der Bühne steht.“
„Sei still, meine Nymphe. Unser Stephaton will mir nämlich gerade etwas sagen. Nun, mein Junge? Du wirst doch nicht aus der Reihe tanzen, oder?“
Stephaton breitete die Hände aus. „Und wenn es den Leuten nicht gefällt?“
„Es wird den Leuten gefallen! Anderenfalls spielen wir wieder die alten Stücke, versprochen!“
Sie brauchten Stephaton. Seinetwegen strömten die Leute ins Theater. In Wahrheit hatte Stephatons Skepsis nur einen Grund: Er befürchtete, die neuen Vorstellungen könnten Sara nicht gefallen. Aber das behielt er für sich, sonst würde Eugenia ihn wieder necken. Und ein Spielverderber wollte er nicht sein. Außerdem konnte er mit dazu beitragen, dass das Stück nicht allzu frivol wurde.
„Von mir aus“, antwortete er gepresst.
Gelon ballte freudig eine Faust. „Guter Junge! Glaub mir, Menander, Euripides und all diese Leichen haben keine Zukunft mehr.“
„Und an welches Stück hast du genau gedacht?“, wollte Selenos von ihm wissen.
Gelons Augen glänzten, er hob einen Finger. „An das vom Räuber Laureolus!“ In knappen Sätzen erzählte er ihnen von der Aufführung, die er sich in Sepphoris angesehen hatte.
„Das soll lustig sein?“, fragte Stephaton zweifelnd.
Gelon deutete mit dem Zeigefinger auf jeden einzelnen von ihnen. „Ihr werdet dafür sorgen, dass es lustig wird. Was die römischen Mimen können, das können wir schon lange.“
„Und ich soll dann wohl den Räuber spielen“, vermutete Schapur.
„Das könnte dir so passen. Den Laureolus spielt selbstverständlich Stephaton, er ist die wichtigste Figur in diesem Stück.“
„Die Leute werden unserem strahlenden Jüngling wohl kaum einen gemeinen Räuber abnehmen“, gab Eugenia zu bedenken.
„Wer sagt denn, dass Laureolus der Bösewicht ist? Ich werde die Rollen ein wenig verändern. Niemand soll behaupten, wir hätten die Römer nachgeahmt.“
„Damit wäre das ja auch geklärt“, sagte Selenos. „Wann beginnen wir mit den Proben?“
„Auf der Stelle!“ Gelon klatschte in die Hände. „Los, bewegt eure Hintern! Uns bleiben nur drei Tage bis zur Vorstellung und zum Ruhm!“
Das Publikum mochte gar nicht aufhören, Beifall zu spenden. Keinen hielt es mehr auf seinem Sitz, alle standen aufrecht, reckten die Hälse, klatschten schreiend in die Hände, skandierten Stephatons Namen. Ordnungskräfte sorgten dafür, dass niemand auf die Bühne stürmte, was in der Vergangenheit schon vorgekommen war: Nur mit Mühe hatte man Stephaton vor dem Erstickungstod unter weiblichen Umarmungen bewahren können. Und jetzt hing er sogar hilflos am Kreuz.
„Macht mich los!“, rief er den anderen zu, aber die ließen sich alle Zeit der Welt. Der Beifall galt ja auch ihnen, also wurden sie nicht müde, sich artig vor dem johlenden Publikum zu verbeugen. Endlich erbarmten sich Gelon, Selenos und Schapur über den Hingerichteten, zogen mit vereinten Kräften das Kreuz aus der Bodenhalterung, legten es behutsam hin und lösten die Stricke von seinen Gelenken.
Die letzten Momente des Schauspiels hatte Stephaton Todesängste ausgestanden. Er hatte kaum noch atmen können, in seinen Gliedern tobte ein entsetzlicher Schmerz. Wie gelähmt fühlte er sich, nachdem er von seinen Fesseln befreit worden war. Nicht einmal einen Finger vermochte er zu bewegen. Unsäglicher Durst quälte ihn, für einen Schluck Wasser hätte er alles gegeben.
„Du kannst jetzt aufhören zu sterben“, raunte Gelon ihm grinsend zu, „es ist vorbei. Du darfst wieder leben, mein Junge. Steh auf, lass dich feiern, du hast es verdient.“
Gelon glaubte wohl, dass er nicht Abschied von seiner Rolle nehmen wollte. Sahen diese Kerle denn nicht, wie sehr er litt, wie nahe er dem Tod war? „Helft mir auf“, stammelte er mühsam.
Gelon und Schapur packten ihn unter den Armen, hievten ihn auf die Beine und merkten, wie schwach er war. Schon wieder drohte er zusammenzuklappen.
