Ein atemberaubender historischer Roman
um Karl den Großen
© 2013 Brunnen Verlag Gießen
www.brunnen-verlag.de
Lektorat: Eva-Maria Busch
Umschlaggestaltung: Sabine Schweda
Umschlagbild: akg images; shutterstock; istockphoto
Satz: DTP Brunnen
Herstellung: GGP Media, Pößneck
ISBN 978-3-7655-1590-3
eISBN 978-3-7655-7105-3
FÜR COTANI
„Karl, allergnädigster, erhabener,
von Gott gekrönter, großer
Friede bringender Kaiser,
der das Römische Reich regiert
und durch Gottes Barmherzigkeit
auch König der Franken
und Langobarden ist.
Offizieller Titel Karls
Gutes Tun ist besser als gutes Wissen,
doch geht das Wissen dem Tun voraus.
Maxime Karls
Karl. Du bist ein Vorbild!
Für die Großen des Reiches –
beim Regieren ihrer Untertanen.
Für die Krieger – beim Ausüben ihrer militärischen Kunst.
Für die Kleriker – bei der rechten Betrachtung der Religion.
Für die Gelehrten – beim klugen Philosophieren.
Dungal (irischer Gelehrter)
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Worterklärungen
Der Junge rannte den Bach entlang. Hinunter ins Dorf, das in der weiten Fulda-Aue lag, als hätte es jemand dort vergessen. Der schmale, ausgetretene Pfad war an diesem Morgen übersät mit abgerissenen Ästen und Gestrüpp, das der Sturm der vergangenen Nacht umhergeweht hatte. Der Zwölfjährige musste seinen Lauf immer wieder durch kleine Sprünge unterbrechen, um nicht zu stolpern.
Sein Atem klang jetzt flach und hoch und vermischte sich mit dem ersten Zirpen der Zikaden, während seine blassen Beine unermüdlich unter dem fleckigen Hemd hervorsprangen. Ein Hauch von Frühling wehte durchs Tal. Sanft. Vorangetrieben durch die letzten Böen des Unwetters, das nun vor der übermütigen Sonne flüchtete.
Endlich erreichte der Junge die ersten Hütten und wandte sich nach rechts zum Haus des Schmieds, das genau in der Mitte der Ansiedlung thronte. Ein hoch aufragendes Gebäude mit filigranen Schnitzereien und einer weiß grundierten Jahreszahl im Querbalken. Vor der Eingangstür hielt er keuchend an, schluckte mehrfach, schmeckte den metallenen Geschmack der Anstrengung im Mund und wartete dann, bis sich sein galoppierendes Herz zumindest ein wenig beruhigt hatte.
Er lauschte aufmerksam den Kinderstimmen, die aus dem Inneren der Werkstatt drangen und gerade das kleine Einmaleins skandierten: „… drei mal sieben ist einundzwanzig … vier mal sieben ist achtundzwanzig … fünf mal sieben ist fünfunddreißig … sechs mal sieben ist zweiundvierzig …“
Immer noch schwer atmend öffnete der Junge die Tür und ging hinein. Auf dem Boden rund um den heißen Schmiedeofen saßen etwa fünfzehn Kinder zwischen vier und vierzehn Jahren und starrten gebannt auf den jungen Mann vor ihnen, der die Rechenübung anführte, als dirigiere er einen Chor im Gottesdienst: „… sieben mal sieben ist neunundvierzig … acht mal sieben ist sechsundfünfzig …“
Überrascht schaute der nicht besonders groß gewachsene Lehrer den Ankömmling an: „Lothar? Das ist aber eine Überraschung. Was machst du denn hier?“
Der Junge musste noch zweimal tief Luft holen und einen Hustenreiz unterdrücken, dann keuchte er: „Einhard, Einhard … Ich bin … Ich bringe eine Botschaft … auf Geheiß … von Abt Baugulf. Du sollst … zu ihm kommen.“
Der Angesprochene nahm einen tönernen Krug vom Tisch und hielt ihn dem Boten hin: „Hier, trink erst mal einen Schluck Wasser. Was kann denn so dringend sein, dass der Abt mich jetzt sprechen muss? Während des Unterrichts?“
Lothar stieß die Luft aus. „Ich weiß … es nicht. Er hat nur … gesagt, dass ich dich … holen soll. Und zwar sofort. So schnell ich kann.“
Einhard schnitt eine kurze Grimasse, dann griff er nach seiner groben Ledertasche und wies einen der älteren Jungen an, den Unterricht fortzuführen: „Arnulf, übt die Siebenerreihe und die Achterreihe. Die frage ich morgen ab. Außerdem möchte ich, dass ihr die Grammatik und die rhetorischen Regeln von gestern wiederholt. Verstanden?“
Als Arnulf mehr als eifrig nickte, folgte Einhard dem Boten nach draußen.
