© Verlag Friedrich Oetinger GmbH, Hamburg 2008
Alle Rechte vorbehalten
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
E-Book-Umsetzung: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin 2014
ISBN 978-3-86274-047-5
Lust auf mehr?
www.oetinger.de
www.oetinger.de/ebooks
Skogland feierte.
Über dem Palast wehten die Flaggen des Landes, und vor den Buden und Ständen am Rande des Prachtboulevards drängten sich die Menschen und prosteten einander zu mit Saft, Wasser und Wein.
»Auf unseren König!«, sagten sie, wenn sie ihre Becher mit leisem Klacken gegeneinanderstoßen ließen. »Auf unser endlich geeintes Skogland! Möge die Zukunft gerecht und glücklich sein.«
Im Schlosspark, der an diesem Tag zum ersten Mal in der Geschichte des Landes auch für die Bevölkerung geöffnet war, spielten die Kinder, ihre Köpfe dunkel und blond. Luftballons in allen Farben des Regenbogens, mit Gas gefüllt und mit Wunschkärtchen an den Bändern, stiegen hoch in den Himmel; aus Lautsprechern in den Bäumen klangen skogische Sommerlieder, und kleine Jungen und Mädchen drehten sich zu ihren Melodien versunken um sich selbst, während die älteren mit lautem Johlen ihre Bälle über die Rasenflächen kickten. Längst war die Sonntagskleidung der Fußballspieler voller Grasflecken, aber an diesem Tag schien selbst das ihre Mütter nicht zu kümmern.
Mitten in der Menge standen der König und seine Schwester. Sie schüttelten Hände, die ihnen von überall her entgegengestreckt wurden, lächelten hier und wechselten ein paar freundliche Worte da, ihre Bodyguards unauffällig und in respektvollem Abstand hinter ihnen. Längst hatten sich die beiden Prinzessinnen, hoch aufgeschossen und mit kurzen, blonden Haaren die eine, dunkel und kleiner die andere, von ihnen entfernt; in ihren wehenden Sommerkleidern winkten sie den Menschen fröhlich zu, lachten, wenn Kinder an ihren Röcken zupften, kurz gegen ihre Schultern stupsten, um ein Mal, nur ein Mal im Leben, eine echte Prinzessin zu berühren. Mit der Menge auf dem weiten Schlossparkrasen summten sie die Melodien aus den Lautsprechern mit und ließen sich lachend Blumen schenken, die sie anschließend unauffällig ihren Personenschützern übergaben.
Nur ein paar Schritte entfernt begleitete sie ein dunkelhaariger Junge, ohne sie aus den Augen zu lassen; und immer verfolgte sein Blick die Kleinere der beiden, wenn sie sich einmal für einen Augenblick von der anderen löste, um sich schüchtern für die Hochrufe zu bedanken.
»Ist das nicht wundervoll?«, flüsterte eine Frau, die mit weit vorgebeugtem Kopf ein Würstchen auf einem kleinen Pappteller balancierte und sich dabei bemühte, keinen Ketchup auf ihr Kleid tropfen zu lassen. »Wer hätte gedacht, dass alles so gut ausgehen würde, als wir vor nicht einmal einem Jahr den König zu Grabe getragen haben!«
Mit geschickten Fingern wendete ihr Mann weitere Würstchen auf einem billigen Einmalgrill und nahm sich eine Flasche aus der abgewetzten Kühltasche, die er daneben auf dem Rasen abgestellt hatte.
»Als wir dachten, wir hätten den König zu Grabe getragen, ja!«, sagte er. »Und wie glücklich die kleinen Prinzessinnen jetzt sind, nach allem, was sie durchmachen mussten! Wer hätte das jemals geglaubt.«
Die Frau steckte den Rest ihres Würstchens in den Mund, warf verstohlen einen Blick in die Menge, um zu sehen, ob man sie beobachtete, und leckte dann blitzschnell ihre Finger ab. »Ist noch eins fertig?«, fragte sie. »Danke schön! Und dass nun Norden und Süden endlich vereint sind! Dass es endlich Gerechtigkeit gibt für den Norden!«
Ihr Mann reichte ihr die Ketchupflasche. »Mancher wird nicht glücklich sein über den Ausgang der Wahlen«, sagte er und sah zu, wie sie sich einen großen Klacks Ketchup auf ihren Pappteller quetschte. »Vorsicht! Das spritzt! Nein, mancher wird überhaupt nicht glücklich sein jetzt. Denen sind viel zu viele Nordler in der neuen Regierung.«
Die Frau winkte ab, dabei kam ihr Würstchen ins Rutschen. »Ach, sollen sie doch!«, sagte sie und schaffte gerade noch, es zu halten, bevor es fiel. »Es gibt nun mal mehr Nordler in Skogland als Südler, daran müssen wir uns eben gewöhnen. Wie unser König uns immer wieder gesagt hat: Wir im Süden müssen lernen, unseren Reichtum zu teilen. Und sieh dir doch an, wie glücklich das Land ist!«
Der Mann schürzte die Lippen. »Wollen wir es hoffen«, sagte er skeptisch. »Wollen wir es wirklich hoffen.« Dann nahm er sich endlich auch selbst eine Wurst.
Ein wenig abseits vom Trubel aber, unter den hohen alten Zedern im Schatten, stand eine Gruppe von Männern in eleganten Anzügen und Uniformen und sah nachdenklich über den Rasen, von wo sich ihnen jetzt der König näherte.
»Auf unser glückliches Skogland!«, sagten sie und prosteten dem König zu. »Darauf, dass wir endlich angekommen sind in der Neuzeit, in der Familie der freien und demokratischen Völker! Hoch lebe König Magnus! Hoch lebe Prinzessin Margareta! Hoch leben unsere beiden jungen Prinzessinnen!«
»Und hoch lebe der Adel von Skogland«, sagte der König und hob sein Glas. »Der diese Reformen so mutig unterstützt.« Dann wandte er sich wieder der Menge zu und winkte ihnen kurz zum Abschied.
Die Männer sahen ihm nach, und niemand bemerkte die prüfenden Blicke, die sie jetzt hinter sich warfen, wenn sie miteinander sprachen, und niemand beachtete, dass sie ihre Stimmen senkten.
Am wenigsten aber bemerkten die beiden jungen Prinzessinnen. In ihren wehenden Kleidern liefen sie über die Rasenflächen, trunken vor Freude; sie hakten sich ein und lachten und winkten den Menschen rechts und links; und sie glaubten, alles wäre gut.
Sobald der Wecker auf seinem Handy brummte, war Joas wach, übergangslos, ohne Grauzone zwischen Schlaf und Tag, ohne Erinnerung an einen Traum.
Fast lautlos schwang er seine Beine aus dem Bett und streifte sich die Sporthose über. Auf Zehenspitzen, die Laufschuhe in der Hand, schlich er zur Fenstertür, die auf die gewendelte Feuerleiter hinausführte. Einer seiner Zimmerkameraden drehte sich mit einem leisen Seufzer auf die andere Seite und Joas erstarrte in der Bewegung. Sie hatten noch genau fünfundvierzig Minuten bis zum Wecken, die anderen würden ihn erschlagen, wenn er ihnen diesen letzten Schlaf stahl.
