Das Amt des Dichters ist nicht das Zeigen der Wege, sondern
vor allem das Wecken der Sehnsucht.
HERMANN HESSE
Copyright © 2013 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien
Alle Rechte vorbehalten
Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien
Umschlagabbildung: © ALIMDI.NET/Andreas Rose
Datenkonvertierung E-Book: Nakadake, Wien
ISBN 978-3-7117-5182-9
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt
Informationen über das aktuelle Programm
des Picus Verlags und Veranstaltungen unter
www.picus.at
Buddhas magischer Strom
Südlich der Wolken – Erste Etappe: Unterwegs in Yunnan
»Wir haben uns arrangiert« – Begegnung mit der Reiseleiterin Nangsed Dolma
Opium fürs Volk – Zweite Etappe: Das Goldene Dreieck
Im Reich der eine Million Elefanten – Dritte Etappe: Auf dem Fluss durch Laos
»Buddha war weit weg« – Begegnung mit dem Guide Kham Chan
Die himmlische Stadt – Vierte Etappe: Luang Prabang, die alte Königsresidenz
»Die Laoten lieben meine Bockwurst« – Begegnung mit dem Metzger Thomas Wilms
Der morbide Charme der Tropen – Fünfte Etappe: Vientiane, Hauptstadt von Laos
»Der Fluss meines Lebens« – Begegnung mit dem Mekong-Reeder Hans Engberding
Wo der Mekong rabiat wird – Sechste Etappe: Im Süden von Laos
Sam Bo und die neue Zeit – Siebte Etappe: Phnom Penh, Hauptstadt von Kambodscha
Die Nymphen lächeln wieder – Achte Etappe: Weltwunder Angkor Wat
»Manche Tempel sind wahre Muntermacher« – Begegnung mit dem »Tuk-Tuk«-Fahrer Bun Lang
Im Hafen des kleinen Königs – Neunte Etappe: Sihanoukville und die Südküste
»Für mich liegt Bayern auch am Mekong« – Begegnung mit dem Lebenskünstler Robert Heiduczek
Ein Fluss und neun Drachen – Zehnte Etappe: Im Mekong-Delta
»Unser Ding ist die sanfte Tour« – Begegnung mit dem Unternehmer Vu Minh Anh
Fahrstuhl in die Vergangenheit – Check-out: Kolonialhotels in Saigon
Danke
Langsam schiebt sich der Flussdampfer dem Ufer entgegen. Eine Gruppe kleiner Kinder winkt und lacht. Frauen, die ihre Wäsche im Fluss waschen, schauen lächelnd herüber. Zwei Männer, die eben ihre Netze übers Wasser geworfen haben, grüßen nickend in die Richtung des Kabinenkreuzers, der mit einem Dutzend Passagieren unterwegs ist, irgendwo im Herzen von Laos, weit weg vom Rest der Welt. Aus dem dichten Grün schauen ein paar rote Dächer heraus. Ein Pfad führt den Abhang zur Siedlung hinauf. Die goldene Kuppel einer Pagode wird sichtbar. Es sind archaische Szenen, Bilder aus diesen Tagen, die aber ebenso gut aus der Zeit oder einem hundert Jahre alten Reisebuch gefallen sein könnten.
Der Kapitän muss Minuten später wieder jonglieren zwischen Felsen, Inselchen und Stromschnellen, er steuert das Schiff behutsam zur anderen Seite hin. Eine Biegung des Flusses, und plötzlich sind die Hügel an diesem Ufer kahl, braun und grau. Der Wald ist abgeholzt; vor Kurzem erst muss das passiert sein, in einer Gegend, von der wir vorhin von einem Landeskenner gehört haben, dass hier die Abholzung, der Raubbau am Tropengrün, verboten ist, seit Jahren schon.
Zwei Momentaufnahmen, zwei gegensätzliche Eindrücke. Solche Art Abwechslung, so viel Zwiespalt, gibt es an jedem großen Strom, erst recht in den größtenteils armen Ländern links und rechts des Äquators. Hier, an der Lebensader Südostasiens, kommen dem Reisenden die Kontraste an manchen Orten womöglich besonders heftig und verwirrend vor, weil mit dem Mekong ein Mythos verbunden wird, auch und vor allem ein spiritueller Nimbus.
Kein anderer unter den großen Strömen der Welt wechselt so oft seinen Namen. Nur die Bäche und Rinnsaale im tibetischen Hochland, die sich zu den Quellflüssen vereinen, bleiben ohne Bezeichnung. Wo überhaupt der genaue Ursprung des Stromes liegt, der erst viel weiter südlich, schon in den Tropen, seinen Lauf als »Mekong« fortsetzt, ist unter Wissenschaftlern umstritten. Deshalb schwanken die Längenangaben zwischen viertausenddreihundertfünfzig und knapp fünftausend Kilometern.
