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Impressum

Verlag Friedrich Oetinger GmbH, Hamburg 2009

© Verlag Friedrich Oetinger GmbH, Hamburg 1967

 

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Alle Rechte vorbehalten

Illustrationen von Jochen Bartsch

Coverillustration von Heiner Rothfuchs

Covergestaltung von Jan Buchholz

E-Book-Umsetzung: 2013

 

ISBN 978-3-86274-430-5

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Der Montag, an dem ich fußkrank zu meinem fußkranken Urgroßvater umziehe. Handelt von hausfraulicher Ordnung und schöpferischer Unordnung, zeigt, dass der ängstliche Jan Janssen einmal ein Held gewesen ist, beweist am Beispiel eines Ritters, dass hundert Leichen noch keinen Helden machen, und erklärt, wie nützlich die Rückseiten von Tapeten sein können.

Als ich zwölf Jahre alt war, zählte mein Urgroßvater schon sechsundachtzig Jahre. Aber sein Körper schien immer noch gesund, sein Geist war immer noch wach. Im Sommer ging er allmorgendlich hinunter zur Brücke unserer kleinen Insel und redete mit den Fischern, die vom Fang zurückkehrten. Im Winter besserte er immer noch Netze aus oder schnitzte Korken für die Leinen der Hummerfangkörbe, die auf der Insel Tiener hießen.

Aber kurz nach seinem sechsundachtzigsten Geburtstag – es war im Oktober – traf ihn ein Schlaganfall, wie ein Blitz einen Baum trifft. Das brachte meinen Urgroßvater zwar nicht um (dafür war er immer noch zu kräftig), aber es zwang ihn für zwei Monate ins Bett. Als er wieder aufstehen konnte, wollten seine Beine nicht mehr so, wie er wollte. Deshalb wurde für ihn ein Rollstuhl angeschafft.

Dieses Möbel auf Rädern, das der Urgroßvater anfangs verflucht hatte, gefiel ihm mit der Zeit immer besser. Bald bewegte er sich nur noch im Rollstuhl durch die Wohnung.

Das aber missfiel meiner Großmutter, bei der er lebte. Sie rief deshalb mich zu Hilfe, sozusagen als Beruhigungsmittel für den rollwütigen Greis. Ich war nämlich erstens der Liebling meines Urgroßvaters und zweitens sein Schüler als Dichter und Erzähler. Außerdem hatte ich zu jener Zeit eine vereiterte Ferse. (Ich hatte aus purer Eitelkeit zu enge Schuhe getragen.) So brauchte ich vorerst nicht zur Schule zu gehen und konnte mich ganz dem Urgroßvater widmen.

Die Großmutter, zu der ich nun umquartiert wurde, wohnte auf dem Oberland der Insel Helgoland, auf dem Felsen. Deshalb nannten wir sie die Obergroßmutter. Die andere Großmutter, die am Fuße des Felsens im Unterland wohnte, hieß natürlich Untergroßmutter.

Es war im Dezember, als ich zur Obergroßmutter zog. Sie war zwei Tage vorher in meinem Elternhause erschienen und hatte meiner Mutter erklärt, dass der große Boy ihr mit seinem Rollstuhl den ganzen Haushalt durcheinanderbringe. Wenn das so weitergehe, müsse sie noch Verkehrsschilder in der Wohnung aufstellen. »Schickt ihm«, hatte sie zum Schluss gesagt, »den kleinen Boy. Dann können sie zusammen dichten und es herrscht Ruhe im Haus.« (Der große Boy war niemand anders als mein Urgroßvater. Der kleine Boy war ich. Wir wurden nämlich beide mit Boy angeredet.)

Eines klaren frostigen Sonntags hinkte ich also mit meiner vereiterten Ferse zum großen Boy in die Trafalgarstraße, der, als er mich begrüßte, ein Auge zukniff.

»Die Weiber haben beschlossen, dass wir wieder mal zusammen dichten«, sagte er. »Sollen wir ihnen den Gefallen tun?«

»Natürlich«, antwortete ich.

»Wann haben wir eigentlich zum letzten Mal gedichtet und Geschichten erfunden, Boy?«

»Das haben wir doch oft getan.«

»Ich meine, Boy, wann wir zum letzten Mal längere Zeit zusammen gereimt und gedichtet haben.«

»Das war vor zwei Jahren, Urgroßvater. Als Anneken und Johanneken die Masern hatten.«

»Richtig, richtig!«

Mein Urgroßvater rückte sich in seinem Rollstuhl in eine bequemere Lage und sagte zu seiner Tochter, meiner Obergroßmutter: »Heize ab morgen die beiden Kammern unter dem Dach. Da können wir dichten und sind dir aus dem Weg.«

»Ich soll die Speicherkammern heizen?«, rief die Obergroßmutter entsetzt. »Weißt du, wie viel Kohlen das kostet? Denkst du, wir sind Millionäre?«

»Gut«, sagte mein Urgroßvater, »dann dichten wir hier unten in der Wohnung, wo es warm ist.«

»Hier unten?«, schrie die Obergroßmutter. »Das ist ausgeschlossen. Ein Haushalt, in dem gedichtet wird, geht zugrunde. Ich habe meine Erfahrungen. Dichtet gefälligst in den Schlafzimmern im ersten Stock.«

»Betten sind zum Dichten gut«, erwiderte der große Boy. »Aber Schlafzimmer ersticken jeden schönen Einfall. Im ersten Stock dichten wir auf keinen Fall.«

»Auf keinen Fall!«, wiederholte ich.

