Umschlag

Robert Domes, Jahrgang 1961, wurde im bayerischen Ichenhausen geboren. Er lebt seit mehr als fünfundzwanzig Jahren als Journalist und Autor im Allgäu. Dreizehn Jahre lang war er Lokaljournalist in Kaufbeuren. Dabei hat er nicht nur jeden Winkel der Stadt kennengelernt, sondern vor allem die Menschen, ihre schrullige Art, ihren bissigen Humor, ihre Nörgeleien, aber auch ihre Herzlichkeit und Wärme.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: © mauritius images/Pit
Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch
eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-86358-384-2
Allgäu Krimi
Originalausgabe

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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Verlagsagentur Lianne Kolf, München.

Ich verstecke dich

Vor deinem schlimmsten Traum

Und wärme dich

Wenn du an dir erfrierst.

Ich küsse dich

Wenn dich keiner küssen mag

Und liebe dich

Wenn du dich wieder verlierst.

Rosenstolz, »Ich hab genauso Angst wie du«

Feuer

Karl Maschke sieht seinen Tod nicht kommen. Er sieht ihn gehen. Der alte Mann liegt in seinem Wohnzimmer und blickt wie durch einen Schleier auf einen Schatten, der soeben aus der Tür entschwindet. Ein Schemen, der lautlos nach draußen gleitet.

Ja, das ist sein Wohnzimmer, wenngleich er es aus einer ungewohnten Perspektive betrachtet. Die beigen Streifen der Tapete stehen schief, ebenso wie das Sideboard mit dem Porzellanpferd und der kleinen runden Uhr aus den fünfziger Jahren, die immer zehn Minuten nachgeht. Er liegt vor seinem Sofa, den Kopf auf dem Teppichboden, und schaut zwischen den Beinen des niedrigen Couchtischs auf die dunkelbraune Schrankwand, die wie in Nebel gehüllt am anderen Ende des Zimmers steht.

Wieso liegt er hier, und wer ist dieser Gast? Er hatte Besuch, das weiß er noch, er hat getrunken, viel getrunken. Mühsam versucht Maschke, seinen alten Körper aufzurichten, als ihm der Schmerz wieder bewusst wird. Dieser Schmerz war es, der ihn aufgeweckt hat. Er spürt ihn durch seinen Körper rasen wie Feuer in seinen Adern, kann ihn aber nicht lokalisieren, er ist überall, sammelt sich in seinem Kopf und stürmt durch alle Nervenzellen. Maschke hat keine Kontrolle über seine Bewegungen. Sein massiger Körper krümmt sich zusammen. Er muss etwas tun.

Er versucht, sich zu erinnern, aber der Schmerz legt sein Denken lahm. Erstaunt stellt er fest, dass sein Wohnzimmer hell erleuchtet ist, heller, als es der Kristalllüster mit seinen vier Lampen sonst schafft. Er tastet mit den Händen, findet ein Tischbein und versucht, sich daran hochzuziehen. Der Couchtisch kippt, und eine Flasche Wodka fällt herunter. Der alte Mann schließt die Augen. Von irgendwoher hört er ein Knistern und Rascheln, als packte jemand nebenan in der Küche Geschenke aus.

Er will rufen, aber aus seinem Hals kommt nur ein Krächzen. Hustend sinkt er zurück. Panik erfasst ihn. Das ist kein Schleier, das ist Rauch. Und das ist auch kein Licht im Wohnzimmer, sondern Feuer. Das Knistern ist jetzt direkt neben ihm. Eine Flamme kriecht um den Tisch herum, duckt sich kurz, findet in einer Programmzeitschrift neue Nahrung. Maschke stemmt sich mit aller Kraft hoch, schaut sich um. Sein Sofa steht in Flammen, sie schlagen hoch, sind im nächsten Moment über dem Tisch, auf dem Boden, kriechen die Vorhänge hoch. Die Hitze versengt ihm die Augenbrauen, atemlos fällt er zurück, will wegrobben, weiß nicht, wohin.

Plötzlich fällt ihm ein, wer zu Besuch gekommen ist. Sein Mund will den Namen aussprechen, aber das Feuer nimmt ihm die Luft. Es frisst an seiner Schrankwand und leckt knisternd hoch zur holzverkleideten Decke. Er reißt entsetzt die Augen auf. Mit einem Schlag wird ihm bewusst, was geschieht. Seine Hände krallen sich wütend in den Teppichboden. Was war er für ein Idiot.

Das Letzte, was Karl Maschke sieht, ist die Feuerzunge, die aus der umgekippten Wodkaflasche springt. Seine Lungen finden keinen Sauerstoff mehr, sein Herz setzt aus, seine Augen brechen. Dann ist die Feuerwalze bei ihm und schlägt über seinem Leib zusammen.

MONTAG

Wo, verdammt noch mal, war der obere Totpunkt? Die Stelle, an der alle Gelenke der Mechanik in einer Linie lagen, an der die Bewegung zum Stillstand kam. Olivia Austin beugte sich über den schmutzig-öligen Motorblock auf ihrer Werkbank. Sie schaute mit einem Auge in das Loch, aus dem sie soeben die Zündkerze geschraubt hatte, obwohl ihr klar war, dass es dort nichts zu sehen gab.

Sie richtete sich auf und wischte mit dem Handrücken den Schweiß aus dem Gesicht. Ein ölgrauer Streifen blieb auf ihrer Wange zurück und ergänzte die Schmutzschlieren auf der Stirn, am Ohr und auf dem Nasenflügel. Sie sah aus, als hätte sie ihren ganzen Kopf in den Motorzylinder gesteckt. Am liebsten hätte sie das auch getan, um endlich diesen verdammten Totpunkt zu finden.