Schon nach wenigen Schritten, kurz nachdem sie das beschauliche Dorf verlassen hatten, wandte Lothar sich ungeduldig zu seinem Begleiter um. „Einhard! Was ist? Willst du nicht etwas schneller laufen? Ich meine: Es ist doch so wichtig.“
Der Angesprochene schüttelte lächelnd den Kopf. „Nein, wenn es ein echter Notfall wäre, hätte der Abt jemanden auf einem Pferd geschickt. So aber kommt es auf die paar Minuten wohl nicht an. Wie sagt der Kirchenvater Augustinus so klug: ‚Unruhig ist unser Herz, bis es bei Gott Ruhe findet.‘ Diese Ruhe sollten wir nicht allzu leichtfertig aufs Spiel setzen.“
Dennoch beschleunigte er seine Schritte ein wenig und folgte dem Jungen auf dem Pfad an der Böschung des Baches.
Nachdem die beiden etwa eine Viertelstunde schweigend gelaufen waren, blieb Einhard plötzlich stehen. Mit einem Lächeln in der Stimme rief er seinem Begleiter zu: „Also Lothar! Nun sag schon, was möchtest du mich fragen?“
Der Junge erstarrte mitten auf dem Weg und schaute mit großen Augen auf seinen Begleiter: „Woher weißt du …“
Einhard zuckte mit den Schultern. „Na, hör mal! Immer wieder schaust du mich kurz an, holst tief Luft und öffnest den Mund … um ihn dann wieder zu verschließen, als trautest du dich nicht, weiterzusprechen. Es schaut ein bisschen aus wie bei einem hungrigen Karpfen. Nun sag schon. Was bewegt dich?“
Der Junge blickte ertappt zu Boden. Er machte den Eindruck, als müsse er erst die richtigen Worte in sich finden. Schließlich sagte er langsam und mit einem Zittern in der Stimme: „Einhard, ist es wahr, dass in zwölf Jahren die Welt untergeht? Ist das wirklich wahr? Bitte, sag es mir. Sag mir die Wahrheit!“
Der Lehrer griff sich in die Haare, lief aber erst einmal weiter. Dann bemerkte er ruhig: „Das ist tatsächlich eine äußerst komplizierte Frage. Also: Der spanische Mönch Beatus von Liébana geht fest davon aus, dass es im Jahr 800 kommt: das Ende. Zumindest das Ende der Welt, wie wir sie kennen. Unwiederbringlich. Beatus hat deshalb vor Kurzem einen umfassenden, zwölfbändigen illustrierten Kommentar zur biblischen Apokalypse geschrieben, in dem er versucht, die Zeichen unserer Zeit sorgfältig zu deuten … Nebenbei bemerkt: Wir haben eine der wertvollen Abschriften davon in unserer Bibliothek … Und ich weiß, dass auch König Karl sich intensiv mit dieser Frage beschäftigt, seit er in Ingelheim weilt …“
Lothar unterbrach ihn, die Augen vor Angst geweitet: „Und? Fürchtest du dich denn nicht? Ich meine: Es ist doch gewiss schrecklich, tot zu sein … einfach nicht mehr da zu sein. Wenn all das hier …“, er deutete auf die Landschaft um sich herum, „… für immer vergeht. Belastet dich dieser Gedanke gar nicht?“
Einhard setzte nachdenklich seinen Weg fort. „Darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Aber wenn du mich so fragst: Nein, ich fürchte mich nicht. Weißt du, das griechische Wort ‚Apokalypse‘ heißt eigentlich gar nicht Weltuntergang, wie viele meinen, sondern eher Weltaufgang. Und wenn Gott die Welt noch einmal neu aufgehen lassen möchte, dann wird er dafür gute Gründe haben … Außerdem denke ich meist: Was bringt es, sich um Dinge zu sorgen, die man doch nicht ändern kann? Nichts! Gar nichts bringt das. Überhaupt nichts. Es vergrämt einem nur die Tage.“
Der Junge weinte jetzt. „Aber ich will nicht sterben. Und bestimmt nicht so früh.“
Jetzt blieb sein Begleiter stehen. „Wer will das schon? Und doch haben wir wenig zu befürchten, wenn unser Herz rein ist.“
Lothar schaute ihn an. Lange. Schließlich murmelte er betreten: „Und wenn meines nicht rein ist?“
Einhard nahm seine Hand. Er drückte sie. Energisch und tröstend zugleich.
