Lesereise Neuseeland
Der Kuss der langen weißen Wolke
Picus Verlag Wien
Für Ana Irina
Copyright © 2009 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien
2., überarbeitete Auflage 2017
Alle Rechte vorbehalten
Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien
Umschlagabbildung: © JTB_Photo/UIG/YourPhotoToday
ISBN 978-3-85452-960-6
eISBN 978-3-7117-5059-4
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des Picus Verlags und Veranstaltungen unter
www.picus.at
Joscha Remus lebt als Schriftsteller und Journalist in Berlin, Buenos Aires und Neuseeland. Seine Reise-Hörbuchreihe wurde mit dem deutschen Hörbuchpreis ausgezeichnet. Seine literarischen Reportagen werden u. a. beim SWR, in der »Süddeutschen Zeitung« und in der »Zeit« veröffentlicht. Im Picus Verlag erschienen seine Lesereisen Berlin und Istanbul sowie »Berlin. Stadtführer für Kinder«.
Vorwort
Auf den Flügeln der Empathie
Über das innige Verhältnis der Neuseeländer zu ihren tierischen Mitbewohnern
Der Mann, der mit dem Schaf tanzt
Die Golden Shears in Masterton
Tasmans Irrtum
Ein musikalisches Missverständnis und ein erstaunlicher Fund
Schuhcreme, Jandals, Nippelwärmer
»Kiwiana«: Identifikationssuche auf Neuseeländisch
Der eifersüchtige Vulkan
Besteigung des Mount Taranaki
Kriegstanz an der Schwefelbucht
Besuch der Weltmeisterschaften im »kapa haka«
A Star is born
Gemeinsam mit Temuera Morrison, Witi Ihimaera und einem sehr jungen Schauspieler auf einer Filmpremiere
Willkommen im Franz-Josef-Land
Gletscherwelt in den südlichen Alpen I
Dschungel im Mund
Mit dem Koch Charles Royal auf Entdeckungsreise ins sattgrüne Wunderland der Māori-Küche
Das Höllenloch im Pazifik
Schnapsläden, Bordelle und ab und zu eine nette Schlägerei
Die Heimat der Wasserkinder
Auckland und Pazifika
Tagebuch einer Wiederauferstehung
Tramping durch die Wildnis der Westküste der Südinsel
Das stille Örtchen am Ende der Welt
Die Toilette von Friedensreich Hundertwasser in Kawakawa
Die gefrorenen Tränen
Gletscherwelt in den südlichen Alpen II
Ein Mann namens Fjord
Der Regenmacher vom Milford Sound
Die Hauptstadt der Windes
Māori-Blues in Wellington
Schrumpfköpfe im Wellnesstempel
Horomona Horos Respekt vor den Toten
Wo sind unsere Gegenfüßler?
Eine verblüffende antipodische Verortung
»Meine Vorfahren nannten Neuseeland Aotearoa, das Land der langen weißen Wolke. Meine Ahnen brachten mir bei, wie man selbst aus weißen Wolken den kostbaren Regen gewinnen kann. Durch Muschelzauber und Windworte. Niemals wäre es ihnen eingefallen, dieses kostbare Nass Tränen des Himmels zu nennen, wie ich es in einigen westlichen Kulturen gehört habe. Nein, sie nannten den Regen der Weißen Wolken Himmelsküsse für die Mutter Erde.«
HOROMONA HORO
Neuseeland wurde sehr früh gedacht, sehr spät besiedelt und erst vor zweihundertfünfzig Jahren von europäischen Seefahrern entdeckt. Bereits der griechische Philosoph und Mathematiker Pythagoras postulierte eine Landmasse auf der Südhalbkugel, die aufgrund seiner Berechnungen ein harmonisches Gleichgewicht zu den Kontinenten der nördlichen Hemisphäre bilden musste. Bis zur Neuzeit und der Wiederentdeckung Amerikas durch Kolumbus hatte man diesen Gedanken eines natürlichen Gleichgewichts der Landmassen, vor allem dank des Einflusses der Kirche, fast vollständig verdrängt. Doch ab 1600 begannen Kartografen ein unbekanntes Südland, die »Terra australis incognita« oder auch ein noch nicht bekanntes Südland, die »Terra australis nondum cognita« in die Seekarten einzuzeichnen. Niemand kann heute sagen, was die griechischen Denker Pythagoras und auch Aristoteles wirklich auf die Idee eines südlichen Landes brachte. An Australien und Neuseeland, diese aus dem Urkontinent Gondwana in der Kreidezeit herhausgebrochenen Teile, konnten sie jedenfalls nicht konkret gedacht haben.