„Bei allen Sirenen, lass dich nicht so hängen“, sagte Gelon aus dem Mundwinkel heraus, indem er weiter in die applaudierende Menge lächelte, „wir haben dich nicht wahrhaftig gekreuzigt.“
Das empfand Stephaton anders. Dennoch musste er sich zusammenreißen, sonst würde man anderntags nicht über das Stück reden, sondern über seine peinliche Ohnmacht. Zum Glück spürte er seine Lebensgeister allmählich zurückkehren. Endlich gelang es ihm, den Zuschauern zuzuwinken, ohne dass seine Gefährten ihn stützen mussten. Der Applaus war ohrenbetäubend, gewiss hörte man ihn in ganz Tiberias.
Sara! Vergeblich suchte er sie in der Zuschauermenge. Hatte sie das Theater verlassen? Er hatte es geahnt, das Stück war bestimmt nicht nach ihrem Geschmack gewesen. Was er gut verstehen konnte. Ob sie draußen wenigstens auf ihn wartete? Der Gedanke, sie heute nicht mehr zu sehen, war so fürchterlich wie die Kreuzigung.
Eugenia schien genau zu wissen, was durch seinen Kopf ging. Sie nahm seine Hand, um sich mit ihm gemeinsam vor dem Publikum zu verbeugen. „Ich sah sie aus dem Theater gehen, nachdem man dich zum Kreuzestod verurteilte. Den Anblick wollte sie sich wohl ersparen. Ich bin sicher, sie liebt dich.“
Das war der schönste Spruch des Abends, ausgerechnet aus Eugenias vulgärem Mund. Wenn er nur wahr wäre. Bis jetzt hatte er Sara seine Liebe noch nicht offen gestanden, aber er war fest entschlossen, das so rasch wie möglich nachzuholen. Und letztlich war er froh, dass sie ihn in diesem Moment nicht sehen konnte, wie er sich, mit einem albernen Lendenschurz bekleidet und von oben bis unten mit Kälberblut beschmiert, dem Applaus dieser ekstatischen Menschen hingab.
Als die Ovationen endlich nachließen, zogen sich die Mimen ins Bühnenhaus zurück. Gelon war bester Stimmung.
„Was habe ich gesagt?“, jubilierte er. „Die Zeit war reif für so etwas. Ihr wart wunderbar, Leute, wunderbar!“ Er schnappte sich die jauchzende Eugenia und presste gierig seine Lippen auf die ihren. „Wo ist der Wein?“, rief er.
Den Weinschlauch hatte Stephaton angesetzt, um seinen unmenschlichen Durst zu stillen. Weil er gar nicht mehr aufhören wollte zu trinken, riss Schapur ihm den Schlauch aus den Händen. „Sachte, Gekreuzigter, deine Henker haben auch Durst.“ Er nahm ein paar Schlucke und ließ den Wein die Runde machen.
„Alle Griechen Galiläas werden zu uns ins Theater strömen“, prophezeite Gelon. „Selbst von der anderen Seite des Sees werden sie kommen. Man wird das Theater ausbauen müssen.“ Vor Freude legte er ein Tänzchen hin. „Die römischen Mimen aus Sepphoris sind ein Dreck gegen uns, erbärmliche Dilettanten. Wir werden jeden Abend spielen, jeden Abend, hört ihr? Selbst der alte Antipas wird uns sehen wollen, nachdem er uns so lange ignoriert hat. Stephaton, Goldjunge, lass dich umarmen!“
Stephaton ließ die überschwänglichen Liebkosungen über sich ergehen. Woher Gelon die Überzeugung nahm, sie seien mit der Aufführung dieses derben Stücks zum Mittelpunkt der Theaterwelt geworden, blieb ihm ein Rätsel, doch seine Gedanken waren ohnehin woanders: Wenn Sara noch da draußen war, wollte er sie nicht länger warten lassen.
In diesem Augenblick aber betrat Chares, der Besitzer des Theaters, die Garderobe. Er war ein schmächtiger Mann mit dem Gehabe eines Basarhändlers.
„Gratuliere zu der grandiosen Vorstellung“, sagte er salbungsvoll.
Gelon packte ihn jovial bei der Schulter. „Hörst wohl schon die Münzen klingen, was, Chares?“
„Das ist Sinn und Zweck eines Theaters. Da draußen verlangt jemand Stephaton zu sprechen.“
„Heute nicht. Mein bester Mime braucht jetzt seine Ruhe. Dafür muss jeder Verständnis haben.“
„Und wenn es ein Bote der edlen Fausta Decila ist?“
„Dann ist das selbstverständlich etwas anderes. Bestimmt dieser ungehobelte Riese, wie ich annehme.“ Gelon zwinkerte in die Runde. „Wir wollen uns doch nicht die Gunst der edlen Fausta verscherzen, nicht wahr?“
„Auf gar keinen Fall!“ Eugenia schenkte Stephaton einen bedauernden Blick. „Sie wird nicht eher Ruhe geben, bis du sie eines Tages beglückt hast, Junge.“
Was immer sie damit meinte, Stephaton wäre am liebsten geflüchtet. Vielleicht hätte er das auch getan, wenn seine Glieder nach der überstandenen Tortur nicht so schwer gewesen wären.