Die Metallstufen unter seinen bloßen Sohlen vertrieben auch den letzten Rest von Morgenmüdigkeit. Es fällt mir von Tag zu Tag leichter, dachte Joas und schnürte sich auf der untersten Stufe die Schuhe zu. Fast würde mir schon etwas fehlen, wenn ich vor der Schule nicht laufen würde. So früh am Morgen gehörte die Welt ihm. Die Luft war klar mit Resten von Morgennebel kniehoch über dem weiten Rasen, dahinter der Wald; die ersten Schleierwolken schienen schon regungslos am Himmel zu stehen, aber Joas wusste, dass sie, sähe er in wenigen Minuten wieder zu ihnen auf, Form und Ort verändert haben würden. Noch sandte die Sonne ein gläsernes Licht aus, kühl fast, aber dahinter ahnte Joas schon die kommende Hitze.
Die ersten hundert Meter ging er mit großen Schritten und ließ die Arme in weiten Schwüngen kreisen, um seinem ganzen Körper mitzuteilen, wie ernst er es meinte damit, dass die Ruhe jetzt vorbei war. Sein Blick schweifte über den weiten, hügeligen Rasen, auf dessen millimeterkurzen Halmen Tautropfen in der Morgensonne glitzerten. Schon wenn er zurückkam, um vor dem Frühstück noch unter die Dusche zu springen, würde das Gras in der ersten Wärme getrocknet sein, das Glitzern verschwunden.
Joas fiel in einen leichten Trab. Hinter dem Jungenflügel sank der Rasen über mehrere Hundert Meter sanft ab ins Tal, wo er schließlich von dichtem Wald begrenzt wurde; vom höchsten Punkt des Hügels genoss Joas jeden Morgen für wenige Sekunden den Blick über die Ebene unter ihm: tiefdunkel und endlos die Wälder, hier und da unterbrochen von frühsommergrünen Feldern, zwischen denen die roten Dächer der Höfe im Morgenlicht leuchteten wie zum Beweis, dass dies alles trotz der Einsamkeit der Wälder Menschenland war, bewohnt und vertraut; Seen, große und kleine, deren Oberfläche in der Sonne glänzte. Und am Horizont der Dunst, gelbgrau, der sich kaum jemals auflöste und hinter dem Joas die Hauptstadt wusste und dahinter das Meer.
Skogland ist schön, dachte er und zog das Tempo ein wenig an. Nie ist Skogland so schön wie am frühen Morgen. Ich muss aufpassen, dass ich nicht romantisch werde, mit Romantik hat das alles hier nun wirklich am allerwenigsten zu tun.
Seine federnden Schritte machten kleine saugende Geräusche auf dem feuchten Gras und ließen dunklere Spuren zurück. Er spürte, dass er schneller war als am Tag zuvor, er fühlte sich so frisch, als wäre er gerade erst losgelaufen. Ich werde besser, dachte Joas. Von Tag zu Tag. Wenn ich ihn das nächste Mal spreche, muss ich Liron davon erzählen. Es war ihm damals so wichtig, dass ich immer vorbereitet bin, und wie kann ich mich wohl anders vorbereiten, als indem ich trainiere.
Er hatte den Waldrand erreicht und schlug den schmalen Pfad ein, der zwischen den Bäumen rings um das Schulgelände führte. Der Sicherheitszaun war hinter dem dichten Laub verborgen, auch die Posten, die nach der Ankunft der Prinzessin vor fast einem Jahr verdoppelt worden waren; hätte er nicht von ihnen gewusst, er hätte glauben können, hier wäre er meilenweit ganz allein.
Unter seinen Füßen spürte Joas den Kies, der nach dem Regen am Vortag noch Wasser hielt, schwere schwarze Erde, in deren Senken und Mulden Pfützen standen; Inseln aus Gras, ab und zu ein größerer Stein, der durch die Sohlen drückte.
Auf der Fahrt zur Schule hatte Liron im letzten Sommer mit ihm darüber gesprochen, Joas erinnerte sich in präzisen, klaren Bildern; vielleicht, weil er so überrascht gewesen war, als sein Vater auf der Hälfte der Strecke den Wagen plötzlich scharf nach rechts gezogen und auf dem sandigen Randstreifen zum Stehen gebracht hatte.
»Glaub nicht, dass es jetzt vorbei ist, Joas«, hatte Liron gesagt und den Zündschlüssel gedreht, sodass der Motor erstarb und außer seiner Stimme nichts mehr zu hören war als das Geräusch der Autos, die auf der Straße an ihnen vorbeizogen. »Glaub nicht, es ist vorbei, nur weil der König zurück ist. Der gute König!«, und er hatte ein kleines bisschen gelacht. »Dies ist kein Märchen, Joas.«
Joas hatte gewartet, jetzt begriff er auch, warum Liron ihn selbst ins Internat hatte fahren wollen, ohne Chauffeur, auch ohne Bodyguards. Auf dem Asphalt waren Lastwagen an ihnen vorübergezogen, auch gepflegte Mittelklassewagen mit Familien auf dem Wochenendausflug: Skogland war ein reiches Land, den Skogen ging es gut. Ab und zu hatte auf der Rückbank eines der Wagen ein Kind mit der flachen Hand gegen die Scheibe geklopft, hatte gewinkt. Joas hatte zurückgewinkt, ohne es zu merken.
»Du musst immer vorbereitet sein, Joas«, hatte Liron gesagt. »Jederzeit. Nur weil du jetzt zurückkannst auf dein Internat, weil es aussieht, als wäre unsere Welt wieder heil oder als könnte sie es doch endlich werden, dürfen wir nicht aufhören, wachsam zu sein!«
Dann endlich hatte er Joas erklärt, was er ihm schon vor Wochen hätte sagen sollen.
»Aber wie?«, hatte Joas gefragt. »Und wer?«
»Wenn wir das wüssten, ginge es mir sehr viel besser«, hatte Liron geantwortet und den Motor wieder angelassen, um sich einzufädeln in den laufenden Verkehr. »Ich versuche es herauszufinden. Es gibt Anhaltspunkte, aber es gibt zu wenige. Darum sage ich dir jetzt nur: Du musst vorbereitet sein. Alles kann passieren in der nächsten Zeit, und du als mein Sohn …«
»Und Jarven«, hatte Joas gesagt und gespürt, wie die Röte seinen Hals hinaufwanderte.
Neben ihnen auf der Straße hatte der Auspuff eines Lastwagens graue Wolken ausgestoßen und Liron hatte die Scheiben hochgekurbelt. »Und Jarven«, hatte er gesagt. »Das ist der einzige Grund, warum ich froh bin, dass sie auch auf dein Internat kommt. Hab ein Auge auf sie, Joas.«
Joas hatte genickt. Vor ihnen stieg die Straße an, hinter der nächsten Biegung würden sie schon die Schule sehen.
»Und warum sagst du mir das alles jetzt erst?«, hatte Joas gefragt. »Warum hast du nicht schon längst mit mir darüber geredet, warum hast du mich in dem Glauben gelassen, nach der Befreiung des Königs vor acht Wochen wäre jetzt alles wieder in Ordnung in unserem Land?«
Liron hatte in einen niedrigeren Gang geschaltet; an dieser Stelle wurde die Steigung steiler. »Was glaubst du wohl, warum ich mir für diese Fahrt den Wagen der Köchin ausgeliehen habe?«, hatte er gefragt. »Sie war übrigens sehr überrascht und fürchterlich stolz. Ich habe ihr gesagt, in genau dieses Modell hätte ich mich vor Jahren einmal verguckt, als ich es in einem Film gesehen hätte. Der Wagen der Köchin wird bestimmt nicht abgehört, Joas, hier sind wir sicher. Aber wo sonst? Wo sonst können wir sicher sein, dass nicht jedes unserer Worte an einen Ort gelangt, von dem wir es am wenigsten wünschen?«
Joas hatte genickt.
