Charlotte Kerner
Rote Sonne, Roter Tiger
Rebell und Tyrann
Die Lebensgeschichte des Mao Zedong
Editorische Notiz:
Die lateinische Schreibweise der chinesischen Namen und Wörter folgt dem Pinyin-System, ohne – bis auf inhaltlich erforderliche Ausnahmen – die Tonhöhen der Silben mit anzugeben, dabei werden Hauptwörter groß geschrieben. Bei einigen Namen wie Chiang Kaishek und Sun Yatsen sowie der Stadt Hongkong wurde die bekanntere und immer noch übliche alte Lautumschrift belassen. Zitate wurden der modernen Rechtschreibung vorsichtig angepasst.
Dieses Buch ist auch als Printausgabe erhältlich:
(ISBN 978-3-407-81196-7)
www.beltz.de
© 2015 Beltz & Gelberg
in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Frank Griesheimer
Neue Rechtschreibung
Einbandgestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg
Umschlagfoto: Greg Elms / Getty Images
Rechte- und Fotonachweis im Anhang
E-Book
ISBN 978-3-407-74547-7
Prolog »Rebellion ist gerechtfertigt«
I. Der Chinese 1893–1921
Steinkind Zedong
Fleiß und kleine Füße
Familienfronten
Hass und Zwänge
Abschied und Aufbruch
Wehe, China!
Alte Zöpfe abschneiden
Suche und Selbsterziehung
Rückschläge für die Republik
Stolzer Student
Die Würdigen
Sturm und Drang
Europa oder China
Beijing hin und zurück
Neuer Mai
Familienbilder
Verliebt und verwirrt
Wandern und suchen
Marxist werden
Rote Liebe
Zwischengedanken Zwei Zeichen
II. Der Revolutionär 1921–1949
Leises Startsignal
Berufspolitiker
Nach Anyuan gehen
Der innere Block
Zurück zu den Wurzeln
Bauernmacht über alles
Weißer Terror
Rückzug in die Berge
Zwei Frauen
Staat im Staate
Den chinesischen Weg suchen
Der Lange Marsch
Wehrhafter Friede
Roter Stern über China
Wendepunkte
Zukunftsstadt Yan’an
Die Mao-Zedong-Gedanken
Der »Yan’an Spirit«
Hässliche Geister
Die Front der Feder
Familienbande
Loblieder auf Mao
Amerikanische Einmischungen
Hirse und Gewehre
Endlich am Ziel
Fallender Blüten Zeit
Zwischengedanken Papiertiger und neue Lange Märsche
III. Der Herrscher 1949–1976
Kein dritter Weg
Die Hälfte des Himmels
China im Aufbau
Krieg in Korea
Kommunistische Palastbewohner
(K)ein ferner Gott
Architekt der Macht
Kampagnen-Pfeffer
Industralisierungsfanatiker
Blühen und Verdorren
Das weiße Blatt
Großer Sprung ins Verderben
Großmacht, Atommacht
Tiger und Affe
Das Rote Buch
Bombardiert die bürgerlichen Hauptquartiere
Hinunter ins Land
Maoismen im Westen
Verrat und Absturz
Narben und Lehren
Chinesisch-amerikanisches Pingpong
Kopfloser Drache
Erdbeben
Asche und Kristallsarg
Epilog Rebellion bleibt gerechtfertigt
Die Ikone
Schwarz oder Weiß
Mao-Fieber
Zornige Jugend
National und grün
Protestbilder aus China
Eier auf Mao
Pop-Maos und rote Stars
Rotes Tuch und chinesischer Traum
China 3.0
Anhang
Über die chinesische Sprache »Coca Cola« oder »Kěkŏukělè«
Zeittafel
Quellen
Mao-Biografien (Auswahl)
Werke/Schriften von Mao Zedong (Auswahl)
Zitatnachweise
Bildnachweis
Danksagung 致谢 Zhixie
»Man kann nicht über heute reden, ohne über die Mao-Zeit zu reden (…) China (ist) ein Baum, auf dem heute andere Früchte wachsen, der aber immer noch die gleichen Wurzeln hat.«
Yan Lianke (*1958), chinesischer Schriftsteller
»Chinas Aufstieg ist das große Ereignis unserer Zeit, und seine Nachwirkungen könnten noch für viele kommende Generationen zu spüren sein.«
Mark Leonard (*1975), englischer Politikwissenschaftler und Herausgeber von China 3.0
»Das Ereignis von gestern war bedeutsam.«1 So kommentierte der 25-jährige Mao Zedong in der Tageszeitung von Changsha einen Skandal, der Mitte November 1919 das Tagesgespräch in den Straßen der Hauptstadt seiner Heimatprovinz Hunan beherrschte: den Selbstmord einer jungen Frau.
