Mirjam Pressler
Ein Buch für Hanna
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© 2011 Beltz & Gelberg in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Frank Griesheimer
Neue Rechtschreibung
Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg
Umschlagabbildungen: Flügel von Giotto (Meerfahrt, Engel)
akg-images/Stefan Ditter; Foto von Wilhelm Tobien, 1934, National Geographic Image Collection/Bridgeman Berlin
ebook: Druckhaus »Thomas Müntzer«, Bad Langensalza
ISBN 978-3-407-74311-4
Da schmolz der Zinnsoldat zu einem Klumpen zusammen, und als das Dienstmädchen die Asche aus dem Ofen nahm, fand sie diesen Klumpen, der die Form eines Herzens hatte. Von der Tänzerin war nur der Goldflitter übrig geblieben, und der war kohlschwarz verbrannt.
Hans Christian Andersen, Der standhafte Zinnsoldat
Vor über dreißig Jahren habe ich Hanna B. kennengelernt, in einem Kibbuz im oberen Galiläa, und ab da habe ich sie fast jedes Jahr getroffen. Wir mochten uns und haben oft lange Unterhaltungen geführt. Natürlich erzählte sie mir auch viel aus ihrem Leben.
Ihr Tod im Jahr 2006 hat mich sehr getroffen, ich habe seither nicht aufgehört, an sie zu denken. Sie war eine ungewöhnliche Frau, freundlich und sanftmütig mit einem guten, mitfühlenden Herzen, sie war a mentsch, ein jiddisches Wort, das vor allem Güte und Menschlichkeit ausdrückt. Ich habe mich immer gefragt, wie sie nach allem, was sie durchstehen musste, so werden konnte, und seit ihrem Tod lässt mich diese Frage nicht mehr los.
Ich hätte gern ein Buch über Hanna geschrieben, aber dazu hätte ich, als es noch möglich war, die richtigen Fragen zu ihrer Biografie stellen müssen. Das habe ich nicht getan, dieser Plan ist erst langsam in mir gereift.
Die Hanna, von der ich in diesem Buch erzähle, ist also nicht Hanna B., auch wenn manches von dem, was sie mir erzählt hat, in diese Geschichte eingeflossen ist. Ich betrachte ein Mädchen, dem seine Jugend gestohlen wurde, und konzentriere mich dabei auf die Jahre zwischen vierzehn und zwanzig. Dabei versuche ich nicht, in die Figur hineinzukriechen, das verbietet mir die Achtung vor dieser Frau. Ich stelle die Frage: Wie kann ein Mädchen, das statt Förderung fast nur Verluste erlebt und beinahe ausgelöscht wird, später als junge Frau so kraftvoll, warmherzig und glücksfähig sein, wie hat sie es geschafft, unter solchen Umständen a mentsch zu werden? Eine allgemeingültige Antwort gibt es nicht, mein Buch kann nur Hinweise geben, die dem Leser ermöglichen, jenem Geheimnis selber nachzuspüren. Ich möchte nicht, dass die Geschichte von Hanna B., soweit ich sie kenne, unerzählt bleibt und vergessen wird. Ich konnte kein Buch über Hanna schreiben, dazu ist es zu spät, also habe ich ein Buch für Hanna geschrieben.
Mirjam Pressler, im Oktober 2010
Erstes Kapitel
Die Sonne brannte vom Himmel, als wäre Hochsommer, dabei war es erst Anfang Mai. Der Schweiß lief Hannelore über das Gesicht, und obwohl sie sich immer wieder mit dem Unterarm über die Stirn wischte, rannen ihr manchmal Schweißtropfen in die Augen und brannten schrecklich. Nur mit Mühe hielt sie sich davon ab, mit ihren erdverschmierten Fingern die Augen zu reiben, denn durch Reiben würde es, das wusste sie, nur noch schlimmer werden. Sie richtete sich auf und dehnte die Schultern nach hinten, spannte sie abwechselnd an und ließ sie wieder locker, um den schmerzenden Rücken zu entlasten, bevor sie sich erneut bückte, eine der durchgeschnittenen Kartoffeln aus dem Eimer nahm und in die lange, schnurgerade Furche legte, die Hella mit einer Hacke gezogen hatte.
Am Abend zuvor hatten sie am Lagerfeuer gesessen und die Kartoffeln zurechtgeschnitten. »Passt auf, dass bei jedem Stück mindestens zwei Augen bleiben«, hatte Joschka ihnen erklärt. »Wenn eine Kartoffel nur drei Augen hat, lasst ihr sie ganz. Hat sie mehr als drei, wird sie durchgeschnitten, damit ihr aus einer großen Kartoffel zwei oder drei Schnitze zum Stecken kriegt. Wir müssen sparsam sein.«
Sparsam sein, damit kannte Hannelore sich aus, Sparsamkeit bestimmte ihr Leben. »Wir müssen sparen« war wohl der Satz, den ihre Mutter am häufigsten benutzte. Helene, ihre große Schwester, hatte einmal gesagt, früher, als ihr Vater noch lebte, sei alles anders gewesen, aber daran konnte Hannelore sich nicht erinnern. Sie wusste nur, wer heute nicht spart, kann morgen schon verhungern, und jeder Pfennig, den man ohne Not ausgibt, pflastert den Weg ins Verderben. Ihre Mutter passte auf, dass sie das nicht vergaß. Für sie war es also das Selbstverständlichste von der Welt, dass man sparsam sein musste, aber woher wusste es Joschka, der in Leipzig in dem feinen Waldstraßenviertel wohnte und offensichtlich alles bekam, was er wollte? Joschka, der ihr letzte Woche sogar eine Tafel Schokolade geschenkt hatte, als ihm aufgefallen war, dass niemand an ihren Geburtstag gedacht hatte.
Es war ihr vierzehnter Geburtstag gewesen, der erste, den sie allein gefeiert hatte, ohne ihre Mutter, die ihr ein Päckchen mit einer Garnitur lachsfarbener Unterwäsche geschickt hatte. Sie hatte ihren Geburtstag verschwiegen, weil sie den anderen keine Gelegenheit bieten wollte, wieder damit anzufangen, wie jung sie doch war. Deshalb hatte sie natürlich auch keine Geschenke bekommen. Außer Joschkas Schokolade, und die hatte sie fast zum Weinen gebracht.
Hannelore bückte sich, häufelte Erde auf die Kartoffelschnitze und drückte sie fest, wie Hella es ihnen gezeigt hatte. Die Erde war sonnenwarm und bröckelig, sie fühlte sich nachgiebig an, noch weicher als Samt, zerfiel zwischen ihren Fingern und ließ sich unter den Fußsohlen zerquetschen. Wenn sie die Zehen bewegte, spürte sie, wie sich trockene, warme Sandwülste zwischen ihnen hindurchdrückten und auf ihrem Fußrücken auseinanderbrachen. Auf dem Weg vom Schlösschen zum Acker war der Riemen ihrer rechten Sandale gerissen, deshalb hatte sie die Schuhe ausgezogen und auf dem Feldweg am Rand des Ackers stehen gelassen, neben den Körben mit den Wasserflaschen und den Broten fürs Mittagessen.