Liron hatte den Blick nicht von der Straße gelassen. »Darum merk dir auch gut, was ich dir jetzt sage, Joas, ich werde es später nicht noch einmal wiederholen. Du darfst es niemandem erzählen, vielleicht ist es leichtfertig, was ich jetzt tue.« Er schwieg einen Augenblick. »Aber für den Fall, dass mir etwas passiert …« Sie hatten die Hügelkuppe erreicht; weit und spätsommergrün lag vor ihnen das Land, schon war das Tor mit der Fahne von Mörgaard zu sehen. »Aber merk es dir gut! Und erzähle niemandem davon!«
»Aber warum …?«, hatte Joas gefragt.
»Denk darüber nach, wenn mir etwas passiert«, hatte Liron gesagt. »Was war, drei Jahre nachdem das Königreich Skogland die Nordinsel erobert hat?«
»Wieso denn, was soll das?«, hatte Joas gefragt. »Soll das hier jetzt eine Geschichtsstunde sein, oder was?«
»Nur wenn mir etwas passiert«, hatte Liron gesagt und seine Frage unbeantwortet gelassen. »Dann denk darüber nach. Als Zweites: Was war lange Zeit das höchste Gebäude Skoglands und warum?«
»Also doch Geschichtsunterricht!«, sagte Joas. »Liron! Da könntest du mir doch gleich …«
Liron schaltete noch einen Gang herunter. »Dann überrasche ich dich jetzt«, sagte er. »Was haben Zwerge und Geißlein gemeinsam?« Vor ihnen tauchte, umgeben von Bäumen und Sträuchern, deren Farben schon den kommenden Herbst ahnen ließen, das Schulgelände auf.
»Zwerge und Geißlein?«, sagte Joas. »Das meinst du nicht ernst! Dass beides Märchen sind, oder was?«
Liron hatte gelächelt, dann waren sie um die letzte Kurve gefahren, und Joas hatte begriffen, dass er mehr von ihm nicht erfahren würde. »Vergiss die Fragen nicht!«, hatte Liron gesagt.
Dann hatte das Schultor vor ihnen gelegen und Joas hatte nicht mehr geantwortet. Nach der Befreiungsaktion in Sarby hatte er wirklich geglaubt, jetzt wäre alles vorbei, überstanden, für immer. Wie naiv er gewesen war.
Oder auch nicht, dachte Joas, während er mit gleichmäßigem Tempo durch den morgendlichen Wald lief. Das ist jetzt doch immerhin mehr als ein halbes Jahr her, und was ist passiert seit dem Gespräch? Allmählich glaube ich, dass Liron Gespenster sieht. Und außerdem hat er mir natürlich auch mit keinem Wort gesagt, wie ich mich vorbereiten soll und worauf, nur, dass ich diese verrückten Fragen nicht vergessen darf. Wer könnte die schon vergessen. Aber Laufen kann nicht schaden, Training ist immer gut, fit sein ist immer gut, und ich merke ja, wie ich von Tag zu Tag besser werde.
Für wenige Meter näherte der Weg sich dem Sicherheitszaun und zwischen den Stämmen sah Joas den Stacheldraht über der nach außen gewendeten Krone. Dahinter wieder Wald.
Liron hat fast sein ganzes Leben in Angst gelebt; er sieht überall Gespenster. Was hat denn im letzten Jahr darauf hingedeutet, dass er recht haben könnte mit seinen Sorgen? Die Wahlen sind gekommen und gegangen, die neue Regierung hat erste Gesetze verabschiedet, und wofür Liron sein Leben lang gekämpft hat, all das wird jetzt bald Wirklichkeit sein. Und außerdem hat er danach ja auch nie wieder mit mir darüber gesprochen. Eigentlich ist es Unsinn, dass ich trotzdem jeden Morgen so früh aufstehe, um zu rennen.
Zwischen den Bäumen schimmerte jetzt schon der Schulsee; Joas zog das Tempo an für einen letzten Spurt.
Aber natürlich trainiere ich, wenn ich ehrlich bin, ja auch gar nicht wegen Liron, dachte Joas. Er hätte sich gewünscht, seine Gedanken an dieser Stelle stoppen zu können. Warum sonst hätte ich wohl erst in diesem Frühling damit angefangen und nicht gleich im letzten Herbst, als das neue Schuljahr begonnen und Liron mich gewarnt hat.
Hinter dem See tauchte das Hauptgebäude auf, der Mädchenflügel rechts und links der Jungenflügel, die Tennis-, Lacrosse- und die Fußballplätze, die Tartanbahn, das Schwimmbecken mit den 25-Meter-Bahnen. Aus den weit geöffneten Fenstern im Erdgeschoss kam das Geräusch von Besteck auf Porzellan, die ersten Schüler saßen schon im Speiseraum. Wahrscheinlich die eifrigen Kleinen, dachte Joas spöttisch, die sind doch immer so früh auf, meine Güte, als ob man nicht besser das allerletzte bisschen Schlaf auch noch ausnutzen sollte.
Vor dem Jungenflügel stützte er seine Hände auf die Knie und atmete tief durch. Als ob du selbst gerade den allerletzten Schlaf ausnutzen würdest, Joas, he, was tust du denn hier jeden Morgen eigentlich?
Durch die Haupttür lief er ins Haus, sein Atem ging leicht, vielleicht würde er ab morgen die Strecke verlängern. In allen Korridoren war jetzt Leben, Stimmen, das Geräusch aus den Duschen, Gelächter. Wenn er spät dran war, hielt Perry ihm zum Frühstück im Speisesaal immer einen Platz neben sich frei.
Also, warum stehst du wirklich jeden Morgen so früh auf, Joas? Sei ehrlich, wenigstens zu dir selbst.
Liron hat gesagt, ich soll ein Auge auf sie haben, nur darum mache ich es. Weil ich gehört habe, wie irgendeins von den Mädchen gelästert hat, dass sie vor dem Frühstück manchmal rennt, um ihren Nordlerspeck loszuwerden.
Wenigstens zu dir selbst.
Jarven, dachte er und war erschrocken, was selbst dann mit ihm passierte, wenn er nur ihren Namen dachte. Jarven.
Die Mittagssonne stand hoch über den Vorstadtgärten, für Anfang Juni viel zu heiß. Rosensträucher ließen ihre schweren Blütendolden so kraftlos hängen, dass nur noch heftiges abendliches Gießen sie vor dem vorzeitigen Verblühen bewahren konnte; Jasmin und Rotdorn dufteten um die Wette am Rande gelblich vertrockneter Rasenstücke.
»Nun sei nicht albern!«, sagte Tine. »Wenn du hier die ganze Zeit rumquengelst, dass dich das alles so nervt, warum steigst du denn dann nicht mit mir aus dem Fenster?«
»Die ganze Zeit!«, sagte Jarven. Sie hatte sich auf Tines Bett geworfen. Noch immer war neben dem Kopfende, wo Tine abends die Flaschen mit dem Saft und dem Sprudel abstellte, auf dem Teppich derselbe große dunkle Fleck wie früher. »Ich bin doch grade mal seit gestern hier!«
Das war eins der ersten Dinge gewesen, über die sie in ihrem neuen Leben gestaunt hatte: dass in Malenas Zimmer im Schloss haargenau der gleiche Teppich lag wie zu Hause bei Tine; und sogar mit haargenau demselben Fleck an derselben Stelle.
