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Mit 136 schwarz-weiß-Fotos

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe Oktober 2010

ISBN 978-3-492-95696-3

© Piper Verlag GmbH, München 2009

Covergestaltung: Dorkenwald Grafik-Design, München

Covermotiv: Archiv Reinhold Messner

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Für Toni Egger

Tod am Cerro Torre

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In der Gipfelwand des Cerro Torre (Nordwand) (ES)

Zitate

»An diesem Turm und am Campanile Basso haben Trentiner Kletterer Geschichte geschrieben.«

Reinhold Messner

»Es ist vielfach die falsche Vorstellung von einem Berg, die uns narrt. Und plötzlich haben wir uns verstiegen. Am Cerro Torre ist die Selbstrettung dann unendlich viel schwieriger als am Campanile Basso. Die beiden Felstürme sehen nur ähnlich aus.«

Reinhold Messner

Nur noch ein ...

Nur noch ein leeres Seilende baumelt im Wind. Es geschah vor mehr als fünfzig Jahren. Wollten doch zwei Bergsteiger nach den Sternen greifen, am »unmöglichen« Gipfel das Unmögliche möglich machen? Plötzlich aber ist einer tot und dieser Tod dem anderen doppelte Angst. Später kommen das Nichts, die Leere, der Abgrund, ein Leben mit diesem Trauma. Ist der Kamerad wirklich tot? Oder lebt er noch, irgendwo, in einer der Schluchten, auf einem Eisfeld, tief unten auf dem Gletscher? Eine Lawine hat ihn mitgerissen, weggenommen, begraben. Der eine steigt ab, der andere ist abhandengekommen: irgendwo an den Granitwänden in Patagonien. Am schwierigsten Berg der Welt herrscht Chaos: Sturm, Lawinen, White Out. Der Mann, der noch lebt, seilt ab. Er tut es wie in Trance. Er ist erschöpft, unterkühlt, verzweifelt. Vielleicht wird er den Verstand verlieren, aber er will nicht sterben. Immer wieder späht er nach dem Kameraden, sucht Schutz, aber der Felswand, die er hinabsteigt, ist nicht zu entrinnen. Ist da jemand? Wie ein gehetztes Tier sieht er sich um. Kommt der andere aus dem Abgrund zurück? Nein, da ist nur der Wind, das Schneetreiben, sein eigener Herzschlag hämmert in seinen Ohren. Also weiter hinunter, nichts wie hinab in die Tiefe. Er ist auf der Flucht.

Der Mann, der bereit war, für den schwierigsten Berg der Welt zu sterben, folgt jetzt seinem Überlebensinstinkt. Wie die Lawinen dem Gesetz der Schwerkraft. Er will nur noch überleben. Egal, ob sie oben waren oder nicht, immerzu auf der Hut vor dem Absturz, geht es an den Seilen weiter nach unten, zurück zu den Menschen. Atemlos taumelt, fällt, sinkt er tiefer. Kein Albtraum, keine noch so große Angst kann ihn stoppen. Kein Gebrochener, nur ein Kämpfender überlebt dieses Chaos! In der vertikalen Welt gilt es, in der Schwebe zu bleiben, den Reflexen zu folgen, hinab! Er durchquert Abgründe, hängt ohnmächtig im Seil, wacht wieder auf, flieht. Weiter nach unten! Plötzlich wird er von Eisstücken beschossen, flucht, sieht sich selbst wie einen Fremden. Als ob er sich in sich selbst verloren hätte. Sein Abstieg ist seit Tagen ein Wettlauf mit dem Tod, und der Abstand zum Sterben verringert sich. Weht oder fällt da etwas hinter ihm her?

Ein einziger Trost jetzt: Sein erschrockener Geist kennt kein Jenseits, nur noch das Jetzt. Seine Hände klammern, schmerzen, können nicht mehr. Er kann auch die Arme nicht heben. Er kann nicht einmal mehr rufen. Als wären seine Stimmbänder nicht die seinen. Als Überlebender zu kämpfen ist wie ein Reflex, im Team allein geblieben zu sein führt zum Wahnsinn. Der Kamerad spricht jetzt als Monster aus ihm: Er klopft wie Hammerschläge an die Felswand, wie eine tiefe Wunde im Kopf. Außer einer dumpfen Leere im Herzen ist aber nichts mehr: über ihm Abgrund, unter ihm Abgrund. Er ist am Torre, nicht an der Guglia!

Er weiß, irgendwo da unten, tief unten, ist alles zu Ende: Auf dem Gletscher, unter den grauen Schneewehen. Grab oder Leben? Trotz aller Erschöpfung geht das Leben jetzt weiter. Als stünde einer neben ihm, um zu helfen. Es gilt, sich sicher zu bewegen! Der Überlebende aber ist nicht mehr Herr der Lage, nur sein Unterbewusstsein, der Instinkt, rettet ihn weiter. Was sonst ist es, das im Verzweifelten Reflexe hervorruft, die das Überleben sichern wollen. Trotz Chaos, Hektik und Hoffnungslosigkeit. Etwas in ihm verwandelt die Erfahrung von tausend Bergtouren ständig in neue Überlebensstrategien. In Sekundenschnelle entscheidet sein Instinkt über die Richtung, den Handgriff, über richtig oder falsch.

Dabei gelten nur noch animalische Maßstäbe. Sein sechster Sinn ist wie beim Tier unbestechlich: die einzig verbliebene Brücke zwischen der Welt draußen und der in ihm drinnen. Der Absteigende kann sie nutzen, solange er lebt.

