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Sarah Crossan wuchs in Irland und England auf, heute lebt sie in den USA. Nach ihrem Abschluss in Philosophie und Literatur ließ sie sich an der Cambridge University als Lehrerin für Englisch und Theater ausbilden. Sie hat einen Master in kreativem Schreiben und kümmert sich seitdem um die Förderung des Themas an Schulen.

Aus dem Englischen
von Cordula Setsman

Für Mum und Dad

Teil 1

Danzig Hauptbahnhof

Die Rollen unseres Koffers sind schon hinüber,

noch bevor wir den Danziger Hauptbahnhof

hinter uns gelassen haben.

Mama rammt mit ihnen eine Stufe und

krach, peng, bumm –

Totalschaden.

Überall

fliegen Plastikstücke

herum.

Es ist schwer für Mama,

einen Koffer

und einen randvollen Wäschesack zu schleppen.

Es ist schwer für sie,

weil alle Leute gucken.

Sie schämt sich wegen des

alten Nylon-Wäschesacks,

den Babcia uns geliehen hat.

Tata hat das ganze gute Gepäck mitgenommen,

als er gegangen ist,

als er Mama und mich

im Stich gelassen hat.

»Da ist saubere Wäsche drin«,

schärft Mama mir ein,

als ob man darauf

stolz sein müsse.

Mich lässt sie nichts tragen,

außer meiner eigenen

kleinen Tasche.

»Pass gut auf unsere Ausweise auf, Kasienka.

Braves Mädchen, Kasienka.

Und auf das Geld.

Wir werden es dringend brauchen.

Pass auf das Geld und die Ausweise auf.

Braves Mädchen, Kasienka.«

Mama plappert unaufhörlich vor sich hin,

während ich hinter ihr her hetze,

Anzugträgern ausweiche

und Rucksäcken.

Hier im Getümmel des Hauptbahnhofs ist niemand,

der Mama kennen könnte.

Trotzdem schämt sich Mama

wegen des Wäschebeutels.

»Bleib schön bei mir, Kasienka.

Bleib bei mir«,

murmelt Mama,

als wir den Hauptbahnhof verlassen

und in den Bus zum Flughafen steigen.

Ich klammere mich an den Gürtel ihres Mantels,

denn ich bin zu alt, um ihre Hand zu halten,

selbst wenn sie eine frei hätte.

Stansted

Wir waren auf keinem Schiff.

Heutzutage kommen Einwanderer

nicht mehr auf überfüllten Dampfern an,

wuseln nicht mehr wie Ratten

über nasse Landungsbrücken.

Wir haben nicht 1920 und das hier ist nicht

Ellis Island –

Nichts auch nur annähernd so Romantisches

wie ein Blick auf

die Freiheitsstatue

heißt uns willkommen.

Wir sind nach Stansted geflogen.

Nicht ganz London, aber fast.

Nervös stellen wir uns am Einreiseschalter an

und üben im Stillen Englisch:

Ja-danke-Officer.

Ich weiß, dass ich nicht zu Hause bin,

wenn mir die Vorstellung, etwas zu sagen,

den Magen zuschnürt

und ich das, was ich sagen muss, probe

wie den Text eines Theaterstücks.

Bei der Gepäckausgabe

trudelt unser Wäschesack

das Förderband entlang

und die Leute gucken.

Jemand zeigt mit dem Finger darauf,

und Mama sagt: »Lass gut sein, Kasienka,

in diesem Beutel ist nichts außer langer

Unterwäsche.

Die brauchen wir hier nicht.

Wir brauchen Gummistiefel.«

Mama hat recht:

Die Luft in England ist klebrig und feucht,

der Himmel eine graue Abdeckplane.

Und der Regen droht,

uns bis auf die Knochen zu durchweichen.

Behausungen

Mama hat ein Zimmer gemietet,

in Coventry.

Hier werden wir wohnen

bis wir Tata finden:

Ein Zimmer im vierten Stock

eines heruntergekommenen Hauses,

das mich an den Geschichtsunterricht erinnert,

an Schwarz-Weiß-Fotos

von

ausgebombten

Dörfern.