»Der Zündzeitpunkt (Z) liegt bei 31 Grad vor dem oberen Totpunkt (OT).« So stand es auf einem ölverschmierten Blatt in einer der Beschreibungen, die sie aus verschiedenen Foren im Internet ausgedruckt hatte. Der Unterbrecherkontakt musste sich genau dann öffnen, wenn der Kolben den Punkt Z erreichte. Eigentlich ganz einfach. Olivia grinste schief. Zumindest für eine Fachwerkstatt mit elektronischen Messgeräten und dem ganzen Spezialwerkzeug.

Sie schraubte eine umgeschweißte Zündkerze in den Motor, drehte das Polrad vorsichtig nach links, bis der Kolben am Widerstand anschlug, dann die gleiche Drehung nach rechts. Beide Stellen markierte sie auf dem Lüftergehäuse. Sie nahm die Einstellung sehr genau. Dabei war ihr klar, dass am Ende doch nur ein Kompromiss herauskam. Die Vespa GS aus dem Jahr 1961 besaß eine Magnetzündung ohne jegliche Steuerung. Der einmal eingestellte Zündzeitpunkt musste also für alle Drehzahlen herhalten.

Im Grunde war diese ganze Schrauberei ein Kompromiss. Die alte Vespa, deren Eingeweide um Olivia herum in der Werkstatt lagen, war ein einziger Schrotthaufen, wenngleich ein Schrotthaufen mit Kultstatus. Olivia hatte die Vespa Grand Sport vor vier Jahren gekauft. Sie hatte einhundertfünfzig Kubik, war stark wie ein kleines Motorrad und doch feingliedrig, wie es nur italienische Roller sein konnten. Von der Sorte gab es nicht mehr viele auf der Straße. Seit sie die Vespa hatte, bastelte sie daran herum. Genauer gesagt baute sie das Modell neu auf. Sie hatte sich eingearbeitet und war inzwischen Expertin für Entrostung, Schweißen, Löten, Elektrik, Mechanik, Lackierung. Vor allem für Improvisation. Oli war keine Technikerin, aber sie hatte sich in diese Arbeit verbissen und verliebt. Und wenn sie ehrlich war, ging es nicht so sehr darum, einen Oldtimer zu restaurieren, sondern darum, sich abzulenken, sich mit den Händen zu beschäftigen, zur Ruhe zu kommen, abzuschalten, zu flüchten aus dieser Welt, aus dieser Stadt, vor dem Stress in der Redaktion, vor dem Ärger mit ihren Eltern, vor den Reibereien mit ihrem Sohn Alex.

Die Werkstatt, von Oli nur »Schmiede« genannt, war ihr Rückzugsort, an dem sie die Welt und ihre Sorgen vergaß. Hier konnte sie ihren überaktiven Geist und ihre Sinne beruhigen, die ständig auf Empfang geschaltet waren, hier konnte sie nachdenken, ohne sich über etwas Gedanken zu machen, hier konnte sie ihre Wut wegarbeiten und ihre Seele baumeln lassen. Sie konzentrierte sich ganz auf die Beschaffenheit und das Innenleben der Maschine, auf das Metall, die Mechanik, auf Kugellager und Dichtungen, auf Gabelschlüssel und Kombizange, Lötkolben und Schleifgerät. Während ihre Hände arbeiteten, wurde ihr Kopf auf wundersame Weise aufgeräumt. Ihr Geist konnte frei umherschweifen, konnte den Alltagsmüll zur Seite schaffen und fand dabei häufig neue Ideen und Antworten auf alte Fragen.

Die »Schmiede« war ein altersmüder grauer Industriebau. Er stand auf einem Grundstück im Süden von Kaufbeuren, dort, wo das schöne Kleid der Stadt ausfranste und fleckig wurde. Das Wort »Mischgebiet« traf nicht nur auf den Wildwuchs aus Hallen, Wohngebäuden, Schuppen und wenigen Einfamilienhäusern zu, mehr noch auf die Bewohner. Hier lebten einfache Arbeiter, arme Rentner, Türken, Russen, all jene, die sich die teuren Wohnungen in der historischen Altstadt oder an den Hängen mit Bergblick nicht leisten konnten. Direkt vor der alten Gewerbehalle stand ein Vier-Parteien-Wohnblock, in dem Oli eine Erdgeschosswohnung gemietet hatte. Sie konnte von ihrer Terrasse über den schmalen Grünstreifen gehen, durch eine Lücke im Maschenzaun schlüpfen und stand vor den vier Meter hohen Toren der ehemaligen Autowerkstatt. Der Besitzer war vor Jahren pleitegegangen. Oli hatte die Werkstatt gemietet, sie war groß genug, um ihren Schrotthaufen und die mittlerweile ansehnliche Werkzeugsammlung unterzubringen. Vor allem nahe an ihrer Wohnung, sodass Alex sie von der Terrasse aus rufen konnte, wenn er etwas brauchte. Was allerdings in letzter Zeit nur sehr selten vorkam.