Der Sklave der edlen Fausta Decila, ein ehemaliger Gladiator, überragte selbst Stephaton um Haupteslänge. Fausta Decila hatte bekanntermaßen gern stattliche Männer um sich. Das mochte – neben der Bewunderung für einen herausragenden Schauspieler – der Grund sein, weshalb sie so viel Interesse an Stephaton zeigte. Dieses Interesse hatte sich freilich bis heute nur darin geäußert, dass sie ihm Aufmerksamkeiten in Form von Münzen oder Früchtekörben zukommen ließ. Diesmal aber stand der Gladiator mit leeren Händen da.
„Brennus!“ Gelon lächelte gezwungen. „Was gibt es Neues im Land der unbesiegbaren Helden?“
Jener Brennus beachtete ihn nicht, er wandte sich geradewegs an Stephaton. „Die edle Fausta Decila will dich sehen!“ Er sprach lateinisch mit dem hartem Akzent der Barbaren, wahrscheinlich war er ein Kelte oder Germane, wer konnte das schon unterscheiden? In Rom, wusste Stephaton, beschäftigte jeder reiche Römer, der etwas auf sich hielt, einen germanischen oder keltischen Leibwächter. Auch Herodes Antipas, der Tetrarch, hielt sich ein paar Söldner aus diesen Gegenden.
Eugenia pfiff leise durch die Zähne, aber auch das wollte der Gladiator nicht zur Kenntnis nehmen. „Sie erwartet dich morgen zur sechsten Stunde in ihrer Villa!“
Was bildete sich diese Römerin eigentlich ein? Nur zu gern hätte Stephaton ihr durch den Muskelprotz ausrichten lassen, sie solle ihn gefälligst in Ruhe lassen, aber Gelons warnender Blick hieß ihn schweigen. Ohnehin schien Brennus nicht auf eine Antwort zu warten, denn schon hatte er kehrtgemacht und stapfte davon.
Als er verschwunden war, kicherte Eugenia in die Hand. „Die edle Fausta wird dich ganz schön verwöhnen, du Glückspilz. Sie hat kochendes Blut, sagt man.“
Stephaton funkelte sie an. „Schade, dass ich nicht darüber lachen kann.“
„Du musst es deiner kleinen Jüdin ja nicht auf die Nase binden“, beschwichtigte sie ihn, während sie die Nadeln eine nach der anderen aus ihrer Turmfrisur zog. Wallend fielen die dunklen Haare über ihre Schultern. Hartnäckig weigerte sie sich nämlich, Perücken zu tragen.
„Nun, Laureolus? Wirst du ihre Einladung annehmen?“, fragte Schapur mit unverschämter Neugier.
„Nein, du syrischer Esel!“
„Und ob du gehen wirst!“ Das klang wie eines von Gelons berüchtigten Machtworten. Meistens galten sie Eugenia oder Schapur, hin und wieder auch dem ruhigen Selenos, diesmal aber war es exklusiv an Stephaton gerichtet, den besten seiner Mimen, was nach der heutigen Vorstellung einmal mehr deutlich geworden war.
„Ach ja?“ Trotzig hob Stephaton das Kinn. „Seit wann bestimmst du, Gelon, mit wem ich mich abseits der Bühne treffe?“
Gelon sah ein, dass er behutsamer, weniger herrisch vorgehen musste. Je tüchtiger die Mimen, desto empfindlicher waren sie, niemand wusste das besser als er. „Junge“, sagte er sanft, „Faustas Gunst kann uns nur von Nutzen sein. Wenn wir sie verärgern, wird sie nicht mehr ins Theater kommen. Mit ihr werden dann auch jene den Vorstellungen fernbleiben, auf die sie Einfluss hat.“
Selenos nickte. „Das sind nicht wenige.“
„Was die beiden damit sagen wollen“, warf Eugenia spöttisch ein, „ist Folgendes: So mancher üppige Geldsegen würde künftig ausbleiben, wenn du dich weigerst, der Fausta schöne Augen zu machen.“
Verdrossen schüttelte Stephaton den Kopf. „Die edle Fausta ist verheiratet, was wollt ihr eigentlich von mir?“
„Sie ist verheiratet“, prustete Eugenia. „Hui, das hätten wir beinahe vergessen.“
Gelon legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Wegen ihres senilen Gatten mach dir keine Sorgen, seine Lenden sind tot wie Aas. Die Ehe mit Fausta ist ein Zweckbündnis: Caepio ist steinreich, Fausta ist betörend – bitte sehr. Mit wem sie es treibt, bekommt der alte Knochen schon lange nicht mehr mit. Und wenn doch, dann ist es ihm vermutlich egal.“
„Aber was will sie nur von mir?“, wand sich Stephaton. „Sie hat doch ihren Gladiator.“
„Nicht nur den“, grinste Schapur.