Im äußersten Nordwesten Chinas, nicht weit entfernt vom Dach der Welt, wächst sich das schmalgliedrige Aderwerk zum »Wilden Fluss« aus, zum Lancang Jiang. Erst im Grenzgebiet von Thailand, Laos, Burma und China, wo sich gerade das einst berüchtigte Goldene Dreieck zur neuen touristisch und wirtschaftlich aufstrebenden Region Goldenes Viereck entwickelt, ist der westlich geprägte Name Mekong entstanden. Es ist ein Kunstwort, zusammengefasst aus dem poetischen Begriff Mae Nam Khong: Mutter aller Wasser. Als Mekong versorgt er im weiteren Verlauf fünf Länder: in Myanmar und Thailand nur auf kurzen Strecken; Laos, Kambodscha und der Süden Vietnams aber sind ohne diesen Fluss nicht lebensfähig.
In Kambodscha, das seit der touristischen Wiederentdeckung von Angkor Wat einen anhaltenden Aufschwung erlebt, wird der Fluss zum »Großen Wasser«, dem Tonle Thom. Er fließt dabei durch den Großen See, Tonle Sap, in der Nähe des Weltwunders Angkor. Dabei ändert er zweimal im Jahr die Fließrichtung, ein Naturschauspiel, das dem Monsun und den damit verbundenen unterschiedlichen Wassermengen geschuldet ist. Noch gilt der Tonle Sap als fischreichstes Binnengewässer der Welt. Dieser Status ist aber so gefährdet wie der Mekong an vielen Stellen. Vor allem die vielen Staudammprojekte in China und Laos, die der Region zum wirtschaftlichen Aufschwung verhelfen sollen, könnten den Fluss über weite Strecken strangulieren.
In Vietnam schließlich verzweigt sich der breite Strom ins Delta der Neun Drachen, ein Netz von einigen Hauptarmen und ganz vielen Nebensträngen. Dieses Delta, so groß wie die Schweiz, mit doppelt so vielen Einwohnern wie Österreich, ist Vietnams Reiskammer, sein Gemüsegarten, seine Obstplantage: pittoresk, fiebernd vor Fleiß und voll praller Vielfalt, wie Asienreisende sie lieben: Flussdampfer, Fährschiffe, Boote und Lastkähne befahren und queren die Gewässer des Deltas. Schwimmende Märkte sind die meistfotografierte Attraktion für die Fremden, vor allem aber sind sie Treffpunkte, Börsen und viel besuchte Andachtsstätten der Einheimischen.
Wilder Fluss, Mutter aller Wasser, Großes Wasser, Delta der Neun Drachen: viele Namen, blumig zwar, aber durchaus begründet. Dem Mekong werden darüber hinaus immer wieder Begriffe zugeordnet, die auf die Spiritualität der Region hinweisen: Buddhas langer stiller Fluss, Buddhas eigener Fluss, Buddhas magischer Strom. Zwar leben an seinen Ufern auch Anhänger des Laotse, des Konfuzius, mancher animistischer oder synkretistischer Richtungen, Muslime, Christen und Atheisten. Für die meisten Reisenden aber werden wohl die buddhistisch geprägten Bilder von Tempeln und Pagoden, von Mönchen in gelborangenen Roben, von Räucherstäbchen und Blumen vor Buddhas Statuen zum Reisemotiv beigetragen haben.
Noch mehr aber dies: Die oft gehörten Klischees von der Freundlichkeit, dem Lächeln und der Sanftmut der Menschen in Südostasien erweisen sich vor Ort vielfach als Realität. Sie machen den Mekong und seine Länder zum Sehnsuchtsziel. Sie lassen aber nur zu gern vergessen, was auch dort geschehen ist: Kriege, seit Geschichte geschrieben wird, Eroberungen, Scharmützel, Erbfeindschaften etwa zwischen Thais und Vietnamesen oder zwischen Vietnam und China, Völkermord innerhalb der eigenen Nation, unvergessen in Kambodscha.
Über lange Zeit waren es europäische Mächte, die versuchten, der Region ihren Stempel aufzudrücken. Aber als die Kolonialepoche und die Stellvertreterkriege vorbei waren, um die Mitte des letzten Jahrhunderts, stellte sich schon bald heraus, wie stark die alten Traditionen sind, wie nachhaltig, um ein Modewort der Zeit zu gebrauchen, auch die Bindungen an Familie, Dorf, an ihre Felder, ihre Religionen und Rituale, die auch Kommunismus und Diktatur bis heute trotzen und im Alltag weitaus tiefer wurzeln als jede Partei.
