Karl Kautsky


Wie der Weltkrieg entstand



Logo_RV


Impressum

© Regenbrecht Verlag, Berlin 2013 

Alle Rechte vorbehalten 

Textgrundlage: Karl Kautsky: Wie der Weltkrieg entstand. Dargestellt nach dem Aktenmaterial des Deutschen Auswärtigen Amts von Karl Kautsky. Verlegt bei Paul Cassirer, Berlin 1919.

Die Rechtschreibung wurde modernisiert.

Umschlagbild: Das Attentat von Sarajewo

ISBN: 978-3-943889-31-4


Das vollständige Verlagsprogramm finden Sie unter:

www.regenbrecht-verlag.de


Vorwort

Nach der Revolution vom 9. November 1918 ersuchten mich die Volksbeauftragten, als beigeordneter Staatssekretär in das Auswärtige Amt einzutreten. Eine der ersten Aufgaben, die ich mir stellte, ging dahin, mich zu vergewissern, ob in seinem Archiv belastendes Material beiseite geschafft worden sei, wie damals vielfach befürchtet wurde. Ich konnte nichts bemerken, was diesen Verdacht bestätigt hätte. Schon die ersten Stichproben zeigten mir vielmehr, dass wichtiges Material da war. Ich schlug den Volksbeauftragten vor, die Akten zunächst über den Kriegsausbruch herauszugeben. Das seien wir dem deutschen Volke schuldig, das Anspruch darauf habe, die Wahrheit über seine bisherigen Staatslenker zu erfahren. Das sei auch notwendig, weil es dem misstrauischen Ausland gegenüber am deutlichsten den völligen Bruch des neuen Regimes mit dem alten zum Ausdruck bringe.

Die Volksbeauftragten stimmten mir zu und betrauten mich mit der Sammlung und Herausgabe der Akten. Meine bisherige Haltung werde dafür bürgen, dass ich kein unbequemes Material unterschlage. Gewünscht wurde nur, dass ich nicht die einzelnen Akten sofort, nachdem ich sie gefunden, vor die Öffentlichkeit bringe, wie es Eisner getan, sondern dass sie erst herauskommen sollten, wenn sie vollzählig gesammelt vorlägen. Das war politisch nicht ganz erwünscht, weil es die Veröffentlichung und ihre günstigen Wirkungen für das neue Regime im In-und Ausland hinausschob. Aber es schnitt die Einrede der Verfechter des alten Regimes ab, als habe man es bloß mit tendenziös ausgelesenen und aus dem Zusammenhang gerissenen Dokumenten zu tun, die keine Beweiskraft hätten.

Dem Gewicht dieser Auffassung verschloss ich mich nicht und danach verfuhr ich.

Als im Dezember meine Parteigenossen Barth, Dittmann und Haase aus der Regierung austraten, verzichtete auch ich auf meine Stellung als beigeordneter Staatssekretär, erklärte mich jedoch bereit, die Sammlung und Herausgabe der Kriegsakten auch weiterhin zu besorgen. Darauf erhielt ich die Zuschrift vom 4. Januar:

Werter Genosse! Auf Ihr Schreiben vom 2. Januar erwidere ich Ihnen, dass die Reichsregierung Sie bittet, Ihre Tätigkeit als Mitherausgeber der Akten über den Kriegsausbruch auch weiterhin ausüben zu wollen.
Die Reichsregierung
Ebert.

Das Wort »Mitherausgeber« bezieht sich darauf, dass kurz vorher nach dem Usus jener Wochen, jede höhere Stellung doppelt mit einem Rechtssozialisten und einem Unabhängigen zu besetzen, man Quarck mir zur Seite gestellt hatte.

Der Usus hörte nach dem Ausscheiden der Unabhängigen aus der Regierung auf und damit nahm bald auch die »Mitherausgeberschaft« Quarcks ein Ende und ich stand als alleiniger Herausgeber da.

Natürlich besorgte ich nicht die ganze große Arbeit allein. Ehe ich noch andere Hilfskräfte heranzog, stand mir meine Frau getreulich zur Seite, die ja schon seit Jahrzehnten mit Rat und Tat fast an jedem meiner Werke beteiligt ist. Doch bald wurde ein eigenes Büro zur Besorgung der Herausgabe notwendig.

Sie war zu beschleunigen und ich hatte neben ihr in der Sozialisierungskommission und mit schriftstellerischen Arbeiten zu tun. Quarck und ich wendeten uns daher schon im Dezember an Dr. Gustav Mayer mit der Bitte, seine Arbeitskraft für die Zwecke der Sammlung und Ordnung der Akten in höherem Maße zur Verfügung zu stellen, als ich selbst es vermochte. Er willigte gern ein, trotzdem auch er manche ihm liebe Arbeit deshalb liegen lassen musste. Auf seine Anregung zogen wir namentlich für die archivalische Arbeit noch Dr. Hermann Meyer, Archivar beim Geheimen Staatsarchiv heran, dann Anfang Februar zur Beschleunigung des Abschlusses der Arbeit, angesichts des sich häufenden Materials noch Dr. Richard Wolff und Frl. N. Stiebel, cand. hist.

Ich empfinde es als meine Pflicht, ihnen allen, namentlich den beiden erstgenannten Herren für ihre hingebende wertvolle Arbeit an dem großen Unternehmen herzlichst zu danken.

Sie setzte mich in die Lage, dem Grafen Brockdorff-Rantzau am 26. März mitzuteilen, dass die Sammlung im Wesentlichen fertig vorliege und sofort in Satz gegeben werden könne. Wohl waren noch eine Reihe von Feststellungen zu machen, da sich z.B. nicht bei jedem Dokument die Zeit seines Einlaufens oder seiner Absendung ohne Weiteres genau konstatieren ließ. Doch konnten diese und andere Ergänzungen, wie Register u. dergl., auch während des Satzes noch eingefügt werden.