Alex war meistens froh, wenn seine Mutter nicht da war und er länger fernsehen oder mit dem Gameboy spielen konnte. Oli wusste, dass er die Zeit ausnutzte, aber sie hatte auch keine Lust, ihm ständig hinterherzuspionieren. Sie genoss ihre Freiheit in der Schmiede, Alex die seine in der Wohnung. Die Wünsche und Allüren ihres Zwölfjährigen waren anstrengend genug. »Die größten Helden des Alltags sind die Eltern von pubertierenden Kindern.« Wer hatte das noch mal gesagt? Egal. Sie musste endlich mit der Zündung vorwärtskommen.

Plötzlich donnerte mit lautem Krachen die Tür der Werkstatt auf. Ihre Eltern platzten herein. Gerda und Walter Austin hatten Alex im Schlepptau. Ein Blick auf das finstere Gesicht ihres Sohnes und seine hängenden Schultern genügte, um zu wissen, wie die Stimmung war.

Anstatt einer Begrüßung krähte ihre Mutter mit schriller Stimme: »Wie du wieder aussiehst!«

Oli legte ihr Werkzeug weg, wischte sich die öligen Hände an ihrem früher mal grünen Overall ab und zog eine Augenbraue hoch.

»So bekommst du nie einen Mann«, fuhr Gerda Austin fort.

Bevor Oli antworten konnte, hob ihr Vater die Nase und sagte in schnarrendem Ton: »Hast schon wieder geraucht. Ein Funke genügt, und der Laden fliegt in die Luft.«

»Hallo, Mama, hallo, Papa, ich freue mich auch, euch zu sehen«, sagte Olivia und hoffte, nicht allzu sarkastisch zu klingen.

»Der Alex hat schön gegessen«, sagte ihre Mutter, so als wäre Alex, der am Tor stehen geblieben war, gar nicht im Raum.

»Überall Benzin und Öl, das ist unverantwortlich«, raunzte ihr Vater.

Oli holte tief Luft. »Gibt’s sonst noch irgendwas Neues?«

»Alex hat gesagt, du willst ihn nicht zur Konfirmation lassen«, sagte ihr Vater.

Das Gesicht von Walter Austin war eine einzige Anklage. Oli schaute Alex an, mit einem Blick, der ausdrücken sollte: Du Verräter, darüber sprechen wir noch. Laut sagte sie: »Ich habe nichts gegen die Konfirmation, nur gegen die Geschenke-Orgie.«

Alex verdrehte die Augen.

Oli legte nach: »Habt ihr ihn auch gefragt, warum er unbedingt zur Konfi will? Und wie viel Kohle er erwartet?«

Alex drehte sich wortlos um und knallte die Tür der Werkstatt hinter sich zu. Aus. Schluss der Debatte. Ich will nichts mehr mit dir zu tun haben.

Olivia massierte sich die Schläfen. Die tragischsten Helden des Alltags sind die alleinerziehenden Mütter von pubertierenden Jungs, dachte sie grimmig. Vor allem, wenn ihnen die Großeltern in den Rücken fallen. Sie funkelte ihren Vater böse an. Der hob abwehrend die Hände.

»Wenn er unbedingt zur Konfirmation will, dann lass ihn doch. Ist doch schön, wenn er sich in einer Gemeinschaft engagiert.«

»Das sagt der Richtige. Wann warst du zum letzten Mal in der Kirche?«, maulte Oli.

Walter Austin ignorierte ihren aggressiven Ton. »Hier geht es doch nicht um mich, sondern um Alex’ Glauben.«

»Du weißt genau, dass das mit Glauben nichts zu tun hat. Da geht’s nur darum.« Sie rieb Daumen und Zeigefinger vor der Nase ihres Vaters. »Der sieht nur, was seine Kumpel bei der Konfi für einen Reibach machen.«

»Hast du überhaupt ein gutes Kaffeegeschirr?«, mischte sich Olis Mutter ein. Oli und ihr Vater starrten sie entgeistert an, doch Gerda schien das nicht zu merken. »Du willst doch den Gästen nicht etwa deine Flohmarktsammlung vorsetzen.«

Oli sagte scharf: »Ich mach das jedenfalls nicht mit. Wir haben den Stress und die Kosten, und der kleine Prinz sahnt ab. Der ist doch bloß scharf darauf, seinen alten Gameboy durch einen neuen Nintendo zu ersetzen oder am besten durch einen eigenen Computer, damit er noch mehr spielen kann.«

»Das ist nur eine Frage der Erziehung. Bei uns jedenfalls macht er das nicht«, erwiderte ihr Vater.

»Was soll er denn überhaupt anziehen? Hast du schon einen Anzug für ihn ausgesucht?«, fragte ihre Mutter.

Oli presste die Hände vor den Mund. »Manchmal bin ich so müde, sooo müde.«

»Und Tischdecken hast du auch keine«, sagte ihre Mutter, während ihr Vater weiter über Erziehung sprach: »Konsequenz, hörst du, Olivia, Konsequenz und Strenge, das ist, was Alex braucht.«

Oli richtete sich auf. »Ich glaube, ihr geht jetzt besser.«

Sie schob ihre Eltern aus der Werkstatt und versuchte, die altbekannten Phrasen zu überhören. In der Tür baute sich ihr Vater beleidigt vor ihr auf. »Das ist der Dank.«

»Tschüss, Papa.«

Olivia drückte die Tür zu und trat wütend mit dem Fuß gegen die Werkbank. Dann sank sie auf den alten Drehhocker. Am liebsten hätte sie ihren Sohn und ihre Koffer gepackt und wäre weggezogen. Weg von ihren Eltern, weg aus dem Allgäu, weg von dieser spießigen Kleinstadt, weg von dem Job. Wie lange musste man fahren, um vor all dem zu flüchten?