»Die Männer sind alle gleich!«, murmelte die Obergroßmutter. Ebenfalls murmelnd, fügte sie hinzu: »Ich heize ab morgen den Speicher.«

Das war für uns Dichter ein Sieg auf der ganzen Linie. Ebenso beruhigt wie vergnügt gingen wir im ersten Stock schlafen.

Am nächsten Morgen allerdings – am Montag – war zunächst an einen Umzug auf den Speicher nicht zu denken. Meine Obergroßmutter und vier Frauen aus der Nachbarschaft verwandelten das herrliche Durcheinander der beiden Speicherkammern in jenes grässliche langweilige Nebeneinander, das die Hausfrauen Ordnung nennen. Das dauerte bis zum frühen Nachmittag. Zuerst waren Besen, Scheuerlappen und Bohnerwachs an der Reihe, dann wurden meterweise Gardinen aufgezogen und gerafft, danach wurde ein Gebirge von Kissen auf den Speicher verlagert und schließlich traten Staubwedel in Tätigkeit.

Wir zwei Dichter saßen währenddessen verschüchtert in einer Ecke des Wohnzimmers, bekamen mittags eine Verlegenheitssuppe aufgetischt, die keinem von uns schmeckte, und atmeten auf, als die Obergroßmutter gegen drei Uhr endlich meldete: »Ihr könnt nach oben ziehen. Den Rollstuhl bringt euch Jasper hinterher.«

Hinkend und schwerfällig kletterten wir beiden Boys über die steile Treppe unters Dach. Beim Transport des Rollstuhls, den Onkel Jasper heraufschleppte, mussten wir alle Hand anlegen, weil er so sperrig war. Aber endlich war auch das Dichterfahrzeug oben und mein Urgroßvater nahm es sogleich in Betrieb.

Der Speicher war zum Erstaunen verändert. Im großen mittleren Teil, der zum Trocknen von Wäsche und Fischen diente, lag ein schon leicht verblichener roter Treppenläufer. Er reichte von der Tür meiner Kammer im Norden bis zur Tür der Urgroßvaterkammer im Süden.

»Na also«, sagte der große Boy, »endlich werden die Dichter anerkannt. Man empfängt sie mit roten Teppichen. Aber ich fürchte, unsere Zimmer sind zum Dichten noch nicht geeignet. Wir müssen die schöpferische Unordnung, die wir nötig haben, wohl selbst herstellen.«

Der Urgroßvater hatte wie immer recht. Beide Kammern sahen aus, als hätte man sie für eine Möbelausstellung hergerichtet. Auf Tischen und Kommoden lagen Häkeldecken; den kleinen Fenstern nahmen reich gefältelte Gardinen das letzte bisschen Sicht und Licht; und auf den Sofas und Sesseln waren Kissen, die durch einen Schlag mit der Handkante allesamt Hasenohren bekommen hatten, so üppig verteilt, als handle es sich um Haremszimmer. Als einziges Zugeständnis an die Dichter lagen in jeder Kammer mehrere Seemannskalender, peinlich geordnet, aufeinander. Die Lust am Dichten konnte einem beim Anblick solcher Kämmerchen vergehen.

»Wenn die Hausfrauen triumphieren, unterliegen die Dichter«, seufzte mein Urgroßvater. Er war im Rollstuhl, den er an den Rädern bewegte, zu mir herübergekommen. Der kleine bullernde Kanonenofen wärmte die Kammer bereits.

»Dichten«, fuhr der Alte fort, »werden wir auf Tapeten, Boy. Auf den Rückseiten. Ich habe die Tapeten eben auf dem Speicher entdeckt. Gleich links vor deiner Tür.«

»Aber damit soll doch vor Weihnachten das Wohnzimmer tapeziert werden, Urgroßvater.«

»An den Wänden sieht man nur die Vorderseite der Tapete, Boy. Überhaupt sieht man die Rückseiten selten auf der Welt, möchte ich hinzufügen.«

Was sollte ich gegen so gescheite Bemerkungen einwenden? Ich holte also auf Weisung des Urgroßvaters eine Tapetenrolle in die Kammer, schloss die Tür vorsichtshalber hinter mir ab und sagte: »Wir können anfangen.«

»Quatsch!«, knurrte mein Urgroßvater. Dabei zog er aus einer Gesäßtasche seiner dicken dunkelblauen Fischerhose zwei Zimmermannsbleistifte heraus. »Gleich anfangen ist Quatsch!«, wiederholte er. »Erstens will ich rauchen, zweitens müssen diese Kissen und Gardinen verschwinden, drittens kann ich nicht nach der Uhr dichten, viertens brauche ich eine Idee.«

»Gardinen und Kissen weg! Tabak und Idee her!«, wiederholte ich gehorsam.

