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otl aicher die welt als entwurf

mit einer einführung

von wolfgang jean stock

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einführung

von Wolfgang Jean Stock

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Als Hannah Arendt 1950 die junge Bundesrepublik besuchte, notierte sie: „Beobachtet man die Deutschen, wie sie geschäftig durch die Ruinen ihrer tausendjährigen Geschichte stolpern, dann begreift man, daß die Geschäftigkeit zu ihrer Hauptwaffe bei der Abwehr der Wirklichkeit geworden ist.“

Zwei Jahre nach der Währungsreform und fünf Jahre nach Kriegsende waren der Schock der Niederlage und das Entsetzen über die im deutschen Namen verübten Verbrechen weitgehend verdrängt. Angesichts der vielen Alltagsnöte hatte sich die Mehrzahl der Westdeutschen in die Normalität des Überlebens eingeübt. Die Verantwortung für Ursachen und Folgen des Nazi-Regimes wurde in dieser Zwangsrealität von Besatzung und Mangelverwaltung ausgeklammert. Emsig begann man, die Trümmerfelder zu räumen, die inneren Trümmer aber blieben liegen. Die Nürnberger Prozesse wirkten schließ-lich als eine Art Generalabsolution von außen.

Zum aktivierenden Schlagwort der Zeit wurde der „Wiederaufbau“. Wie verräterisch dieses zunehmend restau-rativ ausgelegte Wort war, darauf wies Walter Dirks schon 1948 in den Frankfurter Heften hin. Wer statt der Wiederherstellung des Alten einen sozialen und kulturellen Neuaufbau forderte, stand somit unversehens am Rand der sich früh formierenden Wirtschaftswunder-Gesellschaft. Kein Wunder, daß dabei viele kulturelle Initiativen, vor allem nonkonforme Zeitschriften und Verlage, aufgeben mußten.

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Jene kleine Gruppe dagegen, die um 1950 in Ulm an der Donau die Gründung einer neuartigen Hochschule vorbereitete, konnte sich durchsetzen. Inge Scholl und Otl Aicher hatten bei ihrer Arbeit an der Ulmer Volkshochschule erfahren, wie groß das Bedürfnis nach einer kulturellen Neuorientierung war. Zusammen mit einigen Freunden entwarfen sie das Programm einer Schule für Gestaltung mit gesellschaftspolitischer Ausrichtung. In ihrer pädagogischen Konzeption verband sich antifaschistische Haltung mit demokratischer Hoffnung. Graphik sollte zur sozialen Kommunikation werden, Produktgestaltung die Humanisierung des Alltags befördern.

Nach vielen Schwierigkeiten, besonders bei der Finanzierung, begann die Hochschule für Gestaltung (HfG) im Sommer 1953 mit dem Unterricht. Zwei Jahre später zog man auf den Ulmer Kuhberg in das eigene, von Max Bill entworfene Gebäude. Von dieser Höhe über dem Donau-tal wollte die HfG in der Nachfolge des Bauhauses wirken,freilich mit einem wesentlichen Unterschied. Während das Bauhaus die Ausbildung in den freien Künsten als Voraussetzung für die Gestaltung einer guten Industrieform betrachtete, propagierte die HfG das unmittelbare, sachliche Eingehen auf die gestellte Aufgabe. Deshalb gab es in Ulm weder Künstlerateliers für Maler und Bildhauer noch Werkstätten für Kunsthandwerk.

In seinem Text „bauhaus und ulm“, der den biographischen Schlüssel darstellt für die hier versammelten Aufsätze und Vorträge, hebt Otl Aicher diesen Unterschied hervor: „damals in ulm mußten wir zurück zu den sachen, zu den dingen, zu den produkten, zur straße, zum alltag, zu den menschen. wir mußten umkehren. es ging nicht etwa um eine ausweitung der kunst in die alltäglichkeit, in die anwendung. es ging um eine gegenkunst, um zivilisationsarbeit, um zivilisationskultur.“

Daraus spricht auch das Pathos des 1922 geborenen Kriegsheimkehrers, für den die „bewältigung des wirklichen“ auf der Tagesordnung stand und nicht die Beschäftigung mit zweckfreier Ästhetik. So herrschte in der HfG die Ansicht vor, Kunst sei ein Ausdruck von Flucht vor dem Leben. Vor allem aber wollte man den Bereich der Produktgestaltung von künstlerischen Ansprüchen freihalten, um Formalismen vorzubeugen.