Mit der Drucklegung durfte nicht mehr gezögert werden, wenn man noch vor Beginn der Friedensverhandlungen der Welt die offenbarste Bekundung dafür vorlegen wollte, dass die deutsche Regierung, von der diese Verhandlungen geführt wurden, nicht das Mindeste gemein habe mit jener, die den Krieg erklärt.

Die Regierung fasste die Sache offenbar anders auf. Sie schob die Herausgabe hinaus und veröffentlichte statt der Dokumente einen Bericht über den Kriegsausbruch im Weißbuch von Juni 1919, auf das in dem vorliegenden Buch noch Bezug genommen wird und das alles andere eher als einen Bruch mit der Politik des gestürzten Regimes erkennen ließ.

Während meine Mitarbeiter und ich die Aufforderung erwarteten, an die Drucklegung der Sammlung heranzutreten, waren wir weiter mit der Feilung und Ergänzung des Materials beschäftigt. Aber als immer mehr die Aussichten schwanden, dass die Regierung bald die Erlaubnis zur Veröffentlichung der Akten gebe, vermochte ich meine Mitarbeiter, auf die andere, dringende Pflichten warteten, nicht länger zusammenzuhalten. Sie schlossen im Beginn des Mai ihre Arbeit an den Akten ab, doch durfte ich darauf rechnen, dass sie sich sofort wieder einfinden würden, sobald endlich der Auftrag zur Drucklegung erteilt wäre. Doch ließ dieser auch nach der Unterzeichnung des Friedens noch auf sich warten.

Endlich in der Mitte des September wurde ich eines schönen Tages in der Angelegenheit der Akten telefonisch angerufen, nicht vom Auswärtigen Amt, sondern von einer Zeitung, die mich fragte, ob es wahr sei, dass die Herren Mendelssohn, Montgelas und Schücking meine Sammlung herausgeben sollten, und nicht ich. Ich konnte darauf bloß antworten, dass ich davon weniger wisse, als die Zeitung selbst. Ich habe die Tatsache nur aus den Zeitungen erfahren.

Die Regierung war wirklich so illoyal gewesen, die Herausgabe der von mir unternommenen und unter meiner Leitung durchgeführten Sammlung von Akten anderen zu übergeben, ohne mich auch nur davon zu verständigen.

Welche Gründe man hatte, mich auszuschiffen, ist mir bis heute noch nicht klar geworden. Die Regierung hat nie welche angegeben.

Um so mehr erregte ihr Vorgehen so böses Blut, dass sie sich gezwungen sah, einzulenken. Die Herren Prof. Schücking und Graf Montgelas wendeten sich Ende September an mich, mit der Versicherung, dass das, was sie herauszugeben gedächten, ausschließlich meine Sammlung sei, an der ohne meine Zustimmung keine Zeile geändert werden solle. Auch wollte man mir jede Möglichkeit der Überwachung des Drucks geben. Sie baten mich, die Ausgabe gutzuheißen.

Die beiden Herren hatten danach im Wesentlichen nur die Aufgabe, meine Arbeit einer Kontrolle zu unterziehen, die ich nicht zu scheuen brauchte, und jene Kleinarbeit zu verrichten, die mit der Drucklegung eines Werkes dieser Art notwendigerweise verbunden ist und die ich ihnen gerne überließ.

Da mir nichts an meiner Persönlichkeit, um so mehr an der Sache liegt, sah ich also keine Veranlassung, mich in den Schmollwinkel zu stellen, und ich erklärte mich bereit, mitzuwirken unter der Bedingung, dass die Drucklegung sofort in Angriff genommen werde. Auch das wurde mir zugesagt und so erscheint jetzt endlich die schon fast sagenhaft gewordene Sammlung der Dokumente des Auswärtigen Amtes über den Kriegsausbruch.

Während der Arbeit hatte ich mich natürlich nicht damit begnügt, ein Dokument an das andere zu reihen. Es drängte mich, alle die Aufschlüsse, die mir die große Masse von fast 900 Aktenstücken bot, in einen inneren Zusammenhang zu bringen und ihren Zusammenhang mit dem übrigen, bisher schon bekannten Material über den Kriegsausbruch herzustellen. Ich tat es nicht als Ankläger, sondern als Geschichtsschreiber, der erforschen will, wie die Dinge gekommen sind.

Diese Arbeit unternahm ich zunächst bloß zu meiner Selbstverständigung. Ein Historiker kann nicht Quellen sammeln, ohne sie auch innerlich zu verarbeiten. Doch je mehr die Arbeit voranschritt, um so reger wurde in mir der Wunsch, sie nicht bloß für mich zu machen, sondern auch für das große Publikum, das weniger Zeit und meist auch Gelegenheit haben dürfte, als ich, die ungeheure Menge des Materials sorgsam durchzuarbeiten.

So entwickelte sich allmählich das vorliegende Buch. In wesentlichen Teilen ist es schon seit Monaten fertig, doch habe ich seine Herausgabe immer wieder hinausgeschoben, was auch stete Zufügungen und Umarbeitungen durch das Auftauchen neuen Materials erforderlich machte, so namentlich durch das deutsche Weißbuch vom Juni und die Publikationen des Herrn Dr. Gooß.

Es kostete mich viel Selbstverleugnung, mit meiner Schrift nicht herauszukommen angesichts der Flut von Enthüllungen über den Krieg, die in den letzten Monaten hereinbrach. Da zu schweigen, wo ich so viel zu sagen gehabt hätte, war nicht leicht. Ich hätte mich wohl berechtigt gefühlt, angesichts des steten Zauderns der Regierung, mein Buch erscheinen zu lassen, noch ehe sie sich zur Publikation der längst gesammelten Akten entschloss.