Sie hätte nie zurück nach Kaufbeuren kommen dürfen. Das war der Kardinalfehler. Diese beschissenen Vernunftgründe. Hier wohnen Alex’ Großeltern, hier ist er versorgt, hier hast du einen schönen Job bei der Zeitung und kannst Kind und Beruf gut vereinbaren, hier bist du zu Hause, hier kennst du jeden.

Genau das war es. Das Leben war so zugepflastert wie die Kaufbeurer Altstadt. Stein an Stein, überschaubar und sauber, popelig und eng. Bloß keine Überraschung, bloß keine Neuerungen.

Sie hätte damals nach dem Studium auf ihren Bauch hören und in München bleiben sollen. Gut, München war auch nicht gerade die große Welt. Die Stadt war teuer und anstrengend, vor allem für eine alleinerziehende Jung-Akademikerin. Warum hatte sie auch unbedingt Politik und Kunstgeschichte studieren müssen. Für jemanden mit diesem Abschluss waren die Stellenangebote ungefähr so häufig wie Freibier auf dem Oktoberfest. So hangelte sie sich von einem Vierhundert-Euro-Job zum nächsten, schrieb Artikel für die Tagespresse und ein paar Online-Medien und bediente abends in einer Touristenschwemme lustige Japaner. Fast die Hälfte des Verdiensts reichte sie an die Babysitter weiter, die währenddessen auf Alex aufpassten. Die große Freiheit sah anders aus.

Und dann noch das ständige Drängen und Zerren ihrer Eltern: »Mach’s dir nicht so schwer, Oli, hier im Allgäu ist es billiger und sicherer. Denk doch an dein Kind und nicht nur an dich selbst – Alexander braucht Sicherheit und Struktur.«

Trotzdem hätte sie sich nie überreden lassen, hätte es nicht das Angebot gegeben, beim Kaufbeurer Kurier als Redakteurin mit Schwerpunkt Fotografie zu arbeiten. Schreiben und fotografieren, das hörte sich nach einer idealen Verbindung an. Der Alltag in der kleinen Lokalredaktion war jedoch alles andere als kreativ. Gruppenfotos, Ehrungen, Geburtstage, Sport- und Kulturveranstaltungen. Oli hastete von einem Termin zum anderen, dabei blieb die bunt geschriebene Reportage, der kritische Hintergrundbericht, das schöne Porträt, die außergewöhnliche Serie auf der Strecke. Das Schlimmste war, dass diese journalistische Kür niemandem zu fehlen schien; den Lesern nicht, den Kollegen nicht und ihrem Chef schon gar nicht.

Jetzt hockte sie schon das achte Jahr in diesem Kaff. Und es war genau das eingetreten, was sie befürchtet hatte. Ihre Eltern nutzten Olivias Abhängigkeit schamlos aus. Gut, sie kümmerten sich um Alex, holten ihn von der Schule ab, er konnte bei ihnen essen und notfalls übernachten, wenn sie wieder mal einen Abendtermin hatte. Dafür glaubten sie, ein Recht auf ihr Leben zu haben. Oli, mach dies, Oli, lass das. Sie hatte diese Mischung aus Kontrolle und Vorwürfen satt. Wenn sie arbeitete, war sie eine schlechte Mutter, wenn sie sich freinahm, war sie ein Faulpelz.

Seit Jahren war sie innerlich auf dem Sprung: Endlich weg von hier, so weit weg wie möglich. Sie hasste sich dafür, dass sie die Entscheidung, fortzuziehen, immer wieder hinausschob. So ging das nicht weiter. Sie musste sich eine Frist setzen, ein Ziel und einen festen Termin, hier die Segel zu streichen.

Ihr Handy klingelte. Sie schaute auf das Display und verzog das Gesicht. Die Redaktion. Oli drückte den grünen Knopf und sagte in genervtem Ton: »Ich hab heute frei.«

Redaktionsleiter Peter Schild ging nicht darauf ein. Er klang wichtig wie immer. »Wir haben einen Engpass, Oli. Ich brauche Sie heute Nachmittag.«

Ihr Chef hatte die Angewohnheit, seine Mitarbeiter mit Vornamen anzusprechen und zu siezen. Das hatte er offenbar bei einem Führungskräfteseminar gelernt. Hätte er doch nur sonst noch was gelernt, seufzte Oli in Gedanken.

»Haben Sie den spanischen Sieg zu lange gefeiert?«, frotzelte Oli. Sie wusste, dass Schild als Einziger in der Redaktion – wahrscheinlich als Einziger in ganz Deutschland – beim gestrigen WM-Finale Holland die Daumen gedrückt hatte.

»Haha«, sagte er zerknirscht. »Kein Wunder, wenn der Schiri zwei Stunden lang gegen Holland pfeift.«

»Das Leben kann so ungerecht sein«, flötete Oli. »Aber Sie wollten mit mir doch bestimmt nicht das Spiel analysieren.«

Schild stockte kurz. »Also. Sie haben sicher von dem Brand gestern Abend gelesen. Sie müssen nach Neugablonz fahren. Es hat in der Nacht noch mal gebrannt. Nicht so wild, nur mal wieder ein Altpapiercontainer. Ich brauche da dringend Fotos, am besten von beiden Brandorten, und von uns kann keiner raus.«