Nun rollte ich die Gardinen nach oben und legte sie auf die Leiste, an der sie hingen, warf alle Kissen auf das kleine Sofa, hinkte über den roten Läufer zur Urgroßvaterkammer, um Pfeife, Tabak und Feuerzeug zu holen, schloss zum zweiten Mal die Tür hinter mir ab, legte mich in den Kissenberg auf dem Sofa und schob die Unterlippe vor.

Ich pflege, wie es mein Urgroßvater tat, heute noch die Unterlippe zu schürzen, wenn mir eine Idee kommt. Aber das umgekehrte Verfahren hilft leider selten: Wenn ich die Unterlippe schürze, kommt mir nicht unbedingt eine Idee.

So war es auch damals in der Speicherkammer. Während mein Urgroßvater qualmte und ein bisschen hin und her rollte, lag ich in den Kissen, starrte durch das kleine Fenster auf die Nachbardächer und hatte nicht den Fetzen einer Idee im Kopf.

Meinem Urgroßvater schien es anders zu gehen. Ich sah, wie er langsam, im Tempo einer aufsteigenden Idee, die Unterlippe immer weiter vorschob, bis er sie plötzlich wieder einzog, einen Zug aus der Pfeife nahm und sagte: »Boy, ich hab’s!«

»Was hast du?«, fragte ich verwirrt.

»Eine Idee, Boy! Ich glaube sogar, eine gute Idee. Du erinnerst dich, dass wir vor zwei Jahren mit der Sprache gespielt haben.«

Ich nickte.

»Jetzt sollten wir sie so weit beherrschen, dass wir von wichtigeren Dingen reden können, von der Welt, vom Leben und vom Menschen.«

»Was kann man von den Menschen viel reden, Urgroßvater? Jeder hat eine Nase, zwei Augen, zwei Ohren, einen Mund und vier Urgroßväter.«

»Und mancher Mensch«, ergänzte der Alte, »kann uns ein Vorbild sein, ein Held.«

»Helden finde ich langweilig«, raunzte ich. »Ich mag die Geschichte von Siegfried nicht.«

»Ich auch nicht«, lachte mein Urgroßvater. »Ich finde nämlich, dass Siegfried überhaupt kein Held ist.«

Jetzt war ich doch interessiert. »Wieso«, fragte ich, »ist Siegfried kein Held?«

»Weil man über Helden verschiedener Meinung sein kann, Boy. Das ist ja gerade meine Idee, dass wir durch Geschichten und Gedichte herauszubringen versuchen, wer und was ein Held ist. Ich zum Beispiel bin der Meinung, dass man immer nur in einem bestimmten Augenblick, in einer besonderen Situation, ein Held sein kann, nicht aber von der Wiege bis zur Bahre. Zum Beispiel glaube ich, dass Jan Janssen einmal ein Held gewesen ist.«

Über diese Bemerkung musste ich schrecklich lachen; denn über die Ängstlichkeit von Jan Janssen gab es auf unserer Insel die komischsten Geschichten. Deshalb fand ich es kurios, dass mein Urgroßvater ausgerechnet Jan Janssen einen Helden nannte. Ich sagte daher, er müsse es mir erklären.

»Will ich gern tun, Boy«, sagte der Alte. »Es ist allerdings eine etwas längere Geschichte. Wenn du Geduld hast ...«

»Natürlich habe ich Geduld«, unterbrach ich ihn; denn ich brannte darauf, von Jan Janssens Heldentum zu erfahren.

»Dann hör zu!«

Mein Urgroßvater lehnte sich bequem in den Rollstuhl, zog den Aschenbecher auf dem Tisch in seine Reichweite, paffte noch einmal ausgiebig und erzählte:

Die Geschichte von Jan Janssen und der schönen Lady Violet

Jan Janssen war zu seiner Zeit der Wetterfrosch der Insel Helgoland. Kein Sturm, den er nicht vorausgesagt, keine Trockenheit, die er nicht angekündigt hätte. Er kannte die Gesetze des Himmels und des Meeres und er kannte ihre Launen. Die Schiffer holten sich Rat bei ihm, ehe sie ausfuhren. Die Fischer berieten sich mit ihm, wenn die Heringsschwärme ausblieben oder wenn die Hummer aus unbegreiflichen Gründen die Felsgründe verließen, auf denen sie seit Jahrzehnten gehaust hatten.

Nun war Jan Janssen ein kleiner Mann, dessen Ängstlichkeit sprichwörtlich geworden war. Wenn jemandem der Mut fehlte, irgendetwas zu tun, sagte man: »Benimm dich nicht wie Jan Janssen!«

Jan hatte vor Hunden ebensolche Angst wie vor Katzen und Mäusen; er fürchtete den englischen Gouverneur der Insel ebenso sehr wie den Apotheker, der ihn zu verspotten pflegte. Er fürchtete sich auch im Dunkeln und zitterte, wenn er ausnahmsweise einmal bei rauer See mit hinaus zum Fischfang fuhr. Jan Janssen hatte, kurzum, ein Hasenherz.

