Es war Dan, der uns letztlich einte und dazu brachte, dass wir uns auf die vordringlichen Probleme konzentrierten. Ich hatte ihn schon immer für einen geborenen Anführer gehalten, vorwiegend, weil es ihm an der Fantasie zu mangeln schien, die der Rest von uns mitbrachte. Doch später erkannte ich, dass es nicht daran lag. Für Dan zählten nur Handlungen. Schnell getroffene Entscheidungen. Man durfte nicht über die Konsequenzen nachdenken, man musste einfach rasch agieren und nicht zu lange überlegen. Vermutlich hatte ihm eben dieser Instinkt beim Sport stets gute Dienste erwiesen.
Natürlich ist niemand genau so, wie andere ihn von außen wahrnehmen, und ich hatte Dan in Wahrheit überhaupt nicht durchschaut, aber zu diesem Zeitpunkt spielte das keine Rolle. Es zählte nur, dass er zum Handeln bereit war.
Früh am nächsten Morgen – wir wussten nur aufgrund der Uhr an der Wand, dass es Morgen war – rief er uns alle zusammen. Wir saßen, er hingegen blieb am Kopfende des Tischs stehen und nahm eine Haltung ein, die natürliche Autorität vermittelte.
Während wir ihn beobachteten, ergriff er aus der kleinen Werkzeugkiste im Regal einen Schraubenzieher und kratzte einen kurzen, vertikalen Strich in die Wand nahe dem Zugang zum anderen Raum. »Tag eins«, erklärte er. »Wenn wir längere Zeit hier unten sind, müssen wir die Zeit im Auge behalten.«
Tag eins. Wir alle saßen da und dachten darüber nach, über die Auswirkungen von Strichen an der Wand, die sich Tag für Tag vermehren würden, bis Gruppen aus sechs vertikalen Strichen mit einem Querstrich entstanden, Siebenergruppen, die sich über die Wand erstreckten und das Verstreichen von Tagen, Wochen, eventuell sogar Monaten kennzeichneten. Es schien eine ziemlich primitive Art zu sein, einen Kalender zu erstellen, aber vermutlich ging es Dan genau darum. Wenn alles andere ausfiel, wenn wir keinen Strom und kein Wasser mehr hatten, wenn alle Batterien, Stifte und jegliches Papier aufgebraucht waren, konnten wir zumindest noch Striche ritzen, um die verstreichende Zeit im Blick zu behalten. Selbst ohne all diese Annehmlichkeiten verkörperten wir immer noch Menschen. Wir waren zivilisiert, besaßen ein Bewusstsein und konnten uns an Ordnung und Strukturen orientieren. Wir waren stark.
»Hört mal alle her«, forderte er uns auf. »Wir müssen vernünftig mit der Situation umgehen. Wir müssen uns einen Überblick über die Vorräte verschaffen und abschätzen, wie lange wir hier unten überleben können. Und wir sollten versuchen, uns zu überlegen, wie groß das Ausmaß des Schadens draußen sein könnte und wer uns potenziell zu Hilfe kommt oder auch nicht.«
»Du hast Beten vergessen«, warf ich ein. »Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, um zu Gott zu finden.« Damit scherzte ich nur halb. Ich war nicht besonders religiös, aber in dem Augenblick klang das ziemlich klug für mich.
»Dan hat recht«, fand Jay. »Wir müssen einen klaren Kopf bewahren. Katastropheneinsatzexperten dürften das genauso sehen. Lasst uns eine Liste unserer Optionen mit den jeweiligen Vor- und Nachteilen erstellen. Welche Risiken sind mit jeder Handlung verknüpft? Wie können wir eine fundierte Entscheidung treffen?«
»Mein Großvater hat bestimmt an alles gedacht«, warf Sue ein. »In der Hinsicht ist er gründlich. Er wird alles berücksichtigt haben, was wir brauchen, um hier unten am Leben zu bleiben.«
»Aber nicht auf ewig«, entgegnete Dan. »Wir müssen wissen, für wie lange er vorausgeplant hat und was genau uns zur Verfügung steht. Ich denke, es gibt so etwas wie eine Vorratsliste. Wenn nicht, müssen wir eine zusammenstellen. Sue, kannst du dich um eine Bestandsaufnahme kümmern, wenn wir hier fertig sind?« Sie nickte. »Gut. Also, vorausgesetzt, wir haben genug Vorräte, um mindestens einen Monat lang durchzuhalten, ist die weitere Vorgehensweise ziemlich klar. Variante eins: Wir bleiben so lange wie möglich, wo wir sind, und warten, ob das Radio irgendwann etwas empfängt oder jemand kommt, um uns rauszuholen. Variante zwei: Wir öffnen die Luke selbst, stecken die Köpfe raus und schauen nach.«
»Kommt nicht infrage«, protestierte ich. »Wir haben beide gesehen, was da draußen passiert ist, Dan.«
»Ich nicht«, murmelte Jimmie. Er hatte sich so ruhig verhalten, wir hatten wohl alle halb vergessen, dass er überhaupt hier war. Das sah Jimmie ganz und gar nicht ähnlich und es machte mich nervös.
Nun sah er auf und begegnete meinem Blick. Ich erkannte eine Mischung aus unbedachter Hoffnung, Wut und nackter Angst. »Woher soll ich überhaupt wissen, ob es stimmt?«, flüsterte er. »Du hältst dich ja sonst auch immer für so komisch, eh. Vielleicht lügst du. Vielleicht soll das so was wie ein Streich sein.«
»Glaub mir, ist es nicht«, beteuerte Dan. »Was für ein krankes Arschloch tut denn so was?«
Jimmie wandte den Blick von mir ab. »Pete vielleicht«, erwiderte er. Dann sah er Dan an. »Und überhaupt, wer ist denn gestorben, dass du hier das Sagen hast?«