Die sensibleren unter den Kolonialherren waren von diesen Menschen, den Religionen und den Landschaften entlang des großen Stromes schon früh beeindruckt. Ob Herbert Warington Smyth, britischer Reisender, Ingenieur und Offizier, der 1893 am Oberlauf des wild schäumenden Mekong von einer Schönheit sprach, die er nie zuvor gesehen und die ihn atemlos gemacht habe. Ob Auguste Pavier, ein französischer Abenteurer, der es bis zum Konsul in Luang Prabang, der alten Residenz in Laos, brachte und die Liebe zu Land und Leuten in seinen Büchern oft betonte. Oder ob der Naturforscher Henri Mouhot, der wie kein anderer mitgeholfen hat, die Tempel von Angkor im Westen bekannt zu machen.
Natürlich haben die Europäer, allen voran die Franzosen, Spuren hinterlassen, kulinarische vor allem. Selbst in entlegenen Kleinstädten von Laos oder Vietnam können Baguettes knackiger und Croissants authentischer sein als in manchen Vierteln von Paris. Und während in Frankreich das Bistro langsam stirbt, erfreut es sich in Kambodscha und Vietnam einer gepflegten Renaissance. In Sihanoukville, in Battambang oder in Kambodschas Hauptstadt Phnom Penh zaubern Restaurants aus den Kochkünsten zweier Welten die schönsten Kreationen. Und in Saigon, der boomenden Millionen-Metropole am Rande des Deltas, steigen Reisende gern in Kolonialhotels ab, modernisiert, aber mit dem angemessenen Hauch von Nostalgie.
In den Dörfern des Hochlands von Laos und sogar in der Umgebung der vielbesuchten Königsstadt Luang Prabang läuft dagegen der Alltag in einem beschaulichen Rhythmus ab, wie ich ihn schon vor Jahrzehnten kennen- und lieben gelernt habe. Badeziele wie Sihanoukville und die vielen kleinen Inseln vor der Küste Kambodschas erleben dagegen gerade einen Aufschwung, der aber nicht so wirkt, als würde dort der Ballermann einziehen oder Phuket und Pattaya kopiert werden. Die Ruinen von Angkor und das benachbarte Städtchen Siem Reap ächzen allerdings unter dem immer noch wachsenden Ansturm von Touristen aus aller Welt.
So turbulent die Vergangenheit der Mekongländer war, so vielfältig sich der Fluss über alle Etappen von den höchsten Bergen der Welt zum heißen Delta am Südchinesischen Meer zeigt, so ungewiss ist die Perspektive für die Region und ihre Menschen. Die Abholzung der Uferwälder, die traditionelle Brandrodung vieler im Stich gelassener kleiner Volksgruppen, die gigantisch geplanten Staudämme – sechs allein in Laos –, die Straßen- und Brückenprojekte, werden den Lebensstandard vieler Menschen am Mekong heben. Die kleinen Länder und erst recht der Riese China wollen und können nicht auf die Energiereserven verzichten, die im Mekong schlummern. Das Gesicht dieses magischen Stroms wird sich aber wohl in zehn oder zwanzig Jahren dramatisch verändert haben, weit mehr jedenfalls, als es den Auswirkungen des Tourismus so gern zugeschrieben wird.
Kunming, morgens um halb acht. Es ist unser erster Tag in der Sieben-Millionen-Metropole, Hauptstadt der Provinz Yunnan im Südwesten Chinas. Der Blick aus dem Hotelzimmer zeigt Hochhausschluchten, Autoschlangen, hastig trippelnde Menschen, die einen Mundschutz tragen, insgesamt eine triste Szenerie. Irgendwo muss auch die Sonne scheinen, aber sie dringt nicht wirklich durch den Grauschleier aus Dunst und Smog. Das also soll die »Stadt des ewigen Frühlings« sein, »charmant und überschaubar«, wie sie in einem Reiseführer vorgestellt wird, der gerade mal sechs Jahre alt ist.
Einen Tag später, im Bambuskloster am Stadtrand, auf knapp zweitausend Meter Höhe. Die roten Lampions und die grünen Ziegeldächer glänzen im Sonnenschein. Die Luft ist frisch, es duftet intensiv nach Blumen und Räucherstäbchen. Ältere Herren haben ihr Mahjongg-Brett auf eine Steinmauer gelegt und geben sich ihrem Spiel hin. Ein junges Mädchen, halb schüchtern, halb neugierig, bietet uns eine Handvoll Wassermelonenkerne an.