Sein genaues Gegenteil war damals die schöne Lady Violet aus London, die Schwester des englischen Gouverneurs, die auf der Insel bei ihrem Bruder lebte. Jan Janssen verehrte sie insgeheim, weil sie genau das besaß, was ihm mangelte: einen Mut, der an Tollkühnheit grenzte. Sie hatte das Gesicht eines Engels, aber das Herz eines Löwen.

Eines Tages sah Jan vom Felsrand des Oberlandes aus, dass Lady Violet aufs Meer hinausruderte, obwohl das Warnungszeichen für Sturm, ein schwarzer Ball, am Mast der Brücke aufgezogen war. Für Jan Janssen hätte es dieser Warnung gar nicht bedurft. Für ihn standen in den Wolken wie im Wasser längst alle Zeichen auf Sturm. Deshalb schüttelte er besorgt den Kopf über die hinausrudernde Lady. Er schwenkte sogar die Arme in der Hoffnung, sie würde ihn sehen und sich warnen lassen. Aber sie sah den winkenden Jan nicht. Mit kräftigen Schlägen stieß sie das Boot vorwärts, immer weiter hinaus.

»Wenn sie nicht so verteufelt geschickt wäre, würde ich keinen Pfifferling mehr für ihr Leben geben«, murmelte Jan. »Das geht nicht gut.« Er seufzte und ging heim, um sich einen Tee zu machen.

Eine Stunde später aber trieb es ihn voller Unruhe wieder hinaus, um nach der Lady zu sehen. Sie war nur noch ein kleiner schwarzer Punkt weit draußen im Wasser, und der Sturm, das wusste Jan, stand unmittelbar bevor. Immerhin konnte er durch das Fernglas erkennen, dass die Lady das Boot schon gewendet hatte und wieder der Insel zuruderte.

»Aber was nützt das?«, murmelte er. »Der Sturm ist zu nah und Lady Violet zu weit draußen!«

Er hatte noch nicht ausgesprochen, als vom Meer her die ersten Windstöße kamen und bald darauf die ersten Tropfen. Jan wusste, dass sich ein Sturm ankündigte, wie ihn die Insel selten erlebt hatte. Er rannte nach Haus, zog sich Gummistiefel und Ölzeug an, stülpte sich den Südwester über den Kopf, verknotete ihn unter dem Kinn und stapfte hinunter zur Brücke im Unterland.

Auf der Treppe, die am Felsrand nach unten führt, musste Jan sich mehrere Male ans Geländer klammern, weil der Sturm ihn umzuwerfen drohte. Der Regen wurde dichter und über dem Meer gingen die ersten Blitze nieder.

Als Jan endlich die Brücke erreicht hatte, sah er, dass man das Rettungsboot klarmachte. Er sah auch, dass die Fischer schon mit Geld würfelten, um auszulosen, wer ausfahren müsse.

»Das ist Wahnsinn!«, dachte Jan. »Sechs Leute setzen ihr Leben aufs Spiel für eine Frau, die ein viel besseres Boot hat und die geschickter ist als alle sechs zusammen.«

Seine sprichwörtliche Ängstlichkeit hielt ihn davon ab, seine Gedanken laut werden zu lassen. Aber als sein eigener Sohn mitwürfelte, da packte den kleinen Mann plötzlich der Zorn. Er trat zu den Männern, die im winterlich kahlen Musikpavillon standen, und rief: »Es hat keinen Sinn auszufahren, Leute! Das wird ein Sturm, wie er in hundert Jahren nur einmal vorkommt. Den übersteht das Boot der Lady leichter als euer schwerer Kahn. Es ist Wahnsinn auszufahren!«

»Wir müssen tun, was wir können, Vater«, sagte Jan Janssens Sohn Broder. »Es ist unsere Pflicht, eine Rettung wenigstens zu versuchen.«

»Niemand hat die Pflicht, sich selbst umzubringen, Junge! Schaut euch das Meer an! Das ist erst der Anfang. Kentert ihr, gibt es sechs Leichen. Kentert die Lady, gibt es nur eine.«

Ein Fischer schob Jan Janssen einfach zur Seite. »Weg, Alter! Davon verstehst du nichts. Wir fahren aus. Und Broder fährt mit.«

Jetzt war Jan Janssen nicht wiederzuerkennen. Er packte seinen Sohn am Ölzeug und sagte ruhig, aber totenblass: »Du bist noch nicht einundzwanzig. Ich verbiete dir, mitzufahren. Ich habe nur einen Sohn.«

»Wenn du mir verbietest mitzufahren, bin ich dein Sohn nicht mehr«, sagte Broder. Auch er war blass.