Gelon holte tief Luft, jetzt war Geduld gefragt. „Sieh dir deine beiden nichtsnutzigen Kollegen hier an: Sie würden zwei Jahresgagen hergeben, wenn sie nur einen Tag lang Faustas Liebhaber sein dürften.“
„Eine halbe Jahresgage, mehr nicht“, widersprach Schapur nach kurzem Abwägen.
„Sei so gut und besuch sie“, fuhr Gelon flehentlich fort. „Sie wird dich nicht fressen, mein Junge. Sie ist ein verwöhntes Ding, und wenn sie erst einmal bekommen hat, was sie will, dann wird sie dich in Ruhe lassen. So sind sie halt, diese römischen Weiber.“
Eugenia pflichtete ihm bei. „Wie Katzen, die nach einer Weile die Lust daran verlieren, gefangene Mäuse zu quälen.“
„Ich bin ein Mime, kein Lustknabe“, beharrte Stephaton, aber Gelon ließ nicht locker.
„Du machst dir zu viele Gedanken! Bestimmt will sie nur plaudern. Oder einen Becher Wein mit dir trinken.“
Schapur wollte aus vollem Hals lachen, aber Gelon sorgte mit einem vernichtenden Blick dafür, dass er still blieb.
„Geh zu ihr, verärgere sie nicht. Wirst du das tun? Mir und uns allen zum Gefallen? Bitte, mein Junge!“
Stephaton kaute auf einem Mundwinkel und sah Eugenia an. Die nickte knapp.
„Na schön, ich gehe hin. Euch zum Gefallen.“ Immerhin blieb ihm noch Zeit genug, sich zu überlegen, wie er ihr begegnen konnte. „Aber denkt nicht, dass sie mit mir machen kann, was sie will.“
Das war Gelons geringste Sorge. Wen Fausta bezirzte, den kümmerte sein früheres Geschwätz nicht länger. Dem erging es wie Marcus Antonius, nachdem ihm Kleopatra über den Weg gelaufen war.
„Guter Junge!“ Er wuschelte Stephaton durchs Kraushaar.
„Ich muss gehen!“ So gut seine zurückkehrenden Kräfte es zuließen, kleidete Stephaton sich an. Für die nächsten Vorstellungen sollten sie sich gefälligst etwas überlegen, wie man eine Kreuzigung erträglicher gestaltete, wenn sie keinen Krüppel aus ihm machen wollten. Eugenia half ihm in Chiton, Mantel und Sandalen.
„Wo willst du denn hin?“, wollte Gelon wissen.
„Was glaubst du denn wohl, du unromantischer Kerl?“, antwortete Eugenia an Stephatons Stelle.
„He, Laureolus!“, rief Schapur, mit einem feuchten Schwamm wedelnd. „Willst du dich nicht zuerst waschen, bevor du deine jüdische Freundin aufsuchst? Sie könnte sich sonst vor dir ekeln.“
„Gib her!“ Eugenia langte nach dem Schwamm und wischte Stephaton notdürftig das Kälberblut aus dem Gesicht. Für den verliebten Jüngling hatte sie größtes Verständnis. Zum Schluss gab sie ihm einen Kuss auf die gesäuberte Stirn.
„Auf, mein Guter – bevor es dunkel wird!“
„Und denk daran …“
Aber Stephaton war schon weg, bevor Gelon den Satz zu Ende bringen konnte. Er wollte jetzt nur noch einen Menschen sehen und hören. Aber das erwies sich als schwierig, denn wie gewöhnlich lauerten viele seiner getreuen Verehrerinnen ihm vor dem Theater auf. Sein Anblick sorgte für Gekreische; junge Mädchen, aber auch Frauen mittleren und fortgeschrittenen Alters umkreisten ihn, ebenso ein paar Jünglinge, deren Augen nicht weniger glänzten. Manch einer wollte ihm etwas in die Hand drücken, Süßigkeiten, Blüten, Haarlocken.
Stephaton reagierte unwirsch. „Lasst mich in Frieden!“, schrie er sie an. Das hatte er noch nie getan, geduldig und auch stolz hatte er die Huldigungen stets über sich ergehen lassen. Doch die schmerzhafte Kreuzigung, Faustas Impertinenz sowie Gelons fragwürdige Sicht der Dinge hatten ihm die Laune gründlich verdorben.
Immerhin, sie ließen ihn ziehen, ohne sich an seine Fersen zu heften, verwundert über die Feindseligkeit ihres sonst so umgänglichen Lieblings.
Mit jedem Schritt, den er sich vom Theater entfernte, lebte Stephaton auf. Falls Sara wirklich auf ihn wartete, würde er sie am Ufer des Sees finden, jenseits des Südtors. Dort lag ihr Treffpunkt.