»Aber seit du hier bist, maulst du nur rum!«, sagte Tine und öffnete den Fensterriegel. »Booah, was für eine Hitze! Nee, wirklich, entschuldige, Jarven, aber ich hab mich so gefreut, als du gesimst hast, dass du bei deiner Deutschlandreise einen Abstecher zu mir machen darfst, und jetzt jammerst du die ganze Zeit nur rum! Wenn dich das alles so nervt, dann tu eben was dagegen! Wir klettern aus dem Fenster und zischen hinten durch den Garten, das merkt doch kein Mensch, wenn wir da über den Zaun steigen. Du musst dich entscheiden, finde ich: Entweder du spielst brav ihr Spiel mit, dann hör aber gefälligst auch auf zu jammern. Oder du findest es absolut daneben, na gut, dann mach dir deine eigenen Regeln!«
Jarven setzte sich auf. Sie merkte, wie ihr allmählich innerlich ganz warm wurde, äußerlich war es das bei diesem Glutwetter ja sowieso schon längst.
»Du bist noch haargenau so wie früher, weißt du das?«, sagte Jarven und einen Augenblick lang hatte sie ein Gefühl, als könnte sich ihr altes Leben vielleicht doch noch irgendwo verstecken, ein Rest davon wenigstens. »Weißt du noch, wie du immer mit mir rumgemeckert hast? Deine Mutter ist immer so panisch, du musst sie mal erziehen! Langsam finde ich, deine Mutter unterdrückt dich regelrecht! Weißt du das noch, Tine? Du warst schon immer so streng mit mir!«
»Na, inzwischen wissen wir nun ja, warum deine Mutter immer so panisch war«, sagte Tine. »Hat sich doch alles geklärt. Warum in der Vergangenheit wühlen? Sentimentale Erinnerungen an unsere glückliche Kindheit tauschen wir vielleicht lieber in achtzig Jahren aus, wenn wir zusammen mit dem Gehwagen durch den Altersheimpark schieben, Schätzchen. Jetzt sollten wir die kurze Zeit, die du hier bist, vielleicht mal besser nutzen«, und sie stieß einen Fensterflügel auf und beugte sich so weit nach draußen, dass Jarven erschrocken aufsprang. »Sag ich doch, niemand zu sehen. Nun komm schon.«
Jarven lachte. Tine ist immer noch Tine, dachte sie, ja wirklich, sie hat sich überhaupt nicht verändert. Und was noch viel wichtiger ist: Zwischen uns hat sich überhaupt nichts verändert. Für Tine bin ich immer noch die schüchterne Jarven, die auch im Sommer, wenn es draußen bis elf Uhr hell ist, schon vor dem Sandmännchen zu Hause sein muss und die sie rumkommandieren kann. Kann sie ja übrigens auch.
»Ich komm schon!«, sagte sie.
Sie hatte lange bitten müssen, bis Mama ihr erlaubt hatte, am Ende der Deutschlandreise noch einen kleinen Abstecher zu Tine zu machen.
»Es sind noch keine Ferien, Jarven«, hatte sie gesagt. »Wir haben dich für diese Reise ohnehin aus der Schule nehmen müssen! Das können wir nicht endlos verlängern!«
Aber natürlich hatte Jarven gewusst, dass das nur ein Vorwand war. Malena bekam immerzu während der Schulzeit frei, so war das eben. Panik, hatte Jarven gedacht, deine Mutter ist immer so panisch, und die Sehnsucht nach Tine und ihren alten Freundinnen war so stark gewesen, dass es fast wehgetan hatte. Dabei war sie doch gar nicht immer glücklich gewesen damals. Aber trotzdem.
Tine hatte sich inzwischen aufs Fensterbrett gesetzt und angelte mit den Füßen nach der Regenrinne. »Wie gut, wenn man eine Eins in Sport hat!«, sagte sie. »Ganz so einfach …«
Jarven lachte wieder. Sie hatte sich so unglaublich, unglaublich auf diese beiden Tage gefreut. Wochenlang hatte sie an nichts anderes mehr gedacht, wenn Ylva sie schon morgens nach dem Aufstehen mit einem von diesen Blicken bedachte oder es totenstill wurde, sobald sie den Klassenraum betrat. Vor dem Einschlafen hatte sie sich Tines Haus vorgestellt, Tines Zimmer, das Abendbrot mit Tines Eltern, alles wie immer, bitte alles wie immer.
Aber natürlich war nichts wie immer gewesen, wie hatte sie nur so dumm sein können. Statt des Abendessens in Tines unordentlicher Küche, in der die Zettel von der überfüllten Pinnwand ab und zu in den Aufschnitt fielen, hatte es ihr zu Ehren ein Fest in der Schule gegeben, Lehrer, Schulleiter, die Zeitung, sogar die Mikrofone eines Rundfunksenders. Und die anderen waren plötzlich merkwürdig schüchtern gewesen oder unpassend bollerig, na, hallo Jarven, altes Huhn, guckst du auch mal wieder vorbei, und dazu ein Stoß gegen den Oberarm. Sie hatten sich um sie gedrängt, egal wo sie ging und stand, und Jarven hatte getan, als merkte sie nicht, dass jede dafür gesorgt hatte, dass es ein Foto gab: von Philippa und Jarven, von Britt und Jarven, ein Foto von Eva und Jarven.
Nichts, nichts war gewesen wie früher, als die langweilige, schüchterne Jarven am Rand gesessen hatte, wo sie sich einfach auch mal wegdenken konnte, entspannen, nicht immer nur lächeln musste, immer am Rand, nie im Mittelpunkt der Gespräche.
Und warum hab ich mich gestern Abend nicht darüber gefreut, dass es nun nicht mehr so ist?, dachte Jarven, während sie zusah, wie Tine sich behutsam aus dem Fenster nach draußen gleiten ließ. Dass sie all das nur meinetwegen veranstaltet haben, dass niemand gegangen ist, ohne wenigstens ein paar Worte mit mir gewechselt zu haben, dass sogar der Schulleiter ganz wild darauf war, vom Redakteur der Lokalzeitung im Gespräch mit mir fotografiert zu werden? Dass die Zeitung überhaupt gekommen ist! Hätte ich doch stolz sein können.
Sie ging zum Fenster, Sommergerüche schlugen ihr entgegen, flirrende Luft, die in der Hitze stand. Weil ich gehofft hatte, dachte Jarven. Weil ich dachte, es könnte das alles immer noch geben, dieses Leben, in dem ich bestimmt nicht immer glücklich war und oft ganz unsicher, aber in das ich wenigstens hineingehört habe. Das zu mir gepasst hat, das alltäglich und langweilig war wie ich. Aber gestern habe ich gemerkt, dass es dieses Leben endgültig nicht mehr gibt, nicht einmal mehr hier.
Nur Tine gab es immer noch, unverändert und von allem Neuen unberührt.