Eben noch Dreck und Hektik, und jetzt, kurz darauf, übertragen sich Ruhe und Gelassenheit auf den Besucher. Solche krassen Gegensätze sind typisch für Reisen durch das China von heute. Klischees und Vorurteile, die gerade bestätigt wurden, lösen sich binnen Stunden in Wohlgefallen auf. Orte der Harmonie wie der Tempel der Erlesenen Blume, ganz nah an der rasant wachsenden Stadt, wirken, als wären sie Vorbilder für Tuschezeichnungen aus dem alten China gewesen.
Wir sind unterwegs in der südwestlichen Randprovinz des Riesenreiches, die ihren Anspruch auf Teilhabe am internationalen Tourismus gerade erst angemeldet hat, überraschend spät. Denn Yunnan, etwa so groß wie Deutschland und Holland zusammen, ist vielfältig wie keine andere Region in China. Nirgendwo sonst lebt eine so bunte Schar kleiner Völker neben- und miteinander, die allesamt ihre Eigenarten, Religionen, Trachten, Sprachen und Schriften durch die Jahrhunderte und sogar über die Kulturrevolution hinweg bewahren konnten.
Und nirgendwo anders in China weisen auch die Lebensräume von Tieren und Pflanzen eine solche Vielfalt auf wie im »Land südlich der Wolken«, so die Übersetzung von Yunnan: im Norden die Ausläufer des Himalaya, die bis auf sechs- und siebentausend Meter ansteigen, davor Hochebenen, über die Nomaden mit ihren Yakherden ziehen. Im Süden hingegen, im Goldenen Dreieck zwischen Burma und Laos, dampft tropischer Dschungel, seit ewigen Zeiten ein Schlupfwinkel für Opiumschmuggler und gern verklärter Ort exotischer Geheimnisse.
Dazwischen grüne Hügel, Teeplantagen, Bambus und Regenwald, letzte Zufluchtsorte für Elefanten und Pandabären. Legendäre Flüsse, die als Rinnsale aus dem Himalaya kommen, mäandern durch gewaltige Felsschluchten und entwickeln sich noch in Yunnan zu den mächtigsten Strömen Asiens, allen voran der Yangzi, in Europa noch immer besser als Jangtsekiang bekannt, und der Mekong, dessen Verlauf wir in diesem Buch begleiten wollen.
Also raus aus Kunming, der Stadt, die Träume zerstört und zugleich Sehnsüchte weckt, nach dem anderen, dem ewigen China, das sich denn doch überraschend leicht finden lässt. Schon nach hundertzwanzig Kilometern Fahrt in Richtung Südosten verlaufen wir uns im »Labyrinth der Liebenden«, einer Karstregion, in der bizarre Felsnadeln dicht an dicht in den Himmel ragen. Shi Lin, Steinwald, heißt diese Märchenlandschaft, deren Formen an Bäume oder Pilze erinnern, an Pagoden und Drachen, vielleicht auch an die Silhouetten von Mao, Konfuzius oder an den eigenen Vater.
So ein Platz muss sagenhaften Ursprungs sein. Also erzählt man sich bis heute die Geschichte eines weisen Zauberers, dem ein Liebespaar klagte, nirgendwo Platz für sich allein zu finden. Prompt ließ er Gestein wie Mikado-Stäbchen auf die Erde fallen, und seither können Liebespaare im Schatten der schlanken Felsen ungestört turteln. Wer will da noch die geologische Erklärung für den Steinwald hören, Fakten über ein Meer in grauer Vorzeit, von tektonischen Verwerfungen, ausgewaschenen Sedimenten, Erosionen …
Zwischen Lotusblumen-Gipfel und Schwertspitzen-Teich treffen wir erstmals auf Angehörige der so genannten Minderheitenvölker, fünfundfünfzig soll es in ganz China geben, sechsunddreißig davon in Yunnan. Hier, in der Gegend von Shi Lin, sind es blau und schwarz gekleidete Sani-Leute, eine Untergruppe der Yi. Sie bauen Reis an und Tabak und treffen sich mehrmals im Jahr im Labyrinth der wundersamen Kegel und feiern dort, wie sie es seit Jahrhunderten gewohnt sind, mit ihren Ahnen, mit guten Geistern und alten Göttern.
Kurz vor Sonnenuntergang glühen die Felsnadeln dunkelrot auf und werfen magische Schatten. Auf einer Lichtung, etwas abseits des steinernen Waldes, genießen Chen Xulu und Dai Liming das Schauspiel. Sie gehören zum Volk der Dai. Mit dem Überlandbus waren sie Tag und Nacht unterwegs, um den Steinwald zu sehen; für ein paar Stunden der Zweisamkeit haben sie sich von ihrer Reisegruppe getrennt. Nächste Woche wollen sie in Jinghong, weit im Süden Yunnans, nach alter Väter Sitte heiraten, Chen, der Ingenieur und Dai, die Lehrerin.