99 Prozent der menschlichen Rasse, dachte ich bei mir, sprach es jedoch nicht aus.
Jay mischte sich ein. »Ausnahmezustand«, sagte er. »In Krisenzeiten muss es eine klare Hierarchie geben, sonst bricht alles zusammen. Wenn Dan die Aufgabe übernehmen will, meinen Segen hat er.«
»Meinen auch«, fügte ich hinzu. »Willst du den Job, Jimmie? Glaubst du, dass du es besser kannst? Und nur, um das klarzustellen: Ich mag ein Komiker sein, aber sogar ich weiß, wann es reicht. Das ist kein Witz.«
»Du kannst mich mal«, spie Jimmie mir entgegen und stand auf. An seinem dünnen Hals traten Adern hervor und seine Augen drohten aus dem Kopf zu quellen. Er ließ den Blick um den Tisch wandern. »Ihr könnt mich alle mal.«
»Ja, das ist jetzt richtig erwachsen«, meinte ich und erhob mich ebenfalls. »Ganz genau, wir sind hier der Feind. Wir sind diejenigen, die euer Haus zerbombt haben.«
Ich wusste, dass ich die Klappe halten sollte, aber er machte mich stinksauer. Kaum hatte ich es ausgesprochen, sprang Jimmie mich mit ausgestreckten Händen an und zielte auf mein Gesicht. Es ging so schnell, dass mir gerade noch Zeit blieb, einen Arm hochzureißen, um den Schlag abzuwehren. Der Schwung seines Körpers stieß mich rückwärts über den Stuhl. Ich schlug hart auf den Boden und mein Kopf knallte auf den Teppich.
Jimmie führte sich auf wie eine außer Rand und Band geratene Katze und krallte auf mich ein, während ich versuchte, ihn wegzudrücken.
Dann verschwand er aus meinem Blickfeld. Ich schaute auf und sah noch, wie Dan ihn hinten am Hemd packte und auf einen Stuhl wuchtete. »Aufhören!«, brüllte er. »Wir kämpfen nicht gegeneinander, verstanden? Verstanden?«
Jimmie setzte sich kurz zur Wehr, aber Dan hielt ihn fest, eine große Hand an der Rückenlehne des Stuhls, die andere auf Jimmies Brust. Jimmie bäumte sich ein letztes Mal auf, dann erschlaffte er und begann zu weinen. Mit lautem, rasselndem Schluchzen sog er die Luft ein. Rotz hing ihm von der Nase. »Es tut mir leid«, stieß er hervor. »Es tut mir leid, tut mir leid ...«
Dan ließ ihn los und wandte sich von ihm ab, um mir aufzuhelfen. »Alles in Ordnung«, murmelte ich. »Es geht mir gut.«
Jimmie wischte sich mit dem Unterarm übers Gesicht. »Tut mir leid«, wiederholte er abermals. Seine Brust hob und senkte sich so heftig wie bei einem kleinen Kind nach einem Wutanfall. »Ich ... ich bin einfach ausgerastet ...«
»Du bist ein flinker kleiner Mistkerl, weißt du das?«, fragte ich, betrachtete ihn demonstrativ mit zusammengekniffenen Augen und rieb die Beule an meinem Hinterkopf. »Und jetzt gibt’s auch noch zwei von dir. Echt toll.«
Jimmie starrte mich einen Moment lang an, dann brach er in Gelächter aus, genau wie Sue und Tessa. Die Anspannung verpuffte. Dan schüttelte den Kopf und setzte sich.
»Stimmen wir ab«, schlug Sue vor, nachdem wir uns alle wieder eingekriegt hatten. »Wäre das nicht fair? Wer findet, dass Dan das Kommando übernehmen soll?«
Wir alle hoben die Hand. Sogar Jimmie.
»Na schön«, sagte Dan. »Genug von diesem Scheiß. Wenden wir uns wichtigeren Punkten zu. Wir haben alle gehört, was Jay gestern Nacht gesagt hat. Allein der Fallout bringt jeden um, der dumm genug ist, rauszugehen. Wir können nicht das Leben aller aufs Spiel setzen, um einen Blick zu riskieren. Somit bleibt nur Variante eins übrig.«
»Was, wenn es hier irgendwo ... ich weiß nicht ... eine Art Schutz gibt?« Kaum hatte ich es ausgesprochen, kam ich mir albern vor, aber da war es bereits zu spät. »Einen Anzug oder so.«
»Klassische Gefahrgut-Schutzanzüge helfen nicht gegen Strahlung«, wandte Jay ein. »Gegen Biowaffen schon, aber nicht bei einem Atomangriff.«
»Dann bleiben wir so lange wie möglich hier drin«, entschied Dan. »Aber das heißt nicht, dass wir tatenlos rumsitzen müssen. Wir sollten jeden Winkel des Bunkers erkunden und es immer wieder mit dem Radio versuchen. Wir müssen von Anfang an die Lebensmittel rationieren und alles mitprotokollieren, was wir essen. Lasst uns alles notieren, was wir unter Umständen verwenden können, wirklich alles. Stimmt ihr mir zu?«
Wir alle nickten. »Gut. Dann fangen wir jetzt mit der Liste an.«
In einer Kleiderhülle im kleinen Schlafzimmerschrank fanden wir tatsächlich mehrere Schutzanzüge, außerdem einigen weiteren Kram: mehrere T-Shirts und Shorts, einen Feuerlöscher, Rattengift und Insektenspray, weitere Reservebatterien, drei Zahnbürsten und sechs Tuben Zahnpasta unter dem Waschtisch im Badezimmer, einen ziemlich umfassend ausgestatteten Verbandskasten mit Kalium- und Jodtabletten, einen Geigerzähler, Notizblöcke und Stifte, einige DVDs und einen Stapel Bücher. Aber das Wichtigste entdeckten wir hinter mehreren Decken im oberen Fach eines Schranks: einen Revolver von Smith & Wesson mit kurzem Lauf, Kaliber 38, samt zwei Schachteln Munition.
Dan holte die Waffe herunter und brachte sie zum Tisch. Eine Weile standen wir herum und starrten sie an. Es fiel schwer, sich vorzustellen, dass wir auf einmal in einer Welt lebten, in der eine Waffe eine Notwendigkeit darstellte. Aber ich glaube, uns allen wurde letztlich klar, dass uns die Leute, die – falls überhaupt – letztlich kamen, um unsere Luke zu öffnen, unter Umständen nicht freundlich gesinnt sein könnten.