»Verachte mich, wenn du willst, Junge, aber bleib leben!«, sagte Jan. »Ich verbiete dir vor allen Anwesenden mit auszufahren. Das Gesetz ist auf meiner Seite.« Er ließ den Jungen los und ging in Sturm und Regen hinaus auf die Brücke.

Die Männer im Pavillon sahen sich an. So kannten sie Jan Janssen nicht. Sie hielten ihn jetzt erst recht für einen Feigling, aber sie respektierten ihn. Es wurde tatsächlich für Broder ein anderer Fischer ausgelost, und der Junge musste, Zorn auf den Vater im Herzen, an Land bleiben.

Als das Rettungsboot ausfuhr – es hatten sich inzwischen eine Menge Insulaner an der Brücke eingefunden –, tobte das Meer wie selten. Die ersten Brecher schlugen schon über die Brücke. Himmel und Wasser flossen ineinander. Dass das Rettungsboot überhaupt ablegen konnte, war mehr einem Wunder als seemännischer Tüchtigkeit zuzuschreiben. Man sah es bald nur noch, wenn eine besonders hohe Welle es hochhob.

Bei den Insulanern an der Brücke, die den Rettern zusahen, mischten sich in den Herzen und in den Gesprächen Angst und Stolz: Angst um das Leben der Ruderer, Stolz auf ihren Mut. Für Jan Janssen, der seinem Sohn verboten hatte, mit auszufahren, hatte man nichts als Verachtung übrig.

Das Unwetter raste immer wilder. Die Zuschauer mussten sich in die Häuser zurückziehen, weil das Meer ständig höher stieg und das Wasser schon in die ersten Keller lief. Alle Insulaner waren jetzt in Bewegung. Vom Oberland aus beobachtete man das Meer mit Fernrohren. Aber der dichte Regenschleier behinderte die Sicht. Manchmal meinte einer, das Boot ausgemacht zu haben; aber dann war es nichts als der dunkle Streif einer Wellenwand.

Bald kam die Dunkelheit hinzu. Gaslaternen und Öllampen wurden angezündet. Die Menge bei der Brücke wurde immer schweigsamer.

Aber dann, plötzlich, schrie man wie aus einem Munde: »Sie kommen!« Ein Boot wurde mit einem Male nahe der Brücke sichtbar. Eine Welle hob es, danach versank es wieder.

»Es kommt nicht heran! Wir müssen Rettungsringe auswerfen!«, rief jemand. In diesem Augenblick sah man auf einem Wellenkamm, undeutlich, aber mit Sicherheit, das Boot wieder. Es war zum Greifen nah und dann schoss es mitten im Schaum den überschwemmten Strand hinauf. Ehe die zurückrollende Welle auch das Boot mit zurückzog, sah man eine Gestalt über Bord springen. Als die nächste große Welle kam, wurde die Gestalt landeinwärts mitgeschleift.

Zwei Männer wagten sich ein Stück ins Wasser vor; aber ehe sie zupacken konnten, wurde die Gestalt wieder mit zurückgerissen. Erst eine neue Welle trug sie wieder heran und diesmal war es den Männern möglich, sie zu packen, ehe der Sog der abziehenden Welle sie ihnen wieder entriss. Die Rettung war geglückt. Man brachte die Person an Land. Es war Lady Violet.

Auf die sechs Retter wartete man bis zum Morgen vergeblich. Ihre Leichen spülte das Meer Tage später an verschiedenen Küsten der Nordsee an.

Eine Woche nach dem Unglück begrub man die sechs Seeleute auf dem kleinen Friedhof der Insel. Lady Violet war beim Begräbnis dabei. Sie sprach im Namen ihres Bruders, des Gouverneurs, der in London war, an den offenen Gräbern.

»Ihr seid«, sagte sie in die Gräber hinein, »um meinetwillen ausgefahren. Ich war tollkühn und habe nicht bedacht, dass ich auch euch in Gefahr bringen würde. Gott lohne es euch allen! Euch Lebenden aber ...« Die Lady wandte sich an die Trauergemeinde. »... euch Lebenden sage ich, es war nicht Mut, sondern Wahnsinn auszufahren. Bei solchem Wetter und mit solchem Boot kehrt niemand zurück. Nur einer unter euch, der kleine Jan Janssen, hatte den Mut, diesem Wahnsinn entgegenzutreten. Er kannte die Boote. Er kannte die Ruderer. Er gab mir mehr Chancen als den sechs Rettern. Er war so vernünftig zu sagen, sechs Leben für eins, das sei zu teuer. Er hatte recht. Habt zukünftig nicht blinden, sondern vernünftigen Mut! Beten wir für die Seelen der Toten!«

Man betete. Aber das Erstaunen über die Rede der schönen Lady Violet blieb auf den Gesichtern und Jan Janssens Sohn Broder blickte zu Boden, bis die Trauerfeier zu Ende war.

 

Während mein Urgroßvater erzählt hatte, war es in der Speicherkammer dunkel geworden. Nun schaltete ich das Licht ein und mein Urgroßvater und ich blinzelten uns in der plötzlichen Helligkeit an.

