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Picus

Walter Kohl

Das leere Land

Copyright © 2011 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien
Alle Rechte vorbehalten
Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien
Umschlagabbildung: © OÖ. Werbung/Popp
Datenkonvertierung E-Book: Nakadake, Wien
ISBN 978-3-7117-5041-9
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt

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des Picus Verlags und Veranstaltungen unter
www.picus.at

Walter Kohl

Das leere Land

Roman

Picus Verlag Wien

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

you could have it all,

my empire of dirt

Trent Reznor

failure is no success …

Shabatai Ziesel ben Avraham

[9]1

In einem Dorf, nicht weit entfernt von der Donau im westlichen Oberösterreich, steht mein Name auf einem Kriegerdenkmal. Ich weiche dem Friedhof, auf dem sich dieses Denkmal gegen die dem Wetter abgewandte Seite der Kirche lehnt, beharrlich aus, seit Jahrzehnten schon, wenn ich ehrlich bin. Ich will meinen Namen nicht lesen, in altertümlicher Schrift in einen verwitternden Stein gemeißelt. Noch immer kann ich die Anlage genau beschreiben. Und kann die Namen aufzählen. Kaineder, Kehrer, Kogler kommen vor meinem, dann Kornbichler und Lehner. Alles Namen von Familien, deren Kinder mit mir die Volksschule im Dorf besucht haben und in den paar Kindheitssommern durch die Donauauen gestreift sind. In zwei Reihen stehen die Namen, siebenunddreißig sind es, neben jedem finden sich das Geburtsjahr, das Todesjahr und ein meist sehr fremd klingender Ortsname. Es sind die Orte, an denen die Betreffenden gestorben sind. Die Geburtsjahre fast alle zwischen 1920 und 1925, die Todesjahre ausnahmslos zwischen 1941 und 1945. Über der Namensliste steht, in annähernd doppelt so großen Lettern: Sie starben für unsere Freiheit. Darüber ein Helm aus Stein, gebettet in ein Büschel steinernes Welklaub, wahrscheinlich Eiche.

Der Mann mit meinem Namen auf der Liste ist laut Inschrift 1945 in Detmold gestorben. Es sei der Juni 1945 gewesen, hat man mir als Kind erzählt. Niemand konnte mir sagen, wo Detmold war. Nur der Volksschuldirektor sprach einmal vom Teutoburger Wald und vom Arminiusdenkmal, das sich in der unmittelbaren Umgebung von Detmold finde. Keiner im Dorf schien zu verstehen, wovon der Direktor sprach, zumindest war dies mein Eindruck als Kind. Einmal, bei einem Friedhofsbesuch zu Allerheiligen, habe ich meine Verwandten gefragt, warum der [10]Mann, der meinen Namen trägt, in dem allen unbekannten Detmold für unsere Freiheit gestorben ist. Niemand hat mir geantwortet.

[11]2

Mishi Bizhi sprang aus den Stauden, die in jenem Teil der Bundesstraße zwischen Schlögener Schlinge und Engelhartszell, wo die südliche Hälfte des Saurüssel-Massivs ganz nahe an die Donau rückt, einen schmalen Streifen zwischen Flussufer und Asphalt bilden, zwei Meter breit, manchmal drei, höchstens fünf.

Mishi Bizhi, das ist der Wasserluchs.

Mishi Bizhi schnellte geschmeidig fast bis zum Mittelstreifen, rutschte ein wenig auf dem feuchten Asphalt, geriet in den Scheinwerferkegel meines Autos, erschrak, duckte sich flach zum Matsch auf dem Boden.

Wasserluchs lebt in den Großen Seen der Anishinaabe und beschützt alles Lebendige, das nicht zur Welt neben der Welt gehört. Nanabozho hat die Welt der Menschen erschaffen, diese Welt, danach wurde ihm langweilig, danach begann er seine Geschöpfe mit Streichen zu necken, um sich die Zeit zu vertreiben. Nanabozho ist der Große Hase, der Schöpfer und der Quäler seiner Schöpfung. Mishi Bizhi steigt aus den Wassern, wenn es notwendig ist, und schützt die, die sich Die Menschen nennen.

Bist du mein Schutz, Mishi Bizhi aus Oberösterreichs Gewässern? Die Frage blitzte durch mein Hirn, während ich versuchte, den Mietwagen zum Stehen zu bringen, ohne das Wesen mit den kalten Augen zu verletzen. Die ganze Zeit starrte das Wesen mich an, während das schlingernde Auto darauf zurutschte, keine Angst war in diesen Augen, kein Erschrecken, nicht einmal Überraschung. Nur Neugier.

In Wirklichkeit war sie nicht aus den Büschen auf die Fahrbahn der B 130 gesprungen. Sie kam aus dem Gehölz zwischen Donau und Straße, stieg mit einer einzigen raschen Bewegung über die Leitplanke. Sie hob einen kleinen, unpraktischen weil modischen [12]Rucksack über die Metallplanke, stolperte dabei, machte einen Schritt auf die Fahrbahn. Weil sie so dunkle Kleidung trug, Jeans, einen braunen Pullover und eine olivgrüne Jacke, sah ich sie zu spät. Ich bremste, der linke Vorderreifen geriet auf ein paar glitschige braune Laubblätter, die sich auf dem Asphalt zusammengeschoben hatten. Der Wagen begann zu rutschen, ich nahm den Fuß von der Bremse, lenkte auf die Gegenfahrbahn. Gerade noch konnte ich ihr ausweichen.

Sie war auf alle viere gegangen, hatte sich über ihren Rucksack gebeugt, als ob sie ihn mit ihrem Körper vor einem möglichen Zusammenprall mit dem Autoblech bewahren müsste. Klein und dunkel und drahtig war sie, und ein Kind. Vierzehn Jahre, vielleicht fünfzehn. Wie sie dahockte mit ihrem Rucksack und das Schleudern meines Autos beobachtete, mit kaltem, neugierigem Blick, da sah sie aus wie Bizhiw. Luchs. Das geheimnisvollste Tier. Jenes, das leer ist. Ohne Geschichten. Katzenwesen, beinahe unsichtbar, niemandes Totem. So sah sie aus, das Mädchen auf der Straße, Bizhiw, Luchs, und Mishi Bizhi, Wasserluchs, weil ihre Haare feucht glänzten, als wäre sie gerade der Donau entstiegen.

