Sarah Crossan wuchs in Irland und England auf, heute lebt sie in den USA. Nach ihrem Abschluss in Philosophie und Literatur ließ sie sich an der Cambridge University als Lehrerin für Englisch und Theater ausbilden. Sie hat einen Master in kreativem Schreiben und kümmert sich seitdem um die Förderung des Themas an Schulen.
Copyright © Sarah Crossan, 2012
Originalausgabe erschienen 2012
bei Bloomsbury Publishing Plc, London
unter dem Titel »The weight of water«
Umschlaggestaltung: Oliver Jeffers
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© mixtvision Verlag, München 2013
www.mixtvision-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten.
Übersetzung: Cordula Setsman
Satz: Anke Elbel
ISBN: 978-3-944572-38-3
eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net
Aus dem Englischen
von Cordula Setsman
Für Mum und Dad
Die Rollen unseres Koffers sind schon hinüber,
noch bevor wir den Danziger Hauptbahnhof
hinter uns gelassen haben.
Mama rammt mit ihnen eine Stufe und
krach, peng, bumm –
Totalschaden.
Überall
fliegen Plastikstücke
herum.
Es ist schwer für Mama,
einen Koffer
und einen randvollen Wäschesack zu schleppen.
Es ist schwer für sie,
weil alle Leute gucken.
Sie schämt sich wegen des
alten Nylon-Wäschesacks,
den Babcia uns geliehen hat.
Tata hat das ganze gute Gepäck mitgenommen,
als er gegangen ist,
als er Mama und mich
im Stich gelassen hat.
»Da ist saubere Wäsche drin«,
schärft Mama mir ein,
als ob man darauf
stolz sein müsse.
Mich lässt sie nichts tragen,
außer meiner eigenen
kleinen Tasche.
»Pass gut auf unsere Ausweise auf, Kasienka.
Braves Mädchen, Kasienka.
Und auf das Geld.
Wir werden es dringend brauchen.
Pass auf das Geld und die Ausweise auf.
Braves Mädchen, Kasienka.«
Mama plappert unaufhörlich vor sich hin,
während ich hinter ihr her hetze,
Anzugträgern ausweiche
und Rucksäcken.
Hier im Getümmel des Hauptbahnhofs ist niemand,
der Mama kennen könnte.
Trotzdem schämt sich Mama
wegen des Wäschebeutels.
»Bleib schön bei mir, Kasienka.
Bleib bei mir«,
murmelt Mama,
als wir den Hauptbahnhof verlassen
und in den Bus zum Flughafen steigen.
Ich klammere mich an den Gürtel ihres Mantels,
denn ich bin zu alt, um ihre Hand zu halten,
selbst wenn sie eine frei hätte.
Wir waren auf keinem Schiff.
Heutzutage kommen Einwanderer
nicht mehr auf überfüllten Dampfern an,
wuseln nicht mehr wie Ratten
über nasse Landungsbrücken.
Wir haben nicht 1920 und das hier ist nicht
Ellis Island –
Nichts auch nur annähernd so Romantisches
wie ein Blick auf
die Freiheitsstatue
heißt uns willkommen.
Wir sind nach Stansted geflogen.
Nicht ganz London, aber fast.
Nervös stellen wir uns am Einreiseschalter an
und üben im Stillen Englisch:
Ja-danke-Officer.
Ich weiß, dass ich nicht zu Hause bin,
wenn mir die Vorstellung, etwas zu sagen,
den Magen zuschnürt
und ich das, was ich sagen muss, probe
wie den Text eines Theaterstücks.
Bei der Gepäckausgabe
trudelt unser Wäschesack
das Förderband entlang
und die Leute gucken.
Jemand zeigt mit dem Finger darauf,
und Mama sagt: »Lass gut sein, Kasienka,
in diesem Beutel ist nichts außer langer
Unterwäsche.
Die brauchen wir hier nicht.
Wir brauchen Gummistiefel.«
Mama hat recht:
Die Luft in England ist klebrig und feucht,
der Himmel eine graue Abdeckplane.
Und der Regen droht,
uns bis auf die Knochen zu durchweichen.
