Buchstaben von Feuer
Picus

IVAN IVANJI

Buchstaben von Feuer

Copyright © 2011 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien
Alle Rechte vorbehalten
Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien
Umschlagabbildung: © Horst Mahr/www.buenosdias.at
Datenkonvertierung E-Book: Nakadake, Wien
ISBN 978-3-7117-5010-5
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt

Informationen über das aktuelle Programm
des Picus Verlags und Veranstaltungen unter
www.picus.at

IVAN IVANJI

Buchstaben
von Feuer

ROMAN

PICUS VERLAG WIEN

Inhalt

Auf dem Dach der Ruine

Der junge Wahrlich

Die Republik

Gotha

Bauhaus

Fisch oder Fleisch

Dessau

Jedem das Seine

Freiheit?

999

Marmor

Bis dass der Tod uns scheidet

Gespenster aller Länder vereinigt euch

Nachwort

[7]Auf dem Dach der Ruine

Die Fürst-Milosch-Straße in Belgrad beginnt im Zentrum der Stadt, dort, wo der Parlamentspalast und der Palast der Hauptpost einander nachbarlich betrachten, schneidet danach die zentrale Straße, die oft ihren Namen gewechselt hat – König-Milan-Straße, Marschall-Tito-Straße, Straße der serbischen Herrscher und dann wieder König-Milan-Straße –, und führt zum Autobahnkreuz, von wo aus man Richtung Norden nach Budapest und Wien, Richtung Westen nach Zagreb oder Richtung Südosten nach Bulgarien oder Griechenland weiterfahren kann. Auf den fünf Spuren drängen sich die teuersten Mercedes Sechshunderter, sogar Maybachs oder bullige, auf Hochglanz polierte Geländewagen, wie sie die hiesigen Neureichen und Mafiosi lieben, mit mehrere Jahrzehnte alten Autowracks, deren keuchende Motoren und verrostetes Blech nur die außerordentliche Geschicklichkeit der serbischen Mechaniker zusammenhält.

Es geht vorbei am Außenministerium und dem Sitz des serbischen Ministerpräsidenten. Nicht selten wird hier der Verkehr stundenlang angehalten, weil einige Hundert verelendeter Arbeiter wegen irgendetwas protestieren, zum Beispiel, weil sie nach der Privatisierung ihres Unternehmens ohnehin auf der Straße stehen. Obwohl sie arbeitslos sind, nennen sie diese Versammlungen Streiks, sonst würde niemand sie beachten. Die Polizei schaut zu. Es wäre sicher nicht schwierig, mit einem einzigen Wasserwerfer oder etwas Tränengas die Leute zu vertreiben, aber nach dem Fall des Diktators Slobodan Milošević vor elf Jahren gilt hartes Eingreifen der Ordnungsmacht als peinlich. Also stauen sich die Fahrzeuge manchmal stundenlang. Wegen der Hitze im Sommer oder dem Frost im Winter [8]werden die Menschen ohnehin bald wieder auseinandergehen, oder es werden so wenige bleiben, dass sie den Verkehr nicht weiter behindern.

Den beiden Regierungspalästen gegenüber stehen als ausgebrannte Ruinen das frühere Bundesverteidigungsministerium Jugoslawiens und der Generalstab. Ausländischen Touristen werden diese zerbombten Hochhäuser als Attraktionen gezeigt – so wie die Gedächtniskirche Berlin-Besuchern.

Nur wenige Hundert Meter weiter befinden sich die Botschaften der USA, Deutschlands, Kanadas, Polens, Kroatiens, Albaniens … Und dann kommt auf Nummer 92 der Fürst-Milosch-Straße, kurz vor der Auffahrt zum Autobahnknoten, das ehemalige Bundesinnenministerium. Zwei Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es als Machtzentrale des neuen Staates von deutschen Kriegsgefangenen gebaut.

In der Nacht vom 2. auf den 3. April 1999 wurde dieses Gebäude von amerikanischen Marschflugkörpern zielgenau getroffen und zerstört. Tote oder Verletzte waren nicht zu beklagen. Obwohl in der Nacht zuvor in den Büros noch fieberhaft gearbeitet worden war, war das Haus zur Zeit des Angriffs leer. Hatten serbische Spione aus Brüssel gemeldet, welche Ziele wann angegriffen würden? Oder, was für wahrscheinlicher gehalten wird, war der Wink von den Angreifern gekommen, weil nur ein Zeichen gesetzt, aber keine Menschen getötet werden sollten?

Heute sieht das ehemalige Ministerium nicht einfach wie ein riesengroßer Trümmerhaufen aus, sondern wie ein durchlöchertes Prunkgebäude im Stil der großen Bauwerke des stalinistischen Sozialistischen Realismus, etwa der Lomonosow-Universität in Moskau oder der Häuser in der Karl-Marx-Allee in Berlin. Zuckerbäckerstil haben das ironische Bürger genannt. Die westwärts gerichtete Fassade in Naturstein ist gut erhalten, nur die glaslosen Fenster gähnen in die Gegend.

Statiker behaupten, die Grundmauern könnten eine Restaurierung aushalten, so stark seien sie gar nicht beschädigt worden, [9]weil die Bomben nicht senkrecht vom Himmel herunterfielen, sondern seitwärts einschlugen, ein Wiederaufbau sei möglich, und die israelische Firma Plaza-Centers hat das Grundstück und den Bau im jetzigen Zustand in der Absicht erworben, ein Fünf-Sterne-Hotel mit hunderttausend Quadratmetern Nutzfläche auf vielen Etagen und einem Turm, das »Plaza Belgrad«, zu errichten. Es liegt so günstig, dass es als Portal der Stadt Belgrad schon aus großer Ferne sichtbar sein soll.