Ich stellte die Alarmblinkanlage an und stieg aus. Die Straße ist zu eng und ich kann den Wagen nirgends abstellen, schrie ich hinüber zu ihr, die noch immer auf dem Boden kauerte, es kann jederzeit ein Auto kommen, das hier ist eine gefährliche Stelle. Ob ich was anderes als Scheiße auch noch im Schädel hätte, rief sie zurück. Ich fragte, ob sie sich eh nicht verletzt habe, sie schaute mich böse an und schüttelte den Kopf. Komm ins Auto, sagte ich, ich kann hier nicht stehen bleiben. Ein paar Kilometer weiter, da gibt’s Ausweichmöglichkeiten neben der Straße.

Papi sagt, dass ich nicht zu fremden Männern ins Auto steigen soll, grinste sie, während sie den Rucksack auf die Rückbank warf und sich in den Beifahrersitz fläzte.

Weiß Papi, dass du dich nachts um elf auf der Straße rumtreibst?

[13]Wahrscheinlich weiß er es. Und wenn nicht, ist es egal, oder.

Aber in deinem Alter –

Ich bin achtzehn, sagte sie schnell, verschränkte die Arme und deutete mit dem Kinn Richtung Windschutzscheibe. Es war ein Befehl, dass ich endlich losfahren sollte. Ich gehorchte. Ein paar Kilometer weiter eine Parkbucht. Ich wollte anhalten, sie fragte, wozu. Um nachzusehen, ob etwas passiert ist, sagte ich, es ist nichts passiert, sagte sie, man sollte vielleicht die Polizei, sagte ich, das Auto ist ein Mietauto, wenn man es nicht meldet, wenn etwas passiert, gibt es Schwierigkeiten mit der Versicherung. Es ist nichts passiert, wiederholte sie. Sie sagte: Nicht anhalten. Und bloß keine Polizei.

In Ordnung, Mishi Bizhi, sagte ich.

Misch-Vieh was?

Wasserluchsweibchen.

Stimmt was nicht mit dir?

Ich begann ihr zu erklären, dass ich am Lake Superior lebe, im Land, das die Wendat, die Menschen von der Insel, Prickelndes Wasser nannten, in Ontario, seit Jahren schon arbeite ich dort, in Thunder Bay, und zeitweise immer wieder in Marathon, ein toller Ort, um dort zu leben, erinnert mich an die Jugend, Marathon, du weißt schon, 490 vor Christus, Griechen-Perser-Schlacht, Pheidippides, der tote Läufer, damals am Gymnasium, da war noch alles einfach und klar. Und am nahen westlichen Ende des Superior-Sees, da liegen Hibbing und Duluth, ist ein Tagesausflug mit dem Auto, gerade mal dreihundert Kilometer weg, und eine wunderbare Tour mit dem Boot. Hibbing und Duluth, du verstehst, der junge Robert Zimmerman. Dylan. Bob Dylan.

Sie schwieg. Ich sei nur für ein paar Wochen in Österreich, sagte ich, wegen einer Auftragsarbeit. Sie gähnte demonstrativ. Dass ich über Johann Georg Kohl gearbeitet habe, sagte ich, den wahnwitzigen Reisenden, der dieses gewaltige Buch über die Anishinaabe geschrieben hat, 1855, und dem diese freundlichen, aber selbstbewussten Menschen alles erzählt hatten. Über [14]den Großen Hasen, der die Welt erschaffen hat. Und über die Luchse, die unter Wasser leben, in den Großen Seen, und aufpassen, dass den Menschen nichts geschieht. Und dass sie, wie sie so geduckt plötzlich auf der Straße gehockt war und mich angestarrt hatte, ausgesehen habe wie ein scheues junges Unterwasserluchsweibchen.

Denen ihr Gott ist ein Hase, sagte sie, und: Das ist aber lustig.

Manchmal auch ein Stachelschwein, oder ein Skunk, aber der Große Hase ist kein Gott, wie wir das verstehen, sagte ich, er ist ein Schöpfer. Und dann ist er ein Trickster. Einer, der Streiche spielt. Wie der Kojote und der Rabe. Trickster, hm, wisperte sie, einer der Tricks draufhat. Genau, sagte ich.

Auf einmal wusste ich, wer sie war. Du bist das Mädchen, das dauernd im Fernsehen ist, sagte ich. Sie verzog keine Miene. Du bist das Mädchen, das verschwunden ist, oder? Sie grinste ein wenig. Manchmal verschwunden, ja, flüsterte sie, aber im Fernsehen sei sie noch nie gewesen. Der Luchs ist das verschwundenste aller Tiere, scherzte ich, sie sah mich fragend an. Du bist das Mädchen, das abgehauen ist, oder?, fragte ich weiter. Sie haben deinen Vater und deine Brüder abgeschoben, und du bist untergetaucht.

Meine Alten wohnen da drüben, sagte sie, mit einem unbestimmten Wischen der rechten Hand in Richtung der Gegend südlich der Donau. Und Bruder habe ich keinen. Sie schnappte sich mein Handy, das auf der Ablage über dem Lenkrad lag, und begann damit herumzuspielen.

Du bist diese, sagte ich, sag schon, wie ist der Name, er fällt mir nicht ein, obwohl er eh dauernd zu hören ist im Radio, sobald man in die Reichweite eines österreichischen Senders gerät.

Geht das überhaupt bei uns, so ein amerikanisches Handy?, fragte sie. Das Handy schon, aber eine eigene SIM-Karte musste ich kaufen, sagte ich. Und dass sie es bitte zurücklegen solle, es sei mir unangenehm. Sie suche bloß Bilder, sagte sie, ich hätte doch sicher Fotos gespeichert von diesem super See.

Superior Lake, sagte ich. Oberer See. Nichts mit super. Ein [15]paar Bilder von den Wildgänsen habe ich drauf. Und das Emblem vom Anishinaabe Tribal Council. Ist schön, sagte sie, kramte im Rucksack, holte ihr Handy heraus, drückte an den Knöpfen beider Geräte herum. Was sie da mache, knurrte ich, und dass sie es lassen solle. Will mir bloß die Gänse auf mein Handy laden, sagte sie und warf mein Telefon wieder auf die Ablage. Geht eh nicht. Deins hat kein Bluetooth.

Schweigend fuhren wir durch Eferding. Im Autoradio sagte die Sprecherstimme, dass Günter Grass sich anlässlich seines USA-Besuchs bitter beschwert habe. Sein Werk werde in Deutschland nicht ausreichend gewürdigt. Nur im Ausland erfahre er, was in der Heimat Mangelware geworden sei: Respekt. Als wir uns dem Ort näherten, dem ich ausweiche, begann das Mädchen Gott sei Dank zu reden. Wo fährst du hin?, fragte sie. Linz, sagte ich, oder zumindest in die Gegend von Linz. Eigentlich will ich nach Zeiselmauer, aber ich habe die Zeit übersehen. Ist jetzt schon zu spät für Zeiselmauer.