Ich hatte in dem Archiv des Auswärtigen Amtes nicht gearbeitet als sein Beamter, sondern als freier Historiker, seitdem ich aufgehört hatte, als beigeordneter Staatssekretär zu fungieren. Beweis dafür die Tatsache, dass ich seitdem kein Gehalt und auch keine sonstige Entschädigung von der Regierung bezogen habe. Ein Historiker, der ein Archiv benutzt, ist keinem Vorgesetzten Rechenschaft darüber schuldig, welchen Gebrauch er von den Früchten seiner Arbeit macht.

Wenn ich trotzdem schwieg, geschah es nicht aus einer juristischen, sondern einer politischen Erwägung. Der ganze politische Vorteil, den die Herausgabe der Akten für die Beurteilung des deutschen Volkes durch seine bisherigen Gegner haben konnte, war nur zu erwarten, wenn die Veröffentlichung durch die Regierung, nicht gegen sie erfolgte. Wohl wäre sie auch in letzterem Falle geboten gewesen, schon aus Gründen der inneren Politik. Aber solange die Möglichkeit bestand, dass die Regierung selbst die Akten erscheinen ließ, wollte ich ihr nicht mit der Publizierung meiner Verarbeitung des Materials zuvorkommen.

Nun erscheinen sie tatsächlich und damit ist für mich jeder Grund entfallen, weiter zu warten. Kein Zweifel, meine Auffassungen werden viel umstritten werden – es gibt keine Auffassung dieses Krieges, die allseitige Zustimmung gefunden hätte. Und keine Sprache ist zweideutiger und mehr auf das Lesen zwischen den Zeilen berechnet, keine mannigfacherer Deutungen fähig als die der Diplomaten, mit denen wir es hier fast ausschließlich zu tun haben. Nur der Kaiser befleißigt sich keiner diplomatischen Ausdrucksweise. Sie lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Und seine Randglossen gewähren das seltene Vergnügen, dass das Volk einmal einen Kaiser in Unterhosen zu sehen bekommt.

Doch trotz aller diplomatischen Verschlagenheit haben die österreichischen Dokumente eine nahezu einmütige Auffassung von der Schuld der österreichischen Staatskunst gezeitigt. Wer dazu gelangt ist, diese richtig einzuschätzen, für den kann nach der Sprache der deutschen Dokumente auch die Entscheidung über die deutsche Staatskunst nicht schwerfallen.

Die Verführung lag nahe, angesichts der heutigen Klarheit zu zeigen, wie sehr das deutsche Volk von jenen irregeführt worden ist, die namentlich aus den Reihen der Rechtssozialisten, meine und meiner Freunde Haltung während des Krieges auf das Heftigste angegriffen und die stärkste Apologetik der Kriegspolitik der wilhelminischen Regierung geliefert hatten. Ihre Auffassung ist heute wahrhaftig nur ein Scherbenhaufen.

Aber eben deshalb hat es kaum noch einen Zweck, sich heute mit den David und Heilmann usw. darob herumzuschlagen, auch würde die Straffheit der Darstellung darunter leiden, und es war zu befürchten, dass die Schrift, die sich an alle wendet, denen die Wahrheit über die Entstehung des Krieges am Herzen liegt, durch eine derartige Polemik einen parteipolitischen, ja persönlichen Charakter bekam, den ich vermieden wissen wollte. Ich bin daher nur dort polemisch geworden, wo es im Interesse der Klarlegung der Verhältnisse lag, im übrigen aber jeder Rekrimination aus dem Wege gegangen.

Dass die vorliegende Schrift mir indes neue Polemiken einbringen wird, darauf bin ich gefasst. Wie immer man sich zu ihr stellen mag, auf jeden Fall möge man eines bei der Lesung der hier veröffentlichten Dokumente stets im Auge behalten: Sie bezeugen Gedanken und Handlungen deutscher Staatsmänner, nicht des deutschen Volkes. Soweit dieses eine Schuld trifft, kann sie nur darin liegen, dass es der äußeren Politik seiner Lenker zu wenig Beachtung schenkte. Das ist aber ein Vergehen, das das deutsche Volk mit allen andern Völkern teilt. Vergebens hat Marx schon vor mehr als einem halben Jahrhundert bei der Begründung der Ersten Internationale die »Pflicht der arbeitenden Klassen« proklamiert, »selber die Mysterien der internationalen Staatskunst zu bemeistern, die diplomatischen Streiche ihrer Regierungen zu überwachen.«

Das ist bisher nur höchst unzureichend geschehen. Der jetzige Krieg mit seinen grauenvollen Konsequenzen weist gebieterischer als je auf diese »Pflicht der arbeitenden Klassen« hin.

Als ein Teilchen unserer Pflichterfüllung betrachte ich vorliegende Arbeit.

Berlin, 1. November 1919

Karl Kautsky

1. Die Schuldigen

Seit dem Ausbruch des Weltkrieges beschäftigt eine Frage alle Gemüter: Wer hat dieses entsetzliche Unheil über uns gebracht? Welche Personen, welche Einrichtungen sind die Urheber?

Das ist nicht nur eine wissenschaftliche Frage für den Historiker, es ist eine eminent praktische Frage für den Politiker. In ihrer Beantwortung liegt ein Todesurteil für die als die Urheber erkannten, nicht gerade ein körperliches, auf jeden Fall aber ein politisches. Personen und Institutionen, deren Macht so Furchtbares hervorgerufen hat, sind politisch zu den Toten zu werfen, müssen aller Macht entkleidet werden.

