Copyright © 2012 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien
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Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien
Datenkonvertierung E-Book: Nakadake, Wien
ISBN 978-3-7117-5103-4
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Die große Resonanz, die der Vortrag des berühmten deutschen Soziologen Prof. Dr. René König am 2. April 1987 im Wiener Rathaus bei einem sehr großen Publikum hatte, inspirierte die Idee einer Vorlesungsreihe im Rathaus zu den großen Problemen und Überlebensfragen der Menschen am Ausgang des 20. Jahrhunderts.
Das Konzept der Wiener Vorlesungen ist klar und prägnant: Prominente Denkerinnen und Denker stellen ihre Analysen und Einschätzungen zur Entstehung und zur Bewältigung der brisanten Probleme der Gegenwart zur Diskussion. Die Wiener Vorlesungen skizzieren nun seit Anfang 1987 vor einem immer noch wachsenden Publikum in dichter Folge ein facettenreiches Bild der gesellschaftlichen und geistigen Situation der Zeit. Das Faszinierende an diesem Projekt ist, dass es immer wieder gelingt, für Vorlesungen, die anspruchsvolle Analysen liefern, ein sehr großes Publikum zu gewinnen, das nicht nur zuhört, sondern auch mitdiskutiert. Das Wiener Rathaus, Ort der kommunalpolitischen Willensbildung und der Stadtverwaltung, verwandelt bei den Wiener Vorlesungen seine Identität von einem Haus der Politik und Verwaltung zu einer Stadtuniversität. Das Publikum kommt aus allen Segmenten der Stadtbevölkerung; fast durchwegs kommen sehr viele Zuhörer aus dem Bereich der Universitäten und Hochschulen; das Wichtige an diesem Projekt ist jedoch, dass auch sehr viele Wienerinnen und Wiener zu den Vorträgen kommen, die sonst an wissenschaftlichen Veranstaltungen nicht teilnehmen. Sie kommen, weil sie sich mit dem Rathaus als dem Ort ihrer Angelegenheiten identifizieren, und sie verstärken durch ihre Anwesenheit den demokratischen Charakter des Hauses.
Es ist immer wieder gelungen, Referentinnen und Referenten im Nobelpreisrang zu gewinnen, die ihre Wissenschaft und ihr Metier durch die Fähigkeit bereichert haben, Klischees zu zerschlagen und weit über die Grenzen ihres Faches hinauszusehen. Das Besondere an den Wiener Vorlesungen liegt vor allem aber auch in dem dichten Netz freundschaftlicher Bande, das die Stadt zu einem wachsenden Kreis von bedeutenden Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Forschung in aller Welt knüpft. Die Vortragenden kamen und kommen aus allen Kontinenten, Ländern und Regionen der Welt, und die Stadt Wien schafft mit der Einladung prominenter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eine kontinuierliche Einbindung der Stadt in die weltweite »scientific community«. Für die Planung und Koordination der Wiener Vorlesungen war es stets ein besonderes Anliegen, diese freundschaftlichen Kontakte zu knüpfen, zu entwickeln und zu pflegen.
Das Anliegen der Wiener Vorlesungen war und ist eine Schärfung des Blicks auf die Differenziertheit und Widersprüchlichkeit der Wirklichkeit. Sie vertreten die Auffassung, dass Kritik ein integraler Bestandteil der Aufgabe der Wissenschaft ist. Eine genaue Sicht auf Probleme im Medium fundierter und innovativer wissenschaftlicher Analysen dämpft die Emotionen, zeigt neue Wege auf und bildet somit eine wichtige Grundlage für eine humane Welt heute und morgen. Das Publikum macht das Wiener Rathaus durch seine Teilnahme an den Wiener Vorlesungen und den anschließenden Diskussionen zum Ort einer kompetenten Auseinandersetzung mit den brennenden Fragen der Gegenwart, und es trägt zur Verbreitung jenes Virus bei, das für ein gutes politisches Klima verantwortlich ist.