Und wo kommst du her?

Künzing.

Künzing? Was ist Künzing?

Der Heilige Severinus hat dort eines seiner kuriosesten Wunder gewirkt, sagte ich, wurde unsicher, als ich bemerkte, dass sie demonstrativ gelangweilt aus dem Seitenfenster in die Dunkelheit hinaus schaute. Linz ist eh gut, sagte sie. Ich fahre mit bis Linz.

Ein paar Kilometer nach der Ortseinfahrt von Linz, als wir uns dem Zentrum näherten, sagte sie mir, dass ich auf den Hauptplatz fahren solle. Da wolle sie aussteigen. Ich fragte sie, was sie denn vorhabe, ob sie jemanden kenne in Linz. Sie antwortete nicht. Ich hielt an in zweiter Spur, neben einer Reihe von Taxis, sie stieg aus. Während sie den Rucksack vom Rücksitz holte, sagte sie, dass sie wisse, wen ich meine, sie lese auch dauernd von der, sie nannte den Namen des untergetauchten Mädchens, aber das sei nicht sie.

Ich heiße nicht so wie die aus den Zeitungen, sagte sie. Mein [16]Name ist Trixi. Und verschwand in einer Seitengasse. Ich nahm mir vor, gleich am nächsten Morgen Zeitungen zu kaufen und Fotos des untergetauchten Mädchens zu suchen.

[17]3

Ich beginne meinen Aufsatz für den Katalog zur großen länderübergreifenden Landesausstellung mit der Beschreibung eines Flusses, den es nicht gibt. Die Rede ist von der Businca. Flüsschen bei Quintanis. Außer in der Vita Sancti Severini des Eugippius, der Biografie des Heiligen Sehers von Noricum also, verfasst von dessen glühendstem Bewunderer, kommt dieses Gewässer in keiner anderen Quelle vor, weder in einer historischen noch einer literarischen. Die Businca, sagt Eugipp, umfließt den südlichen Rand des Kastells Quintanis, dessen nördlicher Rand direkt an der Donau liegt, der in jenen Jahren schon mehr als ertragbar brüchig und unzuverlässig gewordenen Grenze zur Welt der Barbaren.

Quintanis, das ist Künzing. Das heutige Künzing ist eine lang gestreckte Ansammlung blasser Zersiedelungshäuschen entlang der deutschen Bundesstraße 8, der Fortsetzung der österreichischen B 130; gut dreißig Kilometer hinter Passau säumt Künzing die B 8, die in der Folge bis Elten an der holländischen Grenze führt. Um heute von Künzing zur Donau zu gelangen, bedarf es eines einstündigen Spaziergangs vom Friedhof weg über die Windgasse hinaus ins flache Ackerland und durch gelegentliche Flecken von Augehölz, an Langkünzing vorbei zum Uferweiler Endlau, zurück vielleicht mit einem Abstecher zu den Schotterteichen von Gramling und Arbing. Die Businca wird man auf diesem Spaziergang nicht finden. Ob es sich eventuell um den Angerbach handelt oder die Ohe, darüber streiten die Chronisten.

Nein. Diese Einleitung zu einem Aufsatz verstößt gegen das erste Gebot jener, die zur Unterhaltung und auch Belehrung eines Publikums schreiben: Du sollst nicht langweilen. Ich werde [18]meinen Katalogbeitrag anders anheben lassen: Severinus ist nur ein Narr. Das wird mein erster Satz sein.

Severinus ist nur ein Narr. Oder er ist ein Betrüger, vorsichtiger formuliert, ein Gaukler mit dem Vorsatz, zu betrügen. Alle, die Lateinisch sprechen in dieser nördlichen Grenzprovinz, die Nachkommen der vor Generationen aus dem sonnigen Italien gekommenen Römer, die Sprösslinge zahlloser Liaisonen von Kolonisatoren und Kelten und Germanen und die reinblütigen Barbaren, die der Eroberer Kultur und Sprache freudig und leicht übernommen hatten, die Noriker also, sie sind ja leicht zu betrügende Menschen. In steter Angst vor den Rugiern und Herulern und Arianern und allen anderen Arten von Ausländern, die in endlosen Wellen gegen die Nordgrenze anrollen, müssen sie leben. In ständiger Erwartung, von den Barbaren entführt zu werden, beraubt, geschändet, gemordet, klammern sie sich an jedes Zeichen, und sei es noch so durchsichtig betrügerisch und lächerlich.

Greifen nach jeder Nachricht aus einer jenseitigen, besseren Welt wie Ertrinkende nach dem rettenden Ast. Ein stinkender, zerlumpter, in Zungen redender falscher Mönch, ungeniert mit den verschorften, verdreckten nackten Füßen auf ihre Dorfplätze stampfend und den örtlichen Epileptiker nach dem Anfall hoch hebend und triumphierend der Meute darbietend, der genügt ihnen, um Hoffnung zu schöpfen. Nein, nicht einmal Hoffnung. Eine Ahnung von Trost nur ist es. Doch die reicht aus, um weiterleben zu wollen. Und die Angst für einen Augenblick zu vergessen.

Eine weitere Möglichkeit wäre, dass Severinus doch ein Heiliger ist. Einer, der in besonderer Gnade steht, dem der Herr also gnädiger ist als uns Gewöhnlichen, und einer, dem der Herr mehr Heil geschenkt hat als uns anderen. Und damit wir dies auch bemerken, hat ihm der Herr die Gabe der Wundertätigkeit verliehen.

Selbst wenn Severinus ein Heiliger Mann war, wie ihn Eugipp [19]bei jeder zweiten Erwähnung nennt, so muss er zugleich doch auch ein Narr gewesen sein. Nur ein Narr tauscht die Gestade des Mittelmeers gegen die feuchten, kalten, morastigen Wälder. Nur ein Narr tauscht die Düfte Afrikas, das Licht, das ungeheure, gleichzeitig milchige und unwirklich klare Licht der mediterranen Küsten gegen die Nebelmonate in den stickigen verrauchten Hütten. Gibt die Großartigkeit der Wüste, die alle Sinne zu einer leichten klaren Selbstverständlichkeit umformt, hin für die von Hass und Hunger und Mord erfüllten Undurchdringlichkeiten des Missgunst ausdunstenden Nordlands.