Doch eben deswegen, weil die Frage der Urheberschaft am Weltkrieg nicht eine akademische, sondern eine höchst praktische mit den weitestgehenden Konsequenzen für die Gestaltung des Staatslebens ist, haben die wirklich Schuldigen von Anfang an versucht, ihre Spuren zu verwischen. Und sie haben dabei rührige Helfer gefunden in allen jenen, die an der Macht der schuldigen Personen und Institutionen ein Interesse haben, wenn sie auch mit der Urheberschaft am Krieg nichts zu tun hatten. Das hat lange die Aufdeckung der Urheberschaft sehr erschwert. Anderseits wurde aber durch das praktische Interesse an der Sache auch wieder der kritische Scharfblick der Gegenseite geschärft, so dass nicht wenige von Anfang an auf die richtige Spur kamen. Daher begann sich allmählich der Nebel zu lichten, bis ihn die jüngsten österreichischen und deutschen Publikationen von Akten der auswärtigen Ämter vollends zerrissen. Wir sind in der Lage, jetzt klar zu sehen.

Doch noch eine Wolke liegt da vor uns, angebliche tiefe marxistische Philosophie. Marx hat gelehrt, nicht durch einzelne Personen und Institutionen werde der Gang der Geschichte bestimmt, sondern in der letzten Linie durch die ökonomischen Verhältnisse. Der Kapitalismus erzeuge in seiner höchsten Form, der des Finanzkapitals, überall den Imperialismus, das Streben nach gewaltsamer Ausdehnung des Staatsgebietes. Dies beherrsche alle Staaten, sie seien alle kriegerischer Natur, und daraus sei der Weltkrieg hervorgegangen. Nicht einzelne Personen und Institutionen seien schuldig, sondern der Kapitalismus als Ganzes; diesen müsse man bekämpfen.

Dies klingt sehr radikal und wirkt doch sehr konservativ überall dort, wo es das praktische Arbeiten beherrscht. Denn der Kapitalismus ist nichts als eine Abstraktion, die gewonnen wird aus der Beobachtung zahlreicher Einzelerscheinungen und die ein unentbehrliches Hilfsmittel ist bei dem Streben, diese in ihren gesetzmäßigen Zusammenhängen zu erforschen.

Bekämpfen kann man aber eine Abstraktion nicht, außer theoretisch; nicht aber praktisch. Praktisch können wir nur Einzelerscheinungen bekämpfen. Die theoretische Erkenntnis des Kapitalismus enthebt uns nicht der Notwendigkeit dieses praktischen Kampfes, sie ist vielmehr dazu da, ihn zu fördern, dadurch, dass sie uns ermöglicht, einen planmäßigen Zusammenhang in seine Einzelheiten zu bringen und ihn dadurch wirksamer zu gestalten. Dabei bleibt er immer ein Kampf gegen bestimmte Institutionen und Personen als Träger bestimmter gesellschaftlicher Funktionen.

Man kann dabei vom marxistischen Standpunkt aus höchstens sagen, dass das Ziel des Kampfes nicht die Bestrafung der einzelnen Personen sein soll, gegen die er sich richtet. Jeder Mensch ist nur das Produkt der Verhältnisse, in denen er aufwächst und lebt. Selbst dem schlimmsten Verbrecher gegenüber ist es unbillig ihn zu bestrafen. Die Aufgabe der Gesellschaft besteht nur darin, zu bewirken, dass ihm die Möglichkeit genommen wird, weiterhin zu schaden, dass er wenn möglich, aus einem schädlichen in ein nützliches Mitglied der Menschheit verwandelt wird, und diejenigen Verhältnisse beseitigt werden, die ihn schufen und ihm die Möglichkeit und Macht boten, zu schaden.

Diesen Standpunkt hat man als Marxist auch den Urhebern am Weltkrieg gegenüber einzunehmen. Es ist aber keineswegs Marxismus, wenn man von der Nachforschung nach den schuldigen Personen durch den Hinweis auf die unpersönliche Schuld des Kapitalismus ablenken will.

Marx und Engels haben sich nie damit begnügt, von den verderblichen Wirkungen des Kapitalismus im Allgemeinen zu sprechen. Sie waren ebenso sehr bemüht, dem Wirken der einzelnen Institutionen, Parteien und der sie führenden Politiker, wie etwa Palmerston und Napoleon nachzuspüren. Das Gleiche mit Bezug auf diejenigen zu tun, die den Weltkrieg herbeiführten, ist nicht nur unser Recht, sondern unsere Pflicht, und nicht bloß aus Gründen der äußeren, sondern auch der inneren Politik, um den Personen und Institutionen, die das furchtbare Verderben verschuldet haben, die Wiederkehr für immer unmöglich zu machen.

2. Deutschlands Isolierung

Nun wird eingeworfen, die letzten Tage vor Kriegsausbruch seien für die Schuldfrage allein nicht entscheidend. Man müsse weiter zurückgehen, um zu sehen, wie die Gegensätze sich bildeten, dann werde man bei allen Großstaaten Imperialismus, Ausdehnungsstreben, finden, nicht bloß bei Deutschland allein.

Sehr richtig, aber dieses Ausdehnungsstreben erklärt noch nicht den Weltkrieg, dessen Eigenart darin besteht, dass sich alle Großmächte und mehrere kleine an ihm beteiligten und alle Welt sich gegen Deutschland verbündete. Zu zeigen, wieso es dazu kam, das ist das Problem, das zu lösen ist. Das Wörtchen Imperialismus bringt uns dabei nicht weiter.

Das Aufkommen des Imperialismus am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts zeichnet sich dadurch aus, dass die verschiedensten Großstaaten miteinander in Konflikt gerieten, Frankreich zuerst mit Italien und dann mit England, Amerika mit Spanien und auch mit England, England überdies mit den Buren, mit denen alle Welt sympathisierte, schließlich Russland mit Japan, hinter dem England stand.