Mama hat ein Zimmer gemietet,
in Coventry.
Hier werden wir wohnen
bis wir Tata finden:
Ein Zimmer im vierten Stock
eines heruntergekommenen Hauses,
das mich an den Geschichtsunterricht erinnert,
an Schwarz-Weiß-Fotos
von
ausgebombten
Dörfern.
Es gibt eine weiße Küchenzeile
in der Ecke
und ein großes Bett
mit einer durchgelegenen Matratze,
wie eine kalte Pirogge,
das Mama und ich teilen müssen.
»Es ist nur ein Zimmer«, sage ich,
obwohl ich eigentlich meine:
Hier können wir nicht leben.
»Das nennt man ein Studio«,
erklärt Mama mir,
als ob ein Wort
etwas an der Wahrheit ändern würde.
Mama steht mit dem Rücken zu mir
an dem verdreckten Fenster,
schaut auf den Verkehr hinab,
der die Coventry Ring Road beständig
entlangdröhnt.
Sie zittert.
Dann geht sie zur Küchenzeile und
stöpselt den Wasserkocher ein.
Zwei Mal
lässt sie das Wasser aufkochen
und gießt dann zwei Becher Tee auf.
Einen für sich,
einen für mich.
»Wie zu Hause«, sagt sie,
schlürft den Tee,
starrt in das Schwarz der Tasse.
Mama hat das perfekte Heim gefunden –
für einen herrenlosen Wäschesack.
Ja.
Aber nicht für uns.
Mrs Warren fragt: »Sprichst du Englisch, Liebes?«
Sie geht in die Hocke,
legt die Hände auf die Knie,
als würde sie einen Hund herbeirufen.
Ihre Stimme ist laut
und deutlich,
ihre Zunge rosa
und wendig.
Ich nicke und Mrs Warren lächelt,
dann seufzt sie
vor Erleichterung.
»Wie heißt du, Liebes?«, fragt sie,
und ich bin auch froh,
denn ich hatte befürchtet,
sie hätte mich mit jemandem verwechselt,
der Liebes heißt,
und ich müsste
von nun an auf diesen Namen hören.
Für immer.
»Mein Name ist Kasienka«, sage ich
und schäme mich für mein
holpriges Englisch.
Mrs Warren richtet sich auf
und drückt den Rücken gerade durch.
Sie seufzt
noch mal
und Falten kräuseln ihre Stirn.
Sie schaut zu Mama hinüber,
dann zurück zu mir.
»Tja … Cassie, herzlich willkommen!«
Ich will sie schon auf ihren Fehler hinweisen,
ihr die Gelegenheit geben,
meinen Namen richtig auszusprechen,
doch Mama drückt meine Schulter
als Warnung.
»Du fängst in der fünften Klasse an,
mal sehen, wie du zurechtkommst.«
Ich bin zwölf.
Fast dreizehn.
Meine Brüste sprießen und
ich habe schon
meine Tage.
Aber ich gehe in eine Klasse
mit lauter Elfjährigen.
Mama ist das egal.
Bis ich Austen im Original lesen kann,
soll ich bei den
Elfjährigen bleiben, findet sie.
Aber da liegt sie falsch.
Manche von denen wissen nicht mal,
wer Austen ist.
Von Zahlen verstehe ich mehr
als sonst jemand in meinem Jahrgang.
Von den Planeten auch.
Im Unterricht muss ich mich
hinter meinen Schulbüchern verstecken,
damit die Lehrer
mir nicht bis zu den Mandeln schauen können,
wenn ich vor Langeweile gähne.
Ich kann nicht gut lesen,
auf Englisch –
das ist alles.
Deswegen stecken sie mich zu den Elfjährigen.
Es gibt eine Schulglocke,
ein Läuten, das vorgibt,
wann sich alles in Bewegung setzt.
Wir werden beherrscht von ihrem
schrillen Klang.
Wie Schlafwandler stehen wir auf,
wenn sie läutet,
und sind wieder ruhig,
wenn sie es befiehlt.