Und erst der Strom. Ysura, was schnelles Wasser hieß bei den ersten Namensgebern, den Persern, Hister, Istros, Duna, Wasser, Geschlecht weiblich, die Duna, wie jene sie nannten, die vor allen anderen hier gelebt hatten, Danubius, Geschlecht männlich, wie die männlichkeitsbesessenen Römer sie mit kühler Selbstverständlichkeit umbenannt hatten. Nur ein Narr sucht freiwillig die Nähe dieses kalten grauen, dann wieder schlammig grünen und braunen Wassers, das alle Wärme aus menschlichem Fleisch saugt und die jüngsten und stärksten Knochen hartnäckig zermürbt und zerbrechlich macht und lange vor der Zeit altern lässt.

Ich speichere diesen Beginn ab in meinem Laptop, aber verwerfe ihn bereits, während ich ihn aus Sicherheitsgründen auf einen USB-Stick kopiere. So wird das nichts. Ein dritter Anlauf:

Eugipp hält uns alle für Idioten. Niemand nimmt ihm so eine Geschichte ab, wie er sie uns da auftischt. Das Lazaruswunder zu Quintanis. Der gekränkte Gestorbene. Es ist das schönste Wunder des Severinus. Ich liebe diese Geschichte. Weil sie so offenkundig gelogen ist. Nicht einmal der wohlwollendste Gläubige kann sie glauben.

Ich gehe davon aus, dass es Herbst war, als der Heilige Mann in Quintanis weilte, ein sonniger, aber nicht warmer Spätseptembertag wie der heutige, in der Luft eine Ahnung von Nebel, der dichter wird, je näher man der Donau kommt. Severinus ist in Iuvao gewesen, was Salzburg ist, und hat Kerzen entzündet [20]allein mit der Kraft seines Willens, und hat eine Tote zum Leben erweckt, so nachhaltig, dass sie drei Tage später wieder auf dem Feld ihres Mannes, eines freien Kleinbauern, bei der Erntearbeit half. Dann ist er über Batavis, was Passau ist, in das westlichste Städtchen seines Wirkungskreises gezogen, barfuß, wie immer.

Im zwischen zwei Wassern liegenden Künzing, das ständig überflutet wird von den Hochwassern des verschwundenen Flüsschens, tut er ein seltsames Wunder und ein zum Schreien komisches Wunder. Das seltsame Wunder ist, dass er in einen der Pfähle, auf die die Künzinger wegen der Hochwasser ihr Kirchlein gestellt haben, mit dem Beil zwei Kerben hackt, auf eine Art, dass sie das Zeichen des Sohnes Gottes zeigen, das Kreuz. Dann befiehlt er der Businca, nie wieder über dieses Kreuzeszeichen hinaus anzuschwellen. Und siehe da, der Fluss gehorcht, von da an gibt es keine Überflutung mehr in Quintanis, die höher reicht als an jene heilige Markierung. Sagt Eugipp.

Dann stirbt der Pfarrer von Künzing. Ein gewisser Silvinus, seines Zeichens Presbyter des Kastells Quintanis. Man bahrt ihn auf in der Gemeindekirche, der gesamte Klerus wacht die Nacht durch an seinem Leichnam, mit allmählich immer langsamer und zerfahrener werdendem Psalmengesang. Am Morgen schickt Severinus alle weg, sie sollen ein wenig schlafen vor dem Begräbnis.

Die Kirche sei leer, meldet der Türhüter. Der Heilige Mann hat das Gefühl, dass sich noch jemand im Gotteshaus befinde, eine weibliche Person, der Türhüter durchsucht alles, zweimal, findet niemanden. Severinus bittet den Herrn um eine Offenbarung, die ihm gewährt wird. Auch der Herr lässt es ihn wissen: Jemand versteckt sich hier. Der Hüter sucht noch einmal und findet tatsächlich eine Frau.

Eine von seltsamem Status: Virgo consecrata. Eine geweihte Jungfrau. Man weiß nicht recht, was dies besagen will, wahrscheinlich waren weibliche Menschen gemeint, die sich aus religiöser Überzeugung aller geschlechtlichen Praxis enthielten, jedoch keinem Orden angehörten. Severinus und der Türhüter schelten [21]die Frau, sie verteidigt sich: Höchste Frömmigkeit verleite sie zu diesem Tun. Als sie gesehen habe, dass der Heilige Mann alle weggeschickt habe, sei sie in der Erwartung gewesen, er werde nun wohl den Toten zum Leben erwecken.

Mit gütiger Geste gebietet ihr Severinus, sich zu entfernen. Die geweihte Jungfrau hat ihn auf eine Idee gebracht. Er lässt ein paar Kleriker kommen, wahrscheinlich braucht er Zeugen, dann bittet er unter einem Strom von Tränen die himmlische Macht, ein Werk ihrer Erhabenheit zu zeigen. Als Nächstes spricht er den Toten an: Heiliger Presbyter Silvinus, sprich mit deinen Brüdern!

Der Tote öffnet die Augen. Geschrei und Gejubel in der Kirche.

Silvinus setzt sich auf, er starrt die Umstehenden an, wie sie kreischen, einen Augenblick lang ist er verwirrt. Ist dies das Paradies? Und wenn ja, wieso sieht es aus wie die Holzkirche von Künzing und riecht auch so modrig wie jene? Wieso sind die Brüder um ihn, die doch unter den Lebenden weilen sollten?

Dann beugt sich der Mann Gottes, Severinus, der Erretter Noricums, zu ihm und spricht ihn an. Da dämmert es dem Presbyter Silvinus: Er ist Objekt eines Wunders geworden, ungefragter Darsteller in einer Lazarus-Revue. Er wird in die Geschichte eingehen, doch um welchen Preis: weiterleben müssen auf den Schlammböden am Rande des zerfallenden Imperiums. Dem Untergang beiwohnen müssen, bis zum Ende.

Silvinus platzt der Kragen, er verabreicht dem Heiligen Mann eine schallende Ohrfeige, er schreit ihn an. Was ihm einfalle, ihn wieder aufzuwecken! Wo er, Silvinus, sich doch schon in der Ewigen Ruhe gesehen habe, die er so ersehne! Was für eine Grausamkeit und Zumutung. Nahe beim Herrn sei er gewesen, eine Nacht lang, und jetzt wieder zurück in diesem Drecksloch.