Eine knappe Stunde noch, dann würde es dunkel sein über Galiläa. Eine Bande raufender Gassenjungen war so sehr mit ihren Händeln beschäftigt, dass sie Stephaton keine Beachtung schenkten. Welche Wohltat. Anders der Wächter am Südtor, der ihn erkannte und ein Schwätzchen anfangen wollte. Stephaton ließ ihn stehen, denn jede Sekunde, die er Sara noch sehen konnte, war kostbarer als Gold.
Schon von Weitem sah er sie auf einem Felsstein am Ufer sitzen. Versonnen blickte sie auf den spiegelglatten See hinaus, auf dem noch Fischerboote unterwegs waren. Stephaton fühlte sich erleichtert, weil sie da war, zugleich war er aufgeregt, viel aufgeregter als vor einer Aufführung. Während er den von dürren Sträuchern gesäumten Pfad herabstieg, dachte er darüber nach, mit welchen Worten er sie begrüßen sollte. Ringsumher zirpten Heerscharen von Zikaden. Im Schein der untergehenden Sonne lag eine rote Glut über dem Gewässer, kein Windhauch kräuselte seine Oberfläche. Auch die steilen Bergwände auf der anderen Seite des Sees schienen in Flammen zu stehen.
Alles brennt, alles … selbst mein Herz!, dachte Stephaton, als Sara sich lächelnd zu ihm umwandte.
Zwei Wochen zuvor waren sie sich erstmals begegnet. Auf der weiten, von Säulen umstandenen Agora in Tiberias hatte Sara Einkäufe erledigt. Zur gleichen Zeit war Stephaton unterwegs gewesen, um Kräuter für seinen kranken Vater zu besorgen. Seine Stiefmutter Agriope – in ihrer thrakischen Heimat war sie eine Heilkundige gewesen –, schwor auf Weißdorn. Für das schwache Herz des Vaters gebe es nichts Besseres.
Als Stephaton den Marktstand des Pharnakes passierte, wurde er Zeuge eines Disputs.
„Du willst mich wohl zum Narren halten, freches Ding!“ Pharnakes, ein für seine Umtriebigkeit bekannter Korbmacher, schnitt die böseste Grimasse, zu der er fähig war.
Die junge Frau vor seinem Verkaufstand ließ sich nicht einschüchtern. „Es ist genau umgekehrt“, erwiderte sie ruhig. „Du bist der Betrüger!“
Stephaton sah sie zunächst nur von hinten. Sie trug ein helles Kleid, ihr dunkles, unbedecktes Haar war am Nacken zusammengesteckt. Am rechten Unterarm hielt sie einen leeren Korb.
„Hör mir gut zu, Mädchen“, sagte Pharnakes, tief einatmend, „entweder gibst du mir den Korb auf der Stelle zurück, oder du zahlst endlich, was du mir schuldig bist. Sonst sorge ich dafür, dass du Bekanntschaft mit dem Ädil machst.“
Stephaton sah sich zum Eingreifen genötigt. „Pharnakes! Was für ein Jammer, dass es immer Ärger mit der Kundschaft gibt, nicht wahr?“
Der Händler blickte ihn an. „Ah, Stephaton! Ja, das kannst du laut sagen, die Leute werden immer dreister. Sag mal, wirst du morgen im Theater wieder den Hermes geben?“
Stephaton überging die Frage, seine Aufmerksamkeit galt dem Mädchen, das sich zu ihm umgedreht hatte. Er blickte in ein zartes, hübsches Gesicht mit runden Augen und vollen, wie zu einer verwunderten Frage geöffneten Lippen. Ihrer Kleidung nach zu urteilen war die junge Frau Jüdin, vermutlich kam sie aus einem der nahen Dörfer: Weil nämlich Herodes Antipas die Stadt Tiberias auf dem Gelände des Friedhofs von Hammat erbaut hatte, lebten nur wenige Juden an diesem für sie unreinen Ort.
„Wie eine Betrügerin sieht sie eigentlich nicht aus“, fand Stephaton, der den Blick nicht mehr von ihr lassen konnte.
„Es steht ihnen nicht auf die Stirn geschrieben. Sie schuldet mir zwei Sesterze!“, behauptete Pharnakes.
„Ich gab ihm das Geld, bevor ich den Korb nahm“, erklärte das Mädchen unaufgeregt, „aber es hat den Anschein, als könnte er sich an nichts mehr erinnern.“
„Was sagt man dazu?“ Pharnakes wollte gar nicht mehr damit aufhören, den Kopf zu schütteln und empört die Wangen aufzublähen, aber Stephaton erkannte den schlechten Mimen in ihm.