»Weißt du, dass ich das immer schon mal machen wollte?«, rief sie vom Fenster her. »Rausklettern? Aus dem Fenster abhauen? Ich dachte schon fast, der Zeitpunkt ist für immer verpasst, jetzt bin ich zu alt dazu! Ist doch wie im Film! Und in diesen Büchern, die ich mit zehn so gern – au!«
Jarven beugte sich vor und sah erschrocken nach unten ins Beet.
»Pass auf, dass du nicht in den Rosen landest!«, sagte Tine und strich sich mit schmerzverzerrtem Gesicht über ihren Arm. Auch von oben konnte Jarven zarte rote Striemen erkennen. »Mein Arm ist auf ewig entstellt. Aber so hoch ist es eigentlich gar nicht.« Sie zupfte sich einen Dorn aus dem Handrücken.
Jarven kniete sich aufs Fensterbrett und griff nach dem Regenrohr. Nein, hoch ist es nicht, dachte sie. Du hättest sehen müssen, wie ich auf Österlind vom Balkon gesprungen bin, letzten Sommer, mit den Verfolgern im Nacken, den Hunden. Dagegen ist das hier doch alles nur Kinderkram.
»Da bin ich!«, sagte Jarven. »Also bitte! Du hast dich ganz schön angestellt.«
Tine tippte sich an die Stirn (immer hatte Tine sich auch früher an die Stirn getippt, immer) und lief zielstrebig auf die Hecke zu, die das kleine Grundstück ringsherum begrenzte; zwischen den Zweigen waren die Maschen des Zaunes zu erkennen. »Schaffst du es rüber?«, fragte sie und drückte das Netz nach unten.
»Sei nicht albern!«, sagte Jarven.
Als sie auf der schmalen Straße hinter dem Grundstück stand und sich die Blätter aus den Haaren zupfte, spürte sie plötzlich ein Gefühl von Leichtigkeit und Glück wie seit vielen, vielen Wochen nicht mehr. Jetzt ist es doch wieder wie früher, dachte Jarven. Für diesen einen Nachmittag jedenfalls. Ohne Cap und ohne Sonnenbrille und ohne Gorillas.
»Und wohin gehen wir?«
»Döner?«, sagte Tine. »Das ist am nächsten. Und ich wette, davon kriegst du sonst nicht so viele da oben auf deiner Insel.«
»Nee, nicht wirklich«, sagte Jarven.
Es konnte doch noch alles sein wie früher, sie hatte es ja gewusst. Wenigstens für ein paar Stunden.
Die kleine Sechssitzige glitt durch den klarblauen Sommerhimmel nach Norden, keine Wolken über ihr und nach unten der freie Blick aufs offene Meer.
»Ich hätte es ihr nicht erlauben sollen!«, sagte die Frau, ohne sich vom Fenster ab- und ihrem Reisegefährten zuzuwenden. Ihre blonden Haare waren kunstvoll aufgesteckt, das schlichte Kleid sah aus, als hätte es so viel gekostet, dass eine Familie auf der Nordinsel mehrere Monate davon hätte leben können. »Es ist unsicher! Und es ist unpassend. Sie muss einfach lernen …«
»Margareta!«, sagte der Mann. Er hatte sein Sakko abgelegt und über die beiden Sitze hinter sich geworfen. Die Seidenkrawatte hatte er gelockert und nach unten gezogen, die obersten drei Hemdknöpfe geöffnet. »Was soll ihr schon passieren? Unsere Leute sind rund um die Uhr bei ihr. Du hast es einfach immer noch nicht geschafft, diese Angst um Jarven zu vergessen, das kann ich ja auch verstehen. Es waren einfach zu viele Jahre.«
Die Frau schwieg und sah über das Meer. Vor ihnen war, ein schwarzer Strich nur, schon die Küste der Südinsel zu erkennen; von Deutschland nach Skogland war der Flug kurz, selbst in dieser kleinen Maschine kaum mehr als zwei Stunden. Nur wenige Minuten, dann würden sie über ihren Wäldern schweben, über den Seen; die Frau spürte, wie ihr warm ums Herz wurde. Zu lange hatte sie sich nach Skogland gesehnt, auch jetzt, nach fast einem Jahr, empfand sie noch jedes Mal Glück, wenn sie sich von Süden ihrer Heimat näherte und sie begriff, dass es wirklich war: Sie war wieder zurück. Zu Hause.
»Jarven muss lernen, dass sie inzwischen ein anderes Leben führt«, sagte sie und jetzt wandte sie sich doch ihrem Begleiter zu. »Natürlich war Tine in unserer Zeit in Deutschland wichtig für sie, sie soll sie ja auch nicht ganz aufgeben, aber jetzt ist doch so eine Freundschaft einfach nicht mehr passend! Und an ihrer Schule hat sie schließlich genügend andere Mädchen, warum freundet sie sich mit keiner von denen näher an? Sie versucht viel zu wenig, in ihre Rolle hineinzuwachsen, Petter, dabei sollte man doch denken …«
»Margareta!«, sagte der Mann wieder, und dieses Mal beugte er sich vor und gab ihr einen kleinen, verrutschten Kuss. »Gib ihr ein bisschen Zeit! Für Jarven ist Deutschland, was für dich Skogland ist, dort ist sie aufgewachsen! Wie du dich jahrelang von dort nach Skogland zurückgesehnt hast, so tut sie das jetzt umgekehrt auch! Und wie du in den Jahren im Exil dein früheres Leben nicht vergessen konntest, ganz genauso kann sie es jetzt auch nicht.«
Die Frau lehnte sich ärgerlich zurück. »Das kannst du doch unmöglich vergleichen!«, sagte sie. »Ich habe damals mein sicheres Leben im Schloss gegen eines in Armut und Unsicherheit eingetauscht! Aber Jarven? Manchmal habe ich das Gefühl, sie begreift gar nicht wirklich, wer sie jetzt ist.«
»Sch, sch, sch«, sagte der Mann und jetzt legte er ihr eine Hand auf das Knie. »Fremd fühlen kann man sich in jedem Leben. Wie viele enge Freunde hattest du in eurer Stadt? Was fremd und unsicher erscheint, weckt immer die Sehnsucht nach dem Vertrauten, warum sollte das bei Jarven anders sein?« Er lächelte. »Nun bin ich doch froh, dass ich mich entschlossen habe, mit dir zurückzufliegen, Marga. Dich muss man aufmuntern, du Arme! Die Geschäfte können warten.«
»Ach, Petter«, sagte die Frau. »Ich habe ja nicht nur Angst um Jarven, es geht ja nicht nur darum, dass ihr etwas passieren könnte! Ich sorge mich auch, dass sie etwas tut, was ihr schadet – und uns.«
»Uns?«, fragte der Mann. Er zog die Brauen zusammen. »Wie?«
Das Motorengeräusch änderte sich, und die Frau sah wieder nach draußen. Die Wälder von Skogland, die tiefen Wälder von Skogland, in denen hier und da die Oberfläche eines Sees aufblitzte, wenn die Sonne sie traf, und dahinter schon die Ausläufer der Hauptstadt; gleich würden sie zur Landung ansetzen.