Hannelore hob das Gesicht, die Sonne flimmerte vor ihren Augen. Die Mädchen in den Reihen neben ihr waren schon ein paar Meter weiter als sie, sie musste sich beeilen, wenn sie nicht gar zu weit zurückfallen wollte. Sie zwang sich, den Schmerz in ihrem Rücken und ihre brennende Haut zu ignorieren. Sie wollte nicht wieder die Letzte sein, das kleine dumme Ding, dem man helfen musste. Dabei wusste sie, dass niemand ihr Vorwürfe machen würde. Mira und die anderen würden höchstens sagen: »Armes kleines Püppchen«, und dann ruck, zuck das erledigen, was »die Kleine« nicht hinbekommen hatte.
Hannelore legte das nächste Kartoffelstück in die Furche. Die Schalen waren von einem fahlen Graubraun, so hell wie die Erde, nur die angelaufenen Schnittflächen hoben sich von ihrer Umgebung ab. Viele Kartoffeln hatten schon getrieben, weiße Keime, gekrümmt wie dicke Maden, bei anderen waren nur rötlich umrandete, warzige Augen zu sehen, die in der Erde hoffentlich bald aufplatzen und den Keim freigeben würden. »Augen nach oben«, meinte sie Hellas strenge Stimme zu hören, und drehte schnell das Kartoffelstück so, dass die Augen nach oben schauten, zum Himmel, wenigstens einen Moment lang, bevor sie unter der Erde begraben wurden.
Die Haut in ihrem Gesicht und auf ihren Armen spannte. Bestimmt würde sie wieder einmal einen Sonnenbrand bekommen, den ersten in diesem Jahr, aber vermutlich nicht den letzten.
Bücken, ein Kartoffelstück aus dem Eimer nehmen, in die Furche legen, Erde anhäufeln, festdrücken. Den Eimer, der zum Glück ständig leichter wurde, einen Schritt weitertragen, bücken, ein Kartoffelstück in die Furche legen, Erde anhäufeln, festdrücken. Immer die gleichen Bewegungen. Und immer diese brennende Sonne, die wie festgewachsen am Himmel hing und sich einfach nicht weiterbewegen wollte.
Mira, die schon fast am Ende ihrer Reihe angekommen war, rief ihr etwas zu, was Hannelore aber nicht verstand. Sie tat, als hätte sie ihren Namen nicht gehört, sie hatte keine Lust, mit Mira zu sprechen, jetzt nicht. Sie wollte die andere noch nicht einmal anschauen. Mira würde keinen Sonnenbrand bekommen, so braun, wie sie war, sie litt offenbar nicht unter der Hitze und schien auch nicht zu schwitzen, obwohl sie schneller arbeitete als die meisten Mädchen, jedenfalls schneller als Hannelore. Mira war ihr unheimlich, sie verstand die herablassende Freundlichkeit nicht, die sie ihr gegenüber an den Tag legte. Hannelore zog es vor, übersehen zu werden, daran war sie gewöhnt. »Ein jüdisches Kind darf nicht auffallen«, das war der zweithäufigste Satz ihrer Mutter. Außer wenn man Mira heißt und so schön und reich ist, dachte Hannelore jetzt bitter.
Es wäre ihr nie eingefallen, Mira zu beneiden, weil sie von allen bewundert wurde. Neid macht dem Menschen nur das Herz schwer und vergiftet seine Gedanken, man muss zufrieden sein mit dem, was man hat, sagte ihre Mutter immer. Nein, Hannelore war weder neidisch auf Miras Aussehen noch auf ihre hübschen Kleider. Noch nicht mal darauf, dass Joschka ihr Bruder war, obwohl sie solch einen Bruder gern gehabt hätte.
Was sie Mira aber nicht verzeihen konnte, war, dass sie den Spitznamen »Püppchen« für sie erfunden hatte. »Was, du bist wirklich schon vierzehn?«, hatte sie erstaunt gefragt, als Hannelore im April nach Ahrensdorf gekommen war. »Ich habe immer gedacht, du bist höchstens elf oder zwölf.« Hannelore hatte nicht gesagt, dass sie erst in ein paar Wochen vierzehn werden würde, und Mira hatte angefangen, sie »Püppchen« zu nennen, ein Name, den die anderen Mädchen sofort übernommen hatten.
Manchmal hörte es sich fast freundlich an, wenn sie »armes Püppchen« sagten, und gelegentlich brachte es Hannelore auch Vorteile, so klein und dünn zu sein, zum Beispiel wurde ihr beim Essen oft eine zusätzliche Portion zugeschoben, oder jemand beeilte sich, für sie einen Sack zu schleppen oder den großen Wäschetopf vom Herd zu heben, weil das »einfach zu schwer für die Kleine« war. Doch meistens hasste Hannelore den Namen Püppchen, er machte sie vor aller Augen so klein und mickrig, wie sie sich selbst oft fühlte. Dann war sie sich bewusst, wie dünn sie war, dass sie die Arme und Beine eines Kindes hatte und auch so flachbrüstig war wie ein Kind. Ganz anders als Mira, bei der sich die Bluse über der Brust spannte, wenn sie sich reckte, sodass man manchmal fürchten konnte, die Knöpfe würden abspringen.
Erneut hörte sie Miras Stimme. »Püppchen, schau doch, wer da kommt!«
Widerstrebend hob Hannelore den Kopf und ihr Blick folgte Miras ausgestrecktem Arm. Nun sah sie es auch, es war Joschka, der aus der Richtung der Hachschara1) herübergeradelt kam. Inzwischen hatten die anderen Mädchen ihn auch bemerkt, den schönen Joschka. Der schönste Junge von Ahrensdorf, vielleicht sogar von ganz Deutschland, wie sie sich oft gegenseitig versicherten, kichernd, mit geröteten Wangen und funkelnden Augen.
1) Mit einem Sternchen gekennzeichnete Wörter sind im Glossar am Ende des Buches kurz erklärt.
Eine nach der anderen richteten sie sich nun auf und schauten ihm erwartungsvoll entgegen. Er war verschwitzt und atmete schwer, als er vor dem Kartoffelacker hielt, absprang und das Rad auf den Boden legte. Die Mädchen rannten zu ihm hin, umringten ihn neugierig. Er zog einen Zettel aus der Tasche und las die Namen von neun Mädchen vor, zu denen auch Hannelore und Mira gehörten, außerdem Rachel, die ebenfalls aus Leipzig stammte, Rosa aus Bautzen, Bella und Estherke aus Dresden und drei Mädchen aus Berlin, von denen Hannelore nur zwei dem Namen nach kannte, Eva und Elisabeth. Die dritte sah älter aus als die anderen, schon fast wie eine Frau, trotz des mädchenhaften Zopfs, den sie sich zum Arbeiten hochsteckte.
»Was ist mit uns?«, fragte Mira.