„Wäre es nicht denkbar, Pharnakes, dass dein Gedächtnis dich wieder einmal im Stich lässt?“
Mit einem säuerlichen Lächeln legte der Korbmacher den Kopf schief, dachte nach und zuckte dann geringschätzig mit den Schultern. „Warum sollte ich mich mit einer Jüdin streiten? Soll sie den Korb doch behalten, wenn sie das mit ihrem Gewissen vereinbaren kann.“
„Das kann ich“, sagte sie, seinem abfälligen Blick mühelos standhaltend. Als sie kehrtmachte, um im Markttreiben zu verschwinden, sah Stephaton ihr wie gebannt hinterher.
„Frechheit siegt“, sagte Pharnakes, um sich gleich wieder generös zu geben, „aber ich kann verstehen, dass du einem hübschen Mädchen mehr Glauben schenkst als mir. Tja, diese Jüdinnen sind mit allen Wassern gewaschen. Da möchte man noch einmal jung sein.“
Stephaton ignorierte ihn. Blitzschnell beschloss er, dem Mädchen hinterherzueilen. „Warte!“, rief er. Sie blickte über ihre Schulter und blieb stehen. Als er sie erreichte, wusste er nicht, was er sagen sollte.
„Wie heißt du?“ Immerhin blieben ihm die Worte nicht in der Kehle stecken.
Ihr Blick war immer noch ernst, aber nicht abweisend. Er sah in das schimmernde Grün ihrer von dichten Wimpern umrahmten Augen. „Sara. Und wie heißt du?“
„Ich bin Stephaton.“
„Danke, dass du mich vor dem habgierigen Korbmacher gerettet hast, Stephaton.“
Verlegen nickte er. „Eine Selbstverständlichkeit.“
„Wie konntest du dir sicher sein, dass ich im Recht bin?“, fragte sie ihn. „Du kennst mich nicht.“
„Aber ich kenne Pharnakes. Und was dich angeht, Sara, vielleicht gibst du mir ja die Möglichkeit, dich genauer kennenzulernen.“
Hierzu schwieg sie, aber auf ihren Wangen entstanden zwei drollige Grübchen, weil ihr Mund ein Lächeln andeutete. „Ich möchte nicht neugierig erscheinen, aber warum fragte der Korbmacher dich, ob du morgen im Theater den Hermes gibst?“
Er war ihr offenbar völlig unbekannt. „Nun ja, ich bin ein Schauspieler, und der Hermes war meine letzte Rolle.“
„Ah. Dann verstehe ich, warum man sich ständig nach dir umdreht.“
Auch das war ihr also nicht entgangen. Und nicht nur, dass man sich nach ihm umdrehte, oft genug pflegten die Leute ihm auf die Schultern zu klopfen – wie just in diesem Augenblick eine ältliche Matrone. „Du bist der Beste, mein Junge, du bist der Allerbeste! Mein Liebling bist du!“ Stephaton lächelte gequält und war froh, dass sie ihn nicht weiter behelligte.
„Wenn du Lust hast, Sara“, sagte er zögernd, „könntest du dir die morgige Vorstellung ansehen. Ich besorge dir einen guten Platz.“
Sie schob sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Ich weiß nicht so recht.“
„Es wäre eine große Kränkung für mich, wenn du ablehnst“, wagte er mit gespieltem Ernst zu erwidern.
„Tatsächlich? Es läge mir fern, dich zu kränken, Mime Stephaton. Und eigentlich wollte ich immer schon einmal ins Theater.“
Spätestens von diesem Moment an, als ihre strahlend weißen Zähne hinter ihrem Lächeln zum Vorschein kamen, war es um Stephaton geschehen.
Am Abend nach seiner Kreuzigung, als er mit klopfendem Herzen den Pfad zum See hinabeilte, fasste Stephaton den Entschluss, sie zur Begrüßung zu küssen. Bislang waren ihre Treffen von scheuer Zurückhaltung geprägt, obwohl es außer Frage stand, dass sie Zuneigung füreinander empfanden. Aber Sara war eine Jüdin, und Juden pflegten strenge Bräuche. Nicht einen Augenblick lang durfte man das vergessen. Stephaton wollte nicht alles verderben, indem er zu forsch vorging, wenn er auch – zum Unverständnis seiner Kollegen – keineswegs ein Schürzenjäger war. Ein Kuss auf die Wange war überfällig, um ihr zu zeigen, wie sehr er sich nach ihr sehnte.
Sara erhob sich von dem glatten, runden Felsstein, auf dem sie gesessen hatte. Ihr Anblick raubte Stephaton beinahe den Atem, sodass er den Kuss fürs Erste vergaß.
„Friede mit dir“, sagte sie zur Begrüßung.
„Und mit dir, Tabita“, entgegnete Stephaton. Diesen Kosenamen – Gazelle – hatte er ihr gegeben, weil er fand, dass er gut zu ihr passe. Sara gefiel der Name ebenfalls, selbst wenn sie ihn zu schmeichelhaft fand.
„Wie schön, dich wieder munter auf den Beinen zu sehen.“
„Meinem ärgsten Feind wünsche ich keine Kreuzigung.“ Stephatons Lachen rührte aus seiner Verlegenheit.
