Über dieses Buch:
Als Annica zum ersten Mal in den Armen von Massimo über das Tanzparkett schwebt, weiß sie: Das ist der Mann ihres Lebens! Der feurige Sizilianer erwidert ihre Gefühle. Gemeinsam werden sie zu einem der erfolgreichsten Tanzpaare der Welt. Massimo versteht es meisterhaft, Annica auch außerhalb der Turnierbühne den Himmel auf Erden zu bereiten. Doch Massimo ist sehr dominant – etwas, womit Annica nicht zurechtkommt. Im Gegensatz zu Carmen, einer temperamentvollen Spanierin, die ein Auge auf Massimo geworfen hat ...
Über die Autorin:
Rebecca Michéle, 1963 in Rottweil in Baden-Württemberg geboren, eroberte mit ihren historischen Liebesromanen eine große Leserschaft. Rebecca Michéle ist außerdem die Präsidentin von „DeLiA“, der Vereinigung deutschsprachiger Liebesromanautoren. In ihrer Freizeit trainiert die leidenschaftliche Turniertänzerin selbst Tänzer.
Bei dotbooks erschien bereits Der Fürst ihrer Sehnsucht. Weitere Romane von Rebecca Michéle sind bei dotbooks in Vorbereitung.
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Neuausgabe Juli 2014
Dieses Buch erschien bereits 2004 unter dem Titel Tanze mit mir, Liebster! bei Panini Verlags GmbH
Copyright © der Originalausgabe 2004 by Panini Verlags GmbH
Copyright © der Neuausgabe 2014 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: init | Kommunikationsdesign, Bad Oeynhausen
Titelbildabbildung: © blanaru
ISBN 978-3-95520-649-9
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Rebecca Michéle
Rhythmus der Leidenschaft
Roman
dotbooks.
Die letzten Takte der flotten Musik verklangen.
»Vielen Dank an die Paare, danke an die Wertungsrichter. Das war die vierte Zwischenrunde. Wir werden nach der Ausrechenpause in etwa dreißig Minuten zum Semifinale kommen.«
Souverän klang die Stimme des Moderators durch den Saal. Lächelnd hängte sich Annica bei ihrem Partner Gero ein und schritt wie eine Königin von der Tanzfläche. Erst als sie aus der Sichtweite der Wertungsrichter war, atmete sie tief durch, griff nach dem Handtuch und tupfte sich vorsichtig, um ihr Make-up nicht zu zerstören, den Schweiß von der Stirn.
»Ihr wart großartig!« Der Trainer Hanno Groß klopfte Annica und ihrem Partner Gero kurz auf die Schultern. »Euer Quickstep ist seit letzter Woche viel spritziger geworden. Das Powertraining hat euch gut getan. Ich bin sicher, dass ihr den Einzug in die Endrunde schafft.«
Annica wehrte lächelnd ab. »Erst einmal müssen wir es schaffen, unter die besten zwölf Paare zu kommen. Dann sehen wir weiter. Wir haben noch nie die Endrunde bei der German Open erreicht.«
Hanno Groß ließ sich nicht beirren.
»Heute schafft ihr es, denn ihr seid einfach gut drauf! Locker und spritzig, dabei aber schwungvoll und elegant. Genau die richtige Mischung. Und die Bringhams zeigten jetzt schon leichte konditionelle Probleme.«
Das englische Geschwisterpaar Bringham war einer der schärfsten Konkurrenten von Annica und Gero. Erst vor vier Wochen waren sie bei einem Länderkampf von den Engländern ganz knapp geschlagen worden. Ausgerechnet im Quickstep. Darum hatten Annica und Gero diesen Tanz besonders intensiv trainiert, so dass sie heute mit einer Leichtigkeit, die den Betrachter nicht ahnen ließ, wie anstrengend dieser Tanz war, über die Fläche fegten. Der Quickstep war neben dem Langsamen Walzer, Tango, Wiener Walzer und Slowfoxtrott der letzte von fünf Tänzen, die die Standardtänzer in jeder Runde zeigen mussten. Das bedeutete neunzig bis einhundertzwanzig Sekunden größte Konzentration. Wissenschaftler und Ärzte hatten festgestellt, dass ein Quickstep für die Sportler die gleiche Anstrengung wie ein 200-Meter-Lauf in der Leichtathletik bedeutete.