»Ihr geht auf der Stelle zurück zum Schlösschen, ich erwarte euch in meinem Büro«, sagte Joschka, und als die Mädchen wissen wollten, was los sei, fügte er schroff hinzu: »Keine Diskussion, ihr seid in spätestens einer halben Stunde bei mir.«
Er hob sein Fahrrad hoch, um zurückzufahren, da sagte Mira: »Dann nimm wenigstens Püppchen auf dem Rad mit. Schau doch, wie rot die Kleine ist. Macht jedem Krebs Konkurrenz.«
Joschka wartete, bis Hannelore ihre Sandalen geholt hatte und auf den Gepäckträger gestiegen war. Das Fahrrad schwankte auf den holprigen Feldwegen hin und her, und Hannelore musste die Arme um Joschkas Bauch legen, um nicht hinunterzufallen. Es war ein seltsames Gefühl, das Gesicht so nah an Joschkas Rücken zu haben, dass sie durch das Hemd hindurch seine Wärme spürte. Er roch nach einer Mischung aus Seife und Schweiß und ein bisschen nach Schokolade. Als sie das Schlösschen erreicht hatten, sprang Hannelore ab und bedankte sich bei Joschka, bevor sie zur Pumpe ging, um sich zu waschen. Danach setzte sie sich in den Schatten unter einem Baum und wartete auf Mira und die anderen.
Schließlich standen sie in Joschkas Büro, einem kleinen, karg eingerichteten Raum, dessen einziger Schmuck eine große Landkarte war, die mit Reißzwecken an der Wand hinter Joschkas Schreibtisch befestigt war. Es war eine alte, kolorierte Karte von Erez Israel*, von Palästina, in die sie während des Unterrichts mit sorgfältig gemalten hebräischen Buchstaben die Namen der neuen jüdischen Städte und Siedlungen eingetragen hatten.
Joschka hob den Kopf, als auch die drei Berlinerinnen den Raum betreten hatten. Der Reihe nach musterte er die Mädchen, dann sagte er: »Ihr fahrt noch heute nach Hause zurück und wartet dort, bis ihr Nachricht bekommt. Wir haben Plätze für euch in Dänemark.«
»Wieso Dänemark?«, rief Mira und funkelte ihren Bruder wütend an. »Was heißt da Dänemark? Wir wollen nach Palästina, nicht nach Dänemark.«
»Wir haben Plätze für euch in Dänemark und ihr solltet froh und glücklich sein«, erklärte Joschka mit unbewegtem Gesicht. »Reiß dich zusammen, Mira, ich will keine Widerworte hören.«
»Keine Widerworte«, höhnte Mira. »Du glaubst wohl, du könntest über mich bestimmen, nur weil du Madrich* geworden bist. Bilde dir ja nichts ein!«
Sie ballte die Hände zu Fäusten und hob sie vor die Brust, als wolle sie gleich auf ihren Bruder losgehen. Auch die anderen Mädchen machten finstere Gesichter und protestierten laut, sogar Estherke, die mausgraue, ziemlich kleine Dresdenerin, die sonst kaum den Mund aufmachte. Hannelore blieb still, obwohl auch sie nicht an Dänemark gedacht hatte, nur an Palästina, wohin ihre große Schwester Helene bereits vor drei Jahren gezogen war. Was sollte sie in Dänemark?
Joschka sah auf einmal gar nicht mehr so schön aus. Der Ärger verfinsterte sein Gesicht, sein Mund verzerrte sich und über seiner Nase bildete sich eine hässliche, senkrechte Falte. Er fauchte böse: »Ihr solltet froh sein, dass ihr aus diesem verdammten Land rauskommt! Ihr seid die Glücklichen, die Auserwählten.«
»Ich will aber nach Palästina«, sagte Mira wütend. Die anderen Mädchen nickten und strafften die Schultern, nur die Berlinerin mit dem Zopf nickte, als wäre ihr alles klar.
»Du tust, was man dir sagt«, fuhr Joschka seine Schwester an, noch immer mit diesem neuen, finsteren Gesicht. »Du fährst nach Dänemark, und wenn ich dich höchstpersönlich zum Bahnhof prügeln muss.«
Mira presste die Lippen zusammen und schwieg, aber man sah ihr an, dass sie nur widerwillig gehorchte.
»Packt eure Rucksäcke und beeilt euch, dann erreicht ihr noch den Nachmittagszug von Trebbin nach Berlin und auch die Anschlüsse nach Leipzig, Dresden und Bautzen. Ich habe dem Küchendienst Bescheid gesagt, dass man euch was zu essen mitgibt. Also ab mit euch.« Und etwas leiser fügte er hinzu: »Ich wünsche euch viel Glück.«
Hannelore betrachtete ihn erstaunt. Plötzlich sah er wieder schön aus. Schön und traurig.
Als sie in Leipzig ankamen, wurde es bereits dunkel. Mira und Rachel brachten Hannelore nach Hause. »Man kann die Kleine doch nicht allein durch die Nacht laufen lassen«, hatte Mira gesagt. Sie gingen die Querstraße entlang und bogen in die Dresdener Straße ein. Bald hatten sie das Viertel mit den hohen, düsteren Mietshäusern erreicht, in dem Hannelore in einem Hinterhaus wohnte. Die Straßenlaternen brannten, aber sie standen so weit voneinander entfernt, dass ihr Licht nur blasse, verschwommene Flecken auf das Pflaster warf. Auf dem ganzen Weg hatte Hannelore gefürchtet, die beiden Mädchen würden sie bei ihrer Mutter abliefern wollen, und sie hatte fieberhaft nach einer Ausrede gesucht, um sie davon abzuhalten. Dann hätten sie die kleine, enge Wohnung gesehen, nur Küche und Schlafzimmer, Toilette auf halber Treppe. Mira, deren Vater Pelzhändler war, und Rachel, die Tochter eines Augenarztes, wohnten beide im Waldstraßenviertel, wo es Häuser mit prachtvollen Fassaden und große Wohnungen mit Stuckdecken gab.
Doch als sie das Haus erreichten und vor dem Durchgang zum Hinterhaus stehen blieben, stellte sich heraus, dass Hannelores Befürchtung überflüssig gewesen war. »Mach’s gut, Püppchen«, sagte Mira. »Bis bald. Und vergiss nicht, dich einzucremen.« Sie fuhr Hannelore durch die Haare, dann liefen Rachel und sie so schnell davon, dass die Rucksäcke auf ihren Rücken hüpften.
Hannelore stieg in dem dunklen, je Stockwerk nur von einer einzigen Glühbirne erleuchteten Treppenhaus die Stufen hinauf zum vierten Stock. Es roch wie immer nach Kohl und nasser Wäsche, nach Feuchtigkeit, Staub und Schimmel.
Ihre Mutter wusste schon Bescheid, die Leute von Habonim* waren bei ihr gewesen und hatten mit ihr gesprochen. Ihre Augen waren rot, die wimpernlosen Lidränder geschwollen. Hannelore fragte sich, ob sie wieder einmal an einer Bindehautentzündung litt, weil sie zu lange gestopft, geflickt und genäht hatte, oder ob sie aus Gram geweint hatte, weil nun auch ihre zweite Tochter Deutschland verlassen würde.
Auf einem Stuhl lag die ordentlich gefaltete Wäsche, die die Mutter für ihre Kundinnen ausgebessert hatte, ein zweiter Stapel lag auf dem Tisch, und auf der Nähmaschine, die vor dem Fenster stand, sah Hannelore Vorhänge aus zarten, geblümten Musselinwolken. Sie trat näher und berührte den Stoff, der sich noch weicher anfühlte, als er aussah. Bevor ihre Mutter sie ermahnen konnte, nichts schmutzig zu machen, zog sie die Finger zurück. »Für wen?«, fragte sie.