„Dann vertraust du ganz fest auf Gottes Gnade. Und glaub mir, die unfassbare Gnade des Himmels ist um einiges mächtiger als alles, was ein zwölfjähriger Junge falsch machen könnte. So, und jetzt komm, lach mal wieder!“
Wenig später erreichten die beiden das Kloster Fulda.
Nachdem Einhard seine Tasche an der Pforte abgegeben hatte, wurde er den rötlichen Gang entlang zur Abtei geführt. Abt Baugulf erwartete ihn schon. Neben dem kahlköpfigen Leiter des Klosters standen zwei herausgeputzte Adelige, die den eintretenden Lehrer unverhohlen musterten. Neugierig und selbstbewusst zugleich.
Missi, durchfuhr es Einhard, der die prunkvollen Kleider der Männer erkannte, Missi dominici! Das sind Boten des Königs, wie üblich ein geistlicher und ein weltlicher Gesandter. Nur: Was wollen diese Leute hier? Schließlich hat Karl unserem Kloster im Jahr 774 huldvoll die Immunität verliehen. Es arbeitet völlig unabhängig. Ist der König immer noch erbost, dass unser eigenwilliger Abt den Verschwörern um Graf Hardrad vor zwei Jahren im Kloster Fulda Kirchenasyl gewährt hat? Das wäre unschön. Aber verständlich. Es war für Karl eine persönliche Kränkung, dass seine Macht vor unseren Klostermauern an ihre Grenzen kam. Allerdings hat er sich später an seinen Feinden ja mehr als grausam gerächt.
Wie dem auch sei: Missi wie diese sollten lieber bei den Gaufürsten und Statthaltern ihres Herrn nach dem Rechten sehen, anstatt den heiligen Frieden Fuldas zu stören. Seltsam, seltsam. Was mag sich der König von uns erhoffen? Von einer Klostergemeinschaft?
Baugulf deutete auf die beiden Männer. Sein Nasenflügel zuckte. „Einhard, diese Herren wünschen, mit dir zu sprechen.“
Der rechte der beiden, ein bärtiger, blonder Hüne, hob nur kurz die Hand zum Gruß, dann trat er einen Schritt vor und deutete auf den Tisch. „Hast du diese Abschrift der ‚Epistula de litteris colendis‘ angefertigt?“
Einhard zuckte unmerklich zusammen. Er beugte sich nach vorne und sah sofort, dass das reich verzierte Pergament eine seiner Arbeiten war. Die sanft geschwungenen Ligaturen an den Buchstaben. Der weiche Federstrich. Die etwas gedrungenen Unterlängen. Den ganzen letzten Sommer hatte er in brütender Hitze an seinem wuchtigen Pult im Skriptorium gestanden und die Zeit damit verbracht, das kritische Sendschreiben des Königs zu kopieren – einen Text, den sicherlich Alkuin, der neue Leiter der Hofschule, für seinen Herrn verfasst hatte.