Der Mann, der angeblich keine Angst vor dem Tod hatte und jetzt nicht sterben will, kann sich selbst nicht mehr entrinnen. Er hat den unerreichbarsten aller Gipfel ausgesucht, um der Welt seine Überlegenheit vorzuführen. Auch um zu beweisen, dass selbst dort, wo die besten aller Bergsteiger den Aufstieg nicht wagten, ein Weg sein kann. Der Alpinist aber, der jetzt als einsamer Irrer in seinen geborstenen Vorstellungen auftaucht, erlebt sein Sterben und Überleben als Wunder einer Wiedergeburt. Als er endlich aus einem Reich zurückkommt, das nur er kennt und das nicht für Menschen gemacht scheint, ist er ein anderer Cesare Maestri als jener, mit dem Toni Egger Tage vorher zum Gipfel aufgebrochen ist.

Immer noch ist er allein, immer noch kämpft er mit Schneesturm, Nebel und Chaos. Auch mit Halluzinationen. Hat sein Kamerad nur einen Vorsprung, oder ist er wirklich tot? Ja, sie kommen von diesem verdammten Berg, der jetzt tobt und brüllt und seine Eiskruste fallen lässt wie Laubbäume im Herbst ihre Blätter. Ist es Herbst, Morgen, Nacht, oder eine andere Jahreszeit? Alle Zweifel, ob sie es gemeinsam schaffen können, sind verschwunden. Sogar ob der unmögliche Berg möglich ist, interessiert nicht mehr. Ein Überlebender kämpft nur noch um sein Leben. Endlich am Wandfuß! – der Sprung über die Randkluft endet im Schnee eines Lawinenkegels, eine Art Trichter, der steil abfällt. Der Sterbende schwebt, stürzt, fällt zurück ins Leere. Als ob er vom schwierigsten Berg der Welt hinabgestoßen würde, seinem Schicksal entgegen. Tod oder Leben? Die Landung ist weich, die Besinnungslosigkeit kommt wie eine Erlösung. Ein Schneehaufen hat Cesare Maestri am Leben gelassen.

Es ist der 3. Februar 1959, und der halb Tote, den Cesarino Fava wenig später am Fuße des Cerro Torre zusammengekauert im Schnee findet, ist wirklich Cesare, nicht Toni.

Bildteil

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Torre, Campanile, Guglia sind Namen für unverwechselbare Felsberge. Der Campanile Basso (auch Guglia di Brenta) im Trentino (RM)

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Cerro Torre in Patagonien (RM)

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Am Cerro Torre (Nordwand) (ES)

1 Cerro Torre – Der unmögliche Berg

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Gipfelaufbau des Cerro Torre, von Osten gesehen (RM)

Zitate Kapitel 1

»Der Torre erhebt sich als eindrucksvolle Felsnadel, auf der ein Eispilz sitzt. Seine Granitwände fallen vertikal auf die Gletscherflächen an seinem Fuß.«

Padre de Agostini

»Das Problem einer Besteigung gibt es am Cerro Torre nicht …
Allein der Gedanke an einen Versuch wäre irre. Lächerlich.«

Marc Antonini Azéma
(Expeditionsarzt am Fitz Roy 1952)

»Die unmenschlichen atmosphärischen Verhältnisse haben viele Expeditionen hier erschöpft und entmutigt, bevor noch der eigentliche Kampf aufgenommen worden war.«

Lionel Terray

»Terrays Urteil begründete den Mythos Cerro Torre.«

Reinhold Messner

Nach dem Zweiten ...

Nach dem Zweiten Weltkrieg erfährt auch das Bergsteigen eine Erneuerung. Die erfolgreichsten Alpinisten der Zwischenkriegszeit – Riccardo Cassin und Anderl Heckmair – sind zwar noch aktiv, junge Kletterer aber übernehmen die Führung im Alpinismus: In Italien sind es Walter Bonatti und Cesare Maestri; in England Joe Brown und Don Whillans; in Österreich Hermann Buhl und Toni Egger; in Frankreich Jean Couzy und Gaston Rébuffat, vor allem aber die Seilschaft Louis Lachenal und Lionel Terray, denen die zweite Begehung der Eiger-Nordwand gelingt, damals die größte Herausforderung im alpinen Bergsteigen.

Diese französischen Bergsteiger, viele von ihnen in der Résistance zu mutigen Könnern herangereift, sind es jetzt, die den Alpinismus bestimmen. Unter der Führung von Maurice Herzog gelingt ihnen nicht nur die Erstbesteigung des ersten Achttausenders, der Annapurna im zentralen Himalaja, auch in den Alpen und in den Anden wachsen sie über ihre Vorgänger hinaus.