Von der Tanzfläche her erklang bereits wieder Musik. Dieses Mal waren es heiße lateinamerikanische Rhythmen im Finale der Profis Latein. Langsam beruhigte sich Annicas Atmung. Sie nahm einen kräftigen Schluck aus der Wasserflasche und schälte eine Banane. Das gelbe Obst war der beste Lieferant für kurzfristige Power und Kraft. Es sättigte und belastete nicht den Magen.
Ihr Tanzpartner Gero ließ sich wenig elegant auf einen Stuhl fallen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht schob er ein Hosenbein hinauf und deutete auf sein rechtes Schienbein.
»Die dusslige Partnerin von Nummer 217 hat mich getreten!«, jammerte er lautstark.
Es fehlte nicht viel, und er wäre in Tränen ausgebrochen.
»Du wirst es überleben«, murmelte Annica, ohne einen Blick auf die Verletzung zu werfen. Genervt wandte sie sich ab. Gero war ein netter Kerl und dazu ein hervorragender Tänzer. Aber seine Wehleidigkeit ging Annica manchmal gehörig auf die Nerven. Seit knapp zehn Jahren waren sie ein Tanzpaar. Allerdings nur auf der Fläche, denn Gero hatte für Annicas schlanke Figur mit den kleinen, festen Brüsten und ihrem herzförmigen Gesicht keinen Blick. Er hätte sich auch nicht in sie verliebt, wenn sie üppige Formen gehabt hätte, denn Gero stand nicht auf Frauen. Er war, wie so viele Tänzer, seit drei Jahren mit einem Mann liiert. Das störte Annica nicht, im Gegenteil. Sie verbrachte rund zwanzig Stunden in der Woche mit Gero auf der Tanzfläche, die restliche Zeit gingen sie getrennte Wege. In ihrem Tanzverein gab es natürlich einige Paare, die auch Tisch und Bett teilten. Doch bei fast allen waren Streitigkeiten auf der Fläche an der Tagesordnung. Auch Gero und sie waren nicht immer einer Meinung. Aber nach dem Training trennte man sich, sah sich erst am nächsten oder übernächsten Tag wieder. Bis dahin waren Missstimmigkeiten vergessen, man konzentrierte sich wieder auf die neue Trainingsstunde. Nein, Annica konnte sich nicht vorstellen, mit ihrem Tanzpartner auch privat liiert zu sein. Obwohl sie sich schon manchmal nach einem Mann sehnte, der ihre einsamen Nächte ausfüllte. Aber wo sollte sie diesen kennen lernen? Ihre gesamte Freizeit verbrachte sie im Tanzclub, an den Wochenenden auf Turnieren. Nebenbei versuchte sie, ihr Studium der Sportwissenschaften zum Abschluss zu bringen. Vor einigen Jahren hatte es einen Mann in ihrem Leben gegeben. Aber dann war da diese andere Frau gewesen ... Schnell verscheuchte Annica die Gedanken daran. Das war lange her und vorbei und vergessen.
So lange Annica denken konnte, war sie nur von einem Wunsch beseelt gewesen: zu tanzen, tanzen und nochmals zu tanzen! Bereits ihre Eltern hatten dieses wundervolle Hobby ausgeübt. Ihre Mutter hatte erst drei Wochen vor der Entbindung das Training eingestellt. Somit war Annica bereits vor ihrer Geburt mit der Musik konfrontiert worden, die ihr in Fleisch und Blut übergangen war. Mit acht Jahren bestritt sie ihr erstes Turnier. Annica war ihren Eltern dankbar, dass diese nie versucht hatten, aus ihr eines dieser auf erwachsen getrimmten Püppchen zu machen, die man im Kindertanzen oft sah. Trotz Training und Turnieren war sie in erster Linie Kind geblieben und hatte genügend Freizeit gehabt, um auch wie alle anderen Kinder zu spielen und zu toben. Somit hatte Annica nie die Freude an dem Sport verloren.