Der gelehrte Brief ermahnte das Kloster Fulda eindringlich zur Pflege von Bildung und Wissenschaft und warnte zugleich – wen wunderte das nach der Geschichte mit dem Kirchenasyl – vor der Einmischung der Geistlichen in weltliche Rechtsgeschäfte. Einige Passagen konnte Einhard noch immer auswendig:
Wir Karl, durch die Gnade Gottes König der Franken und Langobarden und Schutzherr der Römer, richten einen Gruß der Liebe an dich, Abt Baugulf, und an deine ganze Gemeinschaft.
Der Herrscher hatte sich in der Epistula zu Recht beschwert, dass die Sprache vieler Mönche nach wie vor unbeholfen und derb sei:
Wer sich bemüht, Gott durch eine wohlgefällige Lebensweise zu gefallen, der wird sich auch darum bemühen, ihm durch eine korrekte Redeweise zu gefallen. Es steht doch geschrieben: ‹Entweder wirst du aus deinen Worten gerechtfertigt oder nach deinen Worten verdammt. In der Mehrzahl der Zuschriften, die uns erreichen, fanden Wir zwar einen ordentlichen, tüchtigen Gedankengang, aber eine ungeschliffene Sprechweise, weil die ungebildete Zunge das nicht fehlerfrei ausdrücken konnte, was im Herzen die fromme Ergebenheit diktierte. Deshalb erwachte in Uns die Sorge, es möchte bei dem Mangel an rhetorischem Können auch an der Einsicht und Erkenntnis der Heiligen Schriften fehlen. Und doch wissen wir alle, dass Sinnfehler noch weit verhängnisvoller werden können als Sprachfehler.
Die kostbare Fuldaer Abschrift dieser Ermahnung, die Einhard im vergangenen Jahr angefertigt hatte, war für Bischof Angilram von Metz bestimmt gewesen, der sie als offizielle Lehrschrift auch an weitere Abteien senden sollte. Denn natürlich hatte Alkuin recht: Wer sich nicht klar ausdrücken konnte, bei dem konnte man auch nicht sicher sein, dass er die Bibel richtig interpretierte. Deshalb musste dringend etwas für die Weiterbildung der Mönche getan werden. Ein wertvoller Gedanke.
Und nun lag das Pergament wieder vor ihm.
Fragend schaute Einhard die beiden Gesandten an. Diese schienen ihn mit ihren Blicken zu durchbohren. Der etwas kleinere der beiden fragte mit scharfer Stimme: „Kann es sein, dass du …“ Er machte eine kunstvolle Pause. „… dass du als … als bestallter Abschreiber … in diesem offiziellen Text etwas geändert hast? Sag uns: Kann das sein? Kann so etwas sein?“
Instinktiv trat der Angesprochene einen Schritt zurück. Einen großen Schritt.
Verflixt! Sie hatten es gemerkt.
Beim Kopieren der Vorlage war ihm damals aufgefallen, dass in dem Manuskript mehrere holprige Sätze den Fluss der Argumentation unschön gehemmt hatten. Ja, sie hatten den erhofften Verlauf der Gedanken geradezu unterbrochen. Gestört und verwirrt. Ein Mangel, der ihm in einem Sendschreiben über „Rhetorisches Können“ doch äußerst unpassend erschienen war.
Mehr noch, sprachliche Unsauberkeiten waren etwas, das Einhard im wahrsten Sinne des Wortes Schmerzen zufügte. Er liebte seit jeher klare Gedankengänge, inspirierende Sprachbilder und feinsinnige Formulierungen. Die Kraft der Worte, die in der Lage war, selbst den kompliziertesten Text in ein Kunstwerk zu verwandeln. Die Schönheit der Wendungen und Begriffe. Ja, Sprache konnte wie Gesang sein, wunderschön – aber auch wie viehisches Geblöke oder Gebrüll. Leider.
Also hatte er in jugendlichem Übermut einige Passagen der „Epistula de litteris colendis“ … nun, sagen wir … ein wenig „umformuliert“, sie geglättet und vorsichtig poliert. In der Gewissheit, dass es niemand bemerken würde. Aber … Natürlich war er ein Narr. Ein überheblicher, selbstsüchtiger, verblendeter Narr. Wie hatte er, ein kleiner Schreiber im Kloster Fulda, ernsthaft glauben können, dass der weise Alkuin, der Gelehrteste aller Gelehrten, der klügste Mann, der überhaupt im fränkischen Reich zu finden war, eine derartige Freveltat nicht entdecken würde?
