Deuticke E-Book
Jean-Philippe Blondel
6 UHR 41
Roman
Aus dem Französischen von Anne Braun
Deuticke
Die Originalausgabe erschien erstmals 2013 unter dem Titel 06 H 41 im Verlag Buchet Chastel, Paris.
ISBN 978-3-552-06268-9
© Libella, Paris, 2013
Alle Rechte der deutschsprachigen Ausgabe
© Deuticke im Paul Zsolnay Verlag, Wien 2014
Schutzumschlaggestaltung: Lowlypaper, Marion Blomeyer, München, unter Verwendung eines Fotos von © Rob Kints/Getty Images
Satz: Eva Kaltenbrunner-Dorfinger, Wien
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Kreutzfeldt digital, Hamburg
Ich hätte den Zug um 7 Uhr 50 nehmen können – oder sogar den um 8 Uhr 53. Es ist Montag. In der Firma ist montags nie viel los. Aber ich konnte nicht mehr. Wie bescheuert von mir, auch noch den Sonntagabend zu bleiben! Was habe ich mir dabei nur gedacht? Zwei Tage hätten echt gereicht.
Ich habe letzte Nacht schlecht geschlafen, logisch. Ich war sauer auf mich. Wieder mal ein verpfuschtes Wochenende. Aber was wundere ich mich, es ist ja immer dasselbe. Valentine hatte mich gewarnt. Luc auch. Ich verstehe sie – bin aber trotzdem sauer auf sie. Weil sie nicht mitgekommen sind. Um mir beizustehen. Weil sie mich im Stich gelassen haben, obwohl ich sie in diesen zwei Tagen gebraucht hätte. Weil sie nicht so sehr an meinen Eltern hängen wie ich. Aber klar, es sind meine Eltern. Meine ganz allein. Meine einzigen Eltern, deren einzige Tochter ich bin.
Jedes Mal sage ich mir, dass es so nicht mehr geht. Und dann kommen wieder Schuldgefühle. Schleichend, unmerklich. Ihre Stimmen am Telefon. Nie ein Vorwurf. Nie eine Klage. Nur das lange Schweigen, nachdem ich gesagt habe, ich hätte zurzeit viel um die Ohren. Müsse Lieferanten kontaktieren, Kunden zufriedenstellen. Ich sehe sie dann förmlich vor mir, am anderen Ende der Leitung. Meine Mutter, die hinter meinem Vater steht – sehr aufrecht. Spröde. Mit verkniffenem Gesicht. Böse Worte auf der Zunge. Ich frage mich, ob es Leute gibt, die mit ihren Eltern richtig umgehen können, wenn diese alt sind. Alt und noch nicht bettlägerig. Alt und schwach. Alt und verletzlich. Und verbittert.
Nein, diese Frage erübrigt sich. Denn es gibt solche Leute, klar. Luc zum Beispiel. Nur dass ihm seine Eltern total egal sind. Vor über zwanzig Jahren hat er einen Schlussstrich gezogen, und außer einem gelegentlichen Besuch oder einem Anruf – beides sehr selten – lässt er nie von sich hören. Ich glaube, das hat mich am meisten an ihm fasziniert, als wir uns kennenlernten. Seine innere Unabhängigkeit. Sein gesunder Egoismus. Noch mehr als sein sicheres Auftreten, sein gutes Aussehen. Und er sieht immer noch gut aus, nach all den Jahren. Mit seinen fast fünfzig Jahren ist er immer noch rank und schlank, fast schlaksig. Der Typ Mann, der Frauen über vierzig zum Träumen bringt. Aber ich bin nicht eifersüchtig. War ich nie. Dafür bin ich nicht der Typ. Wir respektieren unsere gegenseitige Unabhängigkeit.
Natürlich haben meine Eltern gemeckert, weil er nicht mitgekommen ist. Nicht, dass Luc besonders nett zu ihnen wäre, aber es ist ihnen lieber, wenn wir en famille kommen. Nicht nur ich, sondern auch Luc und Valentine. Dann können sie stolz im ganzen Viertel herumerzählen – besonders in den Geschäften –, dass »letztes Wochenende die ganze kleine Familie da war«. Das sagen sie gern, die kleine Familie.
Doch diesmal haben sich die anderen beiden Mitglieder der kleinen Familie nicht überreden lassen.