Lionel Terray, ein sympathischer Haudegen aus Grenoble, ist und bleibt einer der ganz großen Bergsteiger seines Jahrhunderts. Bergführer in Chamonix und immerzu aktiv, gilt er als stark und risikofreudig. Er und Lachenal bilden ein einzigartiges Team, die beste französische Seilschaft der Nachkriegszeit. An der Annapurna stecken sie in einer Falle. Es ist zuletzt Terray, der nach dem Gipfelgang von Herzog und Lachenal, die irre geworden sind, die Situation rettet. Obwohl alles zum Verzweifeln ist, rennt Terray, dieser Kraftmensch, ein Naturereignis, in die Nebel hinein, bricht nieder und steht verstört wieder auf. Er tobt wie ein Rasender. Als wolle er die Mauern des Gefängnisses einreißen, in dem die Freunde stecken. Er gestikuliert mit dem Pickel. Wie ein Blinder im Nebel. In einer solchen Situation aber ist auch er machtlos, ohne Plan, wie lahm. Der kranke Lachenal schilt Terray einen Narren und hockt sich auf den Schnee. Der Lästerer aber ist noch weniger bei Verstand als der Helfer. Lachenal will ein Loch in den Schnee graben und besseres Wetter abwarten. Immerfort beschimpft er Terray und die anderen als Versager. Plötzlich packt Terray Lachenal, schleppt ihn hinter sich her. Rücksichtslos! Seine Kräfte und sein Wille sind wie ein Wutausbruch. Er hält den Kranken am Seil, redet einmal beruhigend, dann befehlend auf ihn ein. Wie auf ein krankes Tier. Und Lachenal folgt. Als wäre er gezwungen zu tun, was Terray sagt, trottet er hinter ihm her. So rettet Terray seinem Freund das Leben.

Lionel Terray, der mit Louis Lachenal 1947 also die zweite Begehung der Eiger-Nordwand gemeistert hat und danach mit der Erstbesteigung des Fitz Roy in Patagonien und des Makalu im Himalaja als Alpinist Weltruf erlangen sollte, äußerte sich später niemals angeberisch über seine Heldentaten. Er war ein feiner Charakter und genau mit seinem Urteil. Seine Aussage – »Kein einziger Aufstieg in den Alpen hat uns je so viele Schwierigkeiten entgegengestellt wie der Fitz Roy.« – hat also Gewicht. Wie auch manch andere damals haben er und seine Kameraden 1950 an der Annapurna und zuvor am Dhaulagiri Akrobatenstücke fertiggebracht. Der Fitz Roy aber hat Terray 1952 beinahe umgebracht. Die letzte heldische Periode des Bergsteigens hatte gerade erst begonnen.

Von René Ferlet angeregt, organisieren Pariser Freunde von Lionel Terray 1952 eine Expedition zum Fitz Roy in den Anden Patagoniens. Dieses »Matterhorn der südlichen Hemisphäre«, eine einzigartige Granitspitze, ist zwar nur 3450 Meter hoch, aber ein verführerisches Ziel. Keiner Expedition war es bis dahin gelungen, auch nur über den Sockel des Berges hinauszukommen. Darüber baut sich senkrecht der Gipfelturm auf. Seine Wände, in ihrer geringsten Höhe etwa 750 Meter hoch, sind schwieriger als die damals härtesten Klettereien in den Alpen. Die Schwierigkeiten am Fitz Roy aber werden durch das Klima Patagoniens noch potenziert: schlechtes Wetter; Kälte; Wassereis, das die Wand überzieht; jähe und unerhört heftige Sturmstöße. Das alles macht den Fitz Roy zu einem der schwierigsten Berge der Welt. Vielleicht ist er unmöglich. 1952!

Dieser Fitz Roy, das Urbild eines Gipfels, wird für Terray rasch zu einer Herausforderung. Ein solches Ziel gibt es weder in den Alpen noch im Himalaja, und Terrays Alpinismus, den er als eine Art Kunst versteht, ist experimentell. Eine Reise nach Patagonien aber ist teuer. Terray legt den größten Teil seiner Ersparnisse in die gemeinsame Expeditionskasse. Ein Gast bittet, sich der Expedition anschließen zu dürfen, und verspricht, die fehlende Summe aufzubringen.

Trotzdem müssen zuletzt Schulden gemacht werden, um die Reise zu sichern. In Argentinien angekommen, erleben die Franzosen eine Liebenswürdigkeit und ein Entgegenkommen ohnegleichen. Selbst der Diktator Juan Perón empfängt sie und hilft weiter. Trotzdem gerät die Expedition bald in Bedrängnis. Beim Überqueren eines angeschwollenen Wildbachs ertrinkt Jacques Poincenot, ein hervorragender Kletterer. Sein jähes Ende verwirrt die Männer. Die Bergsteiger verlieren ihr Selbstvertrauen, und einige von ihnen wollen abziehen, zurück in die Zivilisation. Nach langer Beratung wird die Expedition fortgesetzt. Eile ist geboten: Jeder verlorene Tag kann den Erfolg kosten.

Jetzt aber behindern Schneefälle und Stürme das Vorankommen. Drei Wochen lang kämpfen Terray und seine Freunde gegen widrigste Wetterbedingungen: Höhlen werden ins Gletschereis gehauen; die Spur, die die Lager verbindet, muss jeden Tag neu getreten werden. Es herrschen abscheuliche Bedingungen. Dennoch sind in zwanzig Tagen drei Lager eingerichtet und mit Lebensmitteln versorgt. Die Strecke vom Lager II zum Lager III ist auf einer Länge von 300 Höhenmetern mit fixen Seilen und Strickleitern abgesichert. Die Bergsteiger aber müssen alle Lasten selbst tragen, in Patagonien gibt es keine Sherpas. Fast eine Tonne Material wird nach oben gebracht. Lionel Terray und Guido Magnone aus Paris, der zweite energiegeladene Kletterer im Team, hocken dabei fünf Tage lang im Sturm fest. Der Brennspiritus für die Kocher droht auszugehen. Während einer Aufhellung gelingt ihnen die Flucht ins Basislager.