Entschuldigung, murmelt Severinus, und stottert dem tot gewesenen Mitbruder vor, dass man dies ja nicht gewusst habe, bisher habe sich noch keiner der von den Toten Erweckten beschwert, im Gegenteil, man habe ihn, den Erwecker und Wundertäter, [22]in aller Regel mit einer Dankbarkeit überschüttet, die oft an die Grenzen der Peinlichkeit rühre. Ein wenig beleidigt klingt der Heilige Mann, und schnippisch, als er dem Presbyter anbietet, ihn mittels Herbeirufung einer göttlichen Offenbarung wieder in den Zustand des Verstorbenseins zu versetzen. Worum Silvinus, nicht wirklich besänftigt und dementsprechend schroff, dann doch sehr bitten will. Worauf Severinus den Herrn anruft und der eine Offenbarung seiner wundersamen Werke gewährt und also Presbyter Silvinus tot wie nur was zurücksinkt auf die Bahre, auf der seine Leiche schon eine Nacht lang gelegen war.

Zugegeben, in den Details habe ich mir das jetzt ausgedacht. Natürlich hat Silvinus das geistliche und informelle politische Oberhaupt der sich auflösenden Provinzen Rätien und Noricum nicht geohrfeigt. Vielmehr fragte Severinus den neuerlich Lebenden, kaum dass der von den Toten erweckt war, mit größter Einfühlsamkeit, ob er, der Wundertäter, auch wirklich den Herrn bitten solle um ein weiteres irdisches Leben für Silvinus.

Es klingt, als hätte Eugipp da seinen Text, der doch ein Tatsachenbericht sein soll, bereits hingetrimmt auf die folgende Pointe. Denn Silvinus lächelte seine Mitbrüder an, er freute sich an ihrer Freude, doch dann bat er den Heiligen Mann in aller Bescheidenheit und Demut, ihn nicht länger hier festzuhalten, sondern ihn in die Ewige Ruhe zurückzuschaffen, von der er bereits gekostet habe. Worauf er, kaum war seine Stimme verhallt, entseelt entschlief. Und Severinus ermahnte alle Anwesenden mit beschwörender Eindringlichkeit, dieses Ereignis um jeden Preis geheim zu halten. Schreibt Eugipp, der dies Wunder überliefert hat.

Ich liebe diese Geschichte. Weil sie bewirkt, dass ich die ganze Zeit nur lachen will über den Heiligen Mann. Und weil zwei Lehren aus ihr zu ziehen sind, die mir sympathisch scheinen. Nummer eins: Wie groß und gottgefällig und wundersam deine Taten auch sein mögen, letzten Endes sind sie nichts als pure Vergeblichkeit. Nummer zwei: Frage erst, ob du jemandem eine [23]Wohltat erweisen sollst. Es könnte sonst sein, dass dich der ungefragt Beglückte für das beschimpft, was du ihm Gutes tatest. Ja. Mit dieser Lehre und mit dem Lazarus reversus von Künzing soll mein Beitrag beginnen.

[24]4

Mein Auftrag ist das Beistellen eines umfangreichen, sowohl geschichtsphilosophisch wie soziokulturell fundierten als auch literarisch gefälligen Aufsatzes über Leben und Wirken des Heiligen Severinus für den zweibändigen Katalog zu einer Landesausstellung, die die Bundesländer Niederösterreich und Oberösterreich in eineinhalb Jahren gemeinsam veranstalten werden. Es gibt in beiden Ländern kein Schloss mehr und kein Kloster, das sie zum Brennpunkt einer solchen Großveranstaltung machen und dabei in einem Aufwaschen renovieren könnten. Daher soll eine ganze Region, jene an der Donau, Gegenstand der nächsten Ausstellung werden. Ufernoricum, Sie verstehen, sagte der Sprecher meiner Auftraggeber, als er mich das erste Mal telefonisch in Thunder Bay erreicht hatte.

Ich verstehe, sagte ich, ich komme aus dieser Gegend.

Dazu kam unserem El Ha –, fuhr er fort.

Wem?, unterbrach ich ihn.

Unserem Herrn Landeshauptmann, dem kam die geniale Idee einer länderübergreifenden Landesausstellung. Bilateral sozusagen. Eine Zweiländer-Ausstellung, das haben die Herren Landeshauptleute im Sinn. Und Severin ist die Klammer, das verbindende Element, die durchgehende Gestaltungsidee. Der mächtige Strom, der den gesamten Kontinent durchschneidet, und die Wege des Heiligen auf jenem Abschnitt dieses Flussverlaufs, welcher auf unserem Heimatboden liegt, das sollen die Nährquellen der Ausstellung sein, ihre Hauptschlagadern gleichsam, der Leben spendende Strom, der unermüdlich fließt seit Anbeginn der Geschichtsschreibung, und so weiter, Sie verstehen doch, oder?

Und was soll ich dabei –?

Einen Aufsatz schreiben für den Katalog. Was heißt einen [25]Aufsatz. Den Aufsatz. Folgen Sie den Wegen des Heiligen, beschreiben Sie seine Werke und Wundertaten, und schaffen Sie Bezüge zur Gegenwart. Im Idealfall sollte der Severin-Aufsatz im Katalog die ultimative Arbeit sein zum Thema Römerzeit und Donauraum, und er sollte gleichzeitig so – nun, sagen wir, so kulinarisch gehalten sein, dass jeden Leser die Lust überkommt, selbst den Spuren des Heiligen zu folgen und unsere wunderschönen Länder zu besuchen.

Ein Werbetext also.

Nein nein. Seine Stimme klang empört.

Ich habe keine Ahnung in Sachen Severinus, sagte ich.

Lesen Sie Eugipp, sagte er. Die Vita des Heiligen. Ich werde Ihnen ein Reclamheftchen schicken. Und lesen Sie Giese. Und Dörfler. Damit Sie vorbereitet sind, wenn Sie wieder europäischen Boden betreten. Und natürlich Lotter. Wobei Lotter – nun ja – ein Problem ist. Verschweigen Sie ihn nicht. Aber bringen Sie ihn am besten als eines von mehreren Interpretationsangeboten. Als Möglichkeit, im Musil’schen Sinne, sagte er nach einer Pause und kicherte stolz wie ein Schulkind, das etwas ganz Schwieriges gewusst hat.

Und Sie sind der Kulturbeamte, der die Sache betreut?, fragte ich ihn.

Das trifft es nicht wirklich, sagte er. Und hob an zu einer detaillierten Erklärung, wie die beiden Landesregierungen einen Koordinationsrat für die länderübergreifende Landesausstellung ins Leben gerufen und in praktisch allen Positionen paritätisch besetzt hätten.

Das heißt –?