»Nun, gerade jetzt, wo die Situation immer schwieriger wird«, murmelte die Frau. »Wo die Presse längst wieder umgeschwenkt ist, wir haben doch oft genug darüber gesprochen …«
Der Mann lachte. »Und du meinst tatsächlich, was Jarven tut oder lässt, hätte damit zu tun? Du glaubst, die Eskapaden einer Jugendlichen, fast eines Kindes, könnten in die Weltgeschichte eingreifen? Margareta! Du siehst Gespenster.«
»Haben sie es nicht schon einmal getan?«, murmelte die Frau. »Ohne Jarven säße Norlin jetzt immer noch auf dem Thron und der Norden wäre nicht frei. Ich habe gelernt, dass man auch Kinder nicht unterschätzen darf, Petter.«
Der Mann schwieg. Sie hörten, wie das Fahrwerk ausgefahren wurde, die Positionslampen des Flughafens waren jetzt schon fast unter ihnen.
»Heute Abend ist sie ja auch schon wieder zurück«, sagte er. »Ach, meine Margareta. Als ob es nicht genug wäre, sich um dein Land zu sorgen. Aber bei dir dreht sich noch immer alles um deine Tochter.«
Die Räder berührten den Asphalt der Landebahn, eine sanfte Landung.
»Dafür sprichst du mir manchmal zu wenig von deinem Sohn«, sagte die Frau. Sie saß jetzt sehr aufrecht.
Der Mann seufzte. »Wir sind zu Hause«, sagte er.
Der Imbiss lag direkt an der Hauptstraße an einer Stelle, die die Lastwagen auf dem Weg vom Gewerbegebiet zur nahen Autobahn passieren mussten. Ab und zu kamen sie mit lautem Kreischen ihrer Bremsen an der Fußgängerampel zum Halten.
»Nicht hier!«, sagte Jarven. »Das meinst du nicht ernst!«
»Setz dich, Schatzi«, sagte Tine. »Der hat gerade erst aufgemacht, weißt du noch, die Ekelbude, die früher hier drin war? Die hat das Gesundheitsamt schließen lassen, Mann, so ein Dreck! Aber der hier gibt sich richtig Mühe. Guck doch mal!«
Große eckige Sonnenschirme mit dem Logo einer Brauerei spendeten Schatten über kleinen Holztischen; die Sitzkissen auf den Stühlen wirkten sauber, und Terrakotta-Kübel mit jungen Thujen und Oleander grenzten den Sitzbereich vom Gehweg ab und erzeugten fast ein wenig Bistro-Atmosphäre.
»Na gut«, sagte Jarven. »Und wo ist die Karte?«
Aus dem Imbiss kam ein Mann auf sie zu, Mitte dreißig vielleicht, dunkel und mit Bart. Früher habe ich geglaubt, dass ich auch eine halbe Türkin bin, dachte Jarven, und die Erinnerung versetzte ihr einen Stich. Weil ich schließlich so aussehe. Weil Mama mir nie erzählen wollte, wer mein Vater war. Jetzt wünsche ich mir, es hätte so sein können.
»Bitte, die Karten!«, sagte der Imbissbesitzer freundlich und reichte sie über den Tisch. »Wisst ihr schon, was ihr trinken wollt?«
»Gleich, okay?«, sagte Tine. »Wir gucken erst mal.«
Der Mann lächelte und ging. An einem Nachbartisch hob ein kräftiger Gast die Hand zum Zeichen, dass er zahlen wollte. Lastwagenfahrer, dachte Jarven.
»Hier gibt’s ja auch Currywurst!«, sagte sie. »Und Pizza! Weißt du, wie lange ich schon keine Currywurst mehr hatte?«
»Ich weiß überhaupt nicht viel von dir, seit du da hochgezogen bist, Schatzi«, sagte Tine. »Du hast mich nicht gerade mit Informationen überschüttet, falls dir das nicht aufgefallen sein sollte.«
»Ich hatte einfach immer zu viel zu tun!«, sagte Jarven. »Du kannst dir überhaupt nicht vorstellen …«
Der Besitzer kam mit einem Block. »Wisst ihr schon?«, fragte er.
»Currywurst!«, sagte Jarven. »Mit richtig viel Ketchup, und eine Cola light, bitte.«
»Salat!«, sagte Tine. »Und Apfelschorle.« Dann sah sie Jarven über den Tisch hinweg strafend an. »Na, deine magere Cola gleicht den Kalorienschock dann auch nicht wieder aus!«, sagte sie. »Currywurst! Die isst bei uns nur noch mein Vater!«
»Ich bleib doch sowieso fett«, sagte Jarven und drückte mit der Handkante gegen ihren Bauch. »Siehst du doch.«
Tine schob den Aschenbecher über die geometrischen Muster der Tischdecke, als ob sie damit Schach spielen wollte.
»Du bist nicht fett und du warst nie fett«, sagte sie. »Ich dachte, du wärst deine Komplexe da oben vielleicht mal endlich losgeworden, Jarven! Beim Casting haben sie damals schließlich auch dich ausgesucht!«
»Ach, das war doch alles Beschiss!«, sagte Jarven. »Weißt du doch.«
Tine nickte. »Ja, aber sonst!«, sagte sie. »Glaubst du nicht, dass ich die ganzen Monate gestorben bin vor Neugierde, wie es dir da geht? Das kann sich doch kein Mensch so richtig vorstellen! Jetzt erzähl mal endlich! Dann spendier ich dir hinterher auch noch ein Eis.«
Jarven kicherte. »Danke, dass du mir beim Kampf gegen Größe XXL so edel und freundschaftlich hilfst!«, sagte sie.
Buran Özgod sah durch die blank geputzte Scheibe nach draußen. Nur zwei Tische waren noch besetzt, an einem nur ein Mann. Es war ein Wagnis gewesen, diesen Imbiss zu eröffnen. Der Imbiss, der vorher hier gewesen war, hatte einen schlechten Ruf gehabt, und zu Recht. Buran war alt genug, um zu wissen, dass Menschen an Gewohnheiten festhielten. Wenn sich im Ort erst einmal die Überzeugung festgesetzt hatte, dass das Restaurant an dieser Stelle ekelerregend war, dass man sich dort nicht hintrauen, dort auch von niemandem gesehen werden durfte, hatte ein Nachfolger, wie sauber er auch war und wie gut auch sein Essen, kaum eine Chance.
Seine Frau war es gewesen, die ihn ermutigt hatte. »Wir machen es schön für die Gäste!«, hatte sie gesagt. »Wir kaufen auf dem Großmarkt die frischesten Zutaten und putzen, dass es blinkt! Gerade wenn dieser Platz einen so schlechten Ruf hat, spricht es sich vielleicht umso schneller herum, dass es anders geworden ist, vielleicht kommen die Menschen dann gerade zu uns!«
So war es nicht gekommen, natürlich nicht, aber immer noch zwang Buran sich, optimistisch zu sein. Bisher verdienten sie nicht, im letzten Monat hatten sie ein Minus gemacht. Sein Vater hatte ihnen Geld für ihr neues Geschäft geliehen, der Vater seiner Frau, schließlich auch die Bank. Der Imbiss musste funktionieren, täglich stellte er eine Tafel mit dem Spezialgericht des Tages nach draußen, sie konnten es sich nicht leisten zu scheitern.
Aber bisher waren es nur die Lastwagenfahrer, die kamen, bevor sie auf die Autobahn abbogen und solange sie in der Nähe einen Parkplatz fanden. Die Einheimischen mieden den Imbiss nach wie vor, nicht einmal die Jugendlichen kamen mehr, seitdem er den ersten von ihnen Bier und Zigaretten verweigert hatte.