Dann klart es auf, der Himmel strahlt, das Wetter ist prächtig. Noch am selben Tag steigen die beiden Spitzenkletterer wieder auf bis ins Lager III. Anderntags, in der Morgendämmerung, ist der Himmel trüb, die Kälte beißend. Sie wagen trotzdem einen Versuch: Die Kletterei ist von Anfang an äußerst schwierig; Felshaken setzend und in freier Kletterei schaffen sie 120 der 750 Meter hohen Wand. Am Abend kehren sie zum Lager zurück, lassen die fixen Seile aber hängen, um sich so den neuerlichen Aufstieg zu erleichtern. Am Morgen des nächsten Tages völlige Windstille, kein Wölkchen am Himmel. Jetzt gilt es! Terray und Magnone klettern schnell, lassen viele Felshaken stecken. In abwechselnder Führung kommen sie höher. Von jedem Standplatz kann Terray auf den kleineren Nachbarn des Cerro Fitz Roy, den Cerro Torre, hinabsehen, der noch viel schwieriger aussieht als ihr Berg. Sicher viel schwieriger zu besteigen, denkt Terray, vielleicht sogar unmöglich! Wie der Fitz Roy auch? Die Wand über ihm macht Terray Angst. Sie klettern dennoch weiter. Bei Einbruch der Dunkelheit haben sie knapp die Hälfte der Wand hinter sich. Sie biwakieren auf einem schrägen Band. Am folgenden Tag aber klebt Wassereis auf dem Fels. Zurück? Nein, sie versuchen, mit Steigeisen zu klettern. Die Aktion ist riskant.

Terray verliert den Mut, will absteigen. Magnones Entschlossenheit aber, der Einsatz des Kameraden macht auch ihn stolz. Schließlich ist er ebenfalls bereit, das Wagnis einzugehen. Sie klettern also weiter. Der Vorrat an Felshaken ist bald erschöpft, und sie müssen sich mit Tricks weiterhelfen. Als sie den Gipfel erreichen, ist es vier Uhr nachmittags: Wind, Nebel, wenig Sicht. Es beginnt zu schneien. Der Abstieg wird zur Verzweiflungstat. Zum Sturm kommen die Angst, vereister Fels, Schneerutsche. Trotzdem wagen sie sich weiter in den Abgrund. Die fixen Seile retten zuletzt Magnones und Terrays Flucht. Bis in die Arme ihrer Freunde.

Die Erstbesteigung des Fitz Roy wird anschließend nicht nur von der argentinischen Regierung gewürdigt, sie löst weltweite Begeisterung aus. Und die Frage kommt auf, ob der kleinere Nachbar des Fitz Roy, der Cerro Torre, je bestiegen werden kann.

»Wir sahen den Cerro Torre – eine frei stehende, fast unwirkliche Riesensäule«, schreibt Lionel Terray 1952 im Bericht über seine Fitz-Roy-Expedition. Er schreibt auch von wilden Flüssen beim Anmarsch, über sintflutartige Regenfälle und metertiefen Schnee. Er beschreibt die Wühlarbeit, die Voraussetzung war, um überhaupt an den Fuß des Berges zu gelangen. Er schreibt über eisige Stürme, die es unmöglich machten, Zelte aufzustellen, sodass man in Schneehöhlen hausen musste. »Eines wissen wir genau«, schreibt Terray zuletzt, »wenn eine Seilschaft mitten in der Wand in den patagonischen Sturm gerät, ist sie verloren.« Und er schließt mit dem Satz: »Der Fitz Roy ist wohl der schwierigste Kletterberg der Erde, der bisher erobert wurde.«

Damit wird der Cerro Torre zum schwierigsten unter den damals unbestiegenen Bergen der Welt. Und dieser »Torre«, nur fünf Kilometer südwestlich des Fitz Roy gelegen, ist vorerst tabu! Ein unmöglicher Berg!

Bildteil Kapitel 1

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Cerro Torre über der Pampa Patagoniens (RM)

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Die Fitz-Roy-Gruppe zwischen Pampa (Argentinien) und Hielo Continental (Chile) in Patagonien (ES)

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Lionel Terray (RM)

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Guido Magnone (RM)

2 Cesare Maestri – Die Spinne der Dolomiten

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Cerro Torre und Trabanten, von Süden gesehen (RM)

Zitate Kapitel 2

»Schon seit einiger Zeit war der Ruf des Matterhorns der südlichen Hemisphäre auch nach Frankreich gedrungen. Alpine Zeitschriften hatten uns die gigantische Granitspitze, deren ebenmäßige Gestalt an die 3300 Meter aus dem Ödland Patagoniens aufsteigt, vor Augen geführt, und wir wussten, dass die Erkletterung dieses verführerischen Zieles von mehreren Expeditionen vergeblich versucht worden war.«

Lionel Terray

»Von allem Anfang an begeisterte mich der Plan Ferlets.«

Lionel Terray

»Der Cerro Torre, ein Nachbar des Cerro Fitz Roy, ist viel schwieriger zu besteigen als dieser.«

Lionel Terray

»Maestri vertritt mit aller Strenge den Grundsatz des großen Preuß, wonach man nur da aufsteigen soll, wo man in freiem Klettern auch wieder herunterzukommen vermag.«

Dino Buzzati

»Auf dem Gebiet der Klettertechnik ist Cesare Maestri unbestreitbar einer der größten Meister unserer Zeit. In der wahrhaft teuflischen, mir heute noch unverständlichen Kunst, allein in freiem Klettern über Wände extremer Schwierigkeit abzusteigen, kommt ihm zweifellos kein Zweiter gleich.«

Dino Buzzati

»Dino Buzzati hat mit seinem schwärmerischen Urteil Maestri sicher keinen Gefallen getan.«

Reinhold Messner

Zwei Kletterer sind ...