Nach einer Weile packte Dan den Revolver weg. Wir alle setzten uns an den Tisch und redeten. Wir sprachen darüber, was wir tun wollten, wenn die Welt wieder normal war, obwohl wir wussten, dass das eher unwahrscheinlich zu sein schien. Big Sue verriet uns, dass sie mit ihrer Mutter zu Dairy Queen gehen und eine ganze Ladung Erdnussbutterküchlein bestellen wollte. Tessa malte sich aus, ein großes Essen für ihre Freunde zu kochen und anschließend mit ihnen am Feuer zu sitzen und heiße Schokolade zu trinken. Jimmie – der sich mittlerweile etwas besser im Griff zu haben schien – wollte mit seinem Vater im Park gegenüber ihrer Wohnung Ball spielen. Dan hatte vor, sich mit seinem kleinen Bruder im Kino einen Actionfilm anzusehen und dabei einen Eimer voll warmem, gebuttertem Popcorn zu naschen. Ich wollte zum Vergnügungspark Six Flags, um dort Achterbahn zu fahren.
Wir alle entschieden uns für Sachen, die wir als kleine Kinder gern getan hatten. Ob das etwas zu bedeuten hatte?
Jay sagte nicht viel. Er wirkte verändert. Ich bemerkte in seinem Gesicht etwas, das mich an das Verstreichen der Zeit erinnerte, als hätte er bereits weiter vorausgedacht, während wir uns in Erinnerungen flüchteten. Ich glaube, was er in der Zukunft sah, gefiel ihm nicht.
Irgendwann später, nachdem wir die Bestandsliste erneut durchgegangen waren, sie in Kategorien untergliedert und versucht hatten, abzuschätzen, wie lange wir in diesem Loch durchhalten konnten, machten wir irgendwie alle schlapp. Ich ließ den Blick um den Tisch wandern, bemerkte glasige Augen und matte Gesichtszüge. Höchstwahrscheinlich befanden wir uns alle immer noch in einer Art Schockzustand und unsere Körper schalteten langsam ab. Mittlerweile waren wir über 24 Stunden lang mehr oder weniger wach gewesen. Alles, was wir durchgemacht hatten, überwältigte uns.
Ich schnappte mir eine Decke und ein Kissen vom Regal und nahm eines der unteren Betten in der Nähe des Schranks in Beschlag. Jimmie kletterte auf das Bett über mir, Dan und Jay quartierten sich in den Stockbetten zu meiner Rechten ein, Tessa und Sue in denen neben dem Badezimmer.
So todmüde ich mich auch fühlte, ich lag noch eine ganze Weile wach und blinzelte in die Dunkelheit, bevor ich einschlief. Danach träumte ich davon, am Rand des Wassers zu stehen und zu beobachten, wie sich der Himmel rot färbte. Nackte Menschen wateten auf mich zu. Alle, die ich kannte, befanden sich unter ihnen – Lehrer, Verwandte, Freunde, Nachbarn. Ihre Gesichter schmolzen wie weicher Lehm in einem Hochofen. Sie schrien mich an, während sich ihre Haut ablöste und sie rannten, ich aber konnte mich nicht bewegen. Ich schaute nach rechts und sah Jay und Dan, die sich gegenseitig umarmten, und das Fleisch ihrer Arme floss ineinander und fing zu qualmen an. Dann gingen sie in Flammen auf.
Ich erwachte und beobachtete, wie Jay leise vom oberen Bett neben mir herabkletterte, das Zimmer durchquerte und ins untere Bett zu Sue stieg. Es war dunkel, aber vom Licht der Laterne im anderen Raum drang genug Licht herein, um mich einzelne Konturen wahrnehmen zu lassen. Jimmie schnarchte im Bett über mir, Dan musste irgendwann aus seinem Bett geklettert sein.
Jay flüsterte etwas und schlüpfte unter die Decke. Sue fasste nach oben und zeichnete mit den Fingern ein Muster in sein Gesicht, während er sich über ihr hochstemmte. Dann beugte er sich hinab und küsste sie. Ich hörte, wie sie leise schluchzte, als er sie in der Düsternis in den Armen wiegte.
Ich musste wieder eingedöst sein. Als ich aufwachte, hockte jemand auf meiner Bettkante. Die Gestalt wirkte zu groß, um Tessa zu sein. Sue. Die anderen schliefen wieder in ihren Betten, ich konnte ihre leisen Atemgeräusche hören.
»Hast du Angst, Pete?«, fragte sie.
Ich setzte mich auf und berührte die empfindliche Haut an meinen Wangen. Sie kribbelte leicht, wie bei einem Sonnenbrand. »Natürlich. Wie könnte ich keine haben?«
»Die ganze Welt ist verrückt! Unser Leben ist zerrissen worden, und niemand kann es wieder zusammenflicken. Und wir haben uns alle einfach schlafen gelegt.«
Ich ließ erst den Blick über die verschwommenen Umrisse meiner Freunde wandern, dann sah ich Sue an. Sie wirkte so verletzlich, wie sie da saß. Das galt für alle. Krampfhaft überlegte ich, was ich sagen konnte, um sie zu trösten.
»Wir haben immer noch uns, Sue«, meinte ich. »Das ist doch auch was wert. Alles wird gut.«
Vielleicht wollte ich, dass sie mich für stark und in der Lage hielt, mit der Situation klarzukommen. Doch ich bemerkte sofort, dass ich einen Fehler gemacht hatte.