Ihre Mutter stellte gerade einen Topf auf den Gasherd, nun drehte sie sich zu Hannelore um. »Für Frau Doktor Sedlitz, ich muss bis morgen fertig werden.«
Bald roch die ganze Küche nach Kartoffelsuppe. Ihre Mutter schöpfte dampfende Suppe in einen Teller und stellte ihn auf den Tisch. »Hier, Kind, lass es dir schmecken«, sagte sie. »Ich habe schon gegessen.«
Hannelore nahm einen Löffel aus der Schublade und die Mutter setzte sich an die Nähmaschine. Sie nähte schweigend und Hannelore aß schweigend. Jetzt erst, nach den vielen Wochen in Ahrensdorf in Gesellschaft all der Jugendlichen, die sogar beim Essen laut redeten, laut lachten und diskutierten, fiel ihr auf, wie still es bei ihr zu Hause war. Ihre Mutter sprach nicht viel, sie war sparsam selbst mit ihren Worten, als hätte sie Angst, einen kleinen Vorrat unnötig zu vergeuden.
Hannelore spülte ihren Teller und den Löffel unter dem Wasserhahn ab. Ihr Gesicht und ihre Arme fühlten sich unangenehm heiß an, die Haut spannte und brannte. »Ich gehe ins Bett«, sagte sie.
»Ja, geh nur, Kind, und schlaf gut«, sagte die Mutter, über die Musselinwolken gebeugt.
Hannelore zog sich im Schlafzimmer aus, schmierte sich noch Creme aus der Nachttischschublade auf Gesicht und Arme und die ebenfalls geröteten Fußrücken, dann knipste sie das Licht aus und schlüpfte in das frisch gewaschene Nachthemd, das ihre Mutter für sie bereitgelegt hatte, bevor sie in das linke der beiden Ehebetten schlüpfte, in denen sie bis vor drei Jahren, bis Helene mit einigen aus ihrer Jugendgruppe nach Palästina ausgewandert war, zu dritt geschlafen hatten. Es war fast dunkel, nur durch die Tür fiel ein scharfkantiger Streifen Licht aus der Küche und verlor sich in der Dunkelheit.
Dänemark, dachte sie und versuchte sich zu erinnern, was sie in der Schule über das Land gelernt hatte. Aber außer Meer und Inseln und Kopenhagen fiel ihr nichts ein. Und natürlich der Belt, den sie aus dem Deutschlandlied kannte: Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt, Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt. Sie dachte auch daran, dass Hans Christian Andersen Däne gewesen war und in Dänemark all diese wunderbaren Märchen geschrieben hatte, die sie ganz besonders liebte. Und dann dachte sie: Ich werde das Meer sehen, ich habe noch nie das Meer gesehen, ich kenne es nur aus Büchern. Weit draußen im Meer ist das Wasser so blau wie die schönste Kornblume und so durchsichtig wie das reinste Glas, aber es ist dort sehr tief, tiefer als das längste Ankertau. Sie schloss die Augen und sah die Postkarte vor sich, die Helene damals, auf der Fahrt nach Palästina, von unterwegs geschickt hatte und die nun an der Wand neben der Nähmaschine hing: im Vordergrund Palmen, dann das blaue Meer, wirklich so blau wie die schönste Kornblume, und am Horizont die aufgehende Sonne, die den Himmel rot färbte. Nun ja, Palmen gab es in Dänemark bestimmt nicht, Dänemark lag noch weiter im Norden als Leipzig.
Durch die offene Tür konnte Hannelore das anhaltende Rattern der Nähmaschine hören, das immer kurz unterbrochen wurde, wenn die Mutter den Stoff in eine andere Richtung schob. Das Geräusch war ihr so vertraut wie das Schlagen der nahen Kirchturmuhr und wie die Atemzüge ihrer Mutter, wenn sie im Bett neben ihr lag. Und obwohl das eintönige Rattern sonst so einschläfernd auf sie wirkte und obwohl sie wirklich müde war, konnte sie an diesem Abend keinen Schlaf finden. Vielleicht lag das an ihrer Haut, die jetzt, nachdem die Salbe eingezogen war, wieder anfing zu brennen. Jedenfalls war sie noch wach, als sie hörte, wie ihre Mutter ein letztes Mal zur Toilette ging, bevor sie die Küchentür abschloss, das Licht ausmachte, sich auszog und im Dunkeln ins Schlafzimmer kam. Das Bettgestell knarrte und die Zudecke raschelte, als sie sich in das rechte Bett legte. Die Kirchturmuhr schlug elf.
»Schlaf gut, Mama«, sagte Hannelore.
Ihre Mutter schwieg lange, doch dann brach es aus ihr heraus: »Ich hätte euch nie zum Bund* gehen lassen dürfen, Helene und dich. Jetzt nehmen mir die Zionisten* auch noch die zweite Tochter weg.«
Hannelore hörte die Verzweiflung in der Stimme ihrer Mutter. »Soll ich hierbleiben?«, fragte sie. »Sie können mich nicht zwingen. Sag, soll ich bei dir bleiben?«
Eine Weile war es still, dann sagte die Mutter mit einer Stimme, der man die Tränen anhörte: »Nein, du gehst. Helene hat auch geschrieben, ich soll schauen, dass ich dich aus Deutschland rausbekomme. Wer weiß, was uns noch alles bevorsteht mit diesem Hitler und seinen Kohorten. Ich bin nur eine arme Frau, ich kann dich nicht beschützen. Du gehst, hast du verstanden? Und jetzt gute Nacht, Kind, es ist schon spät, wir müssen schlafen.«
Die Mutter drehte ihr den Rücken zu und sagte nichts mehr. Aber ihre Atemzüge waren unregelmäßig und gepresst, als bemühe sie sich, das Weinen zu unterdrücken. Hannelore schloss die Augen und dachte: Ich werde das Meer sehen. Und Dänemark, das Land der Märchen. Und sie dachte auch: Vielleicht bin ich ja das hässliche junge Entlein, das in Dänemark zu einem Schwan heranwächst? Bei diesem Gedanken musste sie lächeln. Sie war froh, dass ihre Mutter dieses Lächeln nicht sehen konnte.
Im Zimmer war es sehr dunkel und trotz des offenen Fensters hing in der Wohnung noch immer der Geruch nach Kartoffelsuppe.
Riwke Salomon
Nach Dänemark, haben sie gesagt, die Leute vom Bund. Zu zweit sind sie gekommen, wie damals, als ich für Helene unterschreiben musste. Hier, Frau Salomon, da, wo das Kreuzchen ist, und ich hab unterschrieben, weil Helene das wollte, und keine vier Wochen später war sie fort und ich hab sie nicht mehr gesehen. Nichts hab ich mehr von ihr, nur noch das Passbild, das sie letztes Jahr geschickt hat. Mit ganz kurzen Haaren wie ein Mann.
Auch diesmal waren sie zu zweit, ein schlaksiger junger Kerl und ein Mädchen, so blond wie eine Schickse. Sie war es, die geredet hat. Sagen Sie Ja, Frau Salomon, es ist eine Chance für Hannelore, die dürfen Sie einfach nicht ausschlagen, Sie sehen doch selbst, dass es hier immer schlimmer wird.
Ihre Stimme war ölig wie Fettgebackenes und triefend wie Honig, aber ich hab genau gesehen, mit was für Augen sie sich in meiner Küche umgeguckt hat, diese Schickse, Augen wie eine Schlange hat die gehabt. Sie dürfen Hannelore diese Möglichkeit nicht verbauen, hat sie gesagt. Als wär sie ganz sicher, dass sie recht hat. Dass sie immer recht hat.