Zwei Kletterer sind es, die Anfang der Fünfzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts die Bergsteigerszene in Italien bestimmen: Cesare Maestri und Walter Bonatti. Der eine, Maestri, Jahrgang 1929, will Schauspieler werden und flieht von Rom in die Dolomiten, wo er rasch zum damals unübertroffenen Freikletterer wird. Der andere, Bonatti, ein Jahr jünger, lebt in Monza und wechselt später als Bergführer nach Courmayeur am Fuße des Mont Blanc. Bonatti ist ein Naturtalent. Er meistert in jungen Jahren Routen wie den Walkerpfeiler an den Grandes Jorasses, eröffnet eine moderne Neutour am Grand Capucin und wird bald zum weltweit führenden Bergsteiger seiner Generation.

Während Maestri sich vom Freikletterer immer weiter hin zum Hakenkletterer entwickelt, geht Bonatti den umgekehrten Weg. Er ist der klassische Bergsteiger par excellence – aktiv im Granit der Westalpen, im Kalk und Dolomit, in Schnee und Eis, an den Riesenflanken des Mont Blanc. Ebenso erfolgreich ist er in den Anden und im Karakorum.

Als Cesare Maestri die Soldá-Verschneidungen an der Marmolada, damals eine der schwierigsten Dolomitenrouten, solo klettert, schütteln andere Extrembergsteiger nur den Kopf. Als er dann aber die »Via delle Guide« am Crozzon di Brenta, ebenfalls in den Dolomiten, sogar im Abstieg allein und ohne Seil meistert, gilt er als Außerirdischer. Man spricht jetzt mit Hochachtung von ihm. Die Begeisterung für den »Sesto Grado« in Italien ist groß und alle bewundern die »Spinne der Dolomiten«, wie Maestri sich selbst nennt. Zu Recht, denn bei der »Arbeit« im Fels ist er unverwechselbar.

Maestri weiß, was er tut: Er inszeniert sein Klettern, aber er geht kein unnötiges Risiko ein. Er tut nichts aus Leichtfertigkeit, ist nur entschlossen, an seine Grenzen zu gehen. Vor allem, wenn er sich auf eine Alleinbegehung einlässt. Ist Maestri erst einmal im Fels, klettert er elegant und zügig. Sein Temperament, seine ganze Kraft – sowohl die körperliche wie die geistige – ist auf die paar Quadratmeter Fels gerichtet, an denen er gerade hängt und weiter emporturnt. An Finger- und Schuhspitzen. Er tut dabei nie einen Schritt, den er nicht wieder rückgängig machen könnte. Und auch wenn seine Begeisterung fürs Klettern in Besessenheit ausartet, er bleibt ernst. Dann wieder verflucht er die Berge. »Bei Leuten, die Maestri nur flüchtig kennen, ist er als umständlicher und schwieriger Geselle verschrien, reizbar, bockig, mit allzu rascher Begeisterung und von oft grundloser Niedergeschlagenheit: alles in allem ein unbequemer Mensch«, schreibt Dino Buzzati, ein italienischer Journalist und Schriftsteller, der Maestri mehr als zugetan ist.

Walter Bonatti ist in den ersten Jahren seiner Kletterzeit nicht Maestris Gegenspieler. Der gut aussehende Italiener – schwarzhaarig, schlank, mit feinen Gesichtszügen – meistert 1949 mit neunzehn Jahren die zweite Begehung der Oppio-Führe in der Croz-dell’Altissimo-Südwand in der Brenta, die dritte der Aiguille-Noire-Westwand am Mont Blanc, die sechste am Walkerpfeiler an den Grandes Jorasses, die Cengalo-Kante im Bergell. Diese Touren allein schon sprechen für die Bandbreite seines Könnens.

1951, vom 20. bis 23. Juli, gelingt ihm mit Luciano Ghigo die Eroberung der bis dahin als undurchsteigbar geltenden Grand-Capucin-Ostwand im Mont-Blanc-Gebiet. Zwischen 1950 und 1952 leistet Bonatti seinen Militärdienst. Dabei nutzt er auch die Zeit, um die Nordwand der Westlichen Zinne im Winter zu klettern. Mit dem gleichaltrigen Carlo Mauri aus Lecco macht er sich am 22. Februar 1953 am Einstieg der Cassin-Führe zum großen Abenteuer bereit. Bonatti führt. Der Fels ist teilweise mit einer dünnen Eisschicht überzogen, »glasiert«, wie wir sagen. Bis sechs Uhr abends schaffen sie nur 200 der 500 Meter hohen Wand. Biwak in Trittschlingen. 13 Stunden lang und bei 25 Grad unter null. Am zweiten Tag bewältigen die Italiener den Dachquergang und weitere 100 Höhenmeter. Am dritten Tag, nach insgesamt 27 Stunden Kletterzeit, erreichen sie den Gipfel. Drei Tage später die Zugabe: Bonatti und Mauri gelingt die zweite Winterbegehung der Nordwand der Großen Zinne, die Fritz Kasparek und Sepp Brunhuber 1938 erstmals im Winter gemeistert haben, als Training für die Eiger-Nordwand. Bonatti und Mauri bleiben Partner, Bonatti und Maestri werden zu Rivalen. Wer ist der bessere Bergsteiger?