Die beiden großen neuseeländischen Inseln im Südpazifik lagen lange Zeit außer Reichweite menschlichen Siedlungsvermögens. Die frühen Menschen haben diesen Flecken Erde in der Tat fast ganz am Ende ihres langen Wanderwegs entdeckt.
Seit den vergleichenden Erbgutanalysen der Genetikerin Rebecca Cann im Jahr 1987 können Wissenschaftler die Migration der ersten Menschen, die vor etwa hundertfünfzigtausend Jahren lebten, sehr klar aufzeigen. Rebecca Canns Untersuchungen mitochondrialer DNA zeigen, dass die Menschen vor circa sechzigtausend Jahren aus dem Osten Afrikas zuerst nach Norden zogen, dem Verlauf des Nils folgten, sich dann im Vorderen Orient niederließen und die Küsten entlang weiter ostwärts zogen. Etwa zehntausend Jahre später erreichten die frühen Menschen über eine damals noch vorhandene Landbrücke Australien, lange bevor sie Europa und das Innere Asiens besiedelten. Vor zwanzigtausend Jahren erfolgte dann über die Beringstraße die Wanderbewegung in die Neue Welt, ins nördliche und südliche Amerika. Rebecca Cann, die heute auf Hawaii lebt und forscht, konnte 1997 anhand vergleichender DNA-Tests auch nachweisen, dass polynesische Seefahrer, tausend Jahre vor Kolumbus und den Wikingern, über den Pazifik in Kontakt mit den Indianern Südamerikas standen. Von Asien aus wurde der gesamte pazifische Raum bis zu den Fidschi-, Samoa- und Tongainseln bereits bis 1200 vor Christus erschlossen. Danach folgte eine rätselhafte Siedlungspause der Polynesier von über fünfzehnhundert Jahren. Als eines der letzten unbekannten Territorien der Erde wurde das heutige Neuseeland erst um 1000 nach Christus – also fast fünfzigtausend Jahre nach der Besiedlung Australiens – vom polynesischen Volk der Moriori und zwischen 1280 und 1350 vom Volk der Māori entdeckt.
Bis zur Entdeckung durch europäische Seefahrer sollten weitere vierhundert Jahre vergehen. Um das Jahr 1840 leben nur etwa zweitausend Europäer in Neuseeland. Die meisten von ihnen in der Bay of Islands im hohen Norden. Erst als Neuseeland 1840 zur englischen Kolonie wird, kommt eine Siedlungswelle aus Europa in Gang, mit der Walfänger, Robbenfänger, Goldsucher, Missionare und Farmer ins Land strömen.
Neuseeland ist ein sehr junges Land.
Über das innige Verhältnis der Neuseeländer zu ihren tierischen Mitbewohnern
Dialog an der neuseeländischen Zollkontrolle bei der Einreise:
»Haben Sie Lebensmittel dabei?«
»Ja, Gummibärchen!«
»Verpackt?«
»Ja, alles verpackt.«
»Keine einzelnen Gummibärchen irgendwo noch in der Tasche?«
»Nein, die habe ich alle aufgegessen.«
»Obst?«
»Nein.«
»Keinen angebissenen Apfel oder eine Banane?«
»Nein, ich kenne die Einreisebestimmungen.«
»Wir werden sehen.«
Ein Hund beschnüffelt mein Gepäck auf der Suche nach Essbarem. Vor allem nach unverpacktem Obst.
Der Zöllner sagt: »So wie ein fauler Apfel eine ganze Kiste voller Obst verderben kann, so kann ein fauler Apfel auch die Natur Neuseelands in Schwierigkeiten bringen.« Ist dem wirklich so, frage ich mich? Das wissenschaftliche Herz in mir schlägt aufgeregt und ich liege abends wach unter einem unglaublichen Sternenhimmel und stelle mir die Frage: »Kann ein einzelner Apfel wirklich ganz Neuseeland ins Verderben stürzen?« Oder ist dies nur eine dieser Überreaktionen, wie wir sie mittlerweile alle nach Katastrophen kennen? Ich erinnere mich an einen deutschen Zöllner, der mit einer unsäglichen Mischung aus Ignoranz und Dummheit lächelnd eine Flasche Wein, die ich nach einer Lesung geschenkt bekam, vor meinen Augen mit den Worten in einen Entsorgungscontainer fallen lässt: »Hätte ja eine Bombe sein können.«
Mein Freund Paul nennt die Hunde, die mit ihren Riech- und Spürnasen in Neuseeland faule Bananen, unverpackte Äpfel oder einen frisch angeknabberten Pfirsich finden sollen, fruitdogs. Ein interessantes Wort, das mich bei der Einreise nach Neuseeland immer auch ein wenig ins Grübeln darüber bringt, in welch etymologischer Verwandtschaft sich die Worte »Fruchthunde« und »Gummibärchen« befinden. Bei der Einreise nach Neuseeland, in diesem Fall nach der Landung in Auckland, dauert die Zollinspektion immer wesentlich länger als die Stempel-Prozedur bei der Zollpolizei. Denn die speziell ausgebildeten fruitdogs brauchen eine Weile, um das aufzuspüren, was der Flora und Fauna Neuseelands gefährlich werden könnte. 2011 kam es aufgrund eines Mottenbefalls in Auckland tatsächlich zur Panik und zu verrückten übertriebenen Sprühmaßnahmen. Ganz Neuseeland ist ein empfindliches Biotop.