Und jetzt die beiden Mädchen, dachte Buran. Vielleicht gebe ich ihnen noch ein Eis aus, auf Kosten des Hauses. Wenn sie zufrieden sind und wenn es sich herumspricht unter ihren Freunden – die Schule ist nicht weit. Alles könnte ein Durchbruch sein, man darf die Hoffnung nicht verlieren.
Er ging nach draußen und stellte die Getränke auf den Tisch. Er achtete immer darauf, dass nur saubere Bierdeckel in der Halterung neben Salz und Pfeffer steckten.
»Essen kommt gleich«, sagte er. »Meine Frau macht den Salat immer frisch, darum kann es ein bisschen dauern.«
»Macht nichts!«, sagte das Mädchen, das den Salat bestellt hatte. Sie war schlank und blond und hätte bei jeder Modelagentur einen Karteiplatz gefunden. Die andere, Rundlichere hatte aufgehört zu reden und lächelte ihn an. Woher kannte er sie?
Hinter dem Tresen schnitt seine Frau Tomaten, Gurke, legte ein paar Oliven dazu. In der Pfanne brutzelte die Wurst.
»Ist die Kleine da vielleicht schon mal hier gewesen?«, sagte Buran und stupste seine Frau an. Er zeigte nach draußen. »Die Dunklere? Ich kenn sie von irgendwoher. Glaubst du, es geht jetzt los, dass die Gäste zum zweiten Mal wiederkommen? Haben wir unsere ersten Stammgäste, Fatma?« Sein Herz schlug schneller. Also kam es, wie sie es sich erhofft hatten. Die Leute aus dem Ort fingen an zu begreifen, dass ihr Imbiss sauber war, das Essen frisch, die Bedienung freundlich. Sie würden Stammgäste haben, die ihren Nachbarn davon erzählten, und an warmen Sommerabenden würden auf dem Gehsteig die fünf Tische besetzt sein mit Menschen, die in der Abendsonne ein letztes Bier tranken, einen Salat aßen oder einen Döner in der Erinnerung an ihren letzten Urlaub in der Türkei, und die mit ihm, dem Wirt, ein paar freundliche Worte wechselten.
Dann haben wir es geschafft, dachte Buran. Wie stolz wird mein Vater auf mich sein! Er hatte seiner Schwester in Erzurum von dem Imbiss geschrieben, »Restaurant« hatte er ihn genannt, wie unglücklich würde er sein, wenn sie scheiterten. Und nicht nur, weil er dann sein Geld verloren hätte.
Erst jetzt merkte Buran, dass seine Frau aufgehört hatte, den Salat zuzubereiten, und reglos durch die Scheibe auf die beiden Mädchen starrte. Das Messer schwebte in der Luft.
»Die hab ich schon gesehen, Buran!«, sagte sie. »Gerade vorhin erst! Aber nicht bei uns!« Mit flatternden Fingern blätterte sie in der Morgenzeitung, die zwischen Zeitschriften und Werbeblättern auf dem Tresen für die Gäste bereitlag. »Da! Und wenn das hier nicht ein ganz komisches Foto ist – dann ist die da draußen eine Prinzessin!«
Buran hatte das Foto angesehen, das Mädchen. Er hatte den Salat nach draußen getragen, die Currywurst vor der Dunklen auf den Tisch gestellt, ihr direkt ins Gesicht gelächelt. Wieder hatte sie aufgehört zu reden, es schien, als spräche die ganze Zeit sie. Das andere Mädchen hörte nur zu und stellte ab und an seine Fragen.
Sie ist es, dachte Buran, als er zurück an den Tresen kam. Er warf einen weiteren Blick auf das Foto. Aber war das denn möglich? Dass eine Prinzessin so einfach ohne Bodyguards durch den Ort lief und ausgerechnet an einem seiner Tische ihre Currywurst aß? Prinzessinnen essen keine Currywurst. Prinzessinnen essen auch keinen Döner. Eine Prinzessin würde sich gar nicht erst in seinen Imbiss setzen.
»Buran!«, sagte seine Frau aufgeregt. Inzwischen hatte sie eine der bunten Zeitschriften aufgeschlagen, die sie in der Hoffnung auf viele Gäste abonniert hatten, eine dieser Zeitschriften, in denen es um das Leben der Schönen und Berühmten ging und niemals um den Alltag, um Politik, um das wirkliche Leben. Die Lastwagenfahrer rührten die Blätter nicht an, er hatte vorgehabt, sie abzubestellen.
»Buran, hier kannst du sie auch sehen! So ähnlich können sich doch zwei Mädchen gar nicht sein! Prinzessin Jarven von Skogland. Und wenn du dann noch bedenkst, dass in der Tageszeitung heute steht, dass genau die gestern hier im Ort war und ihre ehemalige Schule besucht hat …«
»Aber die hat doch hundertprozentig Bodyguards!«, sagte Buran. »Die läuft doch niemals einfach so durch die Gegend, Fatma! Doch nicht eine Prinzessin!«
Seine Frau zuckte die Achseln. »Ich sag ja nicht, dass ich es erklären kann!«, sagte sie. »Ich sag nur, dass sie es ist.«
Am zweiten Tisch draußen winkte der Gast ungeduldig mit seiner Geldbörse. »Ich geh abkassieren«, sagte Buran. »Und dann sprech ich sie an. Ich kann sie doch einfach begrüßen, Fatma! Vielleicht könnten wir ein Foto von ihr machen hier bei uns im Imbiss, und auch noch eins mit uns beiden daneben! Das hängen wir auf, du wirst sehen, wie dann die Gäste kommen, eine Prinzessin hat bei uns gegessen! Das bringt uns endlich den Durchbruch!«
»Nichts wirst du tun!«, flüsterte Fatma und wandte sich zum Telefon, das auf einer Halterung an der Wand über ihr schwebte. »Fotos kann man fälschen, ein Foto allein genügt nicht!« Sie blätterte eilig in der Zeitung. »Hier! Die Redaktion!«
»Hallo?«, rief der Gast von der Terrasse. »Ist bei Ihnen grade Familienfeier, oder was? Ich muss los!«
Buran lief nach draußen. Er konnte es sich nicht erlauben, Kunden zu verärgern; als er den Tisch erreichte, lag schon wieder ein Lächeln auf seinem Gesicht. »Verzeihen Sie bitte, ich hatte Sie eine Sekunde nicht bemerkt«, sagte er. »Darf ich Ihnen vielleicht einen Raki anbieten? Aufs Haus?«
Der Mann winkte ärgerlich ab. »Bloß kein scheißflüssiges Lakritzen, Mann«, sagte er und zog einen Schein aus seiner Geldbörse.
Die Mädchen am Nachbartisch unterhielten sich aufgeregt. Die Currywurst lag unangerührt auf dem Teller, bestimmt war sie längst kalt geworden. Sie ist es, dachte Buran. Der Mann gab kein Trinkgeld. Sie ist es wirklich. Oh, wenn Fatma recht hätte. Wenn sie es schafft …
Im Vorbeigehen lächelte er den Mädchen zu. Der Durchbruch. Sie würden alle so stolz auf ihn sein.