Walter Bonatti und Cesare Maestri entstammen jener Generation von Bergsteigern, die sich vor allem durch Neutouren auszeichneten. Und bis auf wenige Male in ihrer Anfangszeit als Kletterer stiegen sie immer als Seilerste, oft allein. Dabei steht Bonattis Sachlichkeit im krassen Widerspruch zu Maestris Vorliebe für das Theatralische. Dessen Imponiergehabe hatte etwas Forderndes, ja sogar Pathetisches. Was mir an Cesare Maestri aber sympathisch ist, sind seine anarchischen Züge. Und natürlich hat er recht, wenn er sagt, jeder und jede mögen so klettern, wie es ihnen beliebt. Es gibt keine Regeln! Es gibt nur Fakten. Deshalb kann ich auch seine Wut verstehen, die ihn packt, als er 1954 aus der K2-Expedition, dem nationalen Prestigeunternehmen des Jahrzehnts schlechthin in Italien, ausgeschlossen wird. Unter dem Vorwand, er leide an einem Magengeschwür, fliegt er aus dem Team. Aber die Ärzte haben entschieden, wie es Ardito Desio, der Expeditionleiter, wollte, und damit war der beste Freikletterer seiner Zeit ausgegrenzt. Wie der große Riccardo Cassin auch. Nicht aber Walter Bonatti, der am K2 eine Schlüsselrolle spielen wird, schleppt er doch mit einem pakistanischen Träger Sauerstoffflaschen auf über 8000 Meter Höhe. Er muss dann ein Freilager durchstehen, da Compagnoni, der tags darauf mit Lacedelli mithilfe der Sauerstoffflaschen den Gipfel erreicht, das Lager IX an anderer als der verabredeten Stelle eingerichtet hat.

Maestri ist vierundzwanzig Jahre alt, als er mit den anderen Kandidaten der geplanten K2-Expedition in Mailand zu einem medizinischen Test antritt. Er fällt durch und zerbricht daran. Denn dieser Cesare Maestri ist nicht der Kraftprotz, als der er erscheint, nicht nur der kühne Alleingänger und erfolgreiche Bergführer, er benötigt Aufmerksamkeit und Anerkennung. Ähnlich wie ein Abhängiger seine Drogen. Cesare ist sechs Jahre alt, als seine Mutter stirbt, die Schauspielerin Maria Botti. Sein Vater Toni, auch er Schauspieler, kann die Mutter nicht ersetzen. Als Halbwüchsiger sei Cesare mutig, geschickt und abenteuerlustig gewesen, wird erzählt, auch streitsüchtig. Aber nicht ohne Angst, 1949, als Bonatti den Walkerpfeiler klettert, macht Maestri mit Gino Pisoni als Lehrmeister seine ersten Kletterversuche. Er will Bergführer werden. Zum Training trägt er Lasten zur Pedrotti-Hütte in den Brenta-Dolomiten, klettert, wenn er keinen Partner findet, zwischendurch allein und erweckt damit den Eindruck, sich wichtigtun zu wollen. Zwischen November 1950 und April 1952 leistet auch Maestri seinen Militärdienst. Dabei weist er Soldaten und Offiziere in die Grundregelen des Kletterns und Skifahrens ein. Er genießt Respekt. Niemals aber biedert er sich dabei den Vorgesetzten an, und nicht selten landet er wegen seiner Aufsässigkeit im Arrest.

1954, im K2-Jahr, hat Maestri 30 Alleingänge hinter sich, sechs davon im obersten Schwierigkeitsbereich. Der »große Berg« aber soll ihm trotzdem verwehrt bleiben. Der K2, sein kühnster Traum, wird nur noch Anlass dafür sein, sich verspottet zu fühlen. Und darin sehe ich die tieferen Wurzeln für eine lebenslange Rivalität.

Man muss sich den jungen Maestri, den bewunderten Alleingänger, vorstellen: wie er wartet und sich ausmalt, den Gipfel des zweithöchsten Berges der Welt zu erreichen, vielleicht sogar allein, weil alle anderen nicht mehr können … er, der Stärkste von allen, ein Hermann Buhl am K2. Maestri aber wird aussortiert: Nicht tauglich! Als sich Maestri am 15. Dezember 1953 mit den anderen Aspiranten im Geologischen Institut der Uni Mailand einfand, wo Professor Ardito Desio seine K2-Expedition vorstellen will, fühlt er sich absolut fit. Drei Tage haben die Untersuchungen gedauert. Maestri, immer noch überzeugt davon, psychophysisch der stärkste von allen Anwärtern zu sein, wird in einem Brief am 7. Januar 1954 schließlich mitgeteilt, dass er nicht an der K2-Expedition teilnehmen könne. Aus gesundheitlichen Gründen. Den wahren Hintergrund – das Magengeschwür ist nicht vorhanden und damit nur ein Vorwand, um den mutigen und selbstbestimmten Maestri ausschließen zu können – wird er nie erfahren. Maestri ist wütend, weint. Enttäuscht schreibt er einen Brief an Desio: Er will die Daten, das Resultat der medizinischen Untersuchungen sehen. Das ist zu viel. »Wo kämen wir hin, wenn jeder Anwärter ein Recht auf Einblick in seine Akte oder gar auf Teilnahme hätte?« Damit ist klar: Am K2 wird nur einer bestimmen: Ardito Desio!

Auch ich bin überzeugt, dass Maestri fit, gesundheitlich auf der Höhe, also tauglich war. Ob er sich in die Mannschaft eingefügt hätte? Wer weiß. Jedenfalls hätte er sich nicht alles gefallen lassen. Seine Eigenständigkeit, die ich bewundere, hätte er auch am K2 nie und nimmer aufgegeben.