Einhard bekam weiche Knie. Was nun? Sollte er die Tat abstreiten? Alles weit von sich weisen? Oder sich einfach dumm stellen? „Ich? Ich weiß von nichts!“ Nein, das Manuskript vor ihm war unbestreitbar seine Abschrift. Leugnen war also zwecklos. Insofern blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als zu seinen Missetaten zu stehen. Was für ein unglückseliger Tag. Eine königliche Urkunde fälschen: Welche Strafe darauf wohl stand?
Einhard seufzte tief. Dann hob er ein wenig trotzig das Kinn und sagte mir rauer Stimme: „Ja, das habe ich. Ich habe den Text geändert.“
Schnell fügte er hinzu: „Aber glaubt mir: Niemals hätte ich es gewagt, den Sinn der Worte in irgendeiner Weise zu verfälschen oder zu entstellen … auch nur ein Jota zum Inhalt hinzuzufügen … oder gar wegzunehmen. Nein … nur … nur … nur schien es mir, als könnte ich das Wohlgefällige der Worte … noch ein wenig wohlgefälliger machen, etwas runder, ansprechender, klangvoller. Nur einen Hauch. Ich hatte dabei ausschließlich beste Absichten. Bitte verzeiht mir diese unglaubliche … diese sündhafte Anmaßung.“
Das Gesicht Baugulfs verfinsterte sich. Offensichtlich war der Abt über die ungeheuerliche Anschuldigung gegen die klösterliche Schreibstube von den Missi im Vorfeld nicht informiert worden. Und nun lag das „Corpus delicti“, das schandvolle Beweisstück, aufgeschlagen vor ihm auf dem Tisch.
Eine mehr als unangenehme Situation. Denn eine derartig schwere Verfehlung konnte dem Ruf des im ganzen Land geachteten Reichsklosters schweren Schaden zufügen. Wenn sie denn bekannt wurde. Und das ganze Dilemma war auch noch von seinem begabtesten Schüler ausgelöst worden. Dem Vorbild im Skriptorium. Wie sollte er damit umgehen? Nun, zumindest musste er jetzt und hier einen klaren Verweis aussprechen und eine angemessene Sanktion andeuten.
Baugulf streckte seinen Nacken energisch durch und sah Einhard missbilligend an. Er holte tief Luft …
Doch die beiden Gesandten fingen auf einmal an zu grinsen. Der Bärtige deutete auf das Manuskript und hob schelmisch eine Augenbraue an.
„Nun, Alkuin ist von deinen rhetorischen Künsten offenbar beeindruckt. Sehr sogar. Von deiner Schrift und von deinen ungewöhnlichen Fertigkeiten in der Sprache. Kurz und gut: Deine Verbesserungen haben ihm gefallen. Und glaube mir, es passiert nicht oft, dass Alkuin jemanden so überschwänglich lobt. Dein Kloster hier …“, er nickte Baugulf anerkennend zu, „… kann stolz auf dich sein. Sag mir, Junge: Wie alt bist du?“
Einhard stotterte: „Achtzehn Jahre!“
„Gut, Einhard, dann pack deine Sachen. Und zwar sofort. Wir nehmen dich nämlich mit. Alkuin möchte, dass du ihn während des kommenden Reichstags in Ingelheim im Skriptorium der Hofkanzlei unterstützt. Der König wird dort im Sommer mit den Obersten des Reiches viele theologische, wirtschaftliche und rechtliche Fragen zu klären haben – und das bedeutet, wie du dir sicher denken kannst: Es gibt einen Haufen neuer Schriftstücke. Da darfst du dann beweisen, ob du wahrlich so ein begnadeter Jongleur der Worte und der Sprachbilder bist.“
Der andere fügte knapp hinzu: „Wir reisen früh im Morgengrauen ab. Ich hoffe, du kannst reiten.“
Wie jung ich damals war. Achtzehn Jahre. Fast mag ich es nicht glauben. Nun werde ich bald siebzig und spüre, wie mir das Leben zwischen den Fingern zerrinnt. Vor allem, da sich ein widerwärtiger, rauer Husten in mir eingenistet hat, mit dem ich seit Tagen mein letztes bisschen Kraft von mir gebe.