Ich habe versucht, es ihnen zu erklären. Luc hätte viel zu tun wegen der Umstrukturierungsmaßnahmen in seiner Firma. Und Valentine, nun ja … Normalerweise hätte dieses nun ja reichen müssen, gefolgt von einem Seufzer – das müsste ihnen zu verstehen geben, dass Valentine fast siebzehn ist, gern in der Nähe von Paris wohnt, verliebt ist und alles andere lieber tut, als in dieses Provinzkaff zu kommen, wo sie keine Menschenseele kennt und von ihrem Großvater ständig zum Spielen in den Garten geschickt wird, als wäre sie erst sieben.
Aber bei meinen Eltern reicht das nicht. Da braucht es eine nette Lüge, hübsch verpackt und mit wunderschönen zitronengelben Geschenkbändern verziert – mit einem strahlenden Lächeln präsentiert. Ich bin es gewohnt. Ich habe schon früh gelernt, die Wahrheit vor ihnen zu verschleiern. Aus diesem Grund habe ich für Valentine einen Abiturvorbereitungstest am Montagmorgen erfunden, für den sie den ganzen Sonntag lernen muss. Als ich Valentine sagte, dass ich das meinen Eltern erzählen würde, hat sie gelacht, mich umarmt und gefragt, warum ich ihnen nicht einfach sagte, dass sie sich bei ihnen zu Tode langweilte und sie ihr schlichtweg auf den Geist gingen. Ich habe nichts dazu gesagt. Der einzige Gedanke, der mir durch den Kopf schoss, war: Weil man so etwas zu seinen Eltern nicht sagt. Aber das habe ich wohlweislich für mich behalten, weil ich definitiv weiß, dass Luc und Valentine das anders sehen.
Ob Valentine später auch so mit uns reden wird? Wenn wir an der Reihe sind, in unserem Einfamilienhäuschen am Stadtrand auf ihren Besuch zu warten. Nein, nicht am Stadtrand. Ich könnte und möchte nicht in einem Pariser Außenbezirk alt werden. Ich stamme nicht von dort. Dort hält mich eigentlich nichts. Manchmal denke ich bereits darüber nach, wo ich – beziehungsweise wir, wenn alles gut geht – den Lebensabend verbringen sollen. Ich habe mit dem Gedanken an Mexiko oder Marokko gespielt, aber ich weiß, dass mir die Bücher, Filme und die Sprache zu sehr fehlen würden. Und außerdem kenne ich diese Länder. Ich war schon dort. Es war ganz nett, sie zu bereisen, aber dort zu leben – nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Ich bräuchte einen ruhigen Ort. Flaches Land – aber trotzdem ein paar Hügel am Horizont. Oder das Meer. Am liebsten den Ozean. Salzig und wild, der einem an der Haut haften bleibt. Aber nicht Paris, auf gar keinen Fall. Und auch nicht hier in Troyes oder überhaupt in der Champagne. Davon hab ich die Nase voll. Gestrichen voll. Der Bahnsteig. 6 Uhr 35. Daran, wie oft ich unter diesem Glasdach schon auf den Zug gewartet habe, will ich lieber nicht denken.
Wie idiotisch.
Alles ist idiotisch.
Dass ich so früh aufgestanden bin. Vor allem, dass ich noch eine Nacht drangehängt habe. Niemand hat mich dazu gezwungen. Ich hätte gestern Abend schon heimfahren können – aber irgendwie hat mich die Aussicht auf fünfundvierzig Minuten mit Metro und Regionalbahn, um vom Gare de l’Est zurückzufahren und dann die gleiche Strecke am Montagmorgen nochmal in die andere Richtung, echt abgeschreckt. Und dann das Gesicht meiner Mutter, verwandelt in die Schmerzensreiche Madonna, stumm natürlich, bei dem Gedanken, dass ich am Sonntagnachmittag aufbrechen würde. Ich wusste, dass Valentine bei Eléonore schlafen und Luc den ganzen Abend vor dem PC sitzen würde. Da habe ich wie ein Schulmädchen in die Hände geklatscht und meinen Eltern die freudige Nachricht verraten: »Ich muss erst am Montagmorgen zurück!« Ich habe mit Luc telefoniert, der natürlich gemosert hat. Valentine habe ich eine SMS geschickt – die einzige Möglichkeit, sie zu erreichen. Antwort: »Okay. Küsschen.« Irgendwann ist man in einem Alter, in dem man zwischen gleichgültigen Kindern und uneinsichtigen Eltern eingezwängt ist. Tja, ich bin siebenundvierzig. Mittendrin.