Keines der beiden Länder soll den Eindruck haben, dass seine – nun ja, seine Themen, die es in die Ausstellung eingebracht sehen möchte, nicht ausreichend berücksichtigt würden. Daher hat man bei der personellen Ausstattung des Koordinationsrats darauf geachtet, möglichst gleichmäßig Personal aus den Verwaltungen beider Bundesländer zu rekrutieren. Im Falle der Agenda [26]Öffentlichkeitsarbeit hat sich dies, wie soll ich sagen, jedoch nur bedingt bewährt, sodass man schließlich neben den zuständigen Herren aus Ober- und Niederösterreich im Interesse einer effektiven und reaktionsschnellen Präsenz des Themas in der Öffentlichkeit eine operative Kraft von außen geholt hat. Und das bin ich.

Sie sind also jener von den PR-Leuten der Landesausstellung, der die Arbeit macht?

So könnte man sagen, wenn man zu flapsigen Formulierungen neigt, sagte er leise.

Ich sagte zu. Meine Arbeit über Johann Georg Kohl war getan. Das Honorarangebot, das Linz und St. Pölten mir machten, war verlockend.

[27]5

Nichts hat sich verändert. Ich sah die Nachrichtensendung um neun Uhr vormittags in dem kleinen Pensionszimmer. Das Foto von ihr, das sie dem Beitrag voranstellten, war dasselbe, das die beiden Zeitungen gebracht hatten, die im Frühstückszimmer auflagen. Sie könnte es gewesen sein. Es war zu dunkel gewesen in der Nacht, um es genau sagen zu können. Auf dem Foto sah sie noch jünger aus, zurechtfrisiert auf braves Schulmädchen.

Der Innenminister sprach ein paar Sätze, schräg hinter ihm stand eine Frau in einem Designer-Trachtenkleid, die übertrieben gestikulierend mit jemandem redete, der nicht im Bild war. Er habe das Gesetz zu exekutieren, waren seine Worte. Das Land dürfe sich nicht erpressen lassen von einer Fünfzehnjährigen, sagte er mit einem säuerlichen Lächeln.

Genau wegen solcher hinterfotzig aus den TV-Nachrichten und den Zeitungsseiten grinsender Gesichter war ich weggegangen. Ich bin weggegangen wegen der zwei kleinen Männer, die es ausgerechnet an meinem Geburtstag getan hatten. Sie saßen am Severustag des Millenniumjahres triumphierend vor einer Reihe von Fahnen, Rot-Weiß-Rot, die Bundesländerflaggen, natürlich das EU-Blau mit den Sternen, und unterzeichneten vor den Live-Kameras des staatlichen Fernsehsenders ihren Pakt. Ich bin weggegangen wegen der Art, wie sie bei der anschließenden Pressekonferenz den israelischen Journalisten verhöhnten. Es war ein guter Tag für sie, denn Severus, den man nicht mit dem norischen Severinus verwechseln darf, also Severus, der Strenge von Ravenna, ist der Schutzpatron der Polizisten. Die zwei kleinen Männer haben übertrieben freundlich lächelnd die Fragen des Israeli beantwortet, aber zugleich haben sie ihn mit dieser gönnerhaften, herablassenden und tiefste Verachtung ausdrückenden [28]Freundlichkeit, zu der nur österreichische Politiker fähig sind, verhöhnt.

Er soll uns nicht auf die Nerven gehen mit seinen Fragen nach Moral und Haltung und Rassismus und Antisemitismus. Diese unterschwellige Botschaft haben sie ihm an den Kopf geworfen wie Hände voll Dreck, gar nicht sonderlich subtil. Er sollte merken, dass seinesgleichen nun abgemeldet ist. Der Sohn des Nazilegionärs, der sich sechsundsechzig Jahre davor mit den österreichischen Gendarmen von Kollerschlag ein wütendes, über Tage gehendes Feuergefecht geliefert hatte, starrte den alten Juden an mit unverhohlenem Triumph. Der schmallippige Katholik daneben hatte große Mühe, sein beherrschtes Gesicht nicht zu einem ungeheuer zufriedenen Grinsen zerfließen zu lassen.

Ich bin weggegangen, weil nur eine österreichische Journalistin es gewagt hatte, bei dieser makabren Veranstaltung eine kritische Frage zu stellen. Was ihr nicht gut bekommen war, ein paar Jahre später hatten sie die Frau aus ihrem Beruf gemobbt. Die anderen österreichischen Journalisten waren dagesessen wie schockgefroren, sie machten im wahrsten Sinn des Wortes keinen Mucks. Sie schienen nicht begriffen zu haben, was passiert war. Oder sie hatten es sehr wohl begriffen und blitzartig ihren Betriebsmodus umgestellt auf die neuen Verhältnisse.

Darum habe ich zugesagt, im Sommer 2000, als das Angebot kam, eine Arbeit über Kohl zu verfassen. Vor 9/11 war es einfach, sich praktisch unbegrenzt mit einem Touristenvisum in Nordamerika aufzuhalten, ständig zwischen Ontario und Minnesota wechselnd. Bei jeder Fahrt von Thunder Bay nach Duluth hatte ich formell Kanada verlassen, mit der abendlichen Rückfahrt war ich erneut eingereist und konnte mein Besuchervisum um sechs Monate verlängern lassen. Umgekehrt funktionierte es mit den USA genau so.

Muhammad Atta as-Sayyid und seine Komplizen haben dies beendet. Danach verschaffte mir der Verlag eine temporäre Aufenthalts- und Arbeitsbewilligung für Kanada, die ohne Probleme [29]einmal jährlich erneuert wurde. Nach Hibbing und Duluth und vor allem natürlich nach Wisconsin, ins liebliche Fond du Lac am Lake Winnebago, wo Johann Georg Kohl neben La Pointe und Anse sein drittes Hauptquartier aufgeschlagen hatte während seiner Forschungsmonate, reiste ich nach wie vor als Tourist. Es war nur sehr viel komplizierter geworden, die Bestimmungen änderten sich alle paar Monate. Das Visa Waiver Program machte es um eine Spur einfacher, nur durfte man bei den Rückfahrten ja nie vergessen, sich an den kleinen Grenzübergängen jedes Mal die Ausreise aus den USA bestätigen zu lassen.

Es ist gelogen, wenn ich sage, dass ich weggegangen bin wegen des Zusammenrückens der Rechtspopulisten mit den Neoliberalen. Der Hauptgrund waren die rapide sinkenden Publikationsmöglichkeiten in Österreich gewesen, die schrumpfenden Einnahmen. Und war das bestens dotierte Angebot eines Verlags gewesen, nach Kanada zu gehen und eine Biografie über Kohl zu schreiben. Ist doch eine überaus aparte Idee, wenn gerade Sie zu Kohl publizieren, lachte der Geschäftsführer. Wir sollten so lange wie möglich das Publikum im Unklaren lassen, ob ein Verwandtschaftsverhältnis besteht, sagte er, das wird die Neugier und damit die Aufmerksamkeit des Marktes erhöhen.