»Drauf geschissen«, zischte sie. Aus ihrem rundlichen Gesicht sprach Zorn. »Zeig mir, inwiefern alles gut wird. Zeig mir, inwiefern es dir gut geht. Glaubst du, wir warten hier einfach ein paar Tage ab, spazieren dann raus und fangen damit an, die Welt neu aufzubauen?«
»Nein, tu ich nicht«, erwiderte ich. »Tut mir leid. Ich wollte nicht, dass es so klingt, als sei nichts geschehen. Es ist nur ...«
»Alles hat sich verändert. Alles.«
Ihre Stimme schwoll einen Tick an. Irgendjemand rührte sich in einem der anderen Stockbetten. Ich streckte die Hand aus, um sie am Arm zu berühren. »Tut mir leid«, wiederholte ich. »Wir stecken in Schwierigkeiten. In großen Schwierigkeiten. Aber wir sind am Leben. Das hab ich gemeint. Wir sind am Leben.«
»Er hätte hier sein sollen«, sagte sie. »Meine Mutter hätte bei ihm sein sollen. Sie hätte zum Haus meines Großvaters fahren sollen, und dann wären sie beide hier runter in den Bunker gegangen. Ich versteh’s einfach nicht.«
»Vielleicht haben sie es nicht bis hierher geschafft, aber woanders eine Möglichkeit gefunden, sich zu verschanzen«, schlug ich vor. »Wir müssen versuchen, uns Hoffnung zu bewahren, findest du nicht?«
Sue nickte. »Ich mach mir Sorgen um Jay«, flüsterte sie. Eine Träne löste sich von einem Auge und kullerte über ihre Wange. »Wir ... treffen uns öfter. Ich weiß einige Sachen über ihn, die wichtig sind. Aber ich will ihn nicht ... hintergehen.« Sie schwenkte die Hand, als wollte sie sich etwas aus dem Gesicht wischen.
»Ich glaube, über den Punkt sind wir hinaus.«
»Seine Medikamente«, sagte sie. »Oh Gott, Pete. Was wird nur wirklich aus uns?«
Wenn man der Klassenkasper ist und das Ende der Welt einsetzt, ist man irgendwie arbeitslos. Oder doch nicht – eher wird die Aufgabe wichtiger als je zuvor ... und schwieriger. Wenn man über den Tod redet, ist der Grat zwischen heiter und anstößig so schmal wie eine Rasierklinge. Wenn man darüber nachdenkt, drehen sich einige der lustigsten Witze der Welt ums Sterben. Ein Priester, ein Rabbi und ein Anwalt kommen in den Himmel ... so was in der Art. Oder Schlimmeres. Humor stellt eine Möglichkeit dar, sich dem Schmerz ohne Angst zu stellen oder ihn so zu zerkleinern, dass wir ihn bewältigen können.
Vermutlich ignorierte ich die Anspielung auf Medikamente deshalb vorerst. Wahrscheinlich hätte ich nachhaken sollen, aber zu dem Zeitpunkt war ich weit von vernünftigen Gedanken entfernt. Außerdem: So, wie ich Sue kannte, hätte sie mir ohnehin nicht mehr verraten, bis sie den richtigen Augenblick für gekommen hielt. Sie konnte verdammt stur sein.
»Eins weiß ich mit Sicherheit«, sagte ich. »Wenn wir hier rauskommen, werden bei Walmart einige Traumjobs frei sein.«
Zuerst reagierte Sue nicht. Dann begann sie zu kichern. Es setzte leise, langsam aus dem Bauch heraus ein und schwoll von dort aus zu der Art von Lachen an, bei dem man sich mit beiden Händen die Seiten hält und sich auf dem Boden kugelt. Trotzdem blieb sie dabei ziemlich leise, doch bald steckte sie mich damit an, und wir wiegten uns beide auf dem Bett hin und her wie Idioten und krümmten uns am Ende der Welt vor Lachen.
Ist das Leben nicht großartig?
»Die Welt ist mittlerweile völlig anders. Denn der Mensch hält die Macht in seinen sterblichen Händen, jede Form menschlicher Armut und jede Form menschlichen Lebens abzuschaffen.«
– John F. Kennedy
Tage vergingen, und was soll ich sagen? Wir machten einfach weiter, beschäftigten uns. Ich rechnete damit, dass mir die Haare ausfielen oder Wundstellen an meinen Handflächen und meinem Gaumen auftauchten, und jedes Mal, wenn ich aufs Klo ging, hielt ich im Urin nach Blut Ausschau. Aber nichts geschah, und nach einer Weile begann ich zu glauben, dass ich einer besonders verheerenden Kugel rechtzeitig ausgewichen sein musste. Oder der große Boss im Himmel hatte entschieden, dass es schlimm genug war, in einem Loch unter der Erde gefangen zu sein, während um einen herum die Welt zusammenbrach und in Flammen aufging.
Allerdings dauerte es nicht lange, bis ich herausfand, dass Gott gerade erst anfing – und einen ziemlich kranken Sinn für Humor hatte.
Uns stand mit den Sachen, die wir schon zuvor getragen hatten, und dem, was wir im Schrank gefunden hatten, nur wenig Kleidung zur Verfügung, deshalb wuschen wir unsere Unterwäsche jeden Tag im Spülbecken und versuchten, uns sauber genug zu halten, um nicht zu stinken. Zumindest gab es im Badezimmer Deo und Damenbinden für die Mädchen. Es mag seltsam klingen, aber im Laufe der Zeit sprachen wir zunehmend seltener über das, womit wir konfrontiert waren. Wohl eine Form von Überlebensmechanismus. Aufgrund der Bestandsliste wussten wir, dass wir genug Lebensmittel und Wasser für mehrere Monate hatten. Den Notizen und Protokollen zufolge, die wir in einem Heft im Regal fanden, sollte der Treibstoff genügen, um die Stromversorgung genauso lang aufrechtzuerhalten – noch länger, wenn wir sparsam damit umgingen. Das Radio schalteten wir mehrmals täglich ein, doch wir bekamen nie etwas anderes als statisches Rauschen zu hören.
Fest entschlossen, so zu leben, als hätten wir es nur mit einer kleinen Unannehmlichkeit zu tun, spielten wir Karten, tranken, was wir an Bier hatten, rauchten Pot und hörten uns die CDs an, die im Regal im Schlafzimmer herumlagen. Das meiste davon erwies sich als Klassik und Jazz – Zeug, das früher niemanden von uns interessiert hatte. Zu jenem Zeitpunkt jedoch schien die Musik komplexer, tiefgründiger, bedeutungsvoller zu sein. Ich weiß nicht, wie es die anderen empfanden, aber ich begann, auf die einzelnen Instrumente jeder Aufnahme zu achten, trennte die Streich- von den Schlag- und Blasinstrumenten, bis ich jede einzelne Note isoliert hatte. Anschließend rekonstruierte ich die Musik, indem ich die Klänge nacheinander einblendete, bis die Symphonie wieder vollständig war.