Sie blickte aufs Wasser hinaus. „Ist das nicht zauberhaft? So wie heute habe ich den See noch nie glühen gesehen. Du etwa?“
„Du hast recht, es ist, als stünde der Grund in Flammen.“ Er trat näher und nahm ihre Hände, sie waren warm und zart. „Es hat dir nicht gefallen, nicht wahr? Das Stück vom Laureolus, meine ich.“
„Nicht besonders“, gab sie zu. „Es war brutal und mitunter auch geschmacklos.“ Ihr Ton war ernst, aber ihr Lächeln machte alles wett. „Dich leiden zu sehen, hat mir wehgetan.“
Stephaton errötete. „Das Stück war Gelons Idee. In Sepphoris hatte es angeblich großen Erfolg.“
„Auch hier hat es den Leuten gefallen“, sagte sie ungeachtet ihres eigenen Empfindens.
„Ich wünschte, ich müsste es nicht mehr spielen!“ Immer noch hielt er ihre Hände, und sie machte keine Anstalten, sie ihm zu entziehen. Ihre Augen würden ihn wohl noch die ganze Nacht verfolgen. Als ihm durch den Kopf ging, dass er sie eigentlich hatte küssen wollen, richtete sie ihren Blick ein weiteres Mal auf den See.
„Heute war ein Ölhändler zu Gast bei meinem Vater“, sagte sie nachdenklich. „Er erzählte von einem Rabbi namens Jesus, der in der Gegend von Kapernaum einige Todkranke auf wundersame Weise geheilt hat. Und Fischer wollen gesehen haben, wie er über das Wasser des Sees gegangen ist.“
Stephaton lachte. „Vielleicht ist das ja der Grund, warum der See so glüht. Er schämt sich, weil er sich veralbert fühlt.“ Er hielt inne, denn Saras Augen sagten ihm, dass sie das keineswegs gesagt hatte, um ihn zu erheitern. „Nun ja, die Leute sind froh, wenn sie etwas zu klatschen haben“, fügte er hinzu. „Sie denken, dass ein Mann, der Todkranke heilt, noch ganz andere Wunder vollbringen kann.“
Sie nickte zögerlich. „Ja, vielleicht.“
Die Fischerboote hatten sich in Bewegung gesetzt, um zu ihren Anlegestellen zurückzukehren. Weil es keinen Wind gab, mussten die Fischer die Ruder benutzen.
„Wollen wir flanieren?“, schlug Sara vor. Es war einer jener herrlichen Abende, denen man schon am nächsten Morgen nachtrauert, weil man denkt, sie seien einzigartig gewesen. Schweigend gingen sie Hand in Hand den Uferweg entlang und nahmen die Gerüche des Sees in sich auf. Dann fasste sich Stephaton ein Herz.
„Was gäbe ich dafür, dich immer in meiner Nähe zu haben, Sara“, sagte er, stehenbleibend. Sie sahen sich an, und zu seiner Freude stellte er fest, dass ihre Augen leuchteten.
„Immer?“, fragte sie leise.
„Bis zu meinem Ende!“ Er ahnte, welche Kämpfe in ihr toben mochten. Sie kam aus einer frommen jüdischen Familie; für ihre Eltern war es vermutlich undenkbar, dass sie einen heidnischen Griechen heiratete. Und bestimmt hatten sie längst einen jungen Mann für sie ausersehen, denn alt genug zum Heiraten war sie allemal.
Sanft legte er einen Finger auf ihre Lippen. „Du musst jetzt nichts sagen, Tabita. Bitte schweig, damit ich wenigstens träumen kann.“
Sie schloss die Augen, stellte sich auf die Zehenspitzen. Zaghaft hatte sie ihre Hände um seine Taille gelegt. Leicht geöffnet war ihr Mund, mühsam kontrollierte sie ihren Atem. Er beugte seinen Kopf, erwiderte ihre Umarmung behutsam, ängstlich beinahe, als könnte sie sich als Trugbild entpuppen, aber als seine Lippen sich mit ihren verbanden, als er die süße Nässe ihres Mundes schmeckte, da spürte Stephaton, wie alles Glück dieser Welt ihn durchströmte.
Als die Zeit des Abschieds nahte – schon war die Sonne untergetaucht, See und Berge hatten ihren roten Glanz verloren –, bestand Stephaton darauf, sie nach Hause zu begleiten. Sara lebte eine gute Meile vor der Stadt, am Rand eines der nahen Dörfer, wo ihr Vater eine große Olivenplantage besaß. Seit Generationen bewirtschaftete seine Familie das Gut und hatte es zu solidem Wohlstand gebracht. Sara erzählte Stephaton, es sei der inbrünstige Wunsch ihrer Eltern, eines Tages in Jerusalem zu leben, um auch dort zu sterben und begraben zu werden. Denn wenn am Ende der Zeiten der Maschiach käme – Messias nannten ihn die Griechen –, würden die Toten von Jerusalem als Erste zum ewigen Leben erweckt.
