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Susanne Schaber

Lesereise Pyrenäen

Susanne Schaber

Lesereise Pyrenäen

Im schwarzen Salon tobt der Bär

Picus Verlag Wien

Copyright © 2012 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien
Alle Rechte vorbehalten
Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien
Umschlagabbildung: © Bildagentur Huber
Datenkonvertierung E-Book: Nakadake, Wien
ISBN 978-3-7117-5091-4
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt

Informationen über das aktuelle Programm
des Picus Verlags und Veranstaltungen unter
www.picus.at

Inhalt

Braune Kleckse im Grün und Blau - Die Pyrenäen: Findling voller Überraschungen

1 Korridor, 1 Treppe, 1 Sitz - Passagen: Fluchtwege über die Pyrenäen

Was Gesetz ist, steht in den Berg geschrieben - Zwischen Andorra und Katalonien rumort es: ein Dorf in Aufruhr

Im schwarzen Salon tobt der Bär - Das Rätsel der Höhlen: Spurensuche im Stein

Nur eine Handbreit unterm Himmel - Höhenflüge: Mit Edurne Pasaban im Valle de Arán

Sechstausend Kilometer über den großen Teich - Was haben die Pyrenäen in New York zu suchen?

Liebe in Zeiten der Heimlichkeit - Sprechende Gesten, verbotene Kammern: die Katharer

Tourmalet überquert, Straße passierbar - Telegramme aus den Hautes-Pyrénées

Wie ein Stein im Geröll - Die Bolsa von Bielsa: Ein Dorf widersetzt sich

Wo der Pfeffer bergwärts wandert - Kulinarische Streifzüge zwischen Atlantik und Mittelmeer

Hinter den sieben Hügeln die Verheißung - Auf dem Jakobsweg nach Lourdes und Santiago

Fragen, zweifeln, suchen - Eduardo Chillida kämmt den Wind: Impressionen aus San Sebastián/Donostia

Die Autorin

Die Picus Lesereisen und Reportagen

Braune Kleckse im Grün und Blau

Die Pyrenäen: Findling voller Überraschungen

Reiten durch die Lüfte, blähen ihre Backen auf und legen los: die vier Winde, der Subsolanus, der Auster, der Septentrio und der Zephyr. Sie jagen Böen aus dem Osten, Süden, Norden und Westen übers Wasser, auf dass sich das Meer scheide und Platz werde für Länder, Flüsse und Berge. So könnte sie entstanden sein, die Erde, so in etwa will es die Genesis. Und so zeigt es auch jener im 12. Jahrhundert gewebte, prall bunte Wandteppich in der Kathedrale von Gerona, der die Erschaffung der Welt in Szene setzt. Gott, der Schöpfer, umgeben von den Bildern seines Tagwerks, bewacht von den Winden: himmlische Wesen mit ausladenden Flügeln, mit kräftigen Lungen und großen runden Augen. Ihnen entgeht nichts.

Wer in Gerona lebt, hat die Pyrenäen im Blick: einen vierhundertfünfzig Kilometer langen und bis zu hundertfünfzig Kilometer breiten Gebirgszug mit Gipfeln von über dreitausend Metern Höhe. Entstanden ist er vor etwa fünfzig bis hundert Millionen Jahren, als die Ausläufer der eurasischen Platte und des Mikrokontinents Iberia aufeinanderprallten und ein Massiv aus dem Meer hoben, das sich faltete und wuchs. Später sorgten die Gletscher für den letzten Schliff und ließen die Pyrenäen so zurück, wie wir sie kennen: schroff ansteigende Felswände auf französischer Seite, sachtere Hügel auf der spanischen. Dazu unzählige Seen, das Erbe des Eises, das sich inzwischen fast vollends zurückgezogen hat.

»Pyrenäen – das war so eine rostbraune Sache auf der sonst grünen und schwarzen Karte, darin ein paar Bergkleckse standen, rechts und links gefiel sich die Karte in Blau, das war das Meer … Ja, und sie trennten Spanien und Frankreich. Auch musste man jedes Mal ein kleines bisschen nachdenken, bevor man den Namen schrieb«, so Kurt Tucholsky in der Erinnerung an seine Schulzeit. Des Lehrers Rohrstock rutscht tief in den Süden Europas, um dort das Gewirr an Zacken und Zinnen im Atlas zu orten: einen Findling, zwischen Atlantik und dem Mittelmeer gestrandet, weit weg von den übrigen Gebirgen des Kontinents. Und vielleicht ist gerade dieses Gefühl der Ferne und Fremdheit der Reiz dieses Landstrichs.

Das maurische Tor in der romanischen Kirche, die Oleander neben Steineichen, Birken und Kiefern, die Bilder von Wisenten und Pferden an den Wänden der prähistorischen Höhlen, den Sixtinischen Kapellen der europäischen Frühgeschichte: Wer die Pyrenäen durchquert, wandert zwischen den Welten, zwischen Frankreich, Spanien und Andorra, zwischen Christentum und Islam, zwischen mondänen Kurorten und gottverlassenen Dörfern mit steinernen Häusern, in denen das Mittelalter fortlebt. Man spürt die Winde der Sahara und die Wucht der Gezeiten im Golf von Biskaya, man begegnet den Seefahrern, die Christophorus Columbus ins Unbekannte gefolgt sind, den Buchmalern der Kalifen, den Templern, Katharern und Jakobspilgern, den Flüchtlingen, die sich über die Berge vor dem Naziterror in Sicherheit zu bringen suchten. Man sieht die Hirten über die Almen ziehen, wo es nach Rosmarin und Salbei duftet, die Käsemacher in ihren Ziegenställen, die Alpinisten, Radler und Rafter auf ihren Abenteuerspielplätzen. Man bemerkt die Erinnerungen an den Bürgerkrieg und an den Aufbruch in die Demokratie, man erlebt das Selbstbewusstsein der früheren Fürstentümer und Grafschaften, die sich ihre Eigenständigkeit bis heute bewahrt haben, den Höfen und Parlamenten von Paris, Madrid oder Brüssel zum Trotz.

Pirineos und Pyrénées, Pirinioak, Pirineus, Perinés und Pirenèus: Die Namen stehen für die Vielfalt der Nationen und Menschen, die im Pyrenäenraum siedeln. Offiziell sind sie Spanier, Franzosen und Andorraner, aber eigentlich sind sie Basken, Navarresen, Aragonesen und Katalanen, Bewohner des Valle de Arán oder der Gascogne. Jeder steht für sich, mit seiner Sprache und Kultur. Die Grenze zwischen den Staaten läuft den Zinnen und Zacken des Hauptkamms entlang. Die Menschen aber ließen sich nicht von hochfliegenden Ambitionen der Monarchen, Päpste und Politiker trennen, ihre Geschichte und Lebensweise blieben bis heute ineinander verzahnt. Man fühlt sich verbunden und hat doch seinen eigenen Kopf.

»An das blühende Bergland/ brandet das weite Meer«, so der Dichter Antonio Machado, geboren in Sevilla und gestorben in Collioure, am Fuß der Pyrenäen. »In den Waben meiner Bienen/ stecken Körnchen von Salz.« Die Pyrenäen sind mehr als nur Berge. Sie tragen das Salz der Ozeane in sich, den Honig der Akazien, den Geruch des Schnees und der Lilien. Ein Landstrich voller Geheimnisse. In ihnen kann man sich verlieren, ohne verloren zu gehen. Weil hinter jedem Gipfel das Meer liegt – und ein neuer Horizont.