Aus den vorbeirasenden Autos kann man es nicht sehen, aber aufmerksame Fußgänger haben verwundert bemerkt, dass im Sommer, elf Jahre nach dem Krieg der NATO gegen Serbien, auf einem Teil des heil gebliebenen Daches des einst Angst einflößenden Gebäudes ein Baum grünt. Es ist unmöglich, genau festzustellen, welcher Art er ist. Eine Linde? Und wenn ja, wie ist sie dort hinaufgekommen? Hat der Wind einen Samen hinaufgetragen, aber auch genug Erde, damit die Pflanze Wurzeln schlagen kann? Regenwasser hat es die letzten Jahre genug gegeben. Es müsste ein Blatt vom Wind auf die Straße hinuntergewirbelt werden, um die Baumart feststellen zu können, denn der betörende Duft einer Linde allein im Juni von so hoch oben könnte gegen den Gestank der von schlechtem Benzin angetriebenen Autos nicht zur Geltung kommen.

Auf dem Dach der Ruine, im Schatten des Baumes, wacht der vor mehr als neun Jahren verstorbene Siegfried Wahrlich aus Weimar in Deutschland auf, versteht nichts, am allerwenigsten wo er sich befindet und wie er herkommen ist, und wundert sich sehr. Es kostet ihn Mühe und dauert ein wenig, bis er sich an seinen Tod erinnert, aber irgendwie fühlt er, dass er Zeit hat, außer Zeit gar nichts mehr besitzt.

Spukt es dort oben?

Nach und nach setzt sich aus Fetzen der Erinnerung ein Bild zusammen. Siegfried Wahrlich war auf den Ettersberg bei Weimar hinaufgefahren, um noch einmal im Leben einen Blick auf sein ehemaliges Konzentrationslager zu werfen. Das war [10]im Sommer nach seinem achtzigsten Geburtstag. Dann erlitt er einen Schwindelanfall und starb. Damals, auf dem Appellplatz von Buchenwald, war er mit dem Gesicht zur Erde gelegen, jetzt jedoch lag er auf seinem Rücken ausgestreckt und starrte auf die schon gelblich keimenden Blätter eines Lindenbaums auf einer Ruine in der Hauptstadt Serbiens. Plötzlich begriff er, wo er war, ohne zu wissen, wieso er das wusste.

Für seine Enkelin musste sein Tod auf dem Ettersberg ein großer Schock gewesen sein. Vergeblich strengte er sich an, im Augenblick konnte er sich an nichts Weiteres erinnern. Noch nicht. Vielleicht, weil er ja gleich danach schon tot gewesen war. Aber logisch denken konnte er jetzt wieder. Sie wird geschrien haben, jemand wird gelaufen gekommen sein, Sanitäter, Rettungswagen … Ein angemessenes Begräbnis. Sicher mit dem Buchenwaldlied: »… Denn einmal kommt der Tag, dann sind wir frei.«

Siegfried Wahrlich versucht aufzustehen. Es gelingt. Er schaut an sich hinab. Das, was an seinem mageren Körper schlottert, ist die Uniform der Wehrmacht, die sandgelbe Uniform des Afrikakorps, in der er 1944 gefangen genommen worden war. Als er starb, war er mindestens zwanzig Kilo schwerer gewesen und hatte einen dunkelblauen Zweireiher angehabt, mit dem er sonst ins Theater ging, Gerda hatte ihn geneckt, weil er sich für diesen Spaziergang, wie sie es nannte, so feierlich angezogen hatte. Er hatte nicht gewusst, dass er sich für die Begegnung mit seinem Tod vorbereitete.

Jetzt, oben auf dem Dach des ehemaligen Ministeriums, an dessen Errichtung er beteiligt gewesen war, zögert er mit den ersten Schritten, fühlt sich unsicher, aber er kann sich ganz gut bewegen, tritt an den Rand des Daches der Ruine und schaut hinunter auf die Straße, auf das Autobahnkreuz, wirft den Blick nach rechts, sieht aber nur Dächer und den Rangierbahnhof. Er weiß jedoch, dahinter befindet sich der silbrige Streifen der Save, der sich bis zu seiner Mündung in die Donau erstreckt.

[11]Von den beiden großen Strömen her kommen drei Möwen angeflogen, schwirren ganz nahe an seinem Kopf vorbei, als existierte er gar nicht, es scheint sogar, als flöge eine von ihnen durch seine Brust hindurch, aber es tut überhaupt nicht weh, und die Vögel ziehen kreischend weiter.

»Keine Angst, ich werde es dir erklären müssen, aber nicht alles auf einmal …«

Ist da eine Gestalt neben ihm? Eher etwas wie eine Nebelschwade. Aber wie hat sich die an einem helllichten Augusttag so säulenartig auf dem Dach einer Belgrader Ruine zusammengebraut?

»Übrigens soll ich dich von Franz grüßen …«

»Von unserem Franz?«

»Ja. Man hat eine Ausstellung über ihn in Weimar eröffnet. Du stimmst mir doch zu, dass er das verdient hat.«

Siegfried Wahrlich weiß nicht, was er sagen soll, man kann die Fragen jedoch an seinem Gesicht ablesen, sodass die Gestalt fortfährt zu erklären: »Das hat die Gedenkstätte Buchenwald mitorganisiert, verstehst du?«

»Nein. Hat man mich dabei erwähnt?«

»Tut mir leid. Mit keinem einzigen Wort.«

»Ich war doch immer mit dabei … Und wer bist du?«

»Ich habe dir schon gesagt, immer mit der Ruhe, nach und nach werde ich dir alles erklären, aber nicht zu plötzlich. Das ginge auch gar nicht …«

»Ich habe gefragt wer du bist!«, beharrt Siegfried Wahrlich.