„Wenn das so ist“, entgegnete Stephaton, „dann wäre ich gern ein Jude, um irgendwann mit dir in Jerusalem zu sterben.“ Obwohl er die Torheit seiner Worte ahnte, schenkte Sara ihm ein Lächeln.
Ihr Vater, ein kleiner, robuster Mann, arbeitete noch im Hain, als sie die Ummauerung des Gutes erreichten. Trotz der Dämmerung, trotz der Entfernung glaubte Stephaton Missmut in seinem hageren Gesicht auszumachen. Auf einen leidenschaftlichen Abschied musste das junge Paar wohl verzichten.
„Wann sehen wir uns wieder, Tabita?“
„Morgen, wenn du willst. Bis zur siebten Stunde helfe ich meinen Eltern an der Ölpresse. Danach könnten wir einen Ausflug machen.“
Es gab nichts, was Stephaton lieber tun würde. „An unserem Treffpunkt werde ich auf dich warten.“
Kurz berührten sie sich mit den Fingerspitzen, dann kehrte Stephaton nach Tiberias zurück. Vergessen waren die Schmerzen der Kreuzigung, er fühlte das Leben in jeder Faser seines Körpers. Stephaton war so glücklich wie noch nie.
Ephraim ben Elihu wusste von der Liebschaft seiner Tochter, sie selbst hatte ihm und ihrer Mutter von dem jungen Griechen aus Tiberias erzählt. Sara hatte noch nie Geheimnisse aus ihren Gefühlen gemacht. Auch dass er ein Mime war, hatte sie den Eltern nicht verschwiegen, wohl wissend, dass ihnen dies missfallen würde. An diesem Abend aber sah Ephraim ihn zum ersten Mal, wenn auch nur von fern. Er begleitete Sara heimwärts, und dafür war es höchste Zeit, denn Ephraim hatte sich schon Sorgen gemacht. Die jungen Leute verabschiedeten sich ein wenig verhalten, wie Ephraim beobachten konnte, aber er war ja nicht dumm, sie wussten genau, dass er sie im Blick hatte. Ephraim wollte gar nicht über die Zärtlichkeiten nachdenken, die sie bereits ausgetauscht haben mochten.
Er winkte Sara zu sich. „Es ist schon spät“, sagte er vorwurfsvoll.
„Ja, Vater. Verzeih mir, fast hätten wir die Zeit vergessen.“
Das klang so verliebt, dass er ihr gern den Mund verboten hätte. Doch das wäre ihm selbst lächerlich erschienen. „Es ist nicht gut, wenn du dich in einen Heiden verliebst.“ Er wünschte sich, er wäre imstande, strenger zu seiner einzigen Tochter zu sein und ihr den Umgang mit ihrem Verehrer schlicht zu verbieten. Aber so zielstrebig und selbstsicher er sich im Leben sonst gab, so weich und nachgiebig war er, wenn es um Sara ging.
Sara lächelte. „Liebe lässt sich nicht steuern, Vater. Sie kommt über einen, ich selbst hätte das niemals geglaubt.“
„Dann ist es also wirklich wahr? Du liebst diesen … Schauspieler?“
Gedankenvoll sah sie ihm in die Augen. „Ja, Vater. Ich glaube, ich liebe ihn.“
Musste sie denn immer die Wahrheit sagen? Hätte sie nicht ihm zuliebe nur einmal eine Unwahrheit aussprechen können? Denn wie hätte er gutheißen können, dass seine Tochter einen Griechen liebte? Ephraims Frau Lea sah das zwar gelassener – „Warte nur ab, sie wird schon wieder zur Vernunft kommen“, pflegte sie zu sagen –, aber wo kämen sie hin, wenn sich Gottes auserwähltes Volk mit den Heiden vermischte? In der Synagoge hatte man ihn schon schief angesehen.
„Komm, Sara“, sagte er seufzend und legte ihr eine Hand auf die Schulter, „gehen wir ins Haus. Deine Mutter wartet schon.“
Agriope war noch auf den Beinen, als Stephaton das Haus betrat. „Wie man hört, war eure Vorstellung ein großer Erfolg“, begrüßte sie den Heimkehrer lächelnd.
Ach, die alberne Vorstellung! Daran mochte Stephaton gar nicht mehr denken. Aber Agriope war auf dem Laufenden. Überhaupt wusste sie immer, was in der Stadt und in der Gegend vor sich ging.
„Wenn ich in deine Augen sehe“, fuhr Agriope scharfsinnig fort, „dann beschäftigt dich momentan anderes. Hast du dich noch mit Sara treffen können?“
„O ja. Und weißt du was, Agriope? Sie wird von Mal zu Mal bezaubernder.“
„Ach, wäre ich doch noch einmal einen Tag so alt wie ihr.“