Fernand Braudel hat mit dem Blick auf die unterschiedlichen Zeitdimensionen von Geschichte drei durch Dauer und Dynamik voneinander verschiedene Ebenen beschrieben: »L’histoire naturelle«, das ist jener Bereich der Ereignisse, der den Rhythmen und Veränderungen der Natur folgt und sehr lange dauernde und in der Regel flache Entwicklungskurven aufweist. »L’histoire sociale«, das ist der Bereich der sozialen Strukturen und Entwicklungen, der Mentalitäten, Symbole und Gesten. Die Entwicklungen in diesem Bereich dauern im Vergleich zu einem Menschenleben viel länger; sie haben im Hinblick auf unseren Zeitbegriff eine »longue durée«. Und schließlich sieht er in der »histoire événementielle« den Bereich der sich rasch wandelnden Ereignisoberfläche des politischen Lebens.
Die Wiener Vorlesungen analysieren mit dem Wissen um diese unterschiedlichen zeitlichen Bedingungshorizonte der Gegenwart die wichtigen Probleme, die wir heute für morgen bewältigen müssen. Wir sind uns bewusst, dass die Wirklichkeit der Menschen aus materiellen und diskursiven Elementen besteht, die durch Wechselwirkungsverhältnisse miteinander verbunden sind. Die Wiener Vorlesungen thematisieren die gegenwärtigen Verhältnisse als Fakten und als Diskurse. Sie analysieren, bewerten und bilanzieren, befähigen zur Stellungnahme und geben Impulse für weiterführende Diskussionen.
Hubert Christian Ehalt
Vorwort
Einleitung
Die Autorin
Aleida Assmann hat bei den Wiener Vorlesungen einen wichtigen Vortrag zur europäischen Gedächtniskultur gehalten, der zentrale Diskussionsfelder und -stränge auf Konsistenz und Widersprüchlichkeit untersucht. Assmann überprüft, wie im zusammenwachsenden Europa, in dem ständig, oft sehr formalistisch, über gemeinsame Wirtschafts- und Bildungspolitik diskutiert wird, nationale und gemeinsame Geschichte gegenwärtig bewahrt, vergessen, verdrängt, zelebriert und bisweilen bereits dialogisch erinnert, kompatibel und anschlussfähig gemacht wird. Der Text Aleida Assmanns, aus dem eine ausgezeichnete Kenntnis der aktuellen geschichtspolitischen und geschichtstheoretischen Debatten im Kontext der europäischen Nationalstaaten und im transnationalen Raum herausleuchtet, berichtet konkret und präzise über gelungene, aber auch bis dato versäumte Anstrengungen, Geschichte wesentlich auch mit dem Blick auf das eigene (Mit-)Verschulden zu reflektieren, aufzuarbeiten und in der Öffentlichkeit zur Diskussion zu stellen. Assmann entwickelt ihre Argumentation in vier Gedankenschritten.
Anknüpfend an Überlegungen, die der Althistoriker Christian Meier in seinem 2010 erschienenen Buch Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns anstellt, geht sie zuerst der Frage und der althistorisch belegten These Meiers nach, dass die Erinnerung an vergangene Gräuel stets auch destruktive Energien der Rache und des Hasses in Gang bringt. Vergessen aber schafft ein Moratorium und Raum für die Entfaltung von etwas Neuem, Raum für friedliches Zusammenleben. Eine deutliche und einseitige Fokussierung auf vergangenes Unrecht und vergangene Gewalt trägt in sich die Gefahr, dass der Wunsch entsteht, vergangene Gewalt mit neuer Gewalt zu rächen und »auszugleichen«.
In der Tat hat Europa sein Friedensprojekt nach 1945 jedenfalls auf politischer Ebene zunächst auf Vergessen gegründet. Winston Churchill, Charles de Gaulle und Konrad Adenauer waren sich, wie Assmann ausführt, in diesem Punkt jedenfalls einig.
Vergessen ist Funktion und Prinzip des individuellen Gedächtnisses, das die Masse von Ereignissen und Erlebnissen nur durch ein Vergessen bewältigen kann, das häufig Verdrängen ist. Vergessen und Verdrängen ist und wirkt individuell und kollektiv in höchstem Maß ambivalent. Es schafft die Möglichkeit zu überleben und zu leben, weil das Grauenhafte zurückgedrängt wird. Der »Erfolg« des Vergessens/Verdrängens ist jedoch nur temporär und für die Individuen und Kulturen ein sehr dünner Humus für Selbstbewusstsein und Identität. Traumata müssen bearbeitet werden, wenn sich nicht alles wiederholen soll.