»Gut, ich sage es dir, du wirst es ohnehin nicht verstehen. Ich bin der Aschenmensch von Buchenwald.«

[12]Der junge Wahrlich

Siegfried Wahrlich wurde in der Neujahrsnacht 1908 in Weimar geboren, war also nur einige Tage jünger als Franz Ehrlich, der im Unterschied zu ihm eine dokumentarisch nachweisbare Person gewesen ist und von dem ebenfalls noch viel zu sagen sein wird. Es muss jedoch, um Verwechslungen und andere Irrtümer zu vermeiden, gleich betont werden, dass diese beiden fast gleichaltrigen Bauhäusler – obwohl sie befreundet waren, teilweise gemeinsame Wege gingen, manchmal zusammenarbeiteten und ein nicht ganz unähnliches Schicksal hatten – keineswegs identisch sind.

Siegfrieds Vater, Walter, war Hilfskellner im Hotel »Elephant«. Als die Wehen bei seiner Frau eintraten, schickte die besorgte Hebamme einen Nachbarsjungen, den Michael Gutmann, ins Restaurant, Walter solle unbedingt sofort zu seiner Frau kommen, aber Oberkellner Klement wollte ihn auf keinen Fall gehen lassen, mehrere andere Gehilfen hatten sich rechtzeitig freigenommen und feierten Silvester mit ihren Familien zu Hause, es mangelte ohnehin an Personal, das Restaurant war vor allem mit Stammgästen, Herrschaften von auswärts und auch mit Offizieren, die fröhlich champagnisierten, sehr gut besetzt.

»Wenn Sie jetzt gehen, Wahrlich, brauchen Sie überhaupt nicht mehr zu kommen!«

Als Walter am frühen Morgen endlich nach Hause gehen durfte, war seine Frau schon verblutet und lag gewaschen und leicht geschminkt im frisch bezogenen Ehebett, das Kind jedoch schrie in den Armen der Geburtshelferin kräftig und es erwies sich, dass es gesund war. Die Nachbarin, die Witwe Gutmann, drückte ihr herzlichstes Beileid aus und bot jede notwendige Hilfe an.

[13]Die Tatsache, dass Walter Wahrlich wegen seines Dienstes im Gasthof nicht am Sterbebett seiner jungen Frau hatte sein dürfen, löste bei seinen Vorgesetzten eine gewisse Verlegenheit aus, sogar der Herr Direktor, Paul Leutert, der sich gerne schlicht als Gastwirt ansprechen ließ, freilich nur von den verehrten Gästen, sicher nicht vom Personal, erfuhr von der traurigen Geschichte und murmelte etwas von tief empfundener Anteilnahme, das brachte Walter Wahrlich eine merkliche Gehaltserhöhung und über die Jahre hinweg sogar eine Vorzugsbehandlung ein. Er wurde endlich Kellner mit seinem eigenen Revier, die Trinkgelder steckte allerdings auch weiterhin Herr Klement, der Oberkellner, ein.

Als alleinerziehender Vater und auch weil sich die Hoteldirektion für ihn einsetzte, weil die Herren Offiziere auf Urlaub das Anrecht hatten, richtig bedient zu werden – man könne einem Haus diesen Ranges doch nicht einfach alle guten Leute wegnehmen –, wurde er vom Militärdienst freigestellt und musste nicht einmal in den Krieg ziehen. Direktor Leutert beeilte sich seinerseits dem Vaterland zu dienen, was bedeutete, dass er jetzt in Uniform nach dem Rechten sehen konnte.

Am ersten Schultag fiel der Junge mit seinem blonden Schopf dem Schulmeister auf: »Siegfried Wahrlich!«

Er stand auf, hielt sich gerade, sah dem Erwachsenen direkt ins Gesicht.

»Jawohl Herr Lehrer!«

»Stramm! Brav! Guter Name! Was ist der Vater? Deutschnationaler?«

»Nein. Kellner beim ›Elephanten‹.«

Brüllendes Gelächter. Die Spielkameraden hänselten:

»Mensch, Siegfried, du schaust aber gar nicht wie ein Drachentöter aus!«

Das duldete er nicht. Mit seinem harten Kopf rannte er, anstatt sich mit den Fäusten zu schlagen, auf andere Jungen los, [14]Kopf schlug auf Kopf, Stirn auf Stirn. Fast immer war er der Größere und entwickelte einen besonderen Kopfschlag mit der Stirn, von oben nach unten. Der Gegner trug empfindliche Beulen davon, Wahrlichs Schädel schien jedem Schlag, jedem Zusammenstoß gewachsen zu sein. Wenn er aufgrund seines Alters doch einmal kleiner an Wuchs als sein Gegner war, sprang er trotzdem so, dass er den Größeren und Stärkeren damit manchmal sogar zu Boden warf. Den Sohn eines Kaufmanns, Klaus, traf er so kräftig, dass er blutig zusammensackte und, nachdem er sich aufgerappelt hatte, weinend nach Hause lief. Bald darauf erschien der Herr Papa und fragte: »Hast du meinem Klaus den Kopf eingeschlagen?«

Siegfried schaute den Erwachsenen unerschrocken fest in die Augen: »Wir haben nur die Stirne aneinandergehauen und er hat den Kürzeren gezogen!«

»Und warum?«

»Er hat gesagt, dass ich nicht wie ein Drachentöter ausschaue!«

»Willst das du denn?« Der Kaufmann musste lachen. »Schämst du dich nicht, Klaus? Sei keine Heulsuse, sondern balge dich richtig!« Dann wandte er sich an Wahrlich. »Mit diesem Blondkopf kannst du durchaus noch ein braver deutscher Held werden, mein Junge!«

Danach redeten die Schulkameraden Siegfried Wahrlich für alle Fälle mit seinem Nachnamen an.