Während kleine Tiere Neuseeländer also durchaus in Panik versetzen können, werden andere Tiere regelrecht verehrt.
Jede Woche schafft es irgendein Tier in die Schlagzeilen der neuseeländischen Presse oder in die Fernsehnachrichten, sei es ein tanzendes Schwein, ein singender Hund, ein Vogel, der das Geräusch eines platzenden Reifens täuschend echt nachmachen kann, ein Seehund, dem es gelingt, inmitten der Großstadt zu überleben, oder ein Schaf, das sich der jährlichen Schur entzieht, indem es ausbüxt und ein jahrelanges Einsiedlerleben in den Bergen erprobt. So befand sich zu der Zeit, als die ganze Welt auf der Suche nach Osama Bin Laden war, die neuseeländische Navy auf der verzweifelten Suche nach einem Fischotter namens Jin, der aus dem Zoo in Auckland geflohen war, um sich einen Monat lang in den Gewässern der Auckland Bay umzusehen.
Zu Starruhm brachte es auch Happy Feet, der Kaiserpinguin, der einmal in der Nähe von Wellington strandete, weil das Tier zu viel Sand in seinem Magen hatte. Wird es einem aus dem Süden Neuseelands, also aus kälteren Gewässern stammenden, emperor penguin zu warm, kühlt er sich normalerweise ab, indem er Schnee frisst. Ist aber kein Schnee vorhanden, kann es dazu kommen, dass er ersatzweise hellen Sand futtert. Der Pinguin Happy Feet scheint dies wohl im Übermaß getan zu haben, denn als man ihn fand, ähnelte er auf verblüffende Weise einem prall gefüllten Sandsack und sein Frack saß ihm reichlich eng um die Hüften. Wochenlang bangte ganz Neuseeland an den Fernsehgeräten um das Tier, das in einer groß angelegten Aktion in einem Krankenhaus operiert und wieder aufgepäppelt wurde. In einer landesweit ausgestrahlten Live-Sendung brachte die Navy den Pinguin nach seiner Genesung zurück in den kühlen Süden des Landes. Man legte Happy Feet einen Peilsender um und entließ das nun wieder schlanke und ergonomisch geformte Tier in die Freiheit. Eine Woche verfolgte die Nation aufgeregt die Signale, die von ihrem liebsten Pinguin ins Land geschickt wurden, bis diese irgendwann nicht mehr zu hören waren und die Fernsehsender mit Bedauern ihre Live-Schaltungen mit den aufgeregt plappernden Reportern einstellen mussten.
Neuseeländer können ein sehr inniges Verhältnis zu ihren Meeresbewohnern aufbauen und umgekehrt scheint dies auch so zu sein. So wird der berühmte Delfin Pelorus Jack bis heute in der Prosa und Poesie des Landes gefeiert, der 1888 zwei Schiffe durch die stürmische Cookstraße geleitet und, so heißt es, zahlreichen Menschen das Leben gerettet haben soll. In den fünfziger Jahren verliebte sich ein ganzes Land in den Delfin Opo, dem sogar ein eigenes Lied gewidmet wurde, in dem die Delfindame allerdings fälschlicherweise als Männchen bezeichnet wurde. Das Lied lief ausgerechet an jenem Tag zum ersten Mal in den Radiosendern, an dem Opo tot aufgefunden wurde. 2007 war es dann der Delfin Moko, der Neuseeland begeisterte. Zuerst rettete Moko einige Wale und blieb noch bis 2010 in der Bucht von Whakatane, um dort mit den Kindern um die Wette zu schwimmen.