Wenn man so aussieht wie die, hat man leicht reden.
Ich hab nicht gewusst, was ich sagen soll, was hätt ich auch sagen können, ich hab nur genickt und den Füller genommen, den sie mir hingehalten hat, und dann hab ich unterschrieben, wo sie den Finger draufgelegt hat. Richtig gesehen hab ich da schon nichts mehr, weil meine Augen nass geworden sind. Und dann sind sie weggegangen und ich hab mich um die Flickwäsche von Frau Ziegler aus der Drogerie gekümmert. Ihre Zwillinge haben schon wieder zerrissene Hosen und Löcher in den Strümpfen. Solche Lausbuben und gleich zwei auf einmal, das ist eine Strafe Gottes, sagt Frau Ziegler immer. Trotzdem, sie kann ihre Kinder behalten.
Hachschara nennen sie das, wo sie die Kinder hinbringen, die sie ihren armen Müttern wegnehmen, weil die sich nicht wehren können. Dort sollen sie Landwirtschaft lernen, damit sie später in Erez Jisroel* den Boden bearbeiten können. Den Boden bearbeiten, wenn ich so was schon höre. Die Mädchen sollten lieber nähen lernen, dann hätten sie was fürs Leben. Ohne Nähen hätte mich Chajmke damals nicht genommen, er braucht eine Frau wie mich, hat er gesagt, die nähen kann und was von Stoffen versteht und die sich nicht zu fein ist, auch mal zuzupacken und ihrem Mann zu helfen, wenns nötig ist. So eine bin ich gewesen.
Jetzt ist sie da, meine Hannelore, sie liegt drüben im Bett. Rot wie eine überreife Tomate ist sie, die arme Kleine. Dass sie sich, Gott behüte, keinen Sonnenstich geholt hat! Die Leute dort hätten auf sie aufpassen sollen, warum haben sie nicht besser auf sie aufgepasst? Und ich muss noch die Vorhänge für diese feine Dame fertig machen, die Frau von Doktor Sedlitz, viel Arbeit für die paar Mark, die ich dafür bekomme. Aber ich kann froh sein, dass sie mir überhaupt ein bisschen Arbeit geben, die arischen Damen. Die Doktorin hat ihr Dienstmädchen geschickt, abends, als es schon dunkel war, damit keiner sie sieht. Die feine Dame geht natürlich nicht mehr selbst in die Wohnung von einer Jüdin. Und ehrlich gesagt, es wär mir auch peinlich gewesen, geschämt hätt ich mich. Und ich soll die fertigen Vorhänge auch erst hinbringen, wenn es schon dunkel ist.
Chajmke, warum hast du mir das angetan, warum bist du einfach gegangen und hast mich als arme, schutzlose Witwe mit den beiden Mädchen zurückgelassen? Und bald bin ich ganz allein. Die eine ist in Erez Jisroel und die andere geht nach Dänemark. Oje, pass doch auf, keine Träne auf den teuren Stoff. Keine Flecken von jüdischen Tränen in einem arischen Haus, Gott behüte.
Es war schlimm, es war wirklich schlimm! Helene hat damals alles mitgekriegt, sie war alt genug, Hannelore nicht, glaub ich, die war ja gerade mal fünf. Chajmke wollte vermutlich die Abkürzung über den Bahndamm nehmen, haben sie gesagt, die Leute von der jüdischen Gemeinde, die gekommen sind, um mir die Nachricht zu überbringen. Er ist über den Bahndamm gegangen und gestolpert, so wird es gewesen sein, ein Unglück, Frau Salomon, ein großes Unglück, nischt ojf uns gesogt*. So haben sie geredet, kein Wort, dass er sich umgebracht hat, aber ich weiß, was sie gedacht haben, sie habens bloß nicht sagen wollen. Vielleicht wegen der Kinder, um sie zu schonen.
Helene ist ganz weiß geworden und hat danach nur noch das Nötigste mit mir geredet. Und als er unter der Erde war, kein Wort mehr von Chajmke. Ich glaub, sie hat mir die Schuld gegeben. Dabei konnt ich doch nichts dafür, dass das Geschäft immer schlechter gegangen ist, Weltwirtschaftskrise haben sie es genannt, und Chajmke hat immer mehr Schulden machen müssen. Na ja, drei Jahre später, als dieser Gott-möge-ihn-auslöschen an die Macht gekommen ist, wär sowieso alles den Bach runtergegangen, da hat doch keiner mehr bei Juden gekauft, auch keine Unterwäsche, keine Mieder, keine Strümpfe, kein einziges Stück Stoff.
Damals, in der Krise, ist Chajmke immer stiller geworden, er hat nicht mehr gelacht und sogar aufgehört zu rauchen. Warum hat Helene das nicht verstanden, was doch jeder verstanden hat? Nur meine Kusine Hetty nicht. Du hättest ihm beistehen müssen, hat sie gesagt. Was heißt da beistehen? Ich hab gespart, ich hab wieder angefangen zu nähen, ich hab die einfachen Mahlzeiten gekocht, die ich aus meiner Kindheit in Polen kannte, ich weiß doch, wie arme Frauen ihre Kinder satt kriegen, Suppen, Eintöpfe, Tscholent, Hirse, gekochte Kartoffeln mit gehackten Zwiebeln, aber das hat nichts geholfen, die Schulden sind gewachsen. Hätt ich denn selber Geld drucken sollen? Ich hab mir nichts vorzuwerfen.
Trotzdem, die Leute haben sich nach Chajmkes Tod die Mäuler über mich zerrissen und mich schief angeguckt, nicht nur Hetty. Hetty ist immer neidisch gewesen, weil ich so einen ansehnlichen Mann abgekriegt hab und sie nur diesen schäbigen Flickschuster, der sie dann auch noch sitzengelassen hat. Jetzt braucht sie nicht mehr neidisch zu sein, Chajmke ist tot und ich bin noch toter, auch wenn mans mir nicht ansieht. In schmattes* angefangen, in Lumpen geendet, dazwischen ein paar gute Jahre und Träume, viele Träume, die dahingeschmolzen sind wie Butter in der Sonne, und nichts ist geblieben, gar nichts. Nur zwei arme Kinder. Nackte Vögelchen, zu früh aus dem Nest gefallen.
Als wir geheiratet haben, war Chajmke ein schöner Mann, nicht groß, aber kräftig, mit dunklen, lockigen Haaren und großen Augen. Dazu die weiße Haut. Er hat ausgesehen wie ein Prinz. Hannelore hat seine Augen geerbt, aber bei Chajmke haben sie gefunkelt wie glühende Kohlen und bei Hannelore sind sie stumpf wie verbranntes Holz. Schade eigentlich für ein Mädchen.