Viel Zeit ist mir wohl nicht mehr vergönnt. Nur noch der eine oder andere kurze Spaziergang an den steinigen Ufern des Mains. Dort, wo die Wellen mit einem sanften Gluckern an die Böschung schlagen und die Schwäne gelassen ihre Bahnen ziehen. Dann werde ich in Frieden gehen können.
Eben war Candidus bei mir, der treueste meiner Schüler. Er berichtet stolz, dass die Bauarbeiten an der Basilika wie geplant voranschreiten. Die Steinmetze arbeiten mehr als eifrig an dem Triumphbogen vor dem Chorraum … und die Schreiner stehen bereits kurz vor der Aufrichtung des mächtigen Dachstuhls. Ob ich die festliche Einweihung des Gebäudes noch erleben werde?
Ach ja, und dann erwähnte Candidus beiläufig, dass das Volk die zukünftige Abteikirche schon jetzt nach mir benannt habe. Überall sagen sie: „Einhardbasilika.“ Einhardbasilika! Welch ein Irrsinn! Welch eine Anmaßung! Denn eines weiß ich genau: Ich bin kein Heiliger. O nein, das bin ich ganz gewiss nicht. Im Gegenteil. Ich habe ja nicht einmal die geistlichen Weihen. Ich bin nur ein alt gewordener Gelehrter, ein müder Kunstsachverständiger, ein Architekt, aber niemand, nach dem eine Kirche benannt werden sollte. Schon dass ich hier im Kloster als Laienabt wirke und das geistliche Leben der Brüder lenke, klingt für mich nach einer Ironie des Schicksals.
Die neue Basilika, die wir errichten, verdient einen größeren, einen ganz großen Namen, nämlich den der beiden Märtyrer, deren kostbare Reliquien sich im Besitz unserer Gemeinschaft befinden: Marcellinus und Petrus. Sie werden unsere Basilika mit ihrem Segen erfüllen. Sie sind wahrhaft heilig.
Ich habe Candidus mehrmals gefragt, ob ich dagegen angehen soll, dass die Menschen den Neubau derart respektlos mit meiner Person verbinden. Aber er meinte, das sei zwecklos. Das Volk mache ohnehin, was es wolle. Es habe ja sogar unseren Ort ungefragt umgetauft: von Obermulinheim in Seligenstadt – weil wir eben die bedeutenden Überreste der frommen Männer besäßen und weil in diesem Namen die Nähe Gottes so spürbar und wohltuend anklänge: Seligen-Stadt. Die Stadt der Seligen. Die Stadt der Glücklichen. Die Stadt der vom Himmel Beschenkten.
Außerdem, was soll’s? Dann wird die neue Basilika in den Schänken, auf den Märkten und in den Gassen eben „Einhardbasilika“ genannt. Und da ich die Baupläne mit eigener Hand erstellt habe, mag es dann doch so falsch nicht sein, dass mein Vermächtnis sich auch im Namen eines Gotteshauses wiederfindet.
Jetzt verbringe ich die letzten Monate meines Lebens hier im beschaulichen „Seligenstadt“ und spüre dennoch, dass mich die Erinnerung an damals überfällt wie ein Orkan. Als gälte es, Bilanz zu ziehen. Ja, ich habe dem kleinen Lothar damals die Wahrheit gesagt. Ich fürchte mich nicht vor dem Ende. Vor meinem Weltaufgang. Mein Leben war ein einziges Säen – da mache ich mir um die Früchte keine Sorgen.
Dass ich nun nicht mehr als Leiter der Hofschule und Alkuins Nachfolger in Aachen lebe und arbeite, liegt natürlich an Ludwig, dem Frommen. Pah. Schon wieder so ein ganz und gar verfehlter Titel. Der „fromme“ Ludwig hasst nämlich seinen Vater Karl aus ganzem Herzen. Deshalb versucht er ja auch, als Thronfolger das Andenken des verstorbenen Kaisers zu beschmutzen. Was für ein Armutszeugnis! Was für ein Elend!