Ich schätze, die Risse bei jedem von uns zeigten sich schon da, wenngleich keiner von uns aufmerksam genug war, um es zu bemerken. Natürlich unterschieden sich die Risse voneinander, je nachdem, was wir am meisten fürchteten. Sehen wir den Tatsachen ins Auge: Wir sind alle ein Produkt unserer Vergangenheit, und häufig ist es die Vergangenheit, die uns zu Fall bringt, wenn wir mit einer Krise konfrontiert werden, nicht die Krise selbst. Das trifft auf mich genauso zu wie auf jeden anderen, das weiß ich.
Vielleicht ist das auch die Erklärung für meine komische Ader: Einfühlungsvermögen. Man muss wissen, wie andere ticken, bevor man sie zum Lachen bringen kann. Aber bei Jay übersah ich die Warnsignale, und einige übersah ich auch bei Jimmie. Verdammt, ich schätze, ich habe sogar einige bei mir selbst übersehen.
Man muss sich vor Augen halten, dass wir alle gewartet haben. Warten auf Godot. Warten auf irgendein Zeichen, irgendein Wunder. Warten auf das Geräusch von jemandem, der an die Luke klopft. Was letztlich tatsächlich anklopfte, ähnelte nicht mal annähernd etwas, womit wir gerechnet hätten, sondern einem hundertfach schlimmeren Albtraum.
Es war etwas mehr als eine Woche nach dem Atomangriff, als wir das Kratzen in der Küche hörten.
An diesem Tag saß ich mit Tessa im vorderen Raum und versuchte, mich daran zu erinnern, wie sich die Sonne anfühlte. Die Wände schienen in letzter Zeit immer einengender zu werden und meine Hände und Füße hatten zu kribbeln begonnen. Das Gefühl behagte mir überhaupt nicht, deshalb bemühte ich mich, mir das exakte Gegenteil des Ortes vorzustellen, an dem wir uns befanden. Ein Himmel, der sich als endloses Blau über meinem Kopf ausbreitet, das Meer, das sich dem Firmament an einem fernen Horizont entgegenstreckt.
»Habt ihr das gehört?«, fragte Jimmie und kam aus der Küche in den Raum. Ich wusste, dass er nach Essen gekramt hatte, obwohl unsere Planung jegliches Naschen zwischen den festgelegten Mahlzeiten streng untersagte. Wir bemühten uns, mit allem möglichst lange auszukommen, und Jimmie wusste verdammt genau, dass er gegen die Regeln verstieß. Trotzdem brachte ich es nicht übers Herz, ihn darauf anzusprechen. Noch immer beherrschte die Szenerie eines Strands mit sanften Wellen und den Schreien von darüber kreisenden Möwen meine Gedanken.
Ich zeigte auf den CD-Player. »Das nennt man Musik, du Vollpfosten.« Tessa lachte.
»Sei kein Arsch, eh«, erwiderte er. »Ich dachte, ich hab in den Wänden etwas gehört. Euch ist nichts aufgefallen?«
Ich schüttelte den Kopf, Tessa auch, und insgeheim fragte ich mich, ob dies der Augenblick war, in dem er endgültig überschnappte. Trotzdem ging ich los, um die anderen zu holen, und wir versammelten uns schweigend in der Küche.
Eine Weile war nichts zu hören, dann vernahmen wir ein Geräusch, das wie ein Kauen klang. Es schien sich hinter den Schränken hin und her zu bewegen.
Wir tauschten Blicke. »Mäuse«, sagte Dan. Allerdings schienen die Geräusche dafür zu laut zu sein und ich denke, das wussten wir alle. Wir standen da und lauschten der Kreatur, die sich in den Wänden bewegte. Der Beton musste über einen halben Meter dick sein, ich glaube daher nicht, dass irgendjemand von uns wirklich besorgt darüber war, das unbekannte Wesen, was es auch sein mochte, könnte hereingelangen – jedenfalls noch nicht zu jenem Zeitpunkt. Dennoch beunruhigte uns das Geräusch von etwas anderem, das noch lebte, nach all der Zeit auf eigenartige Weise.
Schließlich schienen sich die Laute auf einen Bereich hinter dem Kühlschrank zu konzentrieren. Bald verstummten sie, als lausche die Kreatur, danach setzten sie wieder ein, eine Art zielstrebiges Kratzen.
Als versuche etwas, zu uns zu gelangen.
Ich verspürte einen Schauder. Ich sah zu Dan und er nickte. Sue legte eine Hand auf meinen Arm, als wolle sie mich aufhalten, dann ließ sie die Finger sinken.
Dan und ich übernahmen jeweils eine Seite des Kühlschranks und schoben ihn langsam, zentimeterweise, von der Wand weg. Was wir zu sehen bekamen, verschlug uns den Atem.
Hinter dem Kühlschrank befand sich eine Stahltür, eingenietet in den Beton wie der Zugang zu einer Schleuse.
»Was um alles in der Welt ist das?«, fragte Jimmie. Seine Stimme klang angespannt und erstickt, was mir gar nicht gefiel. Der Aufenthalt in diesem Bunker hatte ihn verändert. Er war schon immer ein nervöser Typ gewesen, allmählich jedoch machte er den Eindruck, als sei er nicht ganz richtig im Kopf, als spielten sich hinter diesen Augen Gedanken ab, die uns alle zum Schreien bringen würden, wenn er sie laut aussprach. Wie gesagt, erste Risse zeigten sich, und ich wünschte mittlerweile innig, ich hätte damals stärker darauf geachtet. Vielleicht wäre alles ganz genauso gekommen, vielleicht aber auch nicht.
»Mein Großvater muss wohl einen weiteren Zugang eingerichtet haben, der vom Haus herführt«, meinte Big Sue hinter uns. »Ein Tunnel. Den hat er vor allen geheim gehalten. Ich weiß, wie er ist. Das sähe ihm absolut ähnlich.« Ihre Augen leuchteten. »Kann gut sein, dass er das ist – dieses Geräusch, meine ich. Er ist verletzt und will rein.« Sie sah uns alle an, und ich konnte beobachten, wie Hoffnung in ihr aufkeimte.