»Nun?«, fragte der Alte. »Wie denkst du über Jan Janssen, Boy?«

»Ich denke, Urgroßvater, dass die sechs Männer im Rettungsboot auf ihre Art auch Helden gewesen sind. Sie wussten selbst, wie gefährlich das Unternehmen war. Trotzdem sind sie ausgefahren, um ein Leben zu retten.«

»Vielleicht, Boy, wussten sie weniger gut als Jan Janssen, dass sie keine Chance hatten durchzukommen. Hätten sie es ganz genau gewusst, wären aber trotzdem ausgefahren, würde ich sie tollkühn und unvernünftig nennen. Tollkühnheit und Unvernunft aber machen keine Helden.«

Ich wollte etwas erwidern, als ich jemand die Stiege zum Speicher heraufkommen hörte. Auch mein Urgroßvater wandte lauschend den Kopf und sagte dann: »Schieb schnell die Tapetenrolle unter das Sofa, Boy! Und schließ leise die Tür auf. Und lass die Gardinen wieder herunter.«

Wie ich all seine Weisungen so schnell ausführen sollte, wusste ich nicht. Aber es gelang. Als die Obergroßmutter hereinkam, grinsten wir sie harmlos an. Die Gardinen hingen gefältelt vor dem Fenster, die Tapetenrolle war verschwunden.

Die Obergroßmutter brachte uns das Abendessen herauf, Wurstbrote, Käsebrote, Radieschen und Tee. »Dichtet nicht mehr so lange«, sagte sie und sah sich dabei suchend um.

»Habt ihr etwa kein Papier?«, fragte sie misstrauisch. »Dichtet ihr wieder auf Holz wie vor zwei Jahren?«

»Wir dichten in die Luft, Margaretha«, lächelte mein Urgroßvater. »Wir erzählen uns Geschichten. Wenn wir etwas zum Schreiben brauchen, wird sich schon eine Unterlage finden.«

Meine Obergroßmutter schien etwas Bissiges antworten zu wollen, als sie plötzlich entdeckte, dass ich auf dem Sofa in sämtlichen Kissen saß.

»Fünf Frauen haben diese Kissen gelüftet, geklopft, gebürstet und ordentlich hingelegt«, sagte sie. »Und was macht ihr in fünf Minuten daraus?«

»Ein Dichterlager«, lachte mein Urgroßvater. »Ist es nicht hübsch und bequem?«

»Ich habe eine andere Vorstellung von hübsch und bequem«, erwiderte die Obergroßmutter mit sehr spitzem Mund. Dann ließ sie uns wieder allein und verschwand mit einer Taschenlampe, ohne die man den Speicher bei Nacht nicht betreten konnte, denn der Mittelteil hatte kein Licht.

Beim Abendessen unterhielten wir zwei Männer uns weiter über Helden. Ich gab meinem Urgroßvater recht, dass der von Natur ängstliche Jan Janssen für einen Augenblick zum Helden geworden war, als er aus Vernunft die Verachtung einer ganzen Insel und obendrein die Verachtung des eigenen Sohnes auf sich genommen hatte, um ebendiesem Sohn das Leben zu erhalten.

»Etwas gegen die eigene Natur tun, kann Helden machen«, sagte mein Urgroßvater. »Das ist es zum Beispiel, was mich so für den griechischen Helden und Halbgott Herkules einnimmt. Der war zwar ein grässlicher Muskelprotz und Aufschneider; aber fast alle seine Heldentaten tat er unwillig und nur aus Gehorsam gegen den Göttervater Zeus, der auch sein eigener Vater war.«

»Hat Zeus ihm Aufträge für Heldentaten erteilt, Urgroßvater?«

»Viel schlimmer, Boy, er hat ihm befohlen, seinem schwächlichen, feigen, furchtbar ängstlichen Stiefbruder Eurystheus zu dienen. Und dieser komische Knabe hat sich die gefährlichsten Aufträge für Herkules ausgedacht.«

»Und Herkules hat sie immer ausgeführt?«

»Immer, Boy, immer! Ich selbst habe die Taten des Herrn Herkules einmal in Versen beschrieben. Sie stehen in einem schwarzen Wachstuchheft, das auf dem Speicher gleich hinter der Tür links in der Truhe liegt. Hol es mir her. Aber vergiss die Taschenlampe nicht.«

Ich vergaß die Lampe nicht, fand das Buch und brachte es dem alten Boy, der gleich darin zu blättern begann. »Nimm hier zum Beispiel das Abenteuer mit dem Höllenhund«, sagte er nach einem Weilchen. »Da musste Herkules in die Unterwelt hinabsteigen. Das ist für einen Halbgott, der oben im Licht wohnt, ein Abenteuer, das er nur höchst widerwillig unternimmt. Aber Eurystheus befahl Herkules, den Hund zu holen, und Herkules ging. Willst du das Abenteuer hören?«

»Natürlich, Urgroßvater!«

»Also dann!« Der Alte setzte seine Brille auf, hielt das Heft gegen die Lampe und las:

Die Ballade von Herkules in der Unterwelt

Herr Herkules, der große Held,

Man kennt ihn aus der Sage,

Der hat die angsterfüllte Welt

Befreit von mancher Plage.