Am freiesten von internationalen Konflikten, die zeitweise zu Kriegen wurden, hielt sich in jenem Zeitalter Deutschland. Es hatte allerdings 1871 den großen Fehler begangen, Elsässer und Lothringer wider ihren Willen von Frankreich gewaltsam loszureißen und dieses dadurch in die Arme Russlands zu treiben. Das französische Bedürfnis nach Revanche, nach Wiedervereinigung mit den losgerissenen geknechteten Brüdern begann mit der Zeit gelindere Formen anzunehmen, um so mehr, als die Aussichten der Franzosen in einem Krieg mit Deutschland sich zusehends verschlechterten, da Frankreichs Bevölkerungszahl kaum wuchs, indes das deutsche Volk sich rapid vermehrte und schon dadurch immer mehr das Übergewicht über Frankreich erhielt. Im Jahre 1866 zählte das Gebiet des späteren Deutschen Reiches 40 Millionen, das Frankreichs 38 Millionen Einwohner. Wäre diesem 1870, wie es erhofft, Preußen allein gegenübergestanden, dann hätte sein Gegner bloß über 24 Millionen verfügt. Im Jahre 1910 dagegen zählt Frankreich bloß 39, Deutschland über 65 Millionen Einwohner.

Daher die Furcht Frankreichs vor einem Krieg mit dem übermächtigen Deutschland, eine Furcht, die heute noch in den Bedingungen des Versailler Friedens nachwirkt. Daher auch sein Bedürfnis nach der Allianz mit Russland.

Durch die Feindschaft zwischen Deutschland und Frankreich fühlt sich Russland nach 1871 als Schiedsrichter zwischen beiden und somit als Herr des ganzen kontinentalen Europas. Im Vertrauen darauf wagt Russland 1877 den Krieg gegen die Türkei, bei dem es schließlich eine Hemmung in der Ausnutzung seines Sieges nur findet in England und Österreich. Auf dem Berliner Kongress 1878 muss sich Bismarck zwischen beiden Mächten und Russland entscheiden. Er macht sich vom Zaren selbständig und unterstützt Österreich und England.

Von da ab rückt Russland von Deutschland ab und knüpft immer enger werdende Beziehungen zu Frankreich an, so dass Bismarck trotz seiner starken russischen Sympathien immer mehr auf Österreich angewiesen wird, dem er Italien als Bundesgenossen hinzugesellt hat (1882), als die Franzosen Tunis besetzten und damit die nach diesem Land schielenden Imperialisten Italiens aufs Tiefste verletzten.

England bleibt außerhalb beider Kombinationen in »glänzender Isolierung«, aber eher auf Seite des Dreibundes, als des französischrussischen Einvernehmens. Denn mit Frankreich gerät es in Differenzen wegen afrikanischer Aspirationen (Marokko und namentlich Ägypten mit dem Sudan). Russland gegenüber fand sein alter Gegensatz in Bezug auf die Türkei und namentlich auf Indien immer wieder neue Nahrung. Dagegen stand England in freundschaftlichem Verhältnis zu Österreich und Italien und in keinem ausgesprochenem Gegensatz zu Deutschland, dessen Lenker Bismarck bei den Konflikten Englands mit Frankreich einerseits, mit Russland anderseits die Gegensätze zwischen ihnen schürte, um dabei die Rolle des Schiedsrichters und lachenden Dritten zu spielen. Diese Politik war moralisch nicht sehr hochstehend, aber für das ökonomische Gedeihen Deutschlands ganz ersprießlich. Gerade in der Zeit des aufkommenden Imperialismus blieb Deutschland also von jedem Krieg verschont und konnte es seine Industrie, seinen Handel und auch seinen Kolonialbesitz erweitern dadurch, dass es die imperialistischen Konflikte der andern ausbeutete, ohne sich an ihnen zu beteiligen.

Man sieht, auch im Zeitalter des Imperialismus vermochte ein Großstaat noch eine andere Politik zu machen, als eine Kriegspolitik. Allerdings gehörten dazu Staatsmänner mit etwas Grütze im Kopf und mit genügender Selbständigkeit gegenüber den Interessenten an einer imperialistischen Gewaltpolitik, die in Deutschland ebenso wenig fehlten, als anderswo, ja die gerade durch das Gedeihen der Friedenspolitik besonders erstarkten. Der fabelhafte ökonomische Aufschwung Deutschlands am Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts gab die Mittel zu starken militärischen Rüstungen, er schuf eine Klasse gewalttätiger Industriemagnaten, namentlich der Schwerindustrie, zu denen sich als alte Gewaltpolitiker die Junker gesellten und der größte Teil der Intellektuellen, die von Berufswegen den Auftrag hatten, den Kriegsruhm der Hohenzollern zu verkünden, deutschen Größenwahn der gesamten Jugend einzuimpfen.

Bismarcks Nachfolger Caprivi verfolgte noch die alte Politik, die den Frieden inmitten aller imperialistischen Konflikte der Umwelt erhalten hatte. Aber als Fürst Bülow 1897 zuerst Minister des Äußern (später 1900 Reichskanzler) und mit ihm Tirpitz Leiter des Reichsmarineamts wurde, bedeutete das eine völlige Neuorientierung der äußeren Politik, den Übergang zu einer Weltpolitik, die, wenn sie einen Sinn hatte, nur den haben konnte: Aufrichtung der Beherrschung der Welt durch Deutschland!

In dem Maße, wie diese neuen Tendenzen klarer zutage traten, bewirkten sie nun auch eine völlige Änderung der Stellung der Welt gegenüber Deutschland. War sie bis dahin imperialistisch gespalten und gerade dadurch Deutschland in ihr der mächtigste Faktor gewesen, nach dem Spruch: divide et impera, so traten jetzt alle Gegensätze zwischen den einzelnen Staaten zurück hinter den einen großen Gegensatz gegen das Deutsche Reich, von dem sich alle bedroht fühlten.

Den Anfang dieser verhängnisvollen Wandlung der deutschen Weltpolitik machte die Flottenvorlage von 1897, die das Wettrüsten mit England einleitete und nur dann erklärlich wurde, wenn sie dem Endziel der Niederwerfung der britischen Seeherrschaft diente. Das ist auch oft genug, namentlich von alldeutschen Blättern und Politikern als die Aufgabe der deutschen Seerüstungen bezeichnet worden.