Jay schüttelte den Kopf. »Sue ...«
»Nein, hör mal«, fiel sie ihm ins Wort. »Es ist doch möglich, oder? Er hat die ersten Explosionen überlebt, wurde aber verletzt. Er hat es zwar in den Tunnel, aber nicht bis zu dieser Tür geschafft. Bis jetzt.«
Niemand erwiderte darauf etwas. Ich meine, es war verrückt. Es gab unzählige Gründe, warum das hinter der Tür nicht Sues Großvater sein konnte. Selbst wenn er die mehrfachen Einschläge der Atomsprengköpfe überlebt hätte – es blieb die Frage, wo er unverseuchte Lebensmittel und Wasser aufgetrieben hatte und weshalb so viele Tage ohne jedes Geräusch vergangen waren.
Und außerdem: Wenn es sich um ihn handelte, warum öffnete er die Tür dann nicht einfach?
Wir hörten das Kratzen erneut. Es schien ganz aus der Nähe zu kommen. Ich ergriff einen an der Wand befestigten Feuerlöscher, brachte ihn wie eine Keule in Anschlag und kam mir wie ein Idiot vor. Wir alle beobachteten die Tür. Einen Moment lang Stille, dann ein dumpfes Klopfen, und schließlich bewegte sich der Griff leicht, als befände sich auf der anderen Seite jemand, der versuchte, ob die Tür verriegelt war.
»Opa?«, fragte Sue. Dan forderte sie auf, still zu sein, doch sie war darüber hinaus, auf ihn zu hören. »Opa!«, brüllte sie und drängte sich an uns vorbei. »Hörst du mich?« Sie hämmerte gegen die Tür. »Wir sind hier drin!«
Sue streckte die Hand nach dem Griff aus.
Die nächsten Sekunden liefen wie in Zeitlupe ab. Ich hörte, wie der Griff klickte, dann folgte ein leises Sog-Geräusch, als die Versiegelung der Tür brach. Jemand schrie, und Jay stürzte auf Sue zu, doch es war zu spät.
Die Tür schwang nach außen auf und offenbarte einen schmalen Betongang. Gleichzeitig schien überraschend viel Licht von Neonleuchten an einer abgehängten Decke herein, und kurz darauf nahmen wir in einem leichten Luftzug den ekelhaft süßlichen Gestank von Fäulnis wahr.
Etwa sechs Meter entfernt lag der Körper eines Mannes im Gang auf dem Boden.
Er lag auf dem Bauch, trug ein schwarzes T-Shirt und Jeans, beides durchtränkt von Verwesungsflüssigkeit. Der Körper war aufgedunsen wie ein violetter Ballon. Ein Arm wies in unsere Richtung, als habe er ihn nach Hilfe ausgestreckt. An der geschwollenen Hand prangten mehrere abgebrochene Fingernägel.
Sein Gesicht fehlte. Das war mein erster Eindruck, als ich ihn betrachtete. Ich konnte weiße Knochen und Knorpel erkennen, dort, wo sich Nase und Augen hätten befinden sollen. Es sah aus, als hätte etwas an ihm genagt und sich ordentlich den Bauch vollgeschlagen, bevor es das Interesse verlor und sich auf das nächste Opfer stürzte.
Als wir alle schweigend und entsetzt auf den Leichnam starrten, bewegte sich am Rand meines Blickfelds etwas, doch als ich zu der Stelle schaute, war es verschwunden, worum auch immer es sich gehandelt haben mochte.
Hätte ich klarer gedacht, wäre mir womöglich die Frage durch den Kopf gegangen, was genau diese Kratzlaute verursacht und was um alles in der Welt den Griff der Tür bewegt hatte. Ich hätte wenigstens irgendetwas gesagt, eine Mahnung zur Vorsicht ausgesprochen, wäre da nicht plötzlich der Aufschrei von Sue gekommen. Sie rannte in den Tunnel. Ich griff nach ihrem Arm und verfehlte ihn. Dan reagierte schneller als ich, und bevor ich mich in Bewegung setzen konnte, stürmte er hinter ihr her. Sie schaffte höchstens fünf Schritte, bevor er die Arme um ihre Mitte schlang und sie zurückhielt.
Was gut war, denn noch bevor ich Sue seinen Namen kreischen hörte, wusste ich, dass es sich bei dem Toten um ihren Großvater handelte – ich hatte ihn auch ohne Gesicht erkannt. Mir schoss die Vorstellung durch den Kopf, wie sie jenen stinkenden, schleimigen Kopf zwischen die Hände nahm, und ich hätte mich am liebsten auf der Stelle übergeben. Was immer ihm zugestoßen sein mochte, es stand fest, dass ihm niemand mehr helfen konnte. Doch Sue hätte in jenem Augenblick nichts davon hören wollen.
Ich trat ebenfalls hinaus in den Gang, dicht gefolgt von Tessa, und so unmöglich es klingt, ich glaubte zu sehen, wie eines der Beine von Sues Großvater zuckte.
Dann griffen sie an.
Es geschah blitzschnell. Im einen Moment waren wir allein, im nächsten wimmelte es unmittelbar hinter dem Leichnam im Tunnel von Ratten.
Zumindest erschien es mir so. Wahrscheinlich waren es mindestens 30. Riesige Mistviecher etwa von der Größe kleiner Katzen, das Fell verfilzt und an einigen Stellen ausgedünnt, sodass gräulich rosafarbene Haut durchschimmerte.
Ich wusste nicht, woher sie kamen oder wie sie so plötzlich aus dem Nichts auftauchen konnten. Sue kreischte immer noch, setzte sich gegen Dans Griff zur Wehr, und so stark er sein mochte, sie hatte sich schon beinahe befreit. Ich glaube, weder sie noch er hatten die Kreaturen bis dahin bemerkt. Ich brüllte ihnen etwas zu, dann drehte ich mich um und wollte in den Bunker zurückkehren, musste jedoch feststellen, dass eines der Mistviecher seitlich an uns vorbeigehuscht war und nun auf den Hinterbeinen in der offenen Tür stand und die fauligen Zähne bleckte.