Dänemark. Keine Ahnung, wie es dort aussieht, ich hab ja nicht viel gesehen von der Welt. Ich kenn nur unser schtetl* in Polen, wo ich aufgewachsen bin. Da war alles eng, o Gott, wie eng und schmutzig es dort war. Im Frühjahr, wenn der Schnee geschmolzen ist, sind die Straßen im Schlamm versunken, und im Winter wars so kalt, dass die Läuse erfroren sind. Aber immerhin hat man dort unter Juden gelebt, alle Nachbarn waren Juden und alle Nachbarn waren genauso arm wie wir. Fast alle. Wär ich doch dort geblieben! Aber ich hab Rosinen im Kopf gehabt, ich hab nicht so leben wollen wie meine Mutter, deshalb bin ich meiner Kusine Hetty gefolgt, die in Leipzig eine Arbeit als Näherin hatte und nur zu den hohen Feiertagen heimgekommen ist, ins schtetl. Es hat mir aber nichts genützt, das Weglaufen, jeder hat seinen Platz in der Welt, so ist es nun mal, und es ist besser, man siehts ein und fügt sich rechtzeitig. Wenn man sich wehrt, kriegt man vom Schicksal einen Patsch an den Kopf und ist selber schuld, wenns wehtut.
Im Jahr nach unserer Hochzeit, noch vor Helenes Geburt, war ich mit Chajmke in Wien, aber sonst hab ich wirklich nicht viel gesehen. Chajmke hat mir von Russland erzählt, von Kiew und Minsk und Odessa und wie schön es dort gewesen ist und wie gut es ihm ging. Bis die Gojim* nach dem großen Krieg wieder angefangen haben, jüdische Geschäfte zu plündern und Juden zu erschlagen. Da ist er aus Russland geflohen und in Leipzig hängengeblieben.
Was Chajmke jetzt wohl zu Dänemark sagen würde? Er hats auch nicht erlebt, dass seine Älteste nach Palästina gegangen ist, nach Erez Jisroel. Das kenn ich nur aus der Bibel. Dort scheint fast immer die Sonne, sagt man, und oft soll es so heiß sein, dass einem der Verstand austrocknet und das Blut in den Adern gerinnt. Ich versteh nicht, dass überhaupt jemand dort hinwill. Vor allem Hannelore mit ihrer empfindlichen Haut. Da ist Dänemark vielleicht besser.
Aber ich bin nur eine arme, schwache Witwe, ich kann sie sowieso nicht halten, so wie ich Helene nicht halten konnte. Diese Zionisten verdrehen den Kindern den Kopf. Reden ihnen ein, wie gut alles wird, wenn sie dahin zurückgehen, wo unsere Vorväter hergekommen sind. Ins Gelobte Land. In die neue alte Heimat. Als ob ein Jude je eine Heimat gehabt hätte.
Wenn ich an Gott glauben würde, würde ich jetzt beten, er soll meine armen Kinder beschützen. Ich selbst kann es nicht.
Zweites Kapitel
Ein paar Tage später ging Hannelore, begleitet von ihrer Mutter, zum Bahnhof. Es war kühl und regnerisch geworden, die Hitzewelle war vorüber. Die Mutter trug Hannelores Rucksack, den sie am Vorabend noch gepackt hatte. »Nein, lass mich ihn tragen, du musst ihn noch lang genug schleppen«, hatte sie gesagt und dabei ein Gesicht gemacht, dass Hannelore nicht zu widersprechen gewagt hatte. Bedrückt lief sie neben ihrer Mutter her. In den Pfützen auf dem Bürgersteig spiegelten sich die hell ausgefransten Wolkenränder wie zerfließende Spitzensäume und in der Gosse pickten Spatzen im Schlamm.
Ein Schauer lief Hannelore über den Rücken, obwohl sie über ihrer guten blauen Bluse die Jacke trug, die ihre Mutter ihr aus einem alten Mantel genäht hatte, eine braune, kratzige Jacke, die sie nicht mochte. Wie hässlich sie wirklich war, fiel ihr erst auf, als Mira ihnen auf dem Bahnsteig entgegenlief. Miras Sommerjacke, beige mit grünen Paspeln, passte hervorragend zu ihrem ebenfalls beigefarbenen Glockenrock. Wie immer sah sie auffallend hübsch und adrett aus, wenn auch eine Spur blasser als sonst. Hannelore zog die Schultern hoch und machte sich noch kleiner.
»Guten Morgen, Frau Salomon«, sagte Mira höflich und deutete einen Knicks an. »Wir stehen dort drüben. Kommen Sie doch mit, wir warten noch auf die anderen Mädchen, der Zug aus Dresden muss gleich kommen.«
Hannelores Mutter nickte verlegen und folgte Mira hinüber zu ihren Eltern, die mit Rachel und deren Mutter etwas abseits standen, am Rand des Bahnsteigs, ein Herr und eine Dame wie aus einem Journal. Miras Mutter, eine dunkelhaarige Schönheit, trug ein hellgraues Kostüm aus roher Seide und eine tomatenrote Bluse, dazu eine passende elegante Kappe, der Vater einen grauen Anzug mit roter Krawatte, abgestimmt auf die Blusenfarbe seiner Frau, und einen grauen Hut auf den schwarzen Locken, einen Hut, den er jetzt zur Begrüßung kurz lüpfte und gleich wieder aufsetzte. Auch Rachels Mutter, eine schmale, hochgewachsene Frau mit ein paar grauen Strähnen, die in ihren rotblonden Haaren aber kaum auffielen, war gut gekleidet. Sie trug Rachels kleine Schwester auf dem Arm. Die Kleine, die vielleicht ein halbes Jahr alt war, schlief mit dem Kopf am Hals ihrer Mutter. Sie hatte den Daumen in den Mund geschoben und nuckelte manchmal daran, ohne jedoch die Augen zu öffnen.
Hannelore fiel auf, wie schäbig und armselig ihre Mutter gegen diese Leute aussah. Sie schämte sich und schämte sich für diese Scham, denn sie wusste ja, wie ungerecht ein solcher Vergleich war. Ihre Mutter hatte sich ihre Rolle nicht ausgesucht. Es gab Reiche und Arme – und kein Armer war je freiwillig arm gewesen. Wenn das Wörtchen »wenn« nicht wär, hätte Janka, ihre Freundin, jetzt gesagt, und ihre Mutter würde sagen: Böse Gedanken fallen auf einen selbst zurück und machen das Herz eines Menschen verschrumpelt und bitter wie einen alten Gallapfel.
Natürlich bemerkte Hannelore auf den zweiten Blick auch, dass die Eleganz von Miras Eltern nicht makellos war. Auch ihrer Mutter mit dem erfahrenen Blick einer Näherin musste auffallen, dass die rohseidenen Kostümärmel abgestoßen waren, bestimmt sah sie auch, dass ein Riss neben der Anzugtasche kunstgestopft war und dass die perfekt auf Falten gebügelten Hosenbeine da, wo sie auf die Schuhspitzen stießen, ein bisschen ausgefranst waren. Und dass Miras Glockenrock mithilfe eines angesetzten Streifens aus einem billigeren Stoff verlängert worden war. Die glänzende Oberfläche von Miras Familie hatte stumpfe Flecken bekommen, die Pelzhandlung des Vaters ging wohl nicht mehr so gut. Wie sollte sie auch, welcher Jude hatte in diesen Zeiten schon Geld für einen Pelzmantel? Und andere Leute kauften nicht mehr bei Juden. Bestimmt nicht bei Miras Vater, der auffallend jüdisch aussah.