Damit erregte man die öffentliche Meinung Englands auf das Äußerste gegen Deutschland.

Im Zeitalter der napoleonischen Kriege hatte das britische Reich die Seeherrschaft errungen und keine Macht unternahm es seitdem, sie antasten zu wollen. Diese Herrschaft selbst hatte bald auch dem Wiener Frieden ihren Charakter erheblich garniert. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts war Großbritannien noch ein stark agrarisches Land gewesen, das zur Not sich selbst erhalten konnte. Ganz anders später. Als das industriellste aller Länder, sah es sich bald nicht bloß in Bezug auf Rohstoffe, sondern auch auf Ernährung mehr als irgendein anderes Gebiet auf starke Zufuhren von außen angewiesen.

Noch 1850 war in England, Wales und Schottland allein (ohne Irland) die Landbevölkerung ebenso zahlreich, wie die städtische. Im Jahre 1911 dagegen machte die Bevölkerung der Städte in England mit Wales 78 Prozent, in Schottland 75 Prozent der Gesamtbevölkerung aus.

Im 18. Jahrhundert war England ein Getreide ausführendes Land gewesen. Noch in den Anfängen des 19. Jahrhunderts genügte seine Weizenproduktion fast zur Deckung des heimischen Bedarfs. Im jährlichen Durchschnitt wurden im Jahrzehnt 1811 bis 1820 nur 400 000 Quarters Weizen eingeführt. Im Jahre 1850 brauchte man schon eine Zufuhr von fast 4 Millionen, 1909 das Zehnfache, bei einer Eigenproduktion von nur 7 Millionen. Ganze 84 Prozent des in England verbrauchten Weizens stammten kurz vor dem Krieg aus dem Ausland.

Diese ganze Zufuhr erfolgte aber ausschließlich zur See. Das heißt, dass England im Falle eines Krieges dem Hungertode ausgeliefert wurde, sobald es nicht mehr die See beherrschte. Seine Seeherrschaft, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts fast bloß ein Mittel zur Ausdehnung und Sicherung seines Kolonialreiches bildete, also um modern zu reden, imperialistischen Zwecken diente, wurde immer unerlässlicher zur Aufrechterhaltung der Selbständigkeit des Landes. Die Seeherrschaft wurde für das britische Volk neben einer imperialistischen eine demokratische Forderung, wenigstens solange, als nicht allgemeine Abrüstung und Abschaffung der Kriege möglich waren – pazifistische Ziele, die gerade wegen der durch einen Krieg gefährdeten Lage des Landes, bei der Masse der englischen Bevölkerung, nicht bloß Sozialisten, sondern auch Liberalen sehr populär wurden. Da der Gedanke der Seeherrschaft in England nicht allein von imperialistischen, sondern auch von demokratischen Schichten getragen wurde, fand diese Herrschaft auch eine sehr liberale, durchaus nicht protektionistische oder gar monopolistische, sondern eine freihändlerische Anwendung, nach dem Grundsatz der offenen Tür.

Dadurch erreichte es England, dass während des ganzen 19. Jahrhunderts kein Staat Miene machte, seine Seeherrschaft zu bedrohen. Nur Deutschland begann die Politik der Bedrohung am Ende des 19. Jahrhunderts, als Englands Lebensinteresse jene Herrschaft weit entschiedener forderte, als zur Zeit Napoleons I.

Wer England und die Engländer kennt, musste wissen, dass die deutsche Politik der Flottenrüstungen allein schon genügte, immer zahlreichere Schichten der Bevölkerung Englands dem Gedanken zugänglich zu machen, Deutschland um jeden Preis zum Einstellen dieser Rüstungen zu bringen, wenn es nicht anders ging, durch einen Krieg, der dank der früheren deutschen Politik auch Frankreich und Russland als Gegner Deutschlands auf den Plan zu bringen drohte.

Herr v. Bülow, der diese verhängnisvolle Politik inaugurierte, gesteht selbst ein, dass sie Deutschland mit dem Krieg bedrohte. In seinem 1916 erschienenen Buche über »Deutsche Politik« schreibt er:

»Während der ersten zehn Jahre nach der Einbringung der Marinevorlage von 1897 und dem Beginn unserer Schiffsbauten wäre eine zum Äußersten entschlossene englische Politik wohl in der Lage gewesen, die Entwicklung Deutschlands zur Seemacht kurzerhand gewaltsam zu unterbinden, uns unschädlich zu machen, bevor uns die Krallen zur See gewachsen waren ... Und im achtzehnten Monat des Krieges konstatiert die ›Frankfurter Zeitung‹, England habe, als es zur kriegerischen Auseinandersetzung gekommen war, die trübe Wahrnehmung machen müssen, dass es trotz aller Einkreisungspläne den rechten Augenblick versäumt hatte, wo es den gefürchteten Mitbewerber hätte klein machen können. (S. 40)«

Also die Flottenpolitik wurde unternommen auf die Gefahr hin, dass sie England zum Krieg gegen Deutschland reize. Wenn es da zu einem solchen nicht kam, war nicht die deutsche Politik daran schuld, sondern die Zurückhaltung Englands, das der gewaltsamen Niederschlagung des drohenden Gegners durch einen Krieg seine sogenannte Einkreisung vorzog, d.h. die Förderung seiner Isolierung, die aus Deutschlands Weltpolitik hervorging.

Das unheilvolle Wirken der ebenso sinnlosen wie provozierenden Flottenpolitik Deutschlands wurde noch verstärkt durch seine hartnäckige Sabotierung aller Versuche, zu einer internationalen Verständigung über eine allgemeine Einschränkung der Kriegsrüstungen zu kommen, und internationale Konflikte auf friedlichem Wege durch Schiedsgerichte zu beseitigen.