Großer Gott. Die Kreatur hopste in dieser Haltung tatsächlich einen Schritt auf uns zu. Ich schob Tessa hinter mich, zückte den Feuerlöscher wie eine Waffe, schaute zurück und sah, wie ein ganzes Bataillon – das ging mir damals durch den Kopf, denn sie wirkten wie Hunderte kleiner Tiersoldaten – vorrückte, um Sue und Dan zu umzingeln und mir den Rückweg abzuschneiden.
Wir alle erstarrten. Sie verhielten sich so verdammt ruhig. Beim Anblick der Kreaturen, die sich auf diese Weise bewegten, wäre ich fast übergeschnappt. Mein Magen krampfte sich zusammen, meine Beine begannen zu zittern. Wie sich diese Biester gebärdeten – so etwas hatte ich noch nie erlebt. Eine Ratte ist schlimm genug, 30 sind noch schlimmer; aber zu beobachten, wie alle 30 sich so verhielten, als hätten sie einen Plan, der vorsah, einen in Hackfleisch zu verwandeln – das genügte, um in jedem ausgewachsenen Mann den Wunsch zu wecken, kreischend wie ein kleines Mädchen die Flucht zu ergreifen.
Ich spähte zur offenen Tür und erkannte Jimmie, der gleich dahinter im Bunker stand. Jay befand sich unmittelbar hinter ihm. Einen Lidschlag lang sah ich ihm in die Augen und erkannte die reine, nackte Angst darin, bevor er die Tür zuschwang. Ich hörte ein Klicken, als die Verriegelung einrastete.
»Du Arschloch!«, fluchte Dan hinter mir. Ich drehte mich zu ihm um. Er hatte gesehen, was Jimmie getan hatte, und sein Gesicht war vor Wut hochrot angelaufen. Sue hatte mittlerweile zu schreien aufgehört, allerdings nicht, weil sie sich beruhigt hatte – vielmehr hatte sie die Ratten bemerkt. Stocksteif stand sie mitten im Gang, rührte keinen Muskel, starrte mit großen Augen auf die Kreaturen, die sich langsam auf uns zubewegten. Das vorderste Tier befand sich weniger als anderthalb Meter von ihrem Bein entfernt und ich merkte ihr an, dass sie kurz davor stand, Reißaus zu nehmen.
Dan fiel es auch auf. »Bleibt alle ruhig«, ermahnte er uns mit leiser Stimme. »Macht keine plötzlichen Bewegungen. Die sind nur hungrig.«
»Genau das jagt mir Angst ein«, gab ich zurück.
Tessa presste sich mit dem Rücken gegen mich. Sie fasste nach unten und packte meine freie Hand mit schraubstockartigem Griff. Ich schaute zurück zu der Ratte, die sich am nächsten an der Bunkertür befand. Sie war zurück auf alle viere gesunken und hatte den Abstand zwischen uns halbiert. Ich hätte den Fuß ausstrecken und sie damit anstupsen können.
»Sehen wir für euch etwa wie Essen aus?«, brummte ich und wich einige Schritte zurück, bis ich nahe genug bei Sue und Dan stand, um die beiden zu berühren.
»Hör auf damit, Pete«, forderte Dan mich auf. »Die könnten irgendeine Seuche haben.«
»Sie sind riesig!«, stieß Sue mit schriller, zittriger Stimme aus. »Bitte tu was.«
Als der eigentliche Angriff einsetzte, bewegten sich die Ratten so schnell und zielstrebig, es ließ sich kaum glauben. Mehrere der größten Tiere brachen aus den Rängen aus und huschten an den Rändern des Gangs entlang, ließen uns instinktiv näher zusammenrücken, während die Mitte der Meute wie eine Welle zurückschwappte und unsere Aufmerksamkeit für den Bruchteil einer Sekunde fesselte. Ich begriff nicht, was sie vorhatten, bis ich Bewegung über uns wahrnahm. Da wurde mir klar, dass noch mehr von ihnen in den Zwischenraum über der abgehängten Decke gekrochen waren.
Wir waren wie Schafe zu einer engen Gruppe zusammengetrieben und anschließend lang genug abgelenkt worden, damit einige der Ratten sich in Position bringen konnten.
»Dan?«, stieß ich hervor. »Ich glaube ...«
Eine Deckenplatte über unseren Köpfen krachte nach unten, gefolgt von einem halben Dutzend pelziger, zuckender Körper mit glitschigen Schwänzen. Sue kreischte und duckte sich. Ich schwang den Feuerlöscher wie eine Keule und schlug eine Ratte weg, aber es gestaltete sich schwierig, ungehindert auszuholen, weil Dan, Sue und Tessa so dicht neben mir standen. Zwei der Viecher prallten von meiner Schulter ab und fielen zu Boden, wo sie sich sofort wieder aufrappelten. Dan schlug nach weiteren herabfallenden Kreaturen, packte eine, die in seinen Haaren gelandet war, und knallte sie gegen die Wand. Die Ratte klatschte dagegen, rutschte daran nach unten und ließ eine blutige Spur zurück.
Einer anderen war es gelungen, sich hinten an Sues T-Shirt festzukrallen, und ich hätte sie instinktiv beinahe mit dem Feuerlöscher geschlagen, bevor ich es mir rechtzeitig anders überlegte. Stattdessen streckte ich den Schlauch vor und drückte den Hebel, doch nichts geschah.
Dan brüllte etwas und fegte das Viech von ihrem Rücken. Gleichzeitig spürte ich weitere Ratten an meinen Füßen. Ich blickte hinab. Die anderen Vierbeiner rückten mittlerweile von allen Seiten an, der Boden präsentierte sich als brodelnder, wuselnder Teppich aus Fell, Klauen und Zähnen.
Ich stapfte auf zwei der Kreaturen und konnte fühlen, wie Knochen brachen und weiche innere Organe wie Wasserballons zerplatzten, dann trat ich nach weiteren. Ich spürte, wie ich in völlige Panik verfiel. Adrenalin schoss durch meinen Körper wie ein elektrischer Schlag.
Der Geruch, der von den Nagern ausging, erinnerte an Abwasser mit verwesendem Fleisch, und sie waren überall. Ich würgte, als mir der Mief in die Nasenflügel stieg und meine Augen tränen ließ.