Natürlich hatte Oli den Montags-Aufmacher im Kaufbeurer Kurier gelesen. Ein Wohnungsbrand, bei dem der neunundsiebzigjährige Hausbesitzer ums Leben kam. Der Brand war am Sonntagabend gegen zweiundzwanzig Uhr dreißig ausgebrochen. Eine blöde Zeit für die Lokalzeitung. Ihr Chef, der Wochenenddienst hatte, war schon zu Hause und musste noch mal in die Redaktion. Er schrieb immerhin noch fünfzig Zeilen, die er prominent auf der ersten Kaufbeurer Seite platzierte. »Rentner stirbt in den Flammen seines Hauses«, hatte er getitelt. Der Geschichte war zu entnehmen, dass der Mann das Feuer vermutlich selbst verschuldet hatte. Die Polizei wollte sich nicht festlegen. Das Übliche, die Brandfahnder ermitteln noch. Schild scherte sich nicht darum. Er schrieb, die Polizei gehe davon aus, dass der Mann mit einer brennenden Zigarette eingeschlafen war.

Woher er diese Information hatte, ließ er offen.

Neben dem Artikel stand das finstere Foto eines Bungalows, aus dessen Fenster Rauch drang. Schild hatte den Kollegen Wolfgang Baldauf rausgeklingelt, der mit seiner privaten Digitalkamera rausfuhr. Die Fotos waren lausig, aber immer noch besser als die verkohlten Reste, die nun auf sie warteten.

»Ach ja, und wenn Sie schon unterwegs sind, gehen Sie doch gleich nachher um vierzehn Uhr auf die Pressekonferenz bei der Polizei«, sagte Schild.

Das war mal wieder typisch. Von wegen kleiner Noteinsatz. Zuerst die Fotos, dann die Pressekonferenz, und hinterher musste sie die Geschichte noch schreiben. Der freie Tag war im Eimer.

Und Schild konnte sich zurücklehnen und seinen Kater pflegen, den er nach der Niederlage der Holländer bestimmt hatte. Oli interessierte sich keinen Deut für das Spiel Spanien gegen Niederlande, was nicht an den Mannschaften, sondern an der Sportart lag. Sie hatte so gut es ging die Spiele in den letzten Wochen verweigert. Der Rummel, der da um ein paar Männer mit einem Ball gemacht wurde, war ihr zuwider.

Dabei hatte sie gegen Alex einen schweren Stand. Er wusste alles über die WM, kannte jede Mannschaft, hatte in seinem Stickeralbum sämtliche deutschen Spieler gesammelt. Über seinem Bett hing ein großes Poster von Mesut Özil. Gegen dieses Großaufgebot hatte Oli mit ihren Argumenten keine Chance. Dass das alles nur Geldmacherei sei, dass ein paar wenige daran verdienten, viele andere die Zeche zahlten, dass in Südafrika sündhaft teure Stadien gebaut wurden und gleich um die Ecke die Menschen Hunger litten – das alles drang zu ihrem Sohn nicht durch. Notgedrungen erlaubte sie ihm bei den Abendspielen, wenigstens die erste Halbzeit im Fernsehen zu verfolgen. Das Halbfinale gegen Spanien am Mittwoch durfte er bis zum Ende anschauen. Alles andere hätte dazu geführt, dass Alex zu seinen Großeltern gezogen wäre.

Nach der 0 : 1-Niederlage gegen Spanien war Alex wütend und den Tränen nahe ins Bett gegangen. Oli hatte sich zu ihm gesetzt und ihn mitfühlend getröstet. Innerlich dankte sie jedoch dem Fußballgott, dass dieses Kasperltheater, das die Medien »deutsches Sommermärchen« nannten, endlich vorbei war. Oli schauderte bei dem Gedanken, was passiert wäre, wenn die Deutschen Weltmeister geworden wären. Deutschland, einig Vuvuzela-Land.

Das Endspiel gestern Abend hatte Alex schon nicht mehr interessiert. Oli hatte ihn nach den Nationalhymnen von Holland und Spanien ins Bett gebracht und war danach in ihre Schmiede gegangen. Im Nachhinein ärgerte sie sich, dass sie das Handy nicht dabeigehabt hatte. Deshalb hatte sie auch von dem Brand nichts mitgekriegt. Bestimmt hatte Deep Throat angerufen, und mit seinem Tipp wäre sie eine der Ersten am Brandort gewesen. Auf ihn war in solchen Dingen Verlass. Aber sie wollte sich in Ruhe ihrer Vespa-Ruine widmen. Nachdem sie mit dem Motorblock nicht weitergekommen war, hatte sie sich die Karosserie der Maschine vorgenommen, besser gesagt das, was davon noch übrig war. Zwei Stunden hatte sie mit grobem Werkzeug und Schweißgerät das morsche Trittbrett bearbeitet. Hinterher hatte sie sich mit einer Flasche Prosecco belohnt – und sich um den unbekannten Anruf in Abwesenheit, den das Handydisplay anzeigte, nicht gekümmert.

Deep Throat war ihre beste Quelle. Er hieß eigentlich Boris Axmann, ein ehemaliger Polizist, der seit zwei Jahren im Ruhestand war. Er hörte für Oli nicht nur den Funkverkehr von Polizei, Feuerwehr und Rettungsdienst ab, sondern gab ihr darüber hinaus immer wieder heiße Tipps aus der Polizeiszene. Axmann hatte nach wie vor beste Kontakte zu ehemaligen Kollegen und wusste über viele Interna Bescheid. Oli hatte ihm den Tarnnamen »Deep Throat« verpasst, in Anlehnung an den wichtigsten Informanten in der Watergate-Affäre, der 1974 für den Rücktritt des US-Präsidenten Nixon verantwortlich war.