»Warum hast du mir keinen anderen Namen gegeben?«, unterstand er sich erst zehnjährig, als die geschlagenen deutschen Truppen von allen Fronten des Weltkriegs zurückkehrten, seinen früh ergrauten Vater zu fragen.

»Das ist doch ein wunderschöner deutscher Name. Er gefällt mir. So heißt du und damit basta!«

Kellner Walter hatte nicht wieder geheiratet. Sein Sohn war stets anständig und sauber gekleidet und hatte auch während der schlimmsten Kriegszeit einigermaßen gut zu essen, weil das [15]Hotel versorgt wurde und die Bediensteten etwas nach Hause mitnehmen durften oder ohne Erlaubnis einfach mitnahmen. Die Einschränkung der Lebensmittelrationierung bemerkten die Wahrlichs kaum, andere sprachen vom Kohlrüben-Winter und Hunger, die Kinder in der Schule beklagten sich und Siegfried war es ein wenig peinlich, dass er mehr zu essen bekam als so manche Kameraden, die sich bis vor Kurzem viel mehr hatten leisten könne, weil ihre Väter reich waren. Es wurden Schulbrote verteilt, aber was sich Marmelade nannte, bestand größtenteils aus dem Saft roter Rüben. Siegfried wusste, was er Walters Dienst im Hotel zu verdanken hatte, eine enge Beziehung zwischen Vater und Sohn entstand jedoch nie.

Walter Wahrlich war ein schweigsamer Mensch. Märchen erzählen konnte die Nachbarin, aber viel Zeit hatte sie auch nicht. Allerdings durfte Siegfried durch den Hintereingang ins Hotel kommen und wurde verwöhnt. Mit den Handwerkern, die oft etwas zu reparieren hatten, freundete er sich mehr an, als es ihm mit seinem eigenen Vater je gelang: Er ging Installateuren, Tischlern, Glasern und Elektrikern zur Hand, wurde wegen seiner Geschicklichkeit, Folgsamkeit und seinem Fleiß gelobt und war bald auch zu Hause in ihrer bescheidenen Wohnung, auch bei der Nachbarschaft von Nutzen. Früh verdiente er sich sein erstes kleines Taschengeld. Was er von Gott und der Welt zu halten hatte, erfuhr er aus den Gesprächen dieser Handwerker.

Siegfried erinnerte sich später nicht mehr, wann er begriffen hatte, dass er ohne Mutter aufwachsen musste. Halbwaise nannte sich das. Das war kein schönes Wort, kein freundlicher Begriff. Doch er vermisste nicht nur eine Mutter. Andere Kinder hatten beide Elternteile, meistens aber auch zwei Omas, zwei Opas, Tanten und Onkel, Cousins – er hatte niemanden. Da es von Anfang an, seit er sich erinnern konnte, so gewesen war, wunderte ihn das nicht. So war es nun einmal. Nur Nachbarinnen und vor allem Frau Gutmann, deren Sohn viel älter war und inzwischen in Dresden arbeitete, kümmerten sich um ihn [16]und um die Wohnung. Erst nachdem Siegfried eingeschult worden war, merkte er, dass die meisten anderen Väter im Krieg – man sagte auch: »zu den Fahnen geeilt« – waren, manche in Uniform zu Besuch kamen, andere überhaupt nicht. Nie mehr. Dann weinten die Söhne.

Die Welle der Begeisterung am Anfang des Krieges ergriff auch ihn, er lief zum Bahnhof, um das Verladen von Pferden und Fahrzeugen, die »ins Feld« gebracht werden sollten, zu bestaunen, merkte sich die Namen der Feldherren, die ehrfürchtig geflüstert wurden, Schulkameraden sammelten Postkarten mit den Bildern der Helden.

An die »Vorkriegszeit« – immer wieder hörte er dieses Wort, ohne mit ihm wirklich etwas anfangen zu können – erinnerte er sich kaum. Militärkapellen hatten damals aufgespielt. Bunte Uniformen waren immer öfter auf den Straßen zu sehen gewesen. Die Jungen hantierten mit Spielzeuggewehren und Säbeln und versuchten dazu ernste Gesichter zu schneiden. Man sang: »Wenn die Soldaten durch die Stadt marschieren …«

Einmal flog ein Zeppelin über die Stadt.

Aber seine karierte Bettwäsche war vor und während des Krieges dieselbe, die mit Schmalz beschmierten Brote dieselben. Und die Jahreszeiten waren auch im Krieg, wie sie wohl im Frieden gewesen waren, zum einen die Winter sehr kalt, er zog sich über seinen eigenen, einzigen, zerfransten Pullover eine Wollweste seines Vaters an, zum anderen die Sommer heiß, dafür konnte man in der Ilm baden.