»Natürlich ist es irgendwie cool«, sagte Jarven müde. Sie nippte an ihrer Cola. »Das hab ich zu Anfang ja auch gedacht. Prinzessin Jarven von Skogland! Und dass ich dann noch geholfen habe, die Verschwörung aufzuklären und den König zu befreien …«
»Wie im Krimi«, sagte Tine. »Oder? Mein Vater hat gesagt, das kann doch kein Mensch glauben, dass es so was im wirklichen Leben gibt. Da hast du dir nun dein ganzes Leben lang ständig bei uns den Magen vollgeschlagen …«
»Na, ständig!«, sagte Jarven und kicherte. Aber natürlich war etwas daran. Die Mahlzeiten bei Tine gehörten mit zu den schönsten Erinnerungen an ihr früheres Leben.
»… und warst so schüchtern, dass man kaum ein Wort aus dir rausgekriegt hat, und hattest die hochnäsigste, verrückteste Mutter von allen …«
»Hochnäsig ist Mama gar nicht!«, sagte Jarven. Es ging schon wieder los. Auch früher hatte sie sich ständig darüber aufgeregt, wie Tine über Mama sprach. Aber Tine winkte nur ab.
»So gewirkt hat sie auf alle Fälle!«, sagte sie. »Mit ihrem albernen Benimmtick und dass du nichts durftest und immer schon um sechs Uhr zu Hause sein musstest!«
»Weil sie Angst hatte, dass jemand mich entführen könnte!«, sagte Jarven. »Weil ich schließlich die Tochter der Prinzessin Margareta von Skogland bin, auch wenn wir das alle nicht wussten, mit mir hätten sie sogar den König erpressen können!«
»Weiß ich doch alles«, sagte Tine. »Ich mein ja nur. Du warst ehrlich nicht so ungeheuerlich aufregend, oder, Jarven? Sei nicht sauer. Und nun bist du auf einmal eine Prinzessin. Ist doch wie im Hollywoodfilm.«
Jarven nickte. Sie schnitt vorsichtig ein Scheibchen von der Currywurst und dippte es in den Ketchup. Sie war sich auf einmal gar nicht so sicher, ob sie Currywurst überhaupt noch mochte.
»Und?«, fragte Tine. »Ist es das wirklich jetzt? Wie im Hollywoodfilm?«
Jarven schluckte. Die Wurst war kalt und schmeckte fettig und der Ketchup war viel zu süß. Sie hätte auch einen Salat bestellen sollen.
»Ehrlich gesagt«, sagte sie und legte das Besteck auf den Tellerrand. »Es ist überhaupt nicht so … Ich bin ja immer noch ich, Tine! Nur das Leben hat sich geändert.«
»Na, das würde mir auch schon genügen«, sagte Tine. Ihr Salat war fast schon aufgegessen. »Gib mir einen Prinzessinnenjob, ich würde nicht maulen.«
Jarven schüttelte den Kopf. »Das ist überhaupt nicht so einfach, wie du denkst! Nie bist du allein, immer sind da die Bodyguards. Und die Kameras sind auch immer da und ich muss lächeln und mich so benehmen, dass ich vorzeigbar bin …«
»Vorzeigbar!«, sagte Tine.
»… weil alles sonst immer sofort am nächsten Tag in der Zeitung steht. Und jeder interessiert sich für mich und will mit mir reden und mit mir fotografiert werden und gibt dann damit an, dass er mich kennt.«
»Wie ich«, sagte Tine. »Ich rede ja kaum noch von was anderem. Wusstet ihr übrigens, dass Prinzessin Jarven von Skogland meine beste Freundin ist? Das hat meine Stellung in der Klasse und in der Welt enorm verbessert, glaubst du gar nicht.«
»Ach, ich mein doch nicht dich, Tine!«, sagte Jarven. »Deshalb wollte ich dich doch so gerne besuchen! Weil du immer meine beste Freundin warst …«
»Warst?«, sagte Tine.
»Ja, vielleicht immer noch bist, das hoff ich ja auch«, sagte Jarven. »Und einfach, weil du – mich nett findest, nicht weil du damit angeben kannst. Bei den anderen, da weiß ich ja nie, meinen die jetzt wirklich mich oder meinen die mich, weil ich zufällig eine Prinzessin bin?«
»Wie in diesen Filmen über unglückliche Millionärstöchter«, sagte Tine. »Weißt du? Die auch nie wissen, ob ein Kerl nun wirklich in sie verliebt ist oder es einfach nur auf ihr Geld abgesehen hat.«
»So ähnlich«, sagte Jarven.
Dabei stehen sie in Skogland in Wirklichkeit schon längst nicht mehr Schlange, um mit mir befreundet zu sein, dachte sie. Aber das macht alles eben nur noch schlimmer. »Das ist bei mir dann doch nicht anders, wenn ich mich in einen verliebe.« Sie spürte, dass sie rot wurde. Das, zum Beispiel, die Klatschzeitungen hatten darüber geschrieben. Wie niedlich, eine Prinzessin, die bei jeder Gelegenheit errötet! Wer wollte so was schon über sich in der Zeitung lesen? Und wer wollte lesen, dass er es nicht schaffte, sich seiner Rolle gerecht zu verhalten: »Prinzessin Jarven noch immer das hässliche kleine Entlein«, »Prinzessin Jarven hilflos auf dem Staatsempfang«. Sie sah schon lange in keine Zeitschrift mehr, aber die anderen Mädchen im Internat taten das dafür umso häufiger und sorgten dafür, dass die Artikel danach ausgeschnitten auf ihrem Bett lagen.
»Ja, los, sag schon!«, sagte Tine. »Und? Ist da was?«
»Wo?«, fragte Jarven erschrocken. Sie musste aufpassen. Hätte sie länger bleiben können, vielleicht hätte sie Tine von allem erzählt. Von Ylva. Von Joas. Aber dafür hätten sie Zeit gebraucht, und sie musste am Abend schon wieder zurück. Ihr wurde übel.
»Na, Jungs!«, sagte Tine. »Da schweigst du dich so merkwürdig aus. Gibt es da wen, nun sag mal? Einen Prinzen für die Prinzessin?«, sie kicherte. »Und sie lebten glücklich und in Freuden? Sorry, Jarven, ich mein ja einfach nur. Der Typ, der letztes Jahr kurz mit Malena und dir bei uns war, sah doch gar nicht so schlecht aus.«
»Joas«, sagte Jarven und spürte, wie die Röte sich noch verstärkte. »Nee, Quatsch! Der ist doch schon ewig Malenas Freund, schon seit dem Kindergarten.«
»Schade«, sagte Tine. »Den fand ich ganz nett. Aber Cousinen den Freund wegnehmen geht natürlich nicht. Oder besten Freundinnen.«
»Nee«, sagte Jarven. Sie sagte nicht: Als ob einer, der Malena haben kann, stattdessen mich nehmen würde. Der müsste ja krank sein.
»Ach, da hast du irgendwann wahrscheinlich die große Auswahl«, sagte Tine. »Ist doch heute so bei Königs, oder? Du kannst einen Prinzen nehmen, du kannst einen Millionär nehmen, du kannst einen Filmstar nehmen, du kannst natürlich auch einen langweiligen Bürgerlichen nehmen, wenn du willst. Und ich?« Sie rollte mitleidheischend mit den Augen. »Ich krieg wahrscheinlich einen Buchhalter im Wasserwerk.«
»Du Ärmste!«, sagte Jarven und lachte. »So ein Mist, dass ich heute Abend schon zurückmuss!«
»Und da lässt sich gar nichts drehen?«, fragte Tine. »Noch einen Tag oder so?«