Eilig ging sie durch den Grünstreifen zu ihrer Wohnung, wusch sich das Öl von Gesicht und Händen und wechselte den grünen Overall gegen Jeans und Bluse. Sie fuhr sich mit der Bürste durch das schulterlange braune Haar und raffte es zu einem Pferdeschwanz. Du wirst alt, dachte sie frustriert, während sie im Spiegel die Augenfältchen nach hinten massierte. Rund um die Pupillen ihrer graugrünen Augen hatten sich rote Äderchen gebildet. Sie musste beim Schweißen besser aufpassen. Die halbe Nacht hindurch hatte sie auf ihrer Netzhaut Funken fliegen sehen. Vielleicht war aber auch der Prosecco schuld. Sie hätte nicht die ganze Flasche trinken sollen. Einfach nach einem Glas aufhören oder sich einen Tee machen. Aber dann hörte dieser Brummkreisel im Kopf überhaupt nicht auf, und sie lag die halbe Nacht wach, gefangen in kreisenden Gedanken. Dann lieber Brummschädel.

»So bekommst du nie einen Mann« – der Satz ihrer Mutter hallte in ihr nach. Wahrscheinlich hatte sie recht. Mit Anfang dreißig, alleinerziehend, ständig knapp bei Kasse, ständig im Job unterwegs – wie sollte man da an einen Mann kommen? Sie entschied sich, die Haare offen zu tragen, kämmte sie wieder nach vorn und schnappte sich die Sonnenbrille mit den großen Gläsern.

Eigentlich hatte sie vorgehabt, den Nachmittag mit Alex am Badesee zu verbringen. Aber nach dem Streit wäre wohl ohnehin nichts draus geworden. Sie steckte den Kopf in Alex’ Zimmer. Er saß auf seinem Bett und klickte mürrisch auf dem Gameboy herum.

»Ich muss arbeiten«, sagte sie. »Vergiss deine Aufgaben nicht.«

Er antwortete nicht. Sie schluckte den Ärger hinunter.

»Komm, sei nicht beleidigt. Wir reden später darüber.«

Alex schaute nicht mal hoch.

***

Es gab Tage, an denen sich Olivia Austin mit ihrer Stadt versöhnte. An denen sie ihr die Spießigkeit verzieh, das Verschlafene und Verknöcherte. Die Sommersonne ließ die Bürgerhäuser mit ihren Giebeln und Stuckverzierungen warm glänzen, die Türme über der Altstadt sahen aus wie gutmütige Wächter über einem beschaulichen Flecken, in dem das Leben ruhig dahinfloss.

Olivia wartete im klapprigen Dienst-Fiesta, bis die Ampel vor ihr Grün zeigte. Sie schloss die Augen und lehnte den Kopf aus dem Wagenfenster. Über das Brummen des Motors hinweg tönten Amseln, Kohlmeisen und Buchfinken. An einem Julitag um elf, mit Vogelgezwitscher, mit dieser weichen, warmen Luft, mit den Gerüchen aus Grasschnitt und Braumalz, Döner und Brot, mit dem sahnigen Licht, konnte Kaufbeuren als guter Ort zum Leben durchgehen – zumindest für wenige Augenblicke.

Hinter ihr hupte es. Die Vögel verstummten. Die Bilder wurden vom Alltag weggewischt. Oli sah im Rückspiegel einen Geschäftsmann, der wütend fuchtelte, und fuhr betont langsam los. Zweihundert Meter weiter wartete sowieso die nächste rote Ampel auf sie. Auf den knapp drei Kilometern hoch nach Neugablonz standen sieben Ampeln. Hätte Oli eine typische Eigenart Kaufbeurens benennen müssen, wäre es die rote Welle gewesen.

Sie drehte den Rückspiegel zu sich, schob die Sonnenbrille hoch und entschied sich doch wieder für den Pferdeschwanz. Sie fuhr mit den Fingern durch ihre Haare und band sie im Nacken zusammen. Ihre Nase, ohnehin viel zu groß, war einen Tick zu rot. Kam das vom Schweißen oder vom Prosecco?

Im Lokalfunk hatten sie soeben die Meldung mit dem Brandtoten gebracht. Es war der gleiche Wortlaut wie in der Zeitung. Die machen es sich auch einfach, murrte Oli. Jetzt spielten sie »I Don’t Like Mondays«. Wie originell. Der Praktikant, der die Mittagsschiene fuhr, war bestimmt auch noch stolz auf seine Auswahl. Nur weil er selbst den Montag hasste, musste er das doch nicht allen Ostallgäuern mitteilen. Genervt drückte sie die Aus-Taste, aber es war schon zu spät. Das Lied hatte sich bereits in ihre Gehörgänge eingeschlichen und würde in ihrem Kopf weiterspielen, wenn sie Pech hatte, den ganzen Tag.

Im Gablonzer Ring in Neugablonz stand noch immer eine Abordnung aus Feuerwehr und Polizei. Die Straße vor dem gedrungenen Bungalow war abgeriegelt. Hinter der Flatterleine hatten sich zwei Dutzend Schaulustige versammelt, die das Drama intensiv diskutierten. Es stank nach verbranntem Plastik und altem Holz. Das Haus lag von der Straße zurückgesetzt auf einem großen Grundstück. Der typische Sechziger-Jahre-Bau eines Mannes, der zu Geld gekommen war. Die Vertriebenen aus Nordböhmen hatten nach dem Krieg ihre Schmuckindustrie im Allgäu wieder aufgebaut, sie waren fleißig und gute Geschäftsleute. Die Modeschmuckbranche florierte lange Jahre, und während die Arbeiter sich mit Billiglöhnen abspeisen lassen mussten, machte der Handel mit Glas und Schmuck viele Besitzer der Werkstätten zu wohlhabenden Leuten. Der alte Mann, der vergangene Nacht in seinem Haus ums Leben kam, musste einer von ihnen gewesen sein.