Was versteht man als Zehnjähriger von der Welt? Man merkt sich Namen, man hegt Sympathien. Siegfried vertraute vor allem dem wortkargen Tischler, Herrn Paul, mit seinem großen grauen, hochgezwirbelten Schnurrbart, fühlte sich wohl, wenn er vom alten Glaser, Herrn Karl, geneckt wurde und hatte vor Herrn Klement Angst, weil sich augenscheinlich auch sein Vater vor ihm fürchtete. Herr Klement, der Oberkellner, war für ihn eine Respektsperson, weil er sich stets im Frack zeigte, vor [17]allem aber war er wegen seiner herrischen Gebärden kaum von den Gästen des Hotels zu unterscheiden, die ohnehin aus einer anderen Welt stammten. Dass sich sein Vater ihnen gegenüber unterwürfig benahm, bemerkte der Junge sehr früh und es war ihm peinlich, denn die Handwerkermeister mussten sich keineswegs so verhalten. Sie waren meist ältere Männer, die jüngeren waren alle im Krieg. Es gab kein große Konkurrenz unter ihnen in Weimar, das Hotel wäre ohne sie nicht ausgekommen, deshalb konnten sie es sich leisten, selbstsicher aufzutreten.

Seltsam, dass er sich kaum an weibliche Personen erinnerte. Die dicke Hotelköchin war ihm unangenehm, wenn sie ihn mit verschwitztem Gesicht auf die Wange küsste, obwohl sie ihm an dem unzugänglichen Chefkoch vorbei manche Leckerbissen zusteckte. Das Küchenmädchen, Lena, nur drei, vier Jahre älter als er, schmatzte ihm auf die Wange, da wurde er ganz rot, die Zimmermädchen ärgerten ihn, weil sie ihn in den Arm oder sogar in den Hintern zwickten, ihr unverständliches Kichern reizte ihn, ohne dass er begriff warum. Ja, und die Nachbarin, Frau Gutmann, die ihn und Vater gerne betreute, verlor seine Zuneigung, weil sie immer wieder seufzte:

»Armes Kind, ich war es, die deiner lieben Mutter beistand, bis sie starb, als sie dich gebar … Ich habe ihr das Blut vom Leib abgewaschen, sie frisch gekleidet, während dein Vater in diesem verfluchten Hotel schuftete …«

Kriegsweihnachten. Walter Wahrlich brachte aus dem Hotel etwas Gänsebraten und Rotkohl nach Hause. Man hatte in der Hotelküche die Reste aus den Tellern, die aus dem Restaurant zurückgekommen waren, säuberlich erst neu sortiert und dann ziemlich appetitlich zu neuen Portionen für das Personal arrangiert.

Für große Aufregung hatte mehr als vier Jahre zuvor der Beginn der richtigen Luftfahrt mit der Erfindung des Grafen Zeppelin gesorgt. Der Schullehrer hielt einen Vortrag über die Überlegenheit der deutschen Technik, des deutschen Geistes [18]»ohnegleichen auf dieser Welt«. Siegfried Wahrlich zweifelte an allem, was der Lehrer sagte, selbst dass die Erde angeblich rund war, kam ihm verdächtig vor, genährt wurde sein Eigensinn jedoch erst, als er zuhörte, wie sich Glasermeister Karl und Oberkellner Klement stritten. War der Krieg schon ausgebrochen oder lag er noch in der Luft? Jedenfalls hatte es einen Krawall im Restaurant gegeben, eines der großen Fenster war zu Bruch gegangen, Siegfried half Meister Karl, weil er schon ganz gut darin war Kitt vorzubereiten. Klement sah zu, als müsste er die Arbeit beaufsichtigen, und da sich Karl überhaupt nicht um ihn kümmerte, begann er über Zeppeline zu sprechen, als wüsste er auch über dieses Thema mehr als alle anderen.

»Ein Marineoffizier hat erzählt, für unser Heer und die Flotte würden Dutzende dieser Luftschiffe gebaut und schon deshalb seien wir unschlagbar!«

»Ihre Luftschiffe purzeln beim ersten starken Wind ganz von allein vom Himmel und gehen in Flammen auf, da braucht es keine Feindberührung«, unterbrach ihn der Meister. »Machen Sie Platz, Oberkellner, Sie stören nur mit Ihrem Geschwafel!«

Siegfried freute sich und merkte sich das Wort. Geschwafel! Das konnte man auch im Streit mit Schulkameraden genauso oft sagen wie Quatsch! War alles, was man bald über den Krieg zu hören bekam, Geschwafel, Quatsch? Was noch?

Tagesberichte über das Kriegsgeschehen, Listen der für Kaiser und Vaterland gefallenen Männer wurden angeschlagen. Zahlen der getöteten oder gefangenen Feinde. Man konnte das alles am nächsten Tag auch in den Zeitungen lesen, aber man drängte sich vor den Plakaten und freute sich:

»Gute Nachrichten von der Ostfront, sehr gute!«

Hindenburg und Ludendorff waren in aller Munde. »Heil dir im Siegerkranz«, »Es braust ein Ruf wie Donnerhall«, »Lieb Vaterland magst ruhig sein«, »Deutschland, Deutschland über alles«. Geschwafel? Wortgeklingel … Irgendwie reimte sich auch »Morgenrot« mit »frühem Tod«. Auf alles konnte man ein [19]Wort sagen, von dem er nicht so genau wusste, was es bedeutete: Quatsch! Siegfried Wahrlich sang mit. Musste er? Niemand zwang ihn. Er tat es gerne, dachte weder an die Bedeutung der Worte – Vaterland, Donnerhall, Deutschland – noch an die mitsingenden Schulkameraden und Bürger. Teil sein eines Ganzen. Es war traurig, aber er fühlte sich auch erhaben dabei. Die Melodien begleiteten ihn sein Leben lang, später allerdings, als er schon wusste, wer Circe und wer Odysseus gewesen waren, schämte er sich ein wenig, dass er sich hatte bezirzen lassen. Aber er war ja erst zehn Jahre alt gewesen …