Das zeigte sich schon bei der ersten Haager Konferenz von 1899, die diesen Zielen galt.

»Gerade in den Tagen der Haager Konferenz hielt der Deutsche Kaiser seine Wiesbadener Rede, in der er ein ›scharf geschliffenes Schwert‹ als die beste Friedensgarantie erklärt.« (Fried, Handbuch der Friedensbewegung. S. 171)

Auf dieser Konferenz war der deutsche Delegierte nicht einmal dazu zu bewegen, der obligatorischen Schiedsgerichtsbarkeit wenigstens für Entschädigungsforderungen und juristische Streitigkeiten zuzustimmen. Selbst diese geringfügige Einschränkung der Austragung internationaler Konflikte durch Gewalt scheiterte an dem Widerstand Deutschlands, das später auch alle Versuche zurückwies, zu einer Begrenzung der Rüstungen zu kommen.

Kein Wunder, dass Deutschland in der Welt immer verhasster wurde, nicht bloß bei den mit der deutschen Macht rivalisierenden Imperialisten, sondern auch bei den Verfechtern des Völkerfriedens und der Völkerfreiheit.

Die Rolle, die bis dahin das Zarentum gegenüber der europäischen Demokratie, als ihr schlimmster gemeinsamer Feind, gespielt, die fiel nun immer mehr der deutschen Militärmonarchie zu. Eine sinnlosere Politik war kaum möglich. Sie musste verurteilt werden, nicht bloß vom Standpunkte des internationalen Sozialismus, sondern selbst vom Standpunkte eines Imperialismus, der mit den gegebenen Machtverhältnissen rechnete. Eine vernünftige deutsche imperialistische Politik durfte auf keinen Fall derart sein, dass sie die Feindschaft der beiden, neben Deutschland in Europa entscheidenden Mächte, England und Russland, gleichzeitig hervorrief. Sie musste entweder, um ihre Ziele im Gegensatz zu Russland und dem mit diesem verbündeten Frankreich zu erreichen, Englands Unterstützung gewinnen, was vor allem Verzicht auf das Flottenwettrüsten bedeutete. Dies hätte, dem Charakter der englischen Politik entsprechend, geheißen, dass der Grundsatz der offenen Tür in der ganzen Welt zum Durchbruch kam – was für Deutschlands Industrie die glänzendsten Aussichten bot.

Freilich, eine eigentlich imperialistische Politik nach dem Herzen der Schwerindustriellen, Monopolisten und der Militaristen wäre es nicht gewesen. Denen lag vor allem an einer Ausdehnung auf Kosten Englands. Dann aber musste man darüber mit Russland zu einer Verständigung kommen. Ein mit Russland verbündetes und damit auch gegen die französische Gefahr mehr gesichertes Deutschland hätte ruhig das Flottenwettrennen mit England aufnehmen können. Im Kriegsfalle konnten ihm die Engländer nichts Erhebliches antun. Sie mochten seine Kolonien besetzen, seinen Seehandel unterbinden, nicht aber Deutschland aushungern. Dieses dagegen war imstande, auf dem Land mit Hilfe Russlands die Grundlagen von Englands Weltstellung zum Zusammenbruch zu bringen und das zu erreichen, was auf anderem Wege Napoleon I. vergeblich versucht, Ägypten zu besetzen und nach Indien vorzudringen.

Geradezu toll dagegen war es, dies Ziel der Niederwerfung Englands nicht im Verein mit Russland, sondern im Krieg mit Russland, mit Frankreich, mit der ganzen Welt, anzustreben.

3. Deutsche Provokationen

Zunächst freilich bedeutete die deutsche Politik noch nicht den Krieg Deutschlands gegen die ganze Welt, wohl aber die Gefahr eines solchen Krieges. Je stärker die Einkreisung, je größer die Isolierung Deutschlands, desto dringender heischte daher sein eigenes Interesse, dass es jede Provokation unterließ, die es in einen Krieg verwickeln konnte.

Ein Marxist, der da behauptet, der Imperialismus hätte auf jeden Fall den Krieg gebracht, wie immer die deutsche Politik war, erinnert an einen Verteidiger dummer Jungen, die sich damit vergnügten, brennende Zündhölzer in ein Pulverfass zu werfen. Nicht die Jungens, meint der Verteidiger entschuldigend, hätten die zerstörende Explosion verschuldet, die ihrem Treiben folgte; Schuld sei das Vorhandensein des Pulvers im Fass. Wäre Wasser drin gewesen, hätte nichts passieren können. Stimmt. Nur wussten in unserem Falle die Jünglinge, dass Pulver im Fass war, ja, sie hatten selbst einen recht erheblichen Teil davon hineingetragen.

Man kann sagen, dass die Provokationen aus Deutschland um so zahlreicher wurden, je größer seine Isolierung und je bedrohlicher die Gefahr des Weltkrieges.

Gerade die wachsende Gefahr vermehrte die Erbitterung auf beiden Seiten, im Ausland, wie in Deutschland, sie bildete einen neuen Antrieb zur Vermehrung der Rüstungen und damit zum Erstarken der kriegerischen Elemente. Sie vermehrte in verhängnisvoller Weise die Zahl derjenigen, die den Krieg für unvermeidlich hielten, und daher beinahe drängten, dass er bei günstiger Gelegenheit vom Zaun gebrochen werde als Präventivkrieg, wenn die Umstände das eigene Land begünstigten und die Gegner hemmten.

In Deutschland wuchs aber auch mit der Kriegsrüstung das Vertrauen zu ihrer Kraft, machte sich in vielen Kreisen ein wahrhafter Größenwahn geltend, der sich stützte auf die preußische Kriegsgeschichte, die seit anderthalb Jahrhunderten mit Ausnahme Jenas fast nur Siege zu verzeichnen hatte.