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Wieder wurde die deutsche Provinz zu einem Vorort von Moderne und Fortschritt. Wie beim Bauhaus in Weimar und Dessau bot der Boden einer mittelgroßen Stadt nicht nur die Möglichkeit zu konzentrierter Arbeit. Die Enge des Milieus mitsamt den lokalen Vorbehalten und Animositäten zwang die HfG ganz besonders zur Begründung und Rechtfertigung ihrer Praxis. In dieser Spannung fühlte man sich auf dem Kuhberg unabhängig – und man war es auch. Die Geschwister-Scholl-Stiftung als freie Trägerin garantierte eine relativ große Staatsferne, die eigenen Einnahmen, die häufig die Hälfte des Jahresetats der Hochschule ausmachten, stärkten das Selbst-bewußtsein.

Als Institution war die HfG ein Zwerg, ihre Ausstrahlung aber reichte weltweit. Was lockte Studenten aus 49 Nationen nach Ulm? Sicher das avancierte Lehrprogramm, bei dem die sozialen Dimensionen von Gestaltung im Mittelpunkt standen, ebenso die pädagogischen Ziele, darunter die Erziehung zur Argumentation und eine fachübergreifende statt fachspezifische Ausbildung. Wesentlich für den Erfolg der HfG war freilich, daß sich der Aufbruchs-geist der Gründer auf Dozenten und Studenten übertrug. Nicht frei von messianischen Zügen, engagierte man sich gemeinsam für den Aufbau einer neuen industriellen Kultur: von der Produktgestaltung und der visuellen Kommunikation über Informationssysteme bis zum seriellen Bauen. Technik und Wissenschaft sollten dazu dienen, diese vorausschauende Gestaltung der Alltagskultur ins Werk zu setzen.

Im konservativen Kulturklima der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft war die HfG eine kreative Insel. Sie behauptete sich bis 1968 als experimentelle Einrichtung in Zeiten, in denen mit dem Slogan „Keine Experimente“ Wahlen gewonnen wurden. Sie lehrte soziale und kulturelle Verantwortung mit Blick auf die Zukunft, während gerade in den Universitäten der bürgerlichmuseale Bildungskanon reaktiviert wurde. Gegen den „Muff von tausend Jahren“ und die plüschige Gemütlichkeit der wirtschaftlich arrivierten Republik suchte man in Ulm praktische Wege für Aufklärung, Kritik und Wahrhaftigkeit. Mitten im westdeutschen „Neon-Biedermeier“ entstanden so die Umrisse einer sachlichen, demokratischen, weltoffenen Dingkultur.

Die HfG selbst als auch die dort entwickelten Geräte, Erscheinungsbilder, Drucksachen und Bausysteme wurden im nach wie vor mißtrauischen Ausland als Zeugnisse eines „anderen Deutschlands“ wahrgenommen. Die Schnörkellosigkeit, ja Nüchternheit der Gegenstände und Entwürfe dokumentierte einen Abschied vom „deutschen Wesen“. Ähnlich wie der deutsche Pavillon von Egon Eiermann und Sep Ruf auf der Weltausstellung 1958 in Brüssel überzeugten die Ulmer Leistungen durch die Einheit von Technologie, Funktionalität und Ästhetik.