»Wenn ihr euch anstrengt, denke ich, könntet ihr unter den ersten drei landen«, holte der Trainer Annica aus ihren Gedanken zurück. »Das wäre eine Sensation!«
Annica und Gero nickten gleichzeitig. Die ganze Welt des Tanzsportes sah in diesem Moment auf die Paare, die an dem fünftägigen Festival teilnahmen. Die German Open Championship, bei Insidern nur kurz GOC genannt, war eines der wichtigsten und größten Tanzturniere der ganzen Welt. Es wurde an Bedeutung nur noch von den English Open in dem englischen Seebad Blackpool getoppt. Tausende von Paaren aus der ganzen Welt, in allen Altersklassen, Amateure und Profis, in den Standard- und lateinamerikanischen Tänzen hatten sich in Stuttgart eingefunden. Es war eine bunte Gesellschaft. Annica liebte den Trubel, die unterschwellige Hektik und den Glitter, der zum Tanzen gehörte. Es war seit Jahren ihre Welt. Eine Welt, die ihr Leben war.
Annica öffnete ihren Schminkkoffer und nahm den Lippenstift heraus. Während sie mit dem Pinsel gekonnt die Farbe auf ihre vollen Lippen verteilte, sah sie im Spiegel, wie ein Mann sie von hinten beobachtete. Lässig lehnte er an der Wand und seine dunklen Augen musterten ihre Rückansicht. Nun war es Annica natürlich gewohnt, von Fremden beobachtet zu werden, doch in diesem Moment fühlte sie sich, als wäre sie nackt. Der Fremde schien ihr regelrecht das türkisfarbene Turnierkleid mit den funkelnden Strasssteinen mit seinen Blicken vom Körper zu ziehen. Ein Schauer lief über Annicas Rücken. Der Typ sah unverschämt gut aus, beinahe zu gut für einen Mann! Seine olivfarbene Haut, die dunklen Augen und das lockige, schwarze Haar ließen auf einen Ausländer schließen. Spanier oder Italiener. Typ Latin Lover in Reinkultur!
Verärgert klappte Annica den Taschenspiegel zusammen und schloss den Schminkkoffer. Nein, sie würde sich nicht umdrehen und seinen Blick erwidern! Stattdessen sagte sie zu Gero: »Wie geht's deinem Bein?«
Im selben Moment bereute sie ihre Worte, denn Geros Mundwinkel zogen sich nach unten.
»Es tut höllisch weh! Das wird sicher ein faustgroßer Bluterguss, die Dame hat mir voll ihren Absatz reingehauen!«
»Sie hat es nicht mit Absicht getan«, erinnerte ihn Annica. Zusammenstöße und Tritte waren bei einem Tanzturnier an der Tagesordnung. Natürlich tanzte niemand absichtlich auf Kollisionskurs. Wenn aber zwanzig Paare gleichzeitig auf der Fläche um den Sieg kämpften, blieben Rempeleien nicht aus. Auch Annica hatte schon die eine oder andere schmerzhafte Erfahrung machen müssen. Dabei galt aber ein Grundsatz: Man durfte sich nichts anmerken lassen! Immer nur lächeln und souverän weitertanzen – das war neben Können das wichtigste Kriterium im Tanzsport, um auf Dauer erfolgreich zu sein. Turniertänzer mussten nicht nur Sportler, sondern auch Schauspieler sein.