Namentlich die alldeutschen Kreise konnten sich in provokatorischen Äußerungen nicht genug tun. Sie erhielten ernsthafte Bedeutung dadurch, dass die Kreise des Alldeutschtums den entschiedensten Teil gerade jener gesellschaftlichen Schichten darstellten, die Deutschland beherrschten und denen seine Regierung entsprang. Das Übel wurde noch verstärkt durch die Persönlichkeit des Kaisers, der durch und durch militärisch denkend, dabei oberflächlich und maßlos eitel, auf Theatereffekte erpicht, vor den herausforderndsten Gesten und Reden nicht zurückschreckte, wenn er glaubte, damit seiner Umgebung zu imponieren.

Wir haben schon gesehen, dass er in den Tagen der ersten Haager Friedenskonferenz im Gegensatz zu Schiedsgerichten und Abrüstung ein scharf geschliffenes Schwert für die beste Friedensgarantie erklärt.

Ein Jahr darauf proklamiert er vor den nach China ziehenden Truppen in Bremerhaven, 27. Juli 1900, folgende schönen Grundsätze der Kriegführung:

»Pardon wird nicht gegeben. Gefangene werden nicht gemacht ... Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht ... so möge der Name Deutscher jetzt in China auf tausend Jahre in einer Weise betätigt werden, dass es niemals ein Chinese wieder wagt, einen Deutschen auch nur scheel anzusehen.«

Wenn später im Weltkrieg die Art der deutschen Kriegführung auf ein bei kaltem Blut ersonnenes System von Grausamkeit zurückgeführt wurde, das den Deutschen den Namen von Hunnen eintrug, darf sich das deutsche Volk dafür bei seinem Kaiser bedanken.

Wurde durch solche Äußerungen der Abscheu vor dem deutschen Volke bei allen human denkenden Menschen großgezogen, so trug Wilhelm gleichzeitig keine Bedenken, auch den Imperialisten des Auslandes die Fehde anzusagen. Den Anfang machte 1896 das Telegramm an den Burenpräsidenten Krüger, in dem Wilhelm in dem beginnenden Konflikt zwischen England und den Buren offen diese seiner Freundschaft versicherte.

Bald darauf, 1898, proklamierte er sich als den Schutzpatron der 300 Millionen Mohammedaner der Erde. Das galt denen des von Frankreich beherrschten Algier ebenso wie den unter englischer Herrschaft in Ägypten und Indien lebenden, den Mohammedanern in Russland und den von diesem Staate bedrohten Mohammedanern der Türkei.

Es war nur eine Fortsetzung dieser herausfordernden Politik, wenn Wilhelm, als Frankreich begann, Interesse für Marokko zu betätigen, 1905 in Tanger dem Sultan von Marokko seinen Schutz gegen jedermann zusagte, der seine Unabhängigkeit bedrohe, und später, 1911, ebenfalls um des gleichen Streitgegenstandes willen, plötzlich ein Kriegsschiff vor den marokkanischen Hafen Agadir schickte.

Beide Male ward so der Weltfriede in Frage gestellt. Die Sache wurde nicht besser dadurch, dass Wilhelm jedes Mal, wenn es galt, die Drohung wahr zu machen, die Courage verlor und diejenigen im Stiche ließ, die er seines Schutzes versichert hatte. So den Sultan von Marokko und besonders würdelos die Buren. Das trug nur dazu bei, dass sich zum Hass noch die Missachtung gesellte.

Bei diesen Konflikten waren es auf beiden Seiten Imperialisten, die gegeneinander standen. Bei dem Kampf des großen England gegen die kleinen Burenrepubliken hatte sich die öffentliche Meinung der ganzen zivilisierten Welt einmütig auf die Seite der Kleinen und Schwachen gestellt. In den Marokkokonflikten waren die Arbeiter Deutschlands wie Frankreichs in vollster Übereinstimmung ihren Regierungen entgegengetreten und hatten damit nicht wenig zur Erhaltung des bedrohten Weltfriedens beigetragen. Durch diese Haltung des sozialistischen Proletariats wurde das Unberechenbare, Sprunghafte, Provokatorische der deutschen Weltpolitik etwas gemildert.

4. Österreich

Die Regierung Deutschlands begnügte sich jedoch nicht damit, Dummheiten auf eigene Faust zu machen, Sie fühlte sich auch gedrängt, die Dummheiten der österreichischen Politik zu decken, die ebenfalls drohten, einen Weltkrieg zu entzünden, aber nicht um überseeischer Objekte, sondern um der Unabhängigkeit europäischer Staaten selbst willen, die durch Österreich direkt bedroht wurden.

Durch seine Weltpolitik hatte Deutschland es erreicht, dass es fast keinen Freund unter den selbständigen lebensfähigen Staaten Europas mehr besaß. Selbst das Verhältnis zu dem verbündeten Italien war ein recht kühles geworden. Nur zwei Staaten blieben ihm eng befreundet, zwei Staaten, die ihre Lebensfähigkeit verloren hatten, so dass sie nur durch einen starken Helfer von außen sich noch zu behaupten vermochten, Österreich und die Türkei.

Der Staat der Habsburger wie der des Sultans von Konstantinopel waren jeder ein Nationalitätenstaat, der nicht durch gemeinsame Interessen seiner Nationalitäten, nicht durch eine Überlegenheit an Wohlstand und Freiheit zusammengehalten wurde, sondern nur durch militärischen Zwang. Dieser Typus des Nationalitätenstaates wurde immer unverträglicher mit der modernen Demokratie, die unwiderstehlich unter dem Einfluss der modernen Verkehrsentwicklung wächst.

Österreich und die Türkei, wenigstens die europäische, waren also rettungslos dem Untergange verfallen. So wenig merkten das die leitenden deutschen Staatsmänner, dass sie gerade diese Staaten zu ihrer einzigen Stütze machten – aber freilich, welche andere wäre ihnen bei ihrer Weltpolitik geblieben?