In welchem Alter beginnen Kindheitserinnerungen? Das ist verschieden. Es gibt Menschen, die behaupten, sie erinnerten sich an Erlebnisse, die stattfanden, als sie erst zwei Jahre alt waren. Aber man kann nicht sicher sein, ob sie nicht einiges, was man ihnen oft erzählt hat, irrtümlich als bewusst selbst erlebt bezeichnen. Das könnte auch mit Melodien so sein, Märchen, Rhythmen. Vielleicht auch mit Düften, dem Geschmack eines Leckerbissens oder der Bitterkeit von Lebertran. Als der Weltkrieg, den man später den Ersten nennen würde, begann, war Siegfried Wahrlich immerhin schon fast sieben Jahre alt, aber als er schon bewusster Kriegsgegner geworden war – freilich ohne je dieses Wort gebraucht oder nur gedacht zu haben –, war er sich seiner damaligen eigenen Gefühle unsicher.

Zu seinem zehnten Geburtstag bekam Siegfried zum ersten Mal lange Hosen aus gutem schwarzen Stoff. Es war genug von den Fräcken für die Kellner übrig geblieben.

»Jetzt bist du schon ein kleiner Mann, Sohn! Lerne fleißig, sei brav und ich werde stolz auf dich sein. Und auch deine gute Mutter im Jenseits!«

»Jawohl, Papa!« Was konnte man anderes sagen? Und dann fügte Walter noch nachdenklich hinzu: »Der Krieg ist ja zu Ende gegangen und wir sind am Leben … Aber allmählich werden wir uns Gedanken darüber machen müssen, was du so im Leben werden willst …«

[20]Michael Gutmann, der Sohn der Nachbarin, kam im Sommer 1918 aus dem Krieg. Er hatte einen Arm verloren. Bis zu seiner Einberufung hatte er in der Druckerei der Dresdner Zeitung gearbeitet. Bemerkenswert, dass die Offensive, im Laufe derer der junge Mann Arm, Zukunft und Lebenssinn verloren hatte, so hieß wie er: Operation Michael. Es war die erste von fünf Offensiven irgendwo in Frankreich. Der junge Gutmann wies mit dem Zeigefinger der linken Hand auf die Landkarte, auf den Ort Bapaume, nahe der belgischen Grenze.

»Da war es! Den Namen dieser Stadt werde ich nie vergessen! Nichts von ihr habe ich gesehen, ich war in einem Stoßtrupp und es herrschte dichter Morgennebel. Aber wir haben es ihnen heimgezahlt!« Es klang, als sei das französische Städtchen wegen seines verlorenen Armes der Erde gleich gemacht worden. »Wir haben neunzigtausend Gefangene gemacht und zwölfhundert Geschütze erobert. Ist das nicht einen Arm wert, Leute?«

Nach einigen Monaten erhängte er sich in Dresden in einer Kammer, die er nicht mehr hatte bezahlen können. Das eiserne Kreuz zweiter Klasse hatte er sich an seine braun karierte Ziviljacke gesteckt. Die Zeitung hatte ihn nicht einmal als Nachtportier wieder einstellen wollen. »Tut uns sehr leid, Herr Gutmann, es ist keine Stelle frei, und ihretwegen können wir niemanden entlassen …« Oder war es eine Frauengeschichte, die ihn in den Tod trieb? Wie er mit der linken Hand allein die Schlinge gebunden hatte, konnte niemand verstehen. Bald danach starb auch seine Mutter.

Walter Wahrlich weinte die ganze Nacht. Siegfried wunderte sich. Er war alt genug sich zu fragen, ob zwischen seinem Vater und Frau Gutmann mehr gewesen war als gute Nachbarschaft. Sie war um einiges älter gewesen … Früher hatte er nie darüber nachgedacht.

Im Hotel »Elephant«, so wie möglicherweise überall in Deutsch­land, [21]war im Laufe des Krieges auf einer übergroßen, in der Diele aufgehängten Landkarte mit kleinen Fähnchen täglich der Vormarsch gezeigt worden, waren Berichte über die Riesenkanone an die Wand geschlagen. Da hatte Siegfried Geografie gelernt, nicht in der Schule.

Die beiden allerletzten Offensiven der Frühlingsschlachten im letztem Kriegsjahr zeigten keine nennenswerte Wirkung mehr und brachten nur wenige Kilometer neueroberten Raum. Nachdem klar geworden war, dass die Deutschen die Stadt Amiens hundertfünfzehn Kilometer vor Paris nicht erobern konnten, ließ Herr Leutert die Karte abhängen. Niemand fragte mehr nach ihr. Und zumindest laut fragte niemand, warum er keine Uniform mehr trug.