Der Trainer Hanno Groß hatte zwischenzeitlich eine Kühlkompresse geholt, die er jetzt auf Geros Schienbein legte. In diesem Moment kam über die Lautsprecher die Durchsage, wer das Semifinale erreicht hatte. Annica schloss die Augen und faltete die Hände, als ob sie damit das Ergebnis beeinflussen könnte. Als der Moderator ihre Startnummer, die Nummer 329, durchsagte, atmete sie erleichtert aus. Gero stieß einen kleinen Schrei aus und Hanno sagte grinsend: »Habe ich doch gewusst!«
Gero rollte das Hosenbein seines schwarzen Fracks wieder hinunter, stand auf und machte vorsichtig ein paar Schritte. Er durfte auf keinen Fall hinkend auf die Fläche gehen, sonst könnten sie das Finale gleich abschreiben. Annica warf einen letzten Blick in den Spiegel, war mit ihrem Aussehen zufrieden und hängte sich dann bei Gero ein. Als hätte jemand in ihren Köpfen einen Schalter umgelegt, zeigte sich von einer Sekunde auf die andere ein strahlendes Lächeln auf ihren Gesichtern. Gemeinsam schritten sie auf die, von Scheinwerfern bestrahlte, Tanzfläche hinaus und nahmen Aufstellung zum ersten Tanz – dem Langsamen Walzer. Während der, komplizierten Figurenfolge Left Wisk und Standing Spin erkannte Annica den dunkelhaarigen Fremden am Rande der Fläche. Auch jetzt fixierten seine Augen Annica so stark, dass sie seinen Blick körperlich zu spüren schien. Da war es auch schon geschehen! Annica verpasste den Ausgang der Figur. Ihre Hüfte löste sich von Geros Körper, wodurch sie seine Führung verlor. Das geschah im Bruchteil einer Sekunde. Bereits im nächsten Taktschlag hatten sich ihre Körper wieder in Harmonie gefunden. Annica verfügte nach über zweihundert Tanzwettbewerben über genügend Professionalität, um diesen kleinen Fehler zu überspielen. Jetzt galt es nur noch zu hoffen, dass keiner der neun internationalen Wertungsrichter genau in diesem Moment sie angesehen hatten. Die Wertungsrichter hatten neunzig Sekunden Zeit, um aus den zwölf Paaren auf der Fläche die sechs Besten auszuwählen. Da blieb keine Zeit, ein Paar vom ersten bis zum letzten Moment zu beobachten.
Während der kurzen Verschnaufpause von einer Minute bevor der Tango an der Reihe war, warf Gero Annica einen strafenden Blick zu. Er sagte jedoch kein Wort, denn solange sie auf der Fläche standen, waren sie zu völliger Harmonie verbannt. Während der folgenden vier Tänze riss sich Annica zusammen und schaute nicht mehr auf das Publikum am Rande des Saales. Sie konzentrierte sich zu hundert Prozent auf ihre Füße, ihre Körper- und Kopfhaltung und ließ sich von den Klängen der Musik tragen. Sie meisterten das Semifinale ohne weiteren Fehler.
Erneut gab es eine längere Pause, bis die Finalteilnehmer ausgerufen wurden. Gero hatte sich wieder mit schmerzverzerrtem Gesicht hingesetzt und streckte Hanno Groß das Schienbein entgegen. Tatsächlich hatte sich inzwischen eine handtellergroße Schwellung und blaue Verfärbung gebildet.
»Kannst du weitertanzen?«, fragte Hanno besorgt.
Gero lächelte verkrampft. »Ich werde mein Bestes geben. Aber glaube mir, die Schmerzen sind beinahe unerträglich!«
Annica stellte wirklich nicht in Abrede, dass ein solcher Bluterguss Schmerzen bereitete. In ihren Augen dramatisierte Gero die Sache jedoch erheblich.
»Jetzt stell dich nicht so an! Die fünf Tänze wirst du noch schaffen! Danach kannst du dich dann ins Krankenhaus einweisen lassen«, sagte sie spöttisch.
»Du verstehst mich nicht ...«
Nun würde Gero tatsächlich gleich zu weinen beginnen. Bevor das Gespräch jedoch eskalieren konnte, tönte die Stimme des Moderators durch den Saal: »Ich möchte nun die sechs Paare bekannt geben, die das Finale der Amateure Standard erreicht haben. Es sind die Startnummern 15, 83, 122, 194, 250 und 329. Wir beginnen in fünf Minuten mit dem ersten Tanz.«
»Ja!«
Jubelnd hing Annica ihrem Trainer um den Hals. Ihre Nummer war erneut aufgerufen worden! Sie hatten tatsächlich den Einzug in die Endrunde geschafft. Am Start waren 403 Paare gewesen und sie und Gero gehörten zu den besten sechs!