Die Lehrer versuchen,
sich das Zepter nicht
aus der Hand nehmen zu lassen:
»Ich entscheide, wann der Unterricht beendet ist«,
beharren sie.
Doch mit der Glocke
können sie nicht mithalten.
Polnische Wörter hallen durch das Klassenzimmer.
Das sollte sich gut anfühlen, doch
ich versuche, nicht hinzuhören.
Zwei Jungs aus meiner Klasse sagen Dinge,
die ein Mädchen nicht hören sollte,
wenn es auch nur annähernd
gut erzogen ist.
Die beiden grölen, denn die Lehrerin
versteht kein Wort,
glaubt, sie wollen nur nett sein,
während sie einfach nur
ekelhaft sind,
während sie in Wahrheit über
ihren Busen reden.
Konrad zwinkert mir zu und wackelt
mit der Zunge hin und her,
als ob er an mir lecken wollte.
Dabei ist er gerade mal elf und tut sein Bestes,
mich zu schockieren,
doch wenn ich mit ihm flirten würde,
nur ein kleines bisschen,
bekäme er garantiert
Panik.
Die braunen Kinder
spielen mit den weißen Kindern.
Die schwarzen Kinder
spielen mit den braunen Kindern.
Sie jagen einander
mit hocherhobenen Armen,
als hätten sie Geweihe,
rempelnd und brüllend.
Mit mir will keiner spielen.
Denn ich bin zu weiß.
Keiner kann zu weiß leiden,
Osteuropaweiß,
Polnisch Winterweiß,
Vampirweiß.
Braun ist okay, normalerweise.
Aber zu weiß ist ganz schlecht.
In der Mittagspause
verkrieche ich mich
in einem stillen Winkel des Schulhofs
neben einem Wasserspender
und will nur
in Ruhe gelassen werden.
Auf mehr kann ich nicht hoffen
zwischen all den erhobenen Geweihen.
Mama hat jetzt einen Job
im Krankenhaus.
Bis wir Tata finden
sind wir arm.
Wir brauchen das Geld.
Mama putzt und bringt das Essen.
So muss sie mit niemandem
sprechen.
Mamas langgezogene Vokale ängstigen
die alten Patienten.
Diese hören lieber
einen vertrauten Akzent aus ihrem Königreich
statt zu wissen, dass ihr Frühstück
von einer Polin gebracht wird.
An ihrem ersten Tag
hat eine Frau mit Essensresten im Gesicht
Mama gefragt,
wo sie herkommt.
Und als Mama es ihr gesagt hat,
hat die verkrustete Kreatur gemurrt:
»Ich will jemanden aus England.«
»Bitte«, hat sie höflich hinzugefügt.
Mama muss nichts sagen,
zu niemandem.
Normalerweise.
Tatsächlich wäre es dem Krankenhaus sogar lieber,
sie täte es nicht.
Sie ist nur dazu da,
zu putzen und das Essen zu bringen.
»Bitte.«
Mama geht in die Bibliothek,
um etwas im Internet zu suchen.
Sie glaubt
Google wüsste,
wo Tata ist.
Doch das tut es nicht.
Als sie Tatas Namen eingibt,
spuckt Google tausende Links aus,
die ins Nichts führen.
Die Ärmste ist zu müde,
um noch was zu kochen,
als sie von der Bibliothek
heimkommt,
also mache ich das Abendessen:
Porridge mit Rosinen und Honig.
Wir schweigen beharrlich beim Essen,
ignorieren einander
so gut wir können
in dem winzigen Zimmer,
aber ich kann nicht sagen,
warum.
Um zehn Uhr
überlässt Mama mir
das Bett,
kriecht eine Stunde später
selbst hinein.
Sie hat Eisfüße
und bibbert.
Mama schnieft.
»Bist du krank, Mama?«
Sie antwortet nicht.
Sie tut so,
als schlafe sie schon.
Doch als draußen ein Auto vorbeikommt,
kann ich im Zwielicht
auf Mamas Wange
eine Träne glitzern sehen.
Und obwohl ich sie gern trösten würde,
habe ich keine Ahnung,
wie,
ohne dass sie böse würde.