Anders Walter Bonatti. Der Stärkste im Team hat sich untergeordnet. Bis zuletzt. Auch weil er der Jüngste, der Benjamin war. Hätte er am Ende aber nicht mehr gegeben, als ein Mensch zu leisten vermag, der K2 wäre 1954 nicht bestiegen worden. Bonatti hat sich dafür zeitlebens in der Öffentlichkeit diskreditiert gefühlt, ehe der offizielle Expeditionsbericht korrigiert wurde. Rechtfertigen musste er sich nie. Seine Rolle beim Gipfelgang war der Schlüssel zum Erfolg. Ob Maestri am K2 eine wichtige Rolle hätte spielen können, bezweifle ich. Er war Dolomitenkletterer, kein Bergsteiger mit der Erfahrung eines Bonatti. Aber beide – Maestri und Bonatti – haben auf ihren ganz persönlichen »Skandal« um den K2 reagiert. Cesare mit neuen Alleingängen, Walter mit dem Dru-Pfeiler, den er 1955 solo erstbeging – eine der Sternstunden des Alpinismus im zwanzigsten Jahrhundert.

Bonatti, der bis zur Expedition am K2 anderen voller Vertrauen begegnet, wird nach 1954 ein scheuer Mensch: in sich gekehrt, zurückgezogen, ja misstrauisch. Er sucht jetzt die Einsamkeit, neigt zu Eigenbrötelei. Als müsse er sich vor weiteren Enttäuschungen schützen. In dieser seelischen Leidenszeit entdeckt Bonatti seinen ganz persönlichen Stil des Bergsteigens, jenen Alleingang, der ihn aus der großen Zahl der Spitzenbergsteiger seiner Zeit endgültig heraushebt. Am Petit Dru, wo französischen Kletterern 1952 die Begehung der großartigen Westwand gelungen ist, sieht er eine neue Herausforderung: den Südwestpfeiler. Als ob dem perfekten Berg nur noch die perfekte Route fehle. Dieser ideale und elegante Anstieg, ein letzter Mythos des Unmöglichen in den Alpen, wird zu seiner Obsession. Am 17. August 1955 steigt er allein in die Granitflucht des Dru-Pfeilers ein. Wie in einen Traum. Sechs Tage lang lebt er in jener anderen Welt, die nur Traumwandlern oder Genies offensteht. Er erreicht bald einen Zustand, »in dem es das Unmögliche nicht mehr gibt« und alles gelingt. Denn das Bewusstsein, dass er an den Grenzen des Möglichen klettert, »um seine inneren Probleme zu lösen«, gibt ihm die Kraft und den Willen, immerzu weiterzumachen. Auch wenn es nicht mehr weiterzugehen scheint.

Der erste Abschnitt des Pfeilers ist schwierig wegen der komplizierten Selbstsicherungsmanöver und des schweren Sacks, den es nachzuziehen gilt. Die Kletterei ist extrem. Bonatti klettert in absoluter Exposition, in einer senkrechten Welt. Nur von Schweigen umgeben. Den Durst stillt er mit dem Wasser, das bei Gewittern über die Felsen rinnt, die Einsamkeit mit Selbstgesprächen. Wann hat er damit angefangen, Gedanken laut auszusprechen, mit sich selbst zu reden? Er weiß es nicht mehr. Er redet auch mit dem Sack, den er nachzieht. Als sei der sein Seilgefährte.

Wenn ich mir heute die Ausrüstung Bonattis vom Dru-Pfeiler ansehe – ein Seil aus Seide, eines aus Nylon, Holzkeile, Felshaken, zwei Hämmer, rudimentäre Kletterschuhe –, kann ich nicht glauben, dass eine so große Wandflucht mit so wenig Material zu realisieren ist. Dazu die geschundenen Hände, die Müdigkeit nach vier Tagen extremster Kletterei. Mit ein paar Pendelquergängen hat sich Bonatti in Überhänge gewagt und alle Brücken hinter sich gekappt. Auch weil er das Seil nach jedem Pendler abziehen muss. Er braucht es, um weiter nach oben zu steigen. Abseilen ist jetzt so und so undenkbar: Die Wand unter ihm ist überhängend. Am Ende seiner Kräfte, völlig leer, als habe er längst keine Beziehung mehr zu sich selbst, hängt Bonatti über dem Abgrund. Zu jeder Handlung unfähig. Nur übel wird ihm nicht. Aber was will er hier? Er weiß es nicht mehr. Nach und nach aber gelingt es ihm, sich mit seiner Idee wieder zu versöhnen. Er findet aus seiner Passivität heraus, neue Energie fließt ihm zu. Als sei er vom Leben weit entfernt gewesen, kehrt Bonatti langsam zu sich selbst zurück. Er kann das Sterben nicht zulassen, sich nicht einfach aufgeben. Rundum nur Fels, Eis, Kälte, all die Abgründe unter ihm. Er verwendet das Seil nun als Lasso, wirft es so lange nach oben, bis es sich zwischen vorstehenden Schuppen verklemmt. Jetzt kann er sich daran hochhangeln. Eine Methode, wie sie Georg Winkler mit seinem Wurfanker schon 70 Jahre zuvor angewandt hat. Getrieben vom Ehrgeiz und getragen vom Instinkt des Überlebens, schafft Bonatti Überhang um Überhang. Wiederholt gelingt ihm dabei das Unmögliche. Seine Hände hinterlassen Blutspuren am Fels. Sie sind wie betäubt. Dazu Schmerzen im ganzen Körper. Aber da ist auch etwas Majestätisches am Gipfel des Petit Dru, etwas Dauerhaftes, und er als Teil mittendrin: Mensch und Berg als untrennbare Einheit. Bonatti hat mit dem Dru-Pfeiler nicht nur den Berg bezwungen, er hat seine inneren, unsichtbaren Grenzen überschritten und damit den Knoten gelöst, den die Enttäuschung vom K2 in seine Seele geknüpft hatte. Mit diesem Alleingang eröffnet Bonatti neue Horizonte für alle Bergsteiger.