Die Jungs von der Feuerwehr lehnten an ihrem Löschfahrzeug und rauchten. Es war der erste Löschzug, Oli kannte alle und begrüßte sie mit Handschlag.

»Wo warsch denn geschtern?«, fragte Hannes Tätzel im schleppenden Allgäuer Dialekt. Er leitete den ersten Zug.

Oli zuckte nur die Achseln.

»Hasch Fuaßball guckt? Oder isch dei Funk kaputt?«

Sie wussten alle, dass Oli den Funkverkehr abhörte, besser gesagt abhören ließ.

»Ich hatte frei«, sagte sie schnippisch.

»Ond wia heißt dr Glückliche?«, feixte Tätzel.

Oli winkte nur ab. Sie war mit Tätzel und einigen anderen Feuerwehrmännern zur Schule gegangen und nahm ihnen die Zoten nicht übel.

Schnell erfuhr sie, dass der Alte in dem Haus keine Chance gehabt hatte. Dabei waren die Wehrmänner so schnell am Brandort gewesen wie selten. Die komplette Mannschaft hatte im Feuerwehrhaus das WM-Finale in Johannesburg angeschaut und war beim ersten Alarmton in die Autos gehüpft. Doch beim Eintreffen des Löschzugs hatte das Wohnzimmer bereits lichterloh gebrannt. Der Tote lag neben dem Sofa auf dem Boden. Die Wehrmänner wetteiferten darin, Oli Details der Leiche zu beschreiben. Als sie anfingen, über den Geruch von verbranntem Fleisch zu diskutieren, hob Oli die Hände.

»Danke, danke. Es reicht.«

»Du willsch doch sonscht immer alles wissa«, sagte Tätzel mit gespieltem Ernst. Die Männer grinsten sich an. Eine Horde Lausbuben, die man in schwere Anzüge gesteckt hatte. Lästermäuler, trinkfest und gutmütig, vor allem stets bestens über jeden Stadtklatsch informiert.

»Eure Grillgeschichten könnt ihr euren Frauen erzählen. Mich interessiert, warum es überhaupt gebrannt hat.«

Allgemeines Schulterzucken. Das frage sie am besten die Brüder in Grün. Die Löschmänner deuteten zum Haus, vor dem zwei Polizisten standen. Drinnen war offenbar die Kripo zugange.

»Na kommt schon.« Oli schenkte der Truppe ein verschwörerisches Lächeln.

Sie ließen sich nicht lange bitten. Neben dem Mann habe eine leere Wodkaflasche gelegen. Wahrscheinlich das Übliche, vollgesoffen, geraucht, eingeschlafen, peng. Aber das nur unter der Hand.

Oli fotografierte die schwarze Höhle hinter dem geborstenen Wohnzimmerfenster. Das Feuer hatte den Rollladen zerschmolzen, den eierschalenfarbenen Rauverputz der Außenwand geschwärzt und das Dach angekohlt. Ein Polizist, der die Kamera sah, setzte sich in Bewegung. Als er Oli erkannte, winkte er und ließ sie in Ruhe. Oli fragte sich, ob ihr alter Freund Hartmut beim Untersuchungsteam war. Doch bevor sie sich erkundigen konnte, wurde sie von einem der Schaulustigen angesprochen.

»Haben Sie die Haustür gesehen? Das sollten Sie mal fotografieren. So eine Schweinerei. Unglaublich ist das.«

Oli schaute sich um. Ein Endfünfziger stand aufgeregt am Gartenzaun und zeigte mit dem Finger zum Hauseingang. Oli ging in seine Richtung und sah, dass jemand mit fetter schwarzer Farbe »Nazi« an die Tür gemalt hatte. Sie drückte ein paarmal auf den Auslöser, glaubte aber nicht, dass Schild das Foto drucken würde.

Die Passanten um sie herum unterhielten sich aufgeregt. Oli stellte sich dazu und erfuhr, dass der Tote Karl Maschke hieß und neunundsiebzig Jahre alt war. Maschke war kein Unbekannter in der Stadt. Er war Vorsitzender des Milowitzer Heimatkreises, einer sudetendeutschen Landsmannschaft. Oli erinnerte sich an den Mann. Er war reaktionär bis ins Mark. Oli kannte ihn von einigen Fototerminen und hatte ihn stets als unangenehm und unbelehrbar empfunden. Dass jemand »Nazi« auf seine Tür geschmiert hatte, wunderte sie nicht. Die Frage war: Hing das mit dem Feuer zusammen?

Das könnte sie später alles Hartmut fragen. Jetzt musste sie weiter zur zweiten Brandstelle, die allerdings ungleich weniger spannend war. Ein Altpapiercontainer in der Nähe des Friedhofs war in der Nacht in Brand gesteckt worden. Die Jungs von der Feuerwehr meinten, da sei nicht mehr viel zu sehen, aber sie fuhr trotzdem hin. Ihre gute Laune war verflogen. Die schwarze Fensterhöhle von Maschkes Haus verfolgte sie wie das Auge eines Zyklopen. In ihrem Kopf spielten die Boomtown Rats immer noch »I Don’t Like Mondays«. Vielen Dank, blödes Radio.