Es gibt eine weiße Küchenzeile

in der Ecke

und ein großes Bett

mit einer durchgelegenen Matratze,

wie eine kalte Pirogge,

das Mama und ich teilen müssen.

»Es ist nur ein Zimmer«, sage ich,

obwohl ich eigentlich meine:

Hier können wir nicht leben.

»Das nennt man ein Studio«,

erklärt Mama mir,

als ob ein Wort

etwas an der Wahrheit ändern würde.

Mama steht mit dem Rücken zu mir

an dem verdreckten Fenster,

schaut auf den Verkehr hinab,

der die Coventry Ring Road beständig

entlangdröhnt.

Sie zittert.

Dann geht sie zur Küchenzeile und

stöpselt den Wasserkocher ein.

Zwei Mal

lässt sie das Wasser aufkochen

und gießt dann zwei Becher Tee auf.

Einen für sich,

einen für mich.

»Wie zu Hause«, sagt sie,

schlürft den Tee,

starrt in das Schwarz der Tasse.

Mama hat das perfekte Heim gefunden –

für einen herrenlosen Wäschesack.

Ja.

Aber nicht für uns.

Erster Tag

Mrs Warren fragt: »Sprichst du Englisch, Liebes?«

Sie geht in die Hocke,

legt die Hände auf die Knie,

als würde sie einen Hund herbeirufen.

Ihre Stimme ist laut

und deutlich,

ihre Zunge rosa

und wendig.

Ich nicke und Mrs Warren lächelt,

dann seufzt sie

vor Erleichterung.

»Wie heißt du, Liebes?«, fragt sie,

und ich bin auch froh,

denn ich hatte befürchtet,

sie hätte mich mit jemandem verwechselt,

der Liebes heißt,

und ich müsste

von nun an auf diesen Namen hören.

Für immer.

»Mein Name ist Kasienka«, sage ich

und schäme mich für mein

holpriges Englisch.

Mrs Warren richtet sich auf

und drückt den Rücken gerade durch.

Sie seufzt

noch mal

und Falten kräuseln ihre Stirn.

Sie schaut zu Mama hinüber,

dann zurück zu mir.

»Tja … Cassie, herzlich willkommen!«

Ich will sie schon auf ihren Fehler hinweisen,

ihr die Gelegenheit geben,

meinen Namen richtig auszusprechen,

doch Mama drückt meine Schulter

als Warnung.

»Du fängst in der fünften Klasse an,

mal sehen, wie du zurechtkommst.«

In der Fünften

Ich bin zwölf.

Fast dreizehn.

Meine Brüste sprießen und

ich habe schon

meine Tage.

Aber ich gehe in eine Klasse

mit lauter Elfjährigen.

Mama ist das egal.

Bis ich Austen im Original lesen kann,

soll ich bei den

Elfjährigen bleiben, findet sie.

Aber da liegt sie falsch.

Manche von denen wissen nicht mal,

wer Austen ist.

Von Zahlen verstehe ich mehr

als sonst jemand in meinem Jahrgang.

Von den Planeten auch.

Im Unterricht muss ich mich

hinter meinen Schulbüchern verstecken,

damit die Lehrer

mir nicht bis zu den Mandeln schauen können,

wenn ich vor Langeweile gähne.

Ich kann nicht gut lesen,

auf Englisch –

das ist alles.

Deswegen stecken sie mich zu den Elfjährigen.

Die Glocke

Es gibt eine Schulglocke,

ein Läuten, das vorgibt,

wann sich alles in Bewegung setzt.

Wir werden beherrscht von ihrem

schrillen Klang.

Wie Schlafwandler stehen wir auf,

wenn sie läutet,

und sind wieder ruhig,

wenn sie es befiehlt.

Die Lehrer versuchen,

sich das Zepter nicht

aus der Hand nehmen zu lassen:

»Ich entscheide, wann der Unterricht beendet ist«,

beharren sie.