 

Eurystheus, dem er dienen musst’

(An Hass ein Ungeheuer),

Trieb Herkules mit böser Lust

In böse Abenteuer.

 

Einst rief er: »Hol mir Kerberos!

Nach dem steht mein Verlangen.«

Da zog der Held wahrhaftig los,

Den Höllenhund zu fangen.

 

Doch diesmal fühlte selbst der Held,

Dass ihn ein wenig grause;

Denn drunten in der Unterwelt

War Kerberos zu Hause.

Er hauste, schrecklich anzusehn,

Am Hadesfluss im Dunkeln,

Wo Tote nur spazieren gehn

Und keine Lichter funkeln.

 

Doch mutig stieg hinab der Held

Von dem Gebirg Tainaron

Und traf dort in der Unterwelt

Den alten Fährmann Charon.

 

Der brachte ihn zum König hin,

Der hier das Zepter führte

Und mit der Totenkönigin

Das Totenreich regierte.

 

Es grüßte ihn das Königspaar,

Das viel von ihm vernommen

Und das auch unterrichtet war,

Warum er hergekommen.

 

»Geh, hole dir den Kerberos«,

Sprach man nach einer Weile.

»Doch kämpfe mit den Händen bloß

Und ohne deine Keule!«

 

Da ging der Held im Löwenfell

Drauflos, wenn auch mit Schrecken.

Es scholl des Untiers Wutgebell

Wie tausend erzne Becken.

 

Auch züngelte ein Schlangenmaul

An dieses Untiers Schwanze.

Das biss den Helden. Doch, nicht faul,

Ging der sogleich aufs Ganze.

Er zog den Hund am Schwanz und band,

Trotz Bissen und trotz Schrammen,

Das ganze Untier kurzerhand

Wie ein Paket zusammen.

 

Dann legte er den Höllenhund

Vorm Thron des Königs nieder.

Der König sprach: »Halt ihn gesund!

Und bring ihn, bitte, wieder!«

 

»Versteht sich!«, sprach der Held sogleich

Mit ehrerbietgem Gruße.

Dann trug er durch das Totenreich

Den Hund zum Hadesflusse.

 

Zurück ins Licht der Oberwelt

Fuhr Herkules mit Charon,

Und sicher kamen Hund und Held

In das Gebirg Tainaron.

 

Gewaltig war im ganzen Land

Der Ruf, der vor ihm herflog,

Als er vergnügt mit einer Hand

Den Hund hinter sich herzog.

 

Kam er an einem Dorf vorbei,

Floh jedermann voll Schrecken

Und nur die Kühnsten lugten scheu

Um ihre Häuserecken.

 

Eurystheus, der im Garten stand,

Sah durch des Tores Lücke

Das Untier an des Helden Hand

Und rief: »Bring ihn zurücke!

 

Bring ihn zurück zur Unterwelt,

Sonst könnte er mich beißen!«

Da lachte Herkules, der Held,

Und tat, wie ihm geheißen.

 

Was er auch tat: Er schaffte es!

Und also singt der Sänger:

Vor Zeiten war Herr Herkules

Der erste Hundefänger.

Das Wachstuchheft wurde zugeklappt und mein Urgroßvater sagte: »Natürlich, Boy, war dieser Hundefang ein sinnloses Unternehmen, veranstaltet von Eurystheus, der Herkules eins auswischen wollte. Ich weiß nicht, ob es heldenhaft ist, eine Aufgabe zu lösen, von der man weiß, dass sie Unsinn ist. Ich wollte dir nur zeigen, dass dieser lichte Halbgott gegen seine Natur ins Dunkel des Totenreiches hinabstieg.«

»Und etwas gegen seine Natur tun kann Helden machen«, ergänzte ich.

»Genau das wollte ich sagen, Boy«, lachte mein Urgroßvater. »Du kommst mir langsam auf die Schliche. Übrigens schiebst du die Unterlippe vor. Was kommt dir in den Kopf?«

»Ich überlege, Urgroßvater, ob es nicht lustig wäre, etwas über falsche Helden zu reimen. Je mehr man weiß, was nicht heldisch ist, umso genauer erkennt man nachher, was wirklich heldenhaft ist.«

»Klug überlegt, Boy!«

Der Alte schob mir seinen Teller, auf dem noch zwei Wurstbrote lagen, zu und fuhr fort: »Dichten wir Verse über scheinbare Helden, über Helden, die keine sind. Aber iss erst meine Brote auf, ich kenne deinen Hunger, und dann breite die Tapete auf dem Tisch aus.«

Ich verzehrte, was noch da war, stellte das Geschirr dann auf eine Kommode, breitete die Tapetenrolle mit der Rückseite nach oben auf dem Tisch aus und ließ mir vom Urgroßvater einen Zimmermannsbleistift geben. Nun war der Tisch eine schöne große Papierfläche. Wir beschlossen, in der Mitte des Papiers, sozusagen beiderseits der Mittellinie, mit dem Schreiben anzufangen, aber einen Stapel Seemannskalender als Trennungsmauer aufzustellen, damit wir uns beim Schreiben gegenseitig nicht störten.