»Was für ein wundervoller Tag!«
»Ich weiß wirklich nicht, ob ich tanzen kann. Es tut so weh!«, machte Gero ihre Freude zunichte. »Hanno, vielleicht ist es besser, du meldest unsere Aufgabe.«
Annica ballte die Hände zu Fäusten und Hanno sah Gero entsetzt an. »Aber Gero, das kannst du nicht tun! Ist es denn wirklich so schlimm ...?«
Annica hörte nicht weiter zu. Sie musste hier weg, wenigstens für zwei, drei Minuten! Sie brauchte Ruhe, um sich auf das Finale zu konzentrieren, das zum Höhepunkt ihrer bisherigen Karriere gehörte. Du meine Güte, warum war Gero nur immer so wehleidig? Wenn er jetzt vor dem Finale aufgeben würde ... Das würde sie ihm niemals verzeihen! Niemals!
»Hoppla!« Der Ruf kam gleichzeitig mit dem Fall und Annica wurde zu Boden geschleudert. In ihrer Wut hatte sie auf nichts und niemanden in ihrer Umgebung geachtet. Auch nicht auf die große, schlanke Gestalt, die nun schwer auf ihr lag. Annica spürte das Gewicht des Mannes und sie spürte noch mehr! Sein Unterleib lag auf ihrem und da war deutlich etwas großes Festes, das sich durch den dünnen Stoff ihres Kleides drückte. Keuchend strampelte sie.
»Steh sofort auf! Was fällt dir ein?«
Erst jetzt registrierte sie, mit wem sie eng umschlungen auf dem Boden lag. Es war der Typ, der sie vorhin so unverschämt gemustert hatte. Waren Annica seine Augen bereits auf die Entfernung aufgefallen, so hatte sie jetzt Gelegenheit festzustellen, dass sie wie zwei feurige Kohlen leuchteten, denn sein Gesicht war nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt. Für einen Moment verlor sie sich in den dunklen Tiefen der Pupillen. Neidisch dachte sie: Wie kann ein Mann nur so unverschämt lange Wimpern haben?
»He, Annica! Was machst du denn da?«
Hannos Stimme holte sie in die Realität zurück. Der Fremde erhob sich und streckte ihr bereitwillig die Hand entgegen. Sie griff dankbar zu. Seine Haut war warm und weich, der Griff kraftvoll. Mühelos zog er sie hoch. Sofort wuselte Hanno um sie herum und brachte ihr Kleid in Ordnung. Auch Annica sah rasch an sich herunter. Ihr Kleid war brandneu, sie trug es heute zum ersten Mal. Es hatte sie zweitausend Euro gekostet, der normale Preis für ein Standardkleid in dieser auffälligen Ausfertigung.
»Es ist Gott sei Dank nichts eingerissen oder beschmutzt. Jetzt komm, das Finale beginnt!«, drängte Hanno. Er beachtete den dunkelhaarigen Mann nicht weiter.
»Ach, fühlt sich Gero in der Lage zu tanzen?«, fragte Annica bissig. »Ist etwa eine Wunderheilung eingetreten?«
Hanno erwiderte nichts und zog Annica an der Hand hinter sich her. Sie wandte sich noch mal zu dem Fremden um, der sich bisher nicht entschuldigt hatte. Obwohl sich Annica eingestehen musste, dass sie ihn zu Boden gerissen hatte. Er lächelte und zwinkerte ihr aufmunternd zu. Annica folgte ihrem Trainer. Nach dem Finale würde sie sich eben bei dem Typ entschuldigen. Aber jetzt musste sie sich zu hundert Prozent auf die Endrunde konzentrieren.