Doch mit der Glocke

können sie nicht mithalten.

Was ich nicht hören will

Polnische Wörter hallen durch das Klassenzimmer.

Das sollte sich gut anfühlen, doch

ich versuche, nicht hinzuhören.

Zwei Jungs aus meiner Klasse sagen Dinge,

die ein Mädchen nicht hören sollte,

wenn es auch nur annähernd

gut erzogen ist.

Die beiden grölen, denn die Lehrerin

versteht kein Wort,

glaubt, sie wollen nur nett sein,

während sie einfach nur

ekelhaft sind,

während sie in Wahrheit über

ihren Busen reden.

Konrad zwinkert mir zu und wackelt

mit der Zunge hin und her,

als ob er an mir lecken wollte.

Dabei ist er gerade mal elf und tut sein Bestes,

mich zu schockieren,

doch wenn ich mit ihm flirten würde,

nur ein kleines bisschen,

bekäme er garantiert

Panik.

Bleich

Die braunen Kinder

spielen mit den weißen Kindern.

Die schwarzen Kinder

spielen mit den braunen Kindern.

Sie jagen einander

mit hocherhobenen Armen,

als hätten sie Geweihe,

rempelnd und brüllend.

Mit mir will keiner spielen.

Denn ich bin zu weiß.

Keiner kann zu weiß leiden,

Osteuropaweiß,

Polnisch Winterweiß,

Vampirweiß.

Braun ist okay, normalerweise.

Aber zu weiß ist ganz schlecht.

In der Mittagspause

verkrieche ich mich

in einem stillen Winkel des Schulhofs

neben einem Wasserspender

und will nur

in Ruhe gelassen werden.

Auf mehr kann ich nicht hoffen

zwischen all den erhobenen Geweihen.

Stumm

Mama hat jetzt einen Job

im Krankenhaus.

Bis wir Tata finden

sind wir arm.

Wir brauchen das Geld.

Mama putzt und bringt das Essen.

So muss sie mit niemandem

sprechen.

Mamas langgezogene Vokale ängstigen

die alten Patienten.

Diese hören lieber

einen vertrauten Akzent aus ihrem Königreich

statt zu wissen, dass ihr Frühstück

von einer Polin gebracht wird.

An ihrem ersten Tag

hat eine Frau mit Essensresten im Gesicht

Mama gefragt,

wo sie herkommt.

Und als Mama es ihr gesagt hat,

hat die verkrustete Kreatur gemurrt:

»Ich will jemanden aus England.«

»Bitte«, hat sie höflich hinzugefügt.

Mama muss nichts sagen,

zu niemandem.

Normalerweise.

Tatsächlich wäre es dem Krankenhaus sogar lieber,

sie täte es nicht.

Sie ist nur dazu da,

zu putzen und das Essen zu bringen.

»Bitte.«

Suchmaschine

Mama geht in die Bibliothek,

um etwas im Internet zu suchen.

Sie glaubt

Google wüsste,

wo Tata ist.

Doch das tut es nicht.

Als sie Tatas Namen eingibt,

spuckt Google tausende Links aus,

die ins Nichts führen.

Die Ärmste ist zu müde,

um noch was zu kochen,

als sie von der Bibliothek

heimkommt,

also mache ich das Abendessen:

Porridge mit Rosinen und Honig.

Wir schweigen beharrlich beim Essen,

ignorieren einander

so gut wir können

in dem winzigen Zimmer,

aber ich kann nicht sagen,

warum.

Um zehn Uhr

überlässt Mama mir

das Bett,

kriecht eine Stunde später

selbst hinein.

Sie hat Eisfüße

und bibbert.

Mama schnieft.

»Bist du krank, Mama?«

Sie antwortet nicht.

Sie tut so,

als schlafe sie schon.

Doch als draußen ein Auto vorbeikommt,

kann ich im Zwielicht

auf Mamas Wange

eine Träne glitzern sehen.

Und obwohl ich sie gern trösten würde,

habe ich keine Ahnung,

wie,

ohne dass sie böse würde.