Doch wie bereits anfangs gesagt, rücken nicht ausschließlich Meeresbewohner in Neuseeland immer wieder in den Mittelpunkt des medialen Interesses. Wieso ausgerechnet die Neuseeländer ihrer Tierwelt ein derartig empathisches Verhältnis entgegenbringen, lässt sich leicht beantworten. Ihre Fauna ist einzigartig und ruft bei den Neuseeländern eine Art Beschützerinstinkt hervor. Weil viele Tiere durch die früheren, unbedachten Eingriffe der Menschen bereits ausgerottet sind, wie beispielsweise der flugunfähige Riesenvogel Moa oder der menschengroße Riesenpinguin, empfinden die heutigen Bewohner es als ihre Pflicht, die Flora und Fauna zu erhalten. Zu den heute am meisten bedrohten Tierarten gehört der Kakapo, ein nachtaktiver Papagei, von dem im Jahr 2017 nur noch hundertvierundzwanzig Tiere erhalten sind. Aber auch der weiße Reiher, der neuseeländische Seelöwe und der Bryde’s whale, ein bis zu fünfzehn Meter langer Bartenwal, ist ernsthaft vom Aussterben bedroht.
Und so verwundert es nicht, dass Neuseeland gerade im Tierschutz neue Maßstäbe setzt, Vorreiter ist und mitunter auch einmalige Wege geht. Für weltweites Aufsehen hat ein Gesetz gesorgt, mit dem die Regierung 2016 als erstes Land festschrieb, dass alle Tiere Empfindungen und Gefühle besitzen, die denen des Menschen gleichgestellt sind. Dieses »Animal Welfere Amendment Act« genannte Gesetz regelt, dass jeder Tierversuch ab sofort unter Strafe steht und auch wild lebende Tiere nicht in Gefangenschaft gehalten werden dürfen.
Die Golden Shears in Masterton
Für gewöhnlich gehen Schafe in Neuseeland unweigerlich ihrer kulinarischen oder bekleidungsmäßigen Bestimmung entgegen. An Schafskäse denkt der Kiwi dabei am wenigsten. Entweder enden Schafe in jungen Jahren als Lammbraten – übrigens zu neunzig Prozent in ausländischen Schmortöpfen – oder sie fristen ihr Dasein als jährlicher Wolllieferant. Nur selten kommt ein Schaf ungeschoren davon. Doch alle Jubeljahre geschieht eben genau das.
So konnte sich ein neuseeländisches Merinoschaf namens Shrek sechs Jahre lang der Schur entziehen und in den Bergen der Südinsel verstecken, bis die Wolle auf seinen Rippen im Sommer 2004 so dick geworden war, dass es sich nicht mehr bewegen und nichts mehr sehen konnte. Als man die bewegungslose, verdreckte Wollkugel schließlich entdeckt und als Schaf enttarnt hatte, wurde Shrek, »the wonder sheep«, zu einem Medienstar. Die zwanzigminütige Schur wurde live im neuseeländischen Fernsehen übertragen und das siebenundzwanzig Kilogramm schwere Vlies für einen guten Zweck versteigert. Shrek, der Schafsbock, bekam eine Audienz bei Premierministerin Helen Clark und schaffte es seinerzeit als Meldung sogar in die deutschen Tagesthemen. An seinem zehnten Geburtstag stand Shrek dann noch einmal im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. In der Antarktis hatte sich ein riesiger Eisberg gelöst und driftete gemächlich an der Küstenstadt Dunedin vorbei. Ein gefundenes Fressen für die kreative neuseeländische Tourismusbehörde. Kurzerhand verfrachtete man Shrek auf die Eisscholle und begann ihn dort werbewirksam zu scheren.
Zwei Sommer später gelang es dann erneut einem Schaf durch Flucht in die neuseeländische Bergwelt, sich einem dreijährigen, von menschlichen Einflüssen völlig ungetrübten Lebensstil hinzugeben. Doch rechtzeitig zu den »Golden Shears«, dem weltweit größten Wettkampf der Schafscherer in Masterton, konnte man den Ausreißer im Februar 2009 wieder einfangen.
Auch aus diesem Shrek II ist mittlerweile eine riesige Kugel geworden. Erschöpft hechelnd liegt das wolligste Schaf Neuseelands in seinem Verschlag vor der Wettkampfhalle, lässt sich von Besuchern bewundern und wartet in der Sommerhitze auf den Schafscherkünstler, der es am Ende der dreitägigen Veranstaltung von seiner warmen Last befreien wird.
Masterton ist eine hübsche, aber verschlafene Stadt im Südosten der Nordinsel. Eine Fahrstunde von Wellington entfernt, zwanzigtausend Einwohner, fünfzigtausend Schafe.
Als Agrarstädtchen eine typische Randerscheinung, verwandelt sich Masterton während der neunundvierzigsten Golden Shears für drei Tage in ein Eldorado der Schafscherer und Wollenthusiasten. Für diese Meisterschaften reisen Besucher selbst aus Südafrika, Irland, Norwegen oder Deutschland an.