***

Die Zahl der Gäste im Gasthaus »Zur Wahrheit« hielt sich zu dieser frühen Nachmittagsstunde in Grenzen. Gerade mal zwei Tische waren besetzt. Marga Weidenberg schaute auf die Uhr. Halb zwei, in einer halben Stunde hatte sie Feierabend. Die Bedienung war mit ihren einundfünfzig Jahren die Jüngste im Lokal. Sie war das gewohnt. Die »Wahrheit« war ein Relikt aus der Gründerzeit von Neugablonz, ein unscheinbarer Flachbau mit großen Fenstern. Das Lokal lag direkt an der Sudetenstraße, der Hauptschlagader des Stadtteils. Sie galt als der Inbegriff des Alt-Gablonzer Gasthauses, ein Lokal, in dem sich die Vertriebenen trafen und von den alten Zeiten »drieben« schwärmten. Die guten Jahre, bevor »der Tscheche« oder »der Russe« alles kaputtgemacht hatte. Von dem Krieg, den die Deutschen angezettelt hatten, war hier nicht die Rede. Und wenn, dann allenfalls in Sätzen wie: »Das kann sich heute keiner vorstellen.«

Das Mobiliar war zwar inzwischen erneuert worden, doch noch immer war an den Tischen sudetendeutscher Dialekt zu hören. Darunter häufig der Satz: »Dös hätt’s drhejme ne gegan«, wenn es darum ging, moderne Zeiten und Sitten anzuprangern. Egal ob unerzogene Kinder, unordentliche Nachbarn, rasende Verkehrsteilnehmer, politische Verfehlungen – das hätte es zu Hause nicht gegeben.

Die Wände, ursprünglich ockerfarben gestrichen, hatten über die Jahre einen erdigen Ton angenommen. Rundum hingen Zeichnungen von Ortschaften im Sudetenland und im Isergebirge, auf der Speisekarte standen Mohnkließla und Kleckselkuchen. Und es herrschte das Kaffeehausflair der K.-u.-k.-Monarchie. Marga Weidenberg wurde von den achtzigjährigen Frauen, die regelmäßig in voller Takelage zum Kaffeeklatsch einliefen, häufig »mein Kind« gerufen. Die »Wahrheit« war ein erstklassiger Umschlagplatz für den aktuellen Stadtteilklatsch. Eigentlich, dachte sich Marga, müsste die »Wahrheit« besser »Zum Gerücht« heißen.

Marga Weidenberg war schon den ganzen Tag über unkonzentriert und fahrig. Sie brachte den Gästen das falsche Getränk, vergaß, was die Kundschaft bestellt hatte, und hatte bereits zwei Mal falsch rausgegeben. Auch in der »Wahrheit« war in den letzten Wochen die Fußball-WM das beherrschende Thema gewesen. Doch heute hatten die Gäste weitaus spannenderen Gesprächsstoff: den tragischen Tod des alten Maschke. Marga Weidenberg hatte ihn gekannt. Sie trauerte dem alten Geizkragen und Schwerenöter bei Gott nicht nach. Dennoch machte ihr der Brand zu schaffen. Ihre Gedanken kreisten ständig um die Frage: Sollte sie zur Polizei gehen und erzählen, was sie am Abend zuvor gesehen hatte?

Sie hatte Angst vor der Obrigkeit. Die bedeutete immer nur Ärger und unangenehme Fragen. Marga Weidenberg hatte in ihrem Leben gelernt, Ärger und unangenehmen Fragen aus dem Weg zu gehen. Aber sie hatte was gesehen. Eigentlich waren es nur Schatten gewesen, aber immerhin. Schatten, die aus dem Haus des alten Maschke kamen, bevor es in Flammen aufging.

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Oli verwünschte den Prosecco, als sie die Container von allen Seiten fotografierte. Ihre Schläfen fingen in der Julisonne an zu pochen. Die Umgebung war nicht gerade dazu angetan, ihre Stimmung zu heben. Die zerschmolzenen Plastikcontainer standen auf einem ungepflegten Grundstück zwischen ein paar grauen Wohnblocks aus den fünfziger Jahren. Das Gras hatte man mit Waschbetonplatten zurückgedrängt. In den Ritzen sammelten sich Scherben und Kronkorken, die Büsche waren mit Plastikfetzen geschmückt. Was an Grünfläche übrig blieb, wurde offenbar als Hundeklo genutzt.

Das Viertel wirkte wie ein einziger Nachkriegsblock, in den ein zynischer Architekt zwei Hochhäuser gestellt hatte. Auf den Klingelknöpfen standen fremdländische Namen, auf den Balkons Männer im Unterhemd. Hier war die Armut zu Hause und die Melancholie. Selbst jetzt, an einem strahlenden Julitag, atmete der Ort Schwermut. Eine bleierne Bedrücktheit lag auf den löchrigen Straßen, glotzte hinter den grauen nikotinschwangeren Vorhängen hervor.

Neugablonz war zwar offiziell ein Stadtteil von Kaufbeuren, doch im Grunde eine Stadt für sich. An der Kante der Hochebene über Kaufbeuren gelegen und rundherum von einem Waldgürtel umgeben. Kaum ein Kaufbeurer käme auf die Idee, nach Neugablonz zu ziehen. Schon bei der Erwähnung des Stadtteils verzogen viele Alteingesessene das Gesicht. Wie konnte man da nur wohnen?