Wenn einer als Lehrer und Vorbild die Entfaltung der HfG wesentlich prägen konnte, war es Otl Aicher. Er verkörperte nicht nur die personelle Kontinuität seit der Vorbereitungsphase, sondern konnte sich auch in den beiden großen Konflikten durchsetzen: Sowohl bei der negativ entschiedenen Frage, ob Kunst in das Lehrangebot aufgenommen werden solle, was 1957 zum Weggang von Max Bill führte, als auch Anfang der sechziger Jahre in der Auseinandersetzung zwischen „Theoretikern“ und „Praktikern“. Für Aicher war der Vorrang praktischer Arbeit selbstverständlich. Scharf wandte er sich 1963 gegen „die unkritische wissenschaftsgläubigkeit mit ihrem aufgeblähten trieb zur analyse und ihrer fortschreiten-den impotenz des machens“.

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Kein Meister ohne Lehrjahre: Auch und gerade für die Lehrer war die HfG eine hervorragende Schule. In den programmatisch angelegten Konflikten zwischen Theorie und Praxis begründete und präzisierte Otl Aicher seine Position eines Realismus, der für die frühen sechziger Jahre nicht untypisch war. Martin Walser etwa schrieb damals: „Da dieser Realismus ja keine Erfindung der Will-kür ist, sondern eine einfach fällige Art, etwas anzuschauen und darzustellen, kann man sagen: er wird einen weiteren Schritt ermöglichen zur Überwindung ideen-hafter, idealistischer, ideologischer Betrachtungsweisen.“ Was Walser für die Literatur erhoffte, wurde Aicher zur Maxime seiner Arbeit für den richtigen Gebrauch der Dinge.

Den Optimismus, in die Welt gestaltend eingreifen zu können, der die HfG im ganzen trug, hat sich Aicher bewahrt. Zurück auf die Ulmer Erfahrungen geht aber auch seine Opposition gegen den Glauben an die Planbarkeit der Verhältnisse. Heute steht für Aicher fest, daß soziale und wirtschaftliche Großplanungen, die sich technischer Verfahren und wissenschaftlicher Erkenntnisse instrumentell bedienen, untaugliche Mittel sind, die Welt zu humanisieren. Trotz aller Effizienz in Teilbereichen beschleunigen sie sogar die Zerrüttung der gesellschaftlichen Beziehungen und die Verwüstung der Erde bis zur Gefährdung der Grundlagen menschlicher Existenz. Im gleichen Maße, wie der Mensch die Welt zu einem Artefakt gemacht hat, ist seine Unfähigkeit gewachsen, die Entwicklung zu beherrschen. Weil die Produktion der Dinge abstrakten Gesetzen folgt, unterwerfen sie die Lebenswelt.

Aicher plädiert deshalb für eine radikale Rückkehr zum Subjekt. Anstatt Regierungen, wirtschaftlichen Mächten oder geistigen Instanzen zu vertrauen, sollten die Menschen das Bedürfnis entwickeln, „nach eigenen ideen zu leben, eigene entwürfe zu machen, ihre durch eigene Vorstellungen bestimmten arbeiten zu verrichten, nach eigenen konzepten zu verfahren“. Erst dann werden sie nicht mehr durch die Verhältnisse gemacht, sondern gestalten ihr Leben selbst. Ein derart reflektiertes Machen entwirft die Dinge nach dem Kriterium ihres Gebrauchs und nicht in der Erwartung eines abstrakten Tauschwerts. Die Richtigkeit des Entwurfs ergibt sich daraus, ob das Resultat der nach allen Seiten untersuchten Aufgabe entspricht. Die Frage nach dem Wozu ersetzt die Frage nach dem Warum. Zwecke müssen auf ihren Sinn geprüft werden.

Diese konkrete Utopie steht hinter Aichers über vierzigjähriger Tätigkeit als Gestalter von Plakaten, Zeichensystemen, Büchern, Ausstellungen, Erscheinungsbildern und einer eigenen Schrift. In der Auseinandersetzung mit Aufgaben aus Industrie, Dienstleistungsunternehmen und Medien hat er ein Entwurfsprinzip entwickelt, das sich von Design im populären Sinn grundsätzlich unterscheidet. Design ist für ihn gerade nicht Oberflächengestaltung oder die Produktion visueller Reize. Demnach stellt die „Postmoderne“ mit ihren Anleihen bei Kunst und Mode einen Rückfall in Beliebigkeit und Verschwendung dar. Ihr Formalismus huldigt dem Kult des Überflüssigen und gipfelt nicht umsonst im „nicht mehr brauchbaren gebrauchsgegenstand“. Der Geltungsnutzen hat den Gebrauchsnutzen verdrängt: Styling statt Design.