Unter den Schweinwerfern, die die Tanzfläche vollständig ausleuchteten, war es heiß und stickig. Dazwischen leuchteten die roten Lichter der Fernsehkameras, die jede Bewegung der Tänzer einfingen und in einer Sondersendung die Finals der German Open Championships in Tausende von Wohnzimmern übertrugen. Obwohl Annica dieses Gefühl vertraut war, lief ein Kribbeln über ihre Haut. Es war ein angenehmes Gefühl, ähnlich dem Lampenfieber, das Künstler vor dem Auftritt verspüren. Es gehörte zum Tanzsport, wie die Musik dazugehörte. Die Augen der Tanzwelt in ganz Europa ruhten in diesem Moment auf den sechs Finalisten. Keine Bewegung würde verborgen bleiben, sie durfte sich keinen einzigen Fehler erlauben! Dieses Mal meisterte Annica den Langsamen Walzer ohne einen Patzer. Sie gab sich ganz Geros Führung, dem Schwingen seines Körpers hin. Nun gut, hier und dort gab es einen kleinen Haken, manchmal verlor sie den Kontakt zu seiner Hüfte. Aber im Großen und Ganzen lief der Tanz ohne Fehler durch. Als der letzte Takt verklungen war, drehte sie sich elegant von Gero fort. Der weite Rock ihres türkisfarbenen Kleides schwang hoch und zeigte zwei lange, schlanke und braun gebrannte Beine. Geübt verbeugte sich Annica mit einem strahlenden Lächeln vor dem Publikum. Genau in diesem Moment trafen ihre Augen wieder den Blick des dunkelhaarigen Fremden. Er war immer noch da! Annicas Herz tat einen unerklärlichen Sprung, doch äußerlich ruhig begab sie sich an Geros Arm an den Rand der Fläche. Nun kam der spannendste Augenblick eines Turniers – die Wertung für den ersten Tanz! Dieser war meistens richtungsweisend. Die Wertungsrichter bildeten sich ihr Urteil über ein Paar im Langsamen Walzer. Welchen Platz würden sie für Annica und Gero vergeben?
»Dritter, vierter, dritter, zweiter, dritter, zweiter, vierter, zweiter und zweiter Platz«, las der Moderator laut vor. Annica merkte, wie sich Gero neben ihr versteifte und trocken schluckte. Auch sie war enttäuscht. Sie lagen lediglich auf dem dritten Platz! Die beste Benotung hatte das englische Paar erhalten, Platz zwei ging an ein Paar aus Italien.
Es wäre vermessen, beim ersten Finale gleich gewinnen zu wollen, dachte Annica. Im gleichen Moment flüsterte ihr Gero zu: »Den dritten müssen wir aber halten!«
Das war leichter gesagt als getan. Nun konnten sie sich nicht mehr unbeschwert, leicht und locker präsentieren, sondern mussten auf Angriff tanzen! Das war anstrengend und schweißtreibend. Dabei durfte ihnen aber niemand ansehen, wie kräftezehrend es war.
Die Musik für den Tango erklang. Abgehackt, beinahe staccatomäßig entsprachen die Bewegungen dem Rhythmus der Musik. Der Wechsel zwischen Aktion und Pause stand im Vordergrund, gemischt mit weichen, fließenden Übergängen. Kein leichter Tanz, aber Annica liebte ihn. Beim Tango war es ganz wichtig, sich voll und ganz dem Partner auszuliefern und auf jede kleine Bewegung seines Körpers zu reagieren. Plötzlich musste Annica daran denken, wie sich wohl der Körper des Fremden anfühlen würde. Prompt brachte sie ihr Körpergewicht nicht vollständig über ihr Standbein und wackelte für einen Moment in der Pose.
Vergiss ihn!, schalt sie sich selbst. Das war leichter gesagt als getan, denn er stand immer noch an der gleichen Stelle und wagte es jetzt sogar, sie anzulächeln. Ruckartig drehte Annica den Kopf weg – nur leider im falschen Moment! Dadurch wurde Gero aus seiner Bahn gedrängt, und das Paar taumelte. Annica standen beinahe die Tränen in den Augen, als die Wertung nach dem Tanz nur den fünften Platz ergab. Am liebsten wäre sie zu dem Fremden gestürmt und hätte ihn gebeten, den Saal zu verlassen. Aber das war ja lächerlich und absolut kindisch! Seit Jahren setzte sie sich den Wettbewerben aus. Nie zuvor hatte es jemand geschafft, sie abzulenken! Obwohl Annica sich nun wieder auf das Tanzen konzentrierte, wurden sie im Wiener Walzer und dem Slowfoxtrott wieder nur mit dem fünften Platz bewertet. Da nutzte auch der dritte Platz im Quickstep nichts mehr, das Endergebnis lautete: fünfter Platz. In den wenigen Minuten bis zur Siegerehrung beglückwünschten sich die Paare gegenseitig. Das englische Paar strahlte über den Sieg. Annica gratulierte lächelnd und küsste den Herrn leicht auf die Wange. Auch das gehörte zum Tanzsport dazu: Höflichkeit und Freundlichkeit gegenüber den Konkurrenten, auch wenn man vor Neid beinahe platzte und das Ergebnis oftmals nicht verstand und nachvollziehen konnte.