Als man im »Elephanten« noch über die deutschen Siege gejubelt hatte, war auch ein Admiral in der aufgeregt-fröhlichen Gesellschaft erschienen, die von Walter Wahrlich bedient wurde. Eigentlich war er gar kein Admiral, so nannte man ihn nur, er war lediglich Kapitän zur See auf kurzem Familienbesuch, aber hochdekoriert, und so lauschte jedermann seinen strategischen Ausführungen und politischen Schlüssen: »Die endgültige Wende werden nur wir, die deutschen Seeleute, bringen. Russland ist geschlagen, wir können uns mit aller Kraft dem Sieg im Westen widmen. Die Parisgeschütze sind Wunderwaffen … Was die Flotte damit zu tun hat? Ich bitte Sie, meine Herren, mit solchen Kanonen können die vom Heer gar nicht umgehen! Wir haben schon seit Langem auf unseren Schiffen die stärkeren Kaliber. Natürlich werden die Parisgeschütze – ja, ja, ich habe es in der Mehrzahl gesagt, drei davon sind im Einsatz – von Matrosen bedient!«

Siegfried saß auf einem Hocker in der Ecke des Raumes hinter der Hotelküche, wo sich das Personal kurz ausruhen konnte – die Handwerker waren, auch wenn sie nichts im Hotel zu tun hatten, anwesend, weil es hier immer noch Bohnenkaffe gab, Apoldaer Bier sowieso –, putzte leise das ihm vom Installateur [22]anvertraute Werkzeug und hörte zu, wie sein Vater den Kollegen über das Gespräch mit dem »Admiral« berichtete.

Hier hörte er auch zum ersten Mal die Namen Lenin und Trotzki, erfuhr, dass in einem Ort, der Brest Litowsk hieß, ein Friedensvertrag zwischen Deutschland und dem jetzt sowjetischen Russland abgeschlossen worden war, der den deutschen Truppen die Möglichkeit gab, mit allen Kräften im Westen zuzuschlagen. Die Runde war geteilter Meinung.

»Am Ende werden die Kommunisten siegen, keine Sorge, Leute, dann übernehmen wir auch dieses Hotel!«, sagte Meister Karl.

»Sind Sie denn einer?«, fragte Oberkellner Klement entsetzt.

»Wenn ich einer wäre, würde ich das doch nicht ausgerechnet Ihnen auf die Nase binden!«

»Na, ja …«, Klement zuckte ein wenig zurück. »Wenn sich Herrschaften wie Prinz Leopold von Bayern und Graf Czernin mit solchen Leuten an einen Tisch setzen, wird Deutschland dabei schon seine Vorteile sehen.«

»Sie sind sehr gut unterrichtet, Klement!«

»Man hört so einiges im Restaurant.«

Die endgültige Wende, oder zumindest ihr Anfang, kam dann tatsächlich von der Flotte, aber nicht so, wie es der Kapitän im »Elephanten« versprochen hatte. Die Truppen waren kriegsmüde, die Bevölkerung enttäuscht, niemand konnte sich gesteigerte Leiden in noch einem Kriegswinter vorstellen, aber die deutsche Marineleitung in Kiel unter Admiral Franz von Hipper wollte das Ruder herumreißen, wie in schwerem Sturm, und Kaiser und Reich doch noch den Sieg bescheren. Sein Flottenbefehl vom 24. Oktober, der die Kriegsschiffe zu einer letzten Schlacht gegen die Royal Navy in den Ärmelkanal dirigierte, löste zunächst eine Meuterei unter den betroffenen Matrosen und dann eine allgemeine Revolution aus, die in wenigen Tagen die Monarchie beseitigte.

Kurt Linke war vor dem Krieg Hilfskoch im »Elephanten« [23]gewesen, er stammte aus einem Dorf in der Umgebung, zum Kriegsdienst eingezogen, wurde er Smutje auf dem Schlachtschiff »SMS Thüringen«. Bereits während seines ersten Urlaubs erklärte er, dass er nicht nur für alle Mahlzeiten, sondern auch für den Einkauf der Lebensmittel zuständig war, viel gelernt hatte und jetzt hoffte, nach dem Krieg eine gute Stelle in einem Hotel zu bekommen oder sogar ein eigenes Wirtshaus zu erwerben.

»Da müsste ich nur die Richtige heiraten, die genug an Mitgift mitbringt …«

»Viel Glück!«, meinte Tischlermeister Paul. »Nach dem Krieg wird es sicher genug reiche Witwen für dich geben, du siehst ja passabel aus, achte nur darauf, am Leben zu bleiben …«

Im November kam Kurt in einer Art Räuberzivil heil aus Kiel zurück in seine Heimat, besuchte zuerst kurz seine Eltern und berichtete gleich danach der Runde in den Hinterräumen des »Elephanten« über seine Erlebnisse. Die »Thüringen«, 1909 getauft vom in Weimar residierenden Großherzog Wilhelm Ernst von Sachsen-Weimar-Eisenach, hatte an der Schlacht von Skagerrak teilgenommen und später den britischen Panzerkreuzer »Black Prince« versenkt.

»Was ich dabei gemacht habe? Nichts. Ich war in meiner Kombüse, wartete ruhigere Augenblicke ab, um Tee oder Kaffee zu kochen, und zitterte. Wären wir untergegangen, hätte ich mich bestimmt nicht retten können. Wie sich das Artilleriefeuer in einer Kombüse mit Stahlwänden anhört, könnt ihr euch bestimmt nicht vorstellen …«

Dank Kurt erfuhr die Runde im Untergeschoß des »Elephanten« über den Kieler Matrosenaufstand mehr als in den Zeitungen zu lesen war.