Ja, je länger Karl tot ist, desto harscher wird Ludwigs Ton. Und umso gehässiger wird seine Kritik an der Biografie, die ich über den großen Kaiser geschrieben habe, von dem ich mit Fug und Recht behaupte, dass er „alle Herrscher seiner Zeit an Weisheit und Seelengröße überragte“. Doch das mag der neue Regent nicht hören. Kein Wunder.
Anfangs zehrte Ludwig noch gerne von dem Ruhm seines gloriosen Vaters. Ja, da wollte er unter allen Umständen ein würdiger … ein angemessener Nachfolger sein. Und nun … tja, nun möchte er der ganzen Welt beweisen, dass er nicht minder bedeutend ist. Ludwig der Fromme. Dass ich nicht lache … heruntergewirtschaftet hat er das gewaltige Reich seines Vaters, innerlich ausgehöhlt und destabilisiert.
Neulich bezeichnete jemand am Hof meine „Vita Karoli Magni“, mein inniges Zeugnis über das Leben Karls des Großen, ganz offen als „Lügenmärchen“, als „infames Gespinst aus Legenden und Beschönigungen“. Nun, was soll ich dazu sagen? Jede Geschichte wird aus der Perspektive der Sieger erzählt. So war es zu allen Zeiten. Einer entscheidet mit seiner Schreibfeder, welche Facetten eines Herrschers der Nachwelt überliefert werden.
Und ich … ich hatte nun einmal den Auftrag, in der „Vita“ den heldenhaften Werdegang des ersten fränkischen Kaisers niederzuschreiben, des „Defensor ecclesiae“, des Verteidigers der Kirche, des „Erhabenen Leuchtturms“, dessen riesiges Reich von der Nordsee bis an die Adria und von Bayern bis an den Atlantik reichte.
Hätte ich da seine häufigen Blähungen, seinen gelegentlichen Mundgeruch und seine Wutanfälle erwähnen müssen? Selbstverständlich nicht. Wen interessiert das noch in hundert Jahren? Am Ende sind es doch die heroischen Taten, die wir in Erinnerung behalten. Nicht, was einer besaß oder wie, wann und mit wem er seinen täglichen Mittagsschlaf hielt.
Dabei fand ich es schon sehr mutig von mir, dass ich in der „Vita“ auf so viele Makel des Kaisers deutlich hingewiesen habe. Auf seinen weichen Hängebauch und die fast weiblich hohe Stimme, die zu dem massiven Körper gar nicht zu passen schien. Auf seine zu groß geratene Nase und den gestutzten Hals, auf seinen Eigensinn, auf seine Tendenz, zu viel und vor allem zu lange zu reden, auf seinen Wunsch, immer im Mittelpunkt zu stehen, auf seinen unregelmäßigen Lebenswandel und auf seine Neigung zur Völlerei.
Also behaupte keiner, ich hätte ausschließlich Karls positive Seiten aufgeführt. Im Gegenteil: Ich habe ja sogar angedeutet, dass der Kaiser weder richtig lesen noch schreiben konnte. Er, der ruhmreiche Schirmherr der Bildung, der Mäzen der Wissenschaft, der weitsichtige Reformator der heiligen christlichen Kirche brachte selbst nicht mehr als ein Gekritzel zustande. Welch ein Farce. Mit einem schlichten schrägen Haken hat er seine Dokumente unterzeichnet. Ich zumindest finde, dass ich ehrlich war. Zutiefst ehrlich. Mehr noch: gefährlich ehrlich.
Aber ich gebe es dennoch zu. Natürlich ist meine „Vita Karoli Magni“ zugleich eine Art „Heiligenlegende“. Ja, ich habe die Biografie Karls achtsam und hingebungsvoll stilisiert, ich wollte ihr den gleichen Glanz verleihen, den auch die Lebensbeschreibungen der römischen Kaiser ausstrahlen. Schließlich war das Karls innigster Traum gewesen: das römische Reich wiedererstehen zu lassen – und zwar noch schöner als damals. Ein zweiter Konstantin wollte er sein. Was lag da näher, als dem Kaiser einen literarischen Lorbeerkranz aufzusetzen?
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