»Lasst euch von ihnen nicht ins Stolpern bringen!«, rief Dan. »Sie haben’s auf die Beine abgesehen. Wenn wir zu Boden gehen, sind wir erledigt!« Sue und er traten und stampften auf weitere der Mistviecher, und auch Tessa erwischte einige, aber es strömten immer mehr heran und nahmen ihren Platz ein. Die Ratten waren unerbittlich. Ich sah, wie ein riesiges Exemplar über die Rücken der anderen hinwegsprang und sich an Dans rechtes Hosenbein heftete, bevor er sie davon losriss und in den Gang warf.
Als ich beobachtete, wie sie aufprallte und sich rasch wieder berappelte, fiel mir noch etwas auf: Rings um uns bewegten sich die Ratten, die wir zertrampelt hatten ... nach wie vor. Allerdings versuchten sie nicht zu entkommen. Sie bewegten sich tatsächlich zielstrebig auf uns zu – trotz gebrochener Knochen und zerquetschter Organe hatten sie es weiter auf uns abgesehen.
Der Stift. Ich hatte vergessen, dass ich den Stift aus dem Feuerlöscher ziehen musste, bevor er funktionierte. Hastig packte ich den gelben Ring und riss ihn heraus, dann streckte ich erneut den Schlauch vor und drückte den Hebel.
Diesmal bedeckte ein wilder Strahl aus weißem Nebel und Schaum die Rücken der Ratten auf dem Boden. Ich zielte sorgfältiger und drückte den Hebel abermals, und der Strahl schleuderte einige Tiere ein Stück zurück, bremste sie aus. Ich trat an die geräumte Stelle und feuerte in weitem Bogen kurze, konzentrierte Stöße mitten in ihre kleinen Rattengesichter ab, jedenfalls in so viele, wie ich treffen konnte.
Das verschaffte uns Manövrierraum, um von dem Loch in der Decke wegzukommen. Ich schaute nach oben und sah, dass sich weitere Ratten darauf vorbereiteten, auf uns herabzuspringen. Ich verpasste den kleinen Monstern mit dem Schlauch einen Strahl, um sie zurückzudrängen, bevor ich eine Schneise zurück zur Bunkertür sprühte. »Bleibt hinter mir«, rief ich den anderen zu. »Und macht schnell.«
Es war, als hätten die verfluchten Kreaturen mich gehört. Sie stürmten mit neuem Nachdruck heran wie eine Armee pelziger kleiner Roboter, die nur ein konzentriertes Ziel hatte. An der Art, wie sie sich bewegten, kam mir noch etwas seltsam vor, doch zu dem Zeitpunkt konnte ich es nicht näher zuordnen. Mittlerweile hatten wir vermutlich die Hälfte der ursprünglichen Meute zertrampelt, aber aus dem Nichts schienen immer weitere Angreifer aufzutauchen. Ich spürte, dass wir sie uns nicht mehr lange vom Leib halten konnten.
Ich ließ Sue und Tessa vorangehen, drehte mich um und besprühte die Ratten erneut. Dan trat und stampfte neben mir, hielt uns die Viecher vom Leib, während Sue gegen die Tür hämmerte. »Macht auf!«, brüllte sie. »Bitte!«
Ich konnte mir nur ausmalen, was für ein Kampf sich drinnen wahrscheinlich zwischen Jimmie und Jay abspielte. Ich wusste, Jay würde Sue nicht hier draußen lassen, aber was, wenn Jimmie ihm etwas angetan hatte? War das wirklich so ein abwegiger Gedanke? Immerhin hatte er uns ausgesperrt, um seinen Arsch zu retten. Schien mir nicht weit hergeholt zu sein, sich vorzustellen, dass er Jay mit einem Besenstiel eins übergebraten hatte.
Dann hörte ich, wie sich die Tür öffnete und Tessa ein erleichtertes Wimmern ausstieß. Ich schaute zurück. Jay packte Sue am T-Shirt und zerrte sie in den Raum zurück. Sein Gesicht war verschwitzt, die Brille saß schief auf seiner Nase. Von Jimmie fehlte jede Spur.
»Los«, sagte Dan. Er versetzte der nächsten Ratte einen wilden Tritt, dann wichen wir zurück, wobei ich immer noch Schaum versprühte, bis wir hineinhuschten und die Tür zuwarfen.
Schlagartig war es vorbei. Abrupt umfing uns Stille. Ich sackte gegen den verschlossenen Durchgang. Meine Brust hob und senkte sich wie wild, Tränen ließen meine Sicht verschwimmen. Meine Beine zitterten so heftig, dass ich auf den Boden hinabglitt. Ich legte den Kopf in die Hände, starrte auf die Klumpen aus Fell und Blut, die meine Schuhe verschmierten, und verspürte den Drang, mich auf der Stelle zu übergeben.
Bevor wir in diesem Loch gelandet waren, hatte ich mich in meinem Leben nur einmal so gefühlt, und das wollte ich nie wieder durchmachen. Allerdings beschlich mich der unangenehme Eindruck, dass ich keine andere Wahl hatte. Schon bald.
»Herr im Himmel, Herr im Himmel ...«, presste Big Sue schluchzend hervor, immer und immer wieder.
»Geht’s allen gut?«, fragte Dan. »Sue? Bist du verletzt? Haben sie dich gebissen?«
Ich schaute auf, als Sue den Kopf schüttelte. Tränen liefen ihr übers Gesicht. »Ich ... ich bin in Ordnung«, antwortete sie.
Tessa lächelte mich matt an. »Ich auch«, sagte sie. »Aber ich glaube, den Ratten geht es nicht so gut wie uns.«
Als ich das hörte, dachte ich, mein Herz müsse zerspringen. Ich wusste, dass sie tapfer war, doch in jenem Augenblick wirkte sie mir fast zu ruhig. Ich fragte mich, was ich je vollbracht hatte, um sie zu verdienen. Und ich fragte mich, was sich noch hinter ihrer supercoolen Fassade verbergen mochte.
»Pete? Was ist mit dir?«
»Ich ... alles klar«, erwiderte ich knapp. Ich vertraute meiner Stimme zu wenig, um noch etwas hinzuzufügen.
»Gut. Also, wo zum Teufel ist er?«, wollte Dan von Jay wissen. »Ich bring ihn um.«