»Über Helden«, erklärte mein Urgroßvater zuvor, »pflegt man Balladen zu verfassen. Bleiben wir dabei. Ich habe vor, eine Landsknechtballade zu dichten.«

»Dann dichte ich eine Ritterballade, Urgroßvater.«

Bald saßen wir mit vorgeschobenen Unterlippen da und bekritzelten die Tapete.

Als ich einmal nicht weiterwusste, füllte ich im Ofen Kohlen nach, starrte ein bisschen in die Flammen und schon floss es wieder.

Unsere Balladen waren fast zu gleicher Zeit fertig. Wir knobelten, wer beginnen sollte, und ich gewann und begann.

So las ich denn von der Tapete ab:

Die Ballade vom Ritter Grausegrün

In alten Zeiten lebte

Der Ritter Grausegrün.

Wer ihn nur sah, der bebte.

Er blickte gar zu kühn.

 

Wenn er bei dem Turniere

Mit andern Rittern stritt,

Dann kreischten die Scharniere

Und auch die Damen mit.

 

Sah wer den kühnen Streiter

Nur von der Seite an,

Der tat’s nicht lang mehr weiter:

Er war ein toter Mann.

 

So grimmig war kein Ritter

Wie Ritter Grausegrün.

Noch durch des Helmes Gitter

Sah man die Augen glühn.

 

Sein Hirn war klein geraten,

Doch groß war seine Kraft.

Das Tun von kühnen Taten

War seine Leidenschaft.

Nun weiß man hier auf Erden,

Wie Leidenschaften sind:

Wenn sie erst älter werden,

Werden sie taub und blind.

 

Das ist besonders bitter

Für Leute ohne Hirn.

So war’s auch bei dem Ritter

Mit seiner Eisenstirn.

 

Als er voll Wut und Schwung war,

Doch leider etwas alt,

Hat einer, der noch jung war,

Ihn kaltgemacht im Wald.

 

Zum Ritterhimmel schwebte

Die Seele, stolz und kühn.

Er starb so, wie er lebte,

Der Ritter Grausegrün.

»Bravo, Boy!«, rief mein Urgroßvater und klatschte sogar in die Hände. »Du hast herausgekriegt, was mit dieser Art von Rittern los war. Sie waren Fachleute im Umbringen und sie verstanden ihr Handwerk. Aber selbst hundert Leichen machen noch keinen Helden. Hör dir jetzt meine Verse an.«

Der Alte setzte seine Brille auf und las von der Tapetenrückseite:

Die Ballade vom Landsknecht in Flandern

War einst ein Landsknecht in Flandern,

Dem ging es sonderbar.

Er musste wandern und wandern,

Weil kein Krieg im Lande war.

 

Ein Landsknecht muss streiten und siegen,

Denn dafür kriegt er Geld.

Er wird zum Kämpfen und Kriegen

Bezahlt und angestellt.

 

Doch ist nirgends ein Krieg zu sehen,

Was tut ein Landsknecht am End?

Dann muss er ihn suchen gehen

Wohl zwischen Brügge und Gent.

Drum musste der Landsknecht in Flandern,

So arbeitslos und allein,

Alle Tage wandern und wandern

Ins flandrische Land hinein.

 

Mit durchgelaufenen Schuhen

Wehklagte er: »Lieber Gott,

Dein Frieden füllt Schränke und Truhen,

Doch den Landsknecht macht er bankrott!«

 

Der Herbst kam mit schaurigem Wetter,

Der Winter mit Schnee und mit Eis.

Es gilbten sein Bart und die Blätter,

Und er wurde vorzeitig ein Greis.

 

Als dann wieder Krieg war in Flandern

Und man suchte ein neues Heer,

Da konnte er kaum noch wandern

Und kämpfen gar nicht mehr.

 

Er bekam keinen Sold und kein Essen,

Denn er war zum Kampfe zu alt.

So ist verschollen, vergessen

Ein flandrischer Landsknecht im Wald.

Mein Urgroßvater nahm die Brille ab und ich sagte: »Armer Landsknecht!«

»Dummer Landsknecht!«, sagte mein Urgroßvater. »Töricht der Mann, der im Frieden auf Krieg hofft, weil er ein Landsknecht bleiben will. Sehnsucht nach Kämpfen macht noch keine Helden.«

Unter dem Vorlesen hatten wir überhört, dass jemand auf den Speicher gekommen war. Nun stand plötzlich Onkel Harry im Zimmer und starrte verdutzt auf den tapetenbedeckten Tisch.

»Was macht ihr denn da?«, fragte er.

»Wir dichten«, sagte ich wahrheitsgemäß.

»Ist das eigentlich schwer, Boy? Ich meine, geht das schnell oder braucht man viel Zeit?«