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Design heißt, Denken und Machen aufeinander zu beziehen. Ästhetik ohne Ethik tendiert zur Täuschung. Es geht um das Produkt als Ganzes, nicht allein um seine äußere Form. Das Kriterium des Gebrauchs schließt auch die sozialen und ökologischen Wirkungen ein: „design bezieht sich auf den kulturellen zustand einer epoche, der zeit, der welt. die heutige welt ist definiert durch ihren entwurfszustand. die heutige zivilisation ist eine vom menschen gemachte und also entworfen. die qualität der entwürfe ist die qualität der welt“.

Solches Design braucht entsprechende Partner. Weshalb nicht jeder Auftraggeber geeignet ist, dafür nennt Aicher in seinen Innenansichten des Machens auch institutionelle Gründe. Originäres Design verlangt zum einen das volle Engagement aller Beteiligten. Zum anderen setzt es die Kultur des „runden Tisches“ voraus, an dem Kaufleute, Ingenieure und Designer gemeinsam beraten. Weil kleine und mittlere Unternehmen überschaubar sind und ihre Strukturen weniger entfremdet, kann sich in ihnen originäres Design am besten entfalten. Aicher: „design ist der lebensvorgang eines unternehmens, wenn sich absichten in fakten und erscheinungen konkretisieren sollen. es ist das zentrum der unternehmenskultur, der innovativen und kreativen beschäftigung mit dem unternehmenszweck.“

Solche Orte gelungener Zusammenarbeit bezeichnet Otl Aicher als „Werkstätten“. Hier wird nicht geplant und verwaltet, sondern entwickelt und entworfen. Im Prozeß von Überprüfung und Korrektur wird der Entwurf zum richtigen Ergebnis gesteuert. Dieses Prinzip der Steuerung in Alternativen erlaubt den beispielgebenden Beginn im Bestehenden. Es entstehen Modelle einer „Welt als Ent-wurf“.

Otl Aichers Texte sind Erkundungen jener Welt. Sie gehören substantiell zu seiner Arbeit. In der Bewegung durch die Geschichte von Denken und Gestalten, Bauen und Konstruieren versichert er sich der Möglichkeiten, die Existenz menschlich einzurichten. Nach wie vor geht es ihm um die Frage, unter welchen Voraussetzungen Zivilisationskultur herstellbar ist. Diese Voraussetzungen müssen erstritten werden gegen scheinbare Sachzwänge und geistige Ersatzangebote.

Otl Aicher streitet gern. So enthält dieser Band neben Berichten aus der Praxis und historischen Exkursen zu Design und Architektur auch polemische Einlassungen zu kulturpolitischen Themen. Mit produktivem Eigen-sinn streitet Aicher vor allem für die Erneuerung der Moderne, die sich weitgehend in ästhetischen Visionen erschöpft habe. Noch immer sei der „kultursonntag“ wichtiger als der Arbeitsalltag. Ohnehin lasse sich Ästhe-tik nicht auf Kunst reduzieren: „alles konkrete, alles wirkliche hat ästhetische relationen. die kunst als reine ästhetik läuft sogar gefahr, von den ästhetischen nöten der wirklichen welt abzulenken. in keinem fall darf es verschiedene ästhetische kategorien geben, eine reine und eine alltägliche. wir können ja auch nicht in der moral unterscheiden zwischen einer der religion und einer des alltags.“

Design als Lebensweise an Stelle von Design als Kosmetik: Otl Aicher vertraut auf die Schulung der Sinne. Sein Lebenswerk bürgt dafür, daß dieses Vertrauen modern bleibt.