In den Vertrag schrieb er eine Option. Sollte die Kohl-Biografie einen gewissen Prozentsatz der Erstauflage absetzen, verpflichte sich der Autor, also ich, innerhalb von drei Jahren einen Ontario-Reiseführer mit Schwerpunkt auf aboriginale Ziele, basierend auf den Werken des Johann Georg Kohl, abzuliefern. Aparte Idee, schmunzelte er: Kohls Große Seen. Ein Führer in das Kanada der Anishinaabe. Kennen Sie eigentlich Kohls Reisebeschreibung über seine Fahrt von Linz nach Wien?, fragte er nach einer Pause.

Ich verneinte.

Ich dachte, Sie kommen aus Linz?

Schon, sagte ich, aber wer würde Reiseführer lesen über die Gegend, in der er lebt?

Da haben Sie auch wieder recht.

[30]Die Biografie verkaufte sich gut, der Reiseführer ebenfalls. Dem Geschäftsführer fiel eine weitere Publikation ein: Johann Georg Kohls neutraler europäischer Blick auf die Indianer. Die Auswirkungen der unterschiedlichen Zugänge französischer, britischer und amerikanischer Kolonisatoren zur aboriginalen Bevölkerung, abgehandelt am Beispiel des ersten und zweiten Krieges des Stammes der Füchse, auf die heutigen Autonomiebestrebungen nordamerikanischer indigener Völker. So kam es, dass ich fast sieben Jahre am Lake Superior lebte.

Es ist auch gelogen, wenn ich sage, dass ich wegen eines Jobs weggegangen bin. In Wahrheit bin ich weggegangen, weil die Angst unerträglich wurde, mit ihr reden zu müssen. Meiner Mutter. Wegen meines Namens auf dem Kriegerdenkmal. Als Kind hatte ich es als gespenstisch empfunden, wäre jedoch nie auf die Idee gekommen, das allgemeine Schweigegebot des Dorfes zu brechen. Sobald ich weggezogen war, zuerst nach Linz, dann nach Wien, hatte ich das Denkmal vergessen. Erst nach dem Tod meines Vaters, als ich regelmäßig zu Allerheiligen sein Grab besuchte, sah ich das erste Mal seit Jahrzehnten auf das Denkmal und musste lachen. Ich erzählte Freunden von dieser lachhaften Sache. Sie lachten nicht. Sie fragten, wer das ist mit meinem Namen, der auf dem Denkmal steht.

Irgendein Onkel, sagte ich, und dass ich eigentlich kaum etwas dazu wüsste. Eine Frau, die mir damals wichtig war, sagte, dass ich sie fragen müsste. Meine Mutter. Mit fast schon fünfzig sollten einem solche Angelegenheiten nicht gleichgültig sein. Die Vorstellung, mit meiner Mutter über das Kriegerdenkmal zu reden, hatte mir solche Angst gemacht, dass ich umgehend ja gesagt hatte auf die Frage des Verlagsdirektors, ob ich mir vorstellen könnte, für eine Weile nach Nordamerika zu gehen.

[31]6

Ich erwachte nach der Plage eines unruhigen Schlafes mit unbestimmten Schmerzen im ganzen Oberkörper. Das Pyjamaoberteil war durchnässt von meinem Schweiß, ebenso die Steppdecke. Ein Stechen im Brustkorb, als ich mich aufrichtete. Ich musste mich seitlich aus dem Bett rollen. Im Stehen veränderte sich das Stechen zu einem ekelhaften Ziehen, das bei jeder Bewegung stärker wurde und schließlich zur Wirbelsäule wanderte. Ich ließ in der Dusche eine Viertelstunde lang brennend heißes Wasser über den Rücken laufen. Nichts veränderte sich.

In den gelben Seiten des Linzer Telefonbuchs suchte ich unter dem Stichwort Allgemeinmediziner und fand gleich einen bekannten Namen. Bodinger, Alfred Bodinger. Von den einundzwanzig Maturanten aus meiner Abschlussklasse waren vier Ärzte geworden, Bodinger war einer von ihnen. Seine Praxishilfe wollte mich nicht mit ihm verbinden, erst als ich ihr sagte, dass es sich um eine private, persönliche Angelegenheit handle, stellte sie mich durch.

Bodinger hörte nicht auf mit allgemeinem Geplauder. Er habe gar nicht gewusst, dass ich in Kanada lebe, sagte er, man habe sich allerdings eh schon gewundert, dass ich nicht mehr bei den Maturatreffen aufgetaucht sei. Er wollte wissen, wie es ist in Nordamerika, lachte ein wenig, als ich von den Anishinaabe erzählte, und dass dieses Algonquin-Wort Die Eigentlichen Menschen bedeutet. Immer noch der Nscho-Tschi-Traum, was?, prustete er durch das Telefon. Ich erzählte von meinen Schmerzen.

Wie lange bist du in Österreich?, fragte er.

Nicht lange. Hoffentlich.

Übermorgen Vormittag, sagte er, geht das?

Ich bejahte. Wir schwiegen. Kannst du noch wiehern?, sagte ich dann.

[32]Ach Gott, sagte er nach einer langen Pause. Professor Sturmbannführer.

Unser Geografieprofessor war gleichzeitig der Turnlehrer gewesen. Ein Verrückter. In seinem Kopf hatte er eine Silberplatte. Eine Kriegsverletzung, über die er nie sprach. Wenn die Turnstunden im Freien stattfanden, ließ er uns in Zweierreihen im Schulhof antreten und im Gleichschritt zum Sportplatz marschieren. Wenn das Wetter wechselte, klagte er über Kopfschmerzen. Und wurde unberechenbar. In den Geografiestunden ließ er Bodinger regelmäßig wiehern. Wenn der Sturmbannführer-Lehrer schrie: Bodinger, wiehern!, dann wussten wir, dass sich die Luftdruckverhältnisse gerade veränderten.

Der Geografieunterricht war ein Witz. Beinahe die ganzen acht Jahre lang legten wir milchiges Pauspapier auf eine Seite im Atlas und zeichneten Umrisse nach, zuerst jenen des Bezirks Linz-Land, dann jenen von Oberösterreich, dann Österreich, ab der Oberstufe Europa und schließlich die ganze Welt. Wir machten Punkte für die wichtigen Städte, zeichneten die Flüsse ein. Zu Beginn jeder Stunde rief er ein paar zu Prüfende nach vorne, man musste das Pauspapier mit dem aktuellen Bundesland oder Land mitnehmen, der Professor deutete auf einen Punkt oder eine gewundene Linie, man musste ihm den Namen der Stadt oder des Flusses nennen. Das war alles.