Bonatti ist 1955 seiner Zeit weit voraus. Er denkt sogar daran, den K2, den zweithöchsten Berg der Welt, im Alleingang zu besteigen, im alpinen Stil und ohne den Einsatz von Sauerstoffflaschen. Diese bahnbrechende Idee scheitert zuletzt an der Finanzierung, und das ist einer der Gründe, warum Bonatti am Cerro Torre auf Maestri stoßen wird, der seine Enttäuschung, aus der K2-Expeditionsmannschaft ausgeschlossen worden zu sein, auf seine Weise kompensiert. Im Juni 1956 ist diesem zwar die erste Alleinbegehung der Micheluzzi-Route am Piz de Ciavázes in der Sella gelungen, eine extreme Klettertour, die Hermann Buhl und Erich Abram kurz zuvor nur mit Mühe gemeistert haben, Genugtuung aber ist sie ihm nicht.

Bildteil Kapitel 2

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Cerro Torre (ganz links) und Fitz Roy, von Süden gesehen (RM)

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Cerro Torre, von Norden gesehen (RM)

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Cesare Maestri (RM)

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Zinnen-Wand im Winter (RM)

3 Ein Berg – Zwei Expeditionen

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Der Cerro Torre, aus dem Helikopter von Südosten gesehen (RM)

Zitate Kapitel 3

»Nach jahrelanger Vorbereitung, nach einer langen und zuletzt gefährlichen Anreise ist es schwieriger, auf seine Tagträume zu verzichten, als an den Problemen am Berg zu scheitern.«

Reinhold Messner

»War dieser Fitz Roy nicht das Urbild des idealen Gipfels, den mir weder die Alpen noch der Himalaja zu bieten vermochte?«

Lionel Terray

»Der Torre ist ein unmöglicher Berg, und ich will nicht, dass einer von euch das Leben aufs Spiel setzt. In meiner Eigenschaft als Expeditionsleiter verbiete ich euch, den Torre anzugehen.«

Bruno Detassis nach Maestri

»Der Cerro Torre ist unmöglich. Wenigstens für eine Expedition wie die unsere. Es wäre also absurd, Energie und Zeit für einen Besteigungsversuch zu vergeuden. Vor allem auch, weil damit so viele Risiken verbunden sind.«

Bruno Detassis

»Detassis hatte recht. Der ›Torre‹ war 1958 unmöglich. Es fehlte an der richtigen Ausrüstung, am Know-how, an Erfahrung. In Patagonien kann man nicht klettern wie in den Dolomiten.«

Reinhold Messner

Im patagonischen Sommer ...

Im patagonischen Sommer 1957 / 58 ist der Cerro Torre das Ziel zweier italienischer Expeditionen. Nicht nur weil die Herausforderung, die dieser Berg darstellt, seit der ersten Besteigung des Fitz Roy in Bergsteigerkreisen diskutiert wird, vor allem weil es in der Sektion Buenos Aires des Italienischen Alpenvereins CAI (Club Alpino Italiano) Streit gegeben hat.

Protagonisten dieser beiden Cerro-Torre-Expeditionen sind zwei K2-Anwärter, von denen der eine, Cesare Maestri, gar nicht erst ins Team genommen wurde, während sich der andere, Walter Bonatti, der jüngste und stärkste Mann am K2, anschließend mit den haarsträubendsten Anschuldigungen konfrontiert sah. So behauptete Compagnoni später, Bonatti und der pakistanische Träger hätten selbst von dem Sauerstoff genommen, sodass für ihn und Lacedelli zu wenig übrig geblieben sei. Bonatti hat immer wieder erklärt, dass das gar nicht möglich gewesen sei, da er und der Träger gar keine Sauerstoffmasken hatten. Außerdem zeigt ein Gipfelfoto Compagnoni und Lacedelli mit angeschlossenen Sauerstoffmasken, was darauf hindeutet, dass der Flaschensauerstoff zumindest bis auf den Gipfel ausreichte. Bonatti bewältigte die Enttäuschung auf seine Weise: Er zog sich zurück und bewies mit der Erstbegehung des Dru-Pfeilers, dass er psychophysisch der beste Bergsteiger weltweit war. An Cesare Maestri aber nagte die »Schmach«, »ausgemustert« worden zu sein, zumal dies mit fadenscheinigen Argumenten geschehen war. Seit 1954 also wartete er auf seine Chance. In diesen Jahren wurde der Alpinismus von Expeditionsbergsteigern bestimmt – Lionel Terray war nach Annapurna, Fitz Roy und Makalu zum Star in Frankreich aufgestiegen; Hermann Buhl hatte mit Nanga Parbat und Broad Peak zwei Achttausender bestiegen; Bonatti, am K2 der Motor zum Erfolg, kam eben vom Gasherbrum IV – nur Cesare Maestri fehlte jede Expeditionserfahrung. Er war ein genialer Felskletterer, bisher aber nur in seinen heimischen Bergen aktiv und bekannt, die Solobegehung der »Soldá« (Marmolada-Südwestwand) sein Meisterstück. Was aber jetzt?