Der begann auf der Schillig-Reede bei Wilhelmshafen, wo die deutsche Hochseeflotte vor Anker gegangen war. Im Physik­unterricht hatte man gelernt, dass es zu einer Explosion kommt, [24]wenn man entweder auf irgendetwas Explosives draufschlägt oder es anzündet. Erst viel später würde man erfahren, dass es auch zu schrecklichen Zündungen kommen kann, wenn sich eine kritische Masse bildet. Dann braucht es nicht einmal den sprichwörtlichen Funken. In Kiel ballte sich die kritische Masse der Erwartung und Ungeduld, der Empörung bis zur Tobsucht, zum Entschluss, spontan zu handeln, in der Nacht vom 29. zum 30. Oktober zusammen. Auf drei Schiffen des III. Geschwaders verweigerten die Seeleute den Gehorsam, auf den beiden Schlachtschiffen des I. Geschwaders, »Helgoland« und »Thüringen«, gingen Teile der Besatzung zu offener Meuterei über.

»Was ich gemacht habe?« Kurt legte unwillkürlich die Hand aufs Herz. »Na, was soll ich gemacht haben? Gar nichts. Ich bin in meiner Kombüse geblieben …«

Da sich die Marineleitung des Gehorsams der Mannschaften nicht mehr sicher war, ließ sie den Schlachtplan fallen. Wusste sie denn nicht, dass der Krieg längst verloren war? Manchmal mag man nicht so bald zugeben, wovon man eigentlich schon Gewissheit haben sollte. Jedenfalls wurde die Flotte zurück nach Kiel beordert. Obwohl dieses Manöver anstandslos durchgeführt wurde, ließ Vizeadmiral Kraft während der Fahrt siebenundvierzig Matrosen verhaften, die er für Rädelsführer hielt.

Ein neues Auslaufen wurde verhindert. Etwa zweihundertfünfzig Matrosen und Heizer stellten in Kiel Kontakt zu den Gewerkschaften und den sozialistischen Parteien USPD und SPD her. Die Polizei umstellte die Zentrale der Gewerkschaften, aber am nächsten Tag versammelten sich nicht mehr Hunderte, sondern Tausende Menschen. Die Losung lautete: »Frieden und Brot«. Man forderte die Freilassung der Meuterer, ganz besonders aber eine gerechtere Lebensmittelverteilung und »Schluss mit dem Krieg!« So zog man zum Gefängnis, um die verhafteten Kameraden zu befreien. Auf die Demonstranten wurde geschossen, aber aus der Menge auch zurückgeschossen, die [25]demonstrierenden Matrosen waren ja ebenfalls bewaffnet. Es gab auf beiden Seiten Tote und Verwundete.

»Und du, Kurt? Wieder in deiner Kombüse gesessen?«

»Nein, nein, ich war dabei, jetzt schon, aber, ehrlich gesagt, nicht in den ersten Reihen …«

»Wer hat euch angeführt?«

»Niemand.«

»Aber jemand wird doch als Erster gerufen haben: Auf und los!«

»Mag sein …« Kurt Linke wirkte jetzt nachdenklich. »Nun, ich habe keine Aufrufe oder Befehle gehört … Ich habe mich, wie gesagt, lange zurückgehalten, aber dann bin ich eben den Kameraden gefolgt. Man brüllt halt mit, wenn alle brüllen. Das taten wir, glaube ich, alle.«

Es war eine der ersten politischen Aussagen, wenn nicht sogar Weisheiten, die sich der kleine Wahrlich merkte: Man brüllt halt mit, wenn alle brüllen.

Der Protest verwandelte sich in den allgemeinen Aufstand in Deutschland. Soldaten des Heeres aus der großen Kasernenanlage im Norden der Stadt schlossen sich den meuternden Seeleuten an. Der erste Soldatenrat wurde gewählt, die öffentlichen und militärischen Einrichtungen in Kiel gerieten unter Kontrolle der Arbeiter und Soldaten. Der Gouverneur der Marinebasis sah sich gezwungen zu verhandeln und die inhaftierten Matrosen freizulassen. Als entgegen seiner Abmachung mit einem der Anführer, dem Matrosen Karl Arelt, auswärtige Truppen zur Niederschlagung der Bewegung anrückten, stellten sich ihnen die Meuterer entgegen, worauf die herbeigerufenen Soldaten entweder umkehrten oder sich sogar der Aufstandsbewegung anschlossen. Damit war Kiel am 4. November fest in der Hand von etwa vierzigtausend revoltierenden Matrosen, Soldaten und Arbeitern.

»Kennst du diesen Arelt?«

»Nicht direkt, aber man hat viel über ihn gesprochen. Der [26]ist aus Magdeburg, war vor dem Krieg Heizer im Ostasiengeschwader, sogar in China, sagt man, Pumpenfachmann, hat in Kiel in der Werft für Torpedoboote gearbeitet.«

»Und du?«, fragten mehrere auf einmal.

»Ich? Ihr kennt mich ja … Ich habe mich aus dem Staub gemacht«, sagte Kurt und fügte nachdenklich hinzu. »Ich wusste ja nicht, wie es weitergehen würde. Wissen wir ja immer noch nicht. Ich habe mich nicht entscheiden können. Ich wollte endlich nach Hause!«

»Recht so!«, sagte Herr Karl schnell.

»Und die Ehre?«, fragte Herr Klement nach einer kurzen Pause.

Siegfried Wahrlich beobachtete aus seiner Ecke die Erwachsenen. Die meisten zuckten die Achseln, es war die gleiche Geste bei allen, als hätten sie sich verabredet, auf ein Kommando dasselbe zu tun. Sein Vater auch. Nicht einmal Oberkellner Klement schien zu einer anderen Stellungnahme fähig. Dieses Achselzucken wurde für den Knaben und viel später für den jungen Mann zu einem Schlüsselerlebnis für die Entwicklung, die er an diesem frühen Nachmittag hinter der Küche des Hotels »Elephant« zu beobachten und bald auch, wie er glaubte, zu verstehen begann.