Bodinger schrie ins Telefon: Bodinger, wiehern!

Ja, sagte ich, waren lauter Nazis.

Der einstige Wehrmachtssoldat, den wir Professor Sturmbannführer nannten, hatte es auf ein paar seiner Schüler besonders abgesehen. Und zwar auf die besten. Bodinger war der Primus in Geografie, er kannte jeden Punkt und jede Linie auf den Hunderten von Pauspapieren, und er konnte zu jedem Umriss eines Landes ansatzlos alle angrenzenden Bundesländer oder Staaten aufzählen, korrekt im Uhrzeigersinn. Sechs- oder siebenmal im Schuljahr musste er wiehern. Es war ein Deal zwischen ihm und dem Professor: Wenn er wieherte, erhielt er ein [33]Sehr Gut im Trimester-Zeugnis, ohne mit einer einzigen Frage belästigt zu werden.

Wir anderen saßen in den engen Stühlen und schwankten zwischen Angst vor dem Nazilehrer und einer großen Faszination wegen des demütigenden Schauspiels. Bodinger, wiehern!, schrie der Professor, Bodinger stand auf, schluckte ein paar Mal, warf den Kopf in den Nacken, meist begann er mit einem kläglichen Geräusch, brach ab, sammelte Speichel, der Professor stand vom Katheder auf und ging durch die Reihen, näherte sich mit lüsternem Blick seinem Opfer. Bis dann Bodinger endlich wieherte, laut und hell, täuschend echt. Es war eine Gabe, die ihm durchgehend Bestnoten in Geografie bescherte, bis zum Maturazeugnis.

Der Zweitbeste in Geografie war ein dicker Bauernsohn mit schlechten Noten in Turnen. Nur beim Fußballspielen war er beliebt bei den Mannschaftsführern, sie wählten ihn immer gleich unter den ersten aus, weil er keine Scheu hatte, als Verteidiger die angreifenden Stürmer mit der Masse seines Körpers niederzureißen. Auch mit ihm hatte der Sturmbannführer einen Deal. Der Bauernsohn musste Rollen vorwärts machen im Klassenzimmer, einmal den ganzen Raum entlang, im Mittelgang zwischen den Pulten, und wieder zurück zu seinem Platz. Dann bekam er ebenfalls sein Sehr Gut, ohne geprüft zu werden.

Ich fragte den Allgemeinmediziner: Und, kannst du noch wiehern?

Endlos lange hörte ich nichts. Dann ein Räuspern. Und dann ein Wiehern. Kraftvoll, laut, das Wiehern eines wilden, wütenden Pferdes, das sich Luft machen muss wegen all der Enge und Plage. Alfred Bodinger wieherte. Er lachte, wieherte erneut, noch wütender, ein wenig Verzweiflung mischte sich in das Heulen. Dann ging ihm die Luft aus.

Scheiße, was?, sagte ich.

Na ja, sagte er. Immer noch besser als Rolle vorwärts. Hat uns letzten Endes nicht geschadet, oder? Also, bis übermorgen, sagte er nach einer Pause und legte auf ohne Gruß.

[34]7

Ich wusste, dass es so kommen würde. Dem Heiligen Mann hinterherreisend, näherte ich mich dem Friedhof mit dem Kriegerdenkmal beinahe jeden Tag. Dauernd kam ich an Ortstafeln und Straßenschildern vorbei, auf denen vertraute Ortsnamen standen. Wenn ich sie las, diese Namen, konnte ich nicht umhin, an den einen Ort zu denken, dem ich aus dem Weg ging. Ich mied den Ort, doch mit nachlassender Konsequenz. Ich wusste, dass es sich nicht vermeiden lassen würde.

Und redete mir ein, dass es sinnlos sein würde, sie zu besuchen in der großen leeren Siedlungshaushälfte, in der sie saß, ganz allein, seit mein Vater gestorben war. Wenn ich sie fragen werde, wird sie sagen, was sie immer gesagt hat. Es waren schwere Zeiten. Es ist allen schlecht gegangen. Was hätte man denn tun sollen. Es ist uns nicht gut gegangen, aber wir beschweren uns nicht.

Er, mein Vater, hatte gar nichts gesagt, wenn er nüchtern war. Wenn er getrunken hatte und in Gesellschaft Gleichaltriger war, dann redete er manchmal. Die Männer begannen, einander zu übertrumpfen mit ihren Kriegsabenteuern und Verwundungen. Den Bauch voller Granatsplitter, auf den harten Brettern im Panjewagen, das Gepolter, der Feindbeschuss. Die wahnwitzigen Schmerzen wegen der Holperfahrt, zwei Stunden bis zum Lazarett, mit höchstem Tempo über Stock und Stein. Größer als der Schmerz war die Angst, dass er sie doch noch erwischt. Er. Der Russe.

Manchmal fingen sie damit auch im Wirtshaus an, an den Sonntagnachmittagen, wenn der Familienspaziergang in der Gaststube ausklang. Der Lehrer aus dem Nachbardorf hatte die wildeste Geschichte. Lungendurchschuss, mit seinen zwei Daumen habe er Einschuss- und Austrittsloch zugehalten und sei eine [35]Stunde zu Fuß zum Verbandsplatz marschiert. Wenn er genug getrunken hatte, sprang er auf, während er erzählte, marschierte in der Gaststube herum zum Gaudium der Trinkenden, im Stechschritt stelzte er auf und ab zwischen den Wirtshaustischen, presste einen Daumen auf seine Brust, den anderen auf den Rücken, gleich unter dem Schulterblatt, ließ seine Schuhsohlen krachen auf dem Wischboden und schrie dabei: Eine Stunde! Eine Stunde! Bei minus fünfzehn Grad!

Hast gewonnen!, brüllten die anderen und lachten ihn aus, wenn er sich auf den Sessel fallen ließ und mit bösem Blick in den Raum stierte. Niemand glaubte seine Geschichte. Wir Kinder ahmten ihn nach, wenn wir draußen zwischen den Zapfsäulen der benachbarten Tankstelle spielten. Eine Hand auf der Brust, die andere auf dem Rücken paradierten wir und riefen kichernd: Lungendurchschuss! Eine Stunde! Bis es dem Schäferhund des Tankstellenpächters zu viel wurde, er stand auf und bellte ein paar Mal in unsere Richtung, worauf wir kreischend zurückliefen in die Wirtshausstube.