Aus Angst, man könnte ihr ihre Gedanken anmerken, senkte Hannelore den Blick und betrachtete nun die Schuhe, die auf dem schmutzig grauen, verrußten Boden standen, die Pumps mit den hohen Absätzen von Miras Mutter, ihre runden Waden in den Seidenstrümpfen. Natürlich bemerkte sie die Laufmasche, die sich an einem Bein dünn und etwas heller senkrecht nach oben zog, genau neben dem Schienbein, fast als wäre es Absicht, um zu betonen, wie auffallend gerade diese Beine waren. Die Schuhe von Miras Vater waren ein bisschen abgetreten, aber blank gewichst. Rachels Mutter trug zu ihren Halbschuhen seltsamerweise weiße Söckchen, genau wie Mira und Rachel. Bei einer Frau, die schon langsam grau wurde, sah das unpassend aus, irgendwie peinlich. Hannelore hätte am liebsten ihre eigenen Füße versteckt, wenn das möglich gewesen wäre. Ihre Kniestrümpfe waren blau verwaschen und mit gestopften Fersen. Sie sah auch, dass Mira und Rachel jede einen Koffer neben sich stehen hatten, zusätzlich zu dem obligaten Rucksack, und sie hörte, wie ihre Mutter sagte: »Ich werde Hannelore ihre Wintersachen nachschicken, wenn die Mädchen wirklich so lange dort in Dänemark bleiben.« Fast trotzig hörte sich das an.
Hannelore wunderte sich. Sie wusste, dass sie keine Wintersachen besaß, der Mantel vom letzten Jahr war ihr zu klein geworden, die Winterschuhe auch, und ihre beiden einzigen Pullover hatte die Mutter gestern Abend in den Rucksack gepackt, dazu das gute Kleid, das ihr eigentlich schon zu eng geworden war, ihren zweiten Rock, Blusen, zwei Nachthemden, Strümpfe, Unterwäsche, ein paar Taschentücher und die Strickjacke, die sie ihr aus verschiedenfarbigen Wollresten gestrickt hatte. Zusammen mit zwei Waschlappen, einem halben Stück Seife und einem kleinen Handtuch war der Rucksack voll, aber viel mehr besaß sie auch nicht.
Inzwischen war der Zug aus Dresden angekommen. Bella, Rosa und Estherke gesellten sich zu der Gruppe wartender Juden. Bellas Augen, klein hinter den Brillengläsern, waren dick und verweint, sie nickte den anderen nur kurz zu, dann drehte sie sich zur Seite. Estherke wirkte in ihrem mausgrauen Mantel noch unscheinbarer als sonst. Nur Rosa sah aus wie immer, rundlich, braunlockig, hübsch.
Züge fuhren auf dem Bahnhof ein, Züge verließen ihn, ein scharfer Geruch nach Ruß und Rauch erfüllte die Luft, laute Rufe, Rattern und Zischen dröhnten in den Ohren. Reisende mit Koffern und Taschen drängten sich an der kleinen Gruppe vorbei, doch Hannelore und die anderen blieben stehen, wie auf einer Insel standen sie und wussten nicht, wie sie diesen Abschied bewerkstelligen sollten. Wie verabschiedet man sich, wenn man nicht weiß, wann und wo man sich wiedersehen wird – und ob überhaupt? Was kann man sagen, wenn die Angst einem den Hals zuschnürt und allen Worten, die vielleicht herausbrechen wollen, den Weg versperrt?
Doch dann ging alles sehr schnell. Die schrille, durchdringende Trillerpfeife des Schaffners war zu hören, die Lokomotive stieß zischend graue Dampfwolken aus. »Es wird Zeit«, sagte Miras Vater und Rachels Mutter ließ einen Seufzer hören.
Die Mutter nahm den Rucksack vom Rücken und drückte ihn Hannelore, die noch immer mit gesenktem Kopf dastand, in die Hand. Die Füße auf dem grauen Boden bewegten sich, erst seltsam unschlüssig, dann schneller. Hannelore hob den Blick und sah, wie Rachel hinter Estherke, Bella und Rosa ihren Koffer und den Rucksack in ein Abteil dritter Klasse schob, sich umdrehte und erst ihre Mutter umarmte und küsste, dann ihre kleine Schwester. Die Kleine wachte auf, ihr Daumen rutschte aus dem Mund, sie fing an zu weinen. Rachel zwickte sie in die Wange und versuchte, sie mit lustigen Grimassen zum Lachen zu bringen, doch die Kleine riss den Mund auf und schrie noch lauter. Das war das Bild, das Hannelore lange nicht vergessen würde: der kleine, aufgerissene Mund mit dem karminroten Gaumen und den zwei weißen Zähnchen im Oberkiefer. Das Bild hieß Abschied.
Sie hörte, wie ihre Mutter mit erstickter Stimme sagte: »Mira, ich bitte dich, pass auf meine Kleine auf«, und wie Mira es ihr versprach. »Ja, Frau Salomon, das werde ich. Sie können sich auf mich verlassen.«
Dann spürte Hannelore, wie ihre Mutter ihr mit der Hand durch die Haare fuhr, und wagte nicht, ihr ins Gesicht zu schauen. Sie hatte das Gefühl, als fange der Boden unter ihren Füßen an zu schwanken, vor ihren Augen drehte sich alles. Doch da legte Mira auch schon den Arm um ihre Schulter und schob sie zur offenen Zugtür, die Stufen hinauf in das Abteil, in dem Rachel gerade ein Fenster herunterzog und sich hinausbeugte. Bella, Rosa und Estherke hatten die Plätze auf der anderen Seite des Gangs eingenommen.
Der Schaffner rief: »Einsteigen! Türen schließen!«, und blies auf seiner Trillerpfeife. Wieder war das Zischen der Dampflokomotive zu hören, dann setzte sich der Zug langsam in Bewegung.
Alle drei standen sie am offenen Fenster und beugten sich hinaus, auch Hannelore, doch erst als sie sich mit dem Handrücken über die Augen gewischt hatte, konnte sie ihre Mutter unter den anderen Leuten ausmachen. Sie sah noch blasser und kleiner aus als sonst. Sehr verloren und sehr allein stand sie da, reglos wie eine der Statuen im Nordportal der Thomaskirche. Erst als Hannelore ihr aus dem offenen Fenster zuwinkte, hob sie zögernd die rechte Hand und bewegte sie ein paar Mal hin und her, ein zaghaftes, ungläubiges Winken, als könne sie es nicht fassen, dass ihre jüngste Tochter wirklich wegfuhr, so wie Helene vor drei Jahren weggefahren war. Sie winkte, blieb aber stehen, nicht wie Miras Mutter, die auf ihren Stöckelschuhen neben dem langsam rollenden Zug herlief, und nicht wie Rachels Mutter, die, mit einer Hand das noch immer oder schon wieder schreiende Baby fest an sich drückend, mit der anderen heftig winkend, ebenfalls ein paar Schritte vorwärts machte, um einen letzten Blick auf ihre große Tochter zu erhaschen.
Hannelore sah, wie ihre Mutter kleiner und kleiner wurde, bis sie in den hellen und dunklen Flecken auf dem Bahnsteig verschwamm. Auch die beiden anderen Mütter waren jetzt nicht mehr zu erkennen, und als der Zug an Geschwindigkeit zunahm, verschwand auch der Bahnhof von Leipzig und war schließlich nur noch ein kleiner Punkt in der Ferne.