Trotz allem zeigte sich Hanno Groß, ihr Trainer, mit. der Leistung von Annica und Gero zufrieden.
»Nun gut, im Semifinale habt ihr besser getanzt«, kommentierte er das Ergebnis. »Ich hatte manchmal den Eindruck, du bist abgelenkt, Annica. Was war denn los?«
Annica schoss das Blut in den Kopf.
»Nichts, gar nichts«, stammelte sie und verbannte jeden Gedanken an den fremden Mann aus ihrem Kopf. »Vielleicht wollte ich alles zu perfekt machen. So habe ich die eine oder andere Linie überzogen.«
»Du warst schwer wie ein Mehlsack!«, maulte Gero. »Und das, obwohl du weißt, dass ich nur mit großen Schmerzen getanzt habe. Mein Bein fühlt sich an, als sei es gebrochen. Es war wirklich kein Vergnügen, dich auch noch über die Fläche zu schleppen.«
Am liebsten hätte Annica ihrem Tanzpartner die Zunge herausgestreckt. Aber das gehörte sich schließlich nicht. Darum zuckte sie nur kurz mit den Schultern und erwiderte: »Du warst auch nicht gerade die Perfektion in Person.«
Dann wanderte ihr Blick über das Publikum auf der Suche nach dem Fremden. Aber sie konnte ihn nirgends entdecken. Was hatte sie auch erwartet? Nur weil sie für wenige Augenblicke zusammen auf dem Boden lagen, konnte sie wohl kaum annehmen, dass er nun freudestrahlend auf sie zukam und ihr gratulierte. Hier liefen Hunderte von jungen, hübschen Frauen herum. Wenn er sie auch während des Finales beobachtet hatte, war das noch lange kein Grund zu denken, er würde Interesse an ihr zeigen. Ganz sicher war er auch ein Tänzer. Auch wenn Annica sich nicht erinnern konnte, ihn jemals zuvor gesehen zu haben. Aber die ganze Art, wie er stand, ging und die stolze Haltung seines Kopfes ließen auf jahrelanges Training schließen.
Für weitere Überlegungen blieb keine Zeit, denn Gero und Annica wurden zur Siegerehrung auf die Tanzfläche gerufen. So langsam begann sich Annica über das Ergebnis zu freuen. Am Start waren schließlich über vierhundert Paare aus der ganzen Welt gewesen. Da war ein fünfter Platz doch etwas, auf das man stolz sein konnte! Strahlend nahmen sie die Urkunden und für die Dame einen riesigen Blumenstrauß entgegen. Die Sieger wurden mit Tusch zum Schluss gekürt. Danach hieß es noch, für einige Minuten stehen zu bleiben, damit die zahlreichen Pressefotografen Bilder machen konnten. Dann war es vorbei und der Moderator bedankte sich erneut bei allen Paaren und dem Publikum.
»Morgen geht es ab neun Uhr dreißig mit der Vorrunde der Amateure Latein weiter. Ab dem Nachmittag sehen Sie dann die Rising Starts der Professionals Standard und am Abend das Teammatch zwischen Deutschland, England, Italien und Russland. Ein spannender Tag erwartet Sie!«
Nachdem sich Annica und Gero umgezogen hatten, drängte Gero zum Aufbruch.