Am meisten überrascht waren letztendlich aber meine Eltern. Leider nicht positiv. Vor allem meine Mutter. Die Mater Dolorosa wurde zu einer Leidenden Madonna. Ich würde ihren geplanten Ablauf durcheinanderbringen. Und somit auch sie. Sie konnte die Bettwäsche, in der ich zwei Nächte geschlafen hatte, nicht wie geplant in die Maschine stecken. Das brachte ihren ganzen Zeitplan ins Rutschen. Und was würden wir zu Abend essen, wo sie doch gar kein Abendessen eingeplant hatte für den Sonntagabend, du weißt schon, da essen wir nur eine Suppe, schauen uns den Krimi im Zweiten an, und dann ab ins Bett. Und außerdem … was steckt dahinter? Habt ihr Probleme miteinander, du und Luc? Ah, deshalb ist er nicht mitgekommen, stimmt’s? Uns kannst du es ruhig sagen, aber du musst zugeben, dass du etwas netter zu ihm sein könntest. Man hat fast den Eindruck, dass du immer alles bestimmen willst.
Klar wurde ich da sauer. Und sagte pampig: »Ihr freut euch also nicht, dass ich länger bleibe?« Sofort machten sie einen Rückzieher. Haben sich entschuldigt. Haben erklärt, dass sie sich selbstverständlich freuen, aber trotzdem. Lassen wir dieses Thema. Ich weiß. Die kleine Familie. Kaum zu glauben, dass ich im normalen Leben eine gestandene Frau bin. Ich werde respektiert. Beinahe gefürchtet. Ich plane. Ich entscheide. Ich stelle Leute ein.
Ich weiß nicht, ob ich sehr traurig wäre, wenn sie sterben würden.
Okay, angeblich kann man lange großspurig und kaltschnäuzig behaupten, es würde einem bestimmt nichts ausmachen, aber wenn es dann so weit ist, wird man von Gefühlen überwältigt und ist am Boden zerstört. Trotzdem. Ich kann es mir nicht so recht vorstellen. Kurz und gut, es war ein Wochenende, das ich mir hätte sparen können. Ich bin in ihrem Häuschen immer nur im Kreis gelaufen. Aus dem Haus bin ich nur gegangen, um gestern meine Zugreservierung zu ändern – ach nein, ich bin auch mit meiner Mutter in die Bäckerei-Konditorei gegangen, die eigentlich keine Bäckerei und noch weniger eine Konditorei ist, sondern ein Backshop. Sie wollte Cremetörtchen kaufen. Zum Nachtisch für den Sonntagabend. Da sie ja nichts vorbereitet hatte.
Es versteht sich von selbst, dass ich Luc nichts davon erzählen werde. Denn es würde ihm nur bestätigen, dass er recht gehabt hat, und auf sein überhebliches Grinsen kann ich verzichten. Natürlich auch kein Wort zu Valentine – es wäre ihr sowieso egal. Dasselbe gilt für meine Kollegen. Und die wenigen Freunde, die ich noch habe – verrückt, wie Freundschaften zerbröckeln, wenn man über vierzig ist, Umbrüche, Kinder, unterschiedliche Ansichten … es gibt so vieles, das dazu führt, dass man sich immer mehr von den Menschen entfremdet, mit denen man sich für das ganze Leben verbunden fühlte. Was bleibt, sind lakonische Mails. Telefonate, mit Schweigen durchsetzt. Gelegentlich ein Treffen.
Nein. Stopp.
Ich darf nicht vergessen, dass ich immer total fertig bin, wenn ich schlecht geschlafen habe. Dass es 6 Uhr 41 ist. Dass ich mies drauf bin.
Ich staune immer wieder über die Welt. Dass es morgens schon so viele Züge gibt! Man könnte fast glauben, dass die halbe Stadt Tag für Tag zum Arbeiten nach Paris fährt.
Kann ja sein …
Mein Zug läuft ein – ohne Verspätung. Umso besser.
Hätte mir gerade noch gefehlt!