Mira schloss das Fenster. Sie drückte Hannelore, die sich jetzt so verloren fühlte, wie ihre Mutter ausgesehen hatte, auf einen Fensterplatz, dann half sie Rachel, die beiden Koffer und die drei Rucksäcke in den Gepäcknetzen zu verstauen, bevor sie sich neben Hannelore setzte. Rachel nahm den Fensterplatz gegenüber. »Wir fahren nach Dänemark«, sagte sie. »Ich war noch nie so weit weg von zu Hause.« Sie hob ihre langen Arme über den Kopf und streckte sich. In ihrer Stimme lag eine Erregung, die Hannelore nicht verstand.
Draußen flogen Felder vorbei, Büsche, Bäume, ab und zu ein paar Häuser, und als auf einer Wiese hinter dem Bahndamm plötzlich eine Schafherde auftauchte, in deren Mitte sich ein Hirte in einem langen Umhang und mit einem breiten Hut auf dem Kopf auf einen Stab stützte, klatschte Rachel in die Hände und rief: »Schaut nur! Wie aus einem Bilderbuch!« Ihre Augen in dem schmalen, vor Aufregung geröteten Gesicht glänzten.
»Du scheinst dich ja wirklich zu freuen, dass wir nach Dänemark fahren«, sagte Mira mit einem deutlichen Vorwurf in der Stimme. »Macht es dir denn gar nichts aus, dass deine Familie zurückbleibt?«
»Doch«, sagte Rachel und hörte sich auf einmal ziemlich kleinlaut an. »Doch, schon. Ich weiß ja, dass ich viel trauriger sein müsste. Aber seit mein Vater nur noch jüdische Patienten behandeln darf und seit mein Bruder nach Prag gefahren ist, um dort zu studieren, ist bei uns zu Hause alles ein bisschen schwieriger geworden, und als dann noch meine kleine Schwester geboren wurde …« Sie beendete den Satz nicht. Das brauchte sie auch nicht, jeder wusste, wie peinlich es ihr gewesen war, dass ihre Mutter in einem Alter, in dem manche Frauen bereits Großmütter werden, noch einmal ein Kind bekommen hatte.
Hannelore rutschte tiefer in die Ecke und bedeckte ihr Ge- sicht mit der Jacke, die sie an den Haken neben ihrem Kopf gehängt hatte. Sie sah ihre Mutter vor sich, wie sie ihr morgens den Malzkaffee hingestellt und die Brote geschmiert hatte, Margarine mit Leberwurst, Brote, die jetzt, in Pergamentpapier gewickelt, in der linken Vordertasche ihres Rucksacks steckten. Ich habe ihr gar nicht richtig Auf Wiedersehen gesagt, dachte sie, es ging alles viel zu schnell. Warum habe ich sie nicht umarmt, wie Mira und Rachel ihre Mütter umarmt haben, warum habe ich sie nicht geküsst, wie Mira und Rachel ihre Mütter geküsst haben? Und dann überlegte sie, wann sie ihrer Mutter das letzte Mal einen Kuss gegeben hatte. An deren Geburtstag? Und wann hatte ihre Mutter ihr das letzte Mal einen Kuss gegeben? An ihrem Geburtstag? Nein, ihren letzten Geburtstag hatte sie ja in Ahrensdorf verbracht, ohne jemandem ein Wort davon zu sagen.
Da hörte sie Rachel fragen: »Warum eigentlich wir? Warum nur wir neun?« Sie sprach leise, wohl um die anderen Fahrgäste nicht zu stören oder um nicht gehört zu werden, und Mira antwortete ebenso leise: »Weil wir alle neun staatenlos sind, wir haben weder einen deutschen Pass noch einen polnischen, sondern nur den Nansen-Pass*.«
»Gott sei Dank«, sagte Rachel. »Sonst wären wir mit den anderen nach Polen zurückgeschickt worden.«
Die beiden Mädchen schwiegen, nur das gleichmäßige Rattern der Räder war zu hören und die Stimmen von Rosa und Bella, die sich leise unterhielten. Ein Mann hustete und in einem Nachbarabteil schrie ein Kind, und Hannelore sah wieder den karminroten Gaumen mit den beiden weißen Zähnchen vor sich. Sie fragte sich verwundert, ob Rachel ihre kleine Schwester eigentlich lieb hatte oder ob sie ihr nur peinlich war.
Sie lugte unter ihrer Jacke hervor und beobachtete Rachel. Die hatte sich zurückgelehnt und kaute nachdenklich auf dem Ende eines ihrer dünnen, rötlich blonden Zöpfe herum wie auf einer Brotrinde, während sie mit halb gesenkten Lidern vor sich hinstarrte. Bestimmt dachte sie jetzt an ihre Freundinnen, die im letzten Oktober innerhalb weniger Tage verschwunden waren, abgeholt von den Nazis, um mit ihren Familien nach Polen zurückgebracht zu werden, abgeschoben, weil sie die polnische Staatsbürgerschaft besaßen. In manchen Klassen der Höheren Israelitischen Schule hatte auf einmal fast die Hälfte der Schülerinnen und Schüler gefehlt.
Hannelore schloss die Augen. Auch Janka war damals aus ihrem Leben verschwunden, ihre beste Freundin. Ihre einzige Freundin. Janka hatte nur ein paar Häuser von ihr entfernt gewohnt, sie hatten in der Schule nebeneinandergesessen, sie waren gemeinsam zur zionistischen Jugendgruppe gegangen, und sie hatten davon geträumt, später, in Palästina, im selben Kibbuz* zu leben. Janka wollte im Hühnerstall arbeiten und jeden Tag zwei Eier essen. Oder auch drei. Seit Oktober hatte Hannelore nichts mehr von ihr gehört. In den ersten Wochen hatte sie täglich auf einen Brief von Janka gewartet, aber es war nie einer gekommen. Nach Jankas Weggang hatte ihr die Schule keinen Spaß mehr gemacht, sie hatte sie gern verlassen, als die Leute vom Bund vorgeschlagen hatten, sie solle lieber mit den anderen Mädchen ihrer Gruppe auf die Hachschara gehen und etwas Nützliches lernen, etwas, was sie für Palästina brauchte. Von einem geregelten Schulunterricht könne sowieso nicht mehr die Rede sein, es gebe zu wenig Lehrer, zu wenig Schüler. Hannelore hatte leichten Herzens zugestimmt. Die Hachschara versprach die ersehnte Abwechslung in ihrem langweiligen Leben.
Mit geschlossenen Augen ließ Hannelore sich auf ihren Gedanken treiben, fühlte sich wie eine Nussschale auf einem strudelnden Fluss, eine Nussschale, die kreiselte, herumgewirbelt wurde, kippte, sich wieder aufrichtete und ruhig dahinglitt, nur um in den nächsten Strudel gerissen zu werden.
In Hamburg führte Mira, die auch die Fahrkarten und sämtliche Papiere in ihre Tasche gesteckt hatte, die Mädchen zum nächsten Zug, der sie nach Kiel bringen sollte, wo sie sich mit anderen Jugendlichen der Organisation treffen und gemeinsam die Fähre nach Dänemark nehmen sollten. Mira wirkte auf einmal viel ernster, viel erwachsener, von ihrer früheren Aufsässigkeit und Spottlust war nichts mehr zu merken. Es schien, als habe sie die Rolle ihres großen Bruders übernommen. Wie Joschka sagte sie den Mädchen, was sie zu tun hatten.