»Es ist kurz vor ein Uhr in der Nacht! Ich bin hundemüde, außerdem muss ich mein Bein hochlegen. Hoffentlich ist vom Schienbeinknochen nichts abgesplittert. Es könnte sich auch eine Thrombose bilden, damit ist nicht zu spaßen ...«
Annica schenkte seinen weiteren Worten keine Beachtung. Während sie ihre Sachen – Turnierkleid, Schuhe, Schminkutensilien, den glitzernden Strassschmuck, Handtuch und Trainingsjacke – zusammenpackte, irrten Annicas Blicke entgegen ihrer Vernunft immer wieder über das Publikum. Die meisten drängten nun zum Ausgang, doch der dunkelhaarige Mann war nirgends zu sehen.
Schade, dachte Annica und folgte Gero durch die nächtliche Stadt in ihr Hotel.
Herzhaft biss Gero in die Brötchenhälfte, die fingerdick mit Nuss-Nugat-Creme bestrichen war. Annica hingegen stocherte nur lustlos in ihrem Früchtemüsli herum.
»Wir müssen uns beeilen, um den Zug zu bekommen«, sagte Gero und tupfte sich mit der Serviette die Krümel von den Lippen ab.
»Ich fahre erst heute Nachmittag.« Erst als Annica die Worte gesagt hatte, wurde ihr bewusst, dass sie eine Entscheidung getroffen hatte. Gero sah sie verblüfft an. Bevor er etwas sagen konnte, fuhr sie fort: »Ich möchte noch mal ins Kultur- und Kongresszentrum. Daher nehme ich erst einen späteren Zug.«
»Was willst du denn dort? Den Profis zusehen? Das Finale ist doch erst heute Nacht, da bekommst du dann keinen Zug mehr. Denk dran, wir haben in zwei Tagen wieder Training. Da musst du in Düsseldorf sein.«
Verlegen spielte Annica mit der Kante der blütenweißen Tischdecke.
»Ich werde am Sonntag schon pünktlich sein. Ich hatte gestern nur keine Zeit, nach Schmuck und Make-up zu schauen. Zudem brauche ich ein Paar neue Schuhe.«
Die German Open war nicht nur Deutschlands größtes Tanzturnier, sondern auch der Treff- und Angelpunkt für alle, die mit dem Sport irgendwie zu tun hatten. Dutzende von Händlern boten alles an, was man fürs Tanzen brauchte – Kleider, Fräcke, Hemden, Schmuck, falsche Wimpern und Fingernägel, CDs mit Tanzmusik und vieles mehr.
Gero schüttelte verständnislos den Kopf.
»Wenn du meinst ... Es ist aber langweilig, alleine zu fahren. Es wäre schöner, wenn du gleich mit mir mitkommst. So war es schließlich auch ausgemacht!«
Deutlich hörte Annica einen Vorwurf in seiner Stimme. Sie wusste ja selbst nicht so genau, was sie sich davon versprach. Eigentlich brauchte sie keinerlei Accessoires, auch ihr Kleid war ebenso wie ihre Schuhe nagelneu. Tief im Inneren spürte sie, dass ein anderer Grund sie zu der Veranstaltung zog ...
Annica sah den dunkelhaarigen Fremden sofort. Er stand lässig an die Theke der Sektbar gelehnt. Trotz der frühen Stunde nippte er an einem Glas mit der perlenden Erfrischung. Aber er war nicht allein! Vier junge, schlanke und hübsche Frauen umringten ihn, und er schien sich bestens mit ihnen zu unterhalten. Annica fuhr ein Stich durch den Körper. Obwohl sie keine zwei Worte mit dem Mann gewechselt hatte, störte es sie, dass die Frauen ihn so offensichtlich umschwärmten und anhimmelten. Sie bestellte sich ein Glas Sekt Orange und schlenderte dann beiläufig zu der kleinen Gruppe. Er hatte sie noch nicht bemerkt. Ganz unbeabsichtigt taumelte Annica hinter seinem Rücken, so dass etwas Sekt aus ihrem Glas auf seinen nackten Unterarm schwappte.
»O! Entschuldige bitte!«, sagte sie, als er sich mit gerunzelter Stirn zu ihr umdrehte. Doch im nächsten Moment glättete sich sein Gesicht. Ein freudiger Schimmer glänzte in seinen schwarzen Augen.
»Annica! Wie schön, dass du heute auch wieder hier bist.«