Nur wenige Tage zuvor hatte die 16-jährige Zhao Wuzhen, gekleidet in der Freudenfarbe Rot und mit verhülltem Gesicht, eine prächtige Sänfte bestiegen. Die geschmückte Braut sollte – begleitet von lauten Festtrommlern – zum Haus ihres Bräutigams gebracht werden. Sie wusste nur, dass er reich und bedeutend älter als sie war. Verborgen hinter den verzierten Vorhängen der Sänfte, schnitt sich die junge Chinesin die Kehle durch und verblutete. Lieber sterben wollte sie, als ihrem zukünftigen Ehemann, den sie weder kannte noch liebte, als Zweitfrau unterwürfig zu dienen.
Aufgewühlt nannte Mao Zedong das tote Mädchen ein Opfer des »schändlichen Systems der Zwangsheiraten«. In seinen Augen starb sie einen »Märtyrertod für die Sache der Freiheit, für die Freiheit, den eigenen Gatten zu wählen«. China sei eine gefährliche Gesellschaft, wenn sie Frauen und Männer auf diese Weise in den Tod treibe.
Der junge Lehrer wusste nur zu gut, worüber er schrieb. Denn ohne zu fragen, hatten ihn seine Eltern als 14-Jährigen mit einer vier Jahre älteren entfernten Verwandten verheiratet. Und schön früh hatte Mao Zedong gegen die scheinbar ewig geltenden, starren gesellschaftlichen Regeln rebelliert. Inzwischen glaubte er fest an die Gleichheit von Mann und Frau und hoffte auf eine »Revolution der Familie«, auf dass »eine große Welle der freien Ehe und freien Liebe« ganz China erfassen werde.
In seinem Artikel über den Selbstmord von Fräulein Zhao rief er auf, verlorene Hoffnungen zurückzugewinnen und vor allem zu leben: Im Leben allein liege des Menschen erster Zweck, aber wenn jemand schon sterben müsse, dann wenigstens kämpfend. Das Ziel sei natürlich nicht, getötet zu werden, sondern zu seiner wirklichen Persönlichkeit zu finden.
Wer Mao Zedong wirklich war, wusste zu diesem Zeitpunkt niemand, am wenigsten er selbst. Ungewiss und unsicher war zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht nur seine eigene Zukunft, sondern auch die seines Heimatlandes, der ersten Republik China, und einer neuen rebellischen Jugend, die die Welt nicht nur verstehen, sondern auch verändern wollte.
Genau 30 Jahre später verkündete Mao Zedong in der Hauptstadt Beijing: »Wir haben uns erhoben.«2 Am 1. Oktober 1949 rief er als Vorsitzender der Kommunistischen Partei vom »Tor des Himmlischen Friedens«, dem Tian’anmen, die Volksrepublik aus. Mao gab dem neuen China in diesem Moment ein Gesicht, und zwar sein Gesicht. Seitdem hängt sein Bild an diesem historischen Ort. Anfangs nur an Feiertagen, seit Mitte der 60er-Jahre jedoch Tag für Tag.
Auf dem Platz davor begannen ab 1966 die Rotgardisten-Aufmärsche. Entfesselte Jugendliche schwenkten ein kleines rotes Büchlein, die sogenannte Mao-Bibel, und riefen: »Lang lebe der Vorsitzende Mao!« Ermutigt durch die von ihm ausgegebene Losung »Rebellion ist gerechtfertigt«, begehrte die schon in der Volksrepublik geborene Generation auf. Doch die Proteste gerieten außer Kontrolle und wurden auch für persönliche und politische Abrechnungen missbraucht; sie zerstörten zehn Jahre lang Menschen und Hoffnungen, spalteten Familien und das Land. Die »Kulturrevolution« endete erst mit Maos Tod im September 1976.
Ein Jahr später wurde an der Südseite des Tian’anmen-Platzes das Mausoleum eröffnet, in dem bis heute der einbalsamierte Körper des Vorsitzenden liegt. Mao Zedong wollte verbrannt werden, doch seine Nachfolger brauchten ihn als identitätsstiftendes Nationalsymbol – bis heute.
Eine Aufarbeitung der Mao-Ära war noch tabu, als ich 1977 für zwölf Monate als Austauschstudentin nach Beijing kam. Erst fünf Jahre zuvor hatte die Bundesrepublik Deutschland diplomatische Beziehungen zur Volksrepublik China aufgenommen, aber der Kalte Krieg war noch immer nicht zu Ende. Über das »Reich der Mitte«, das hinter dem Bambusvorhang lag, wusste man damals sehr wenig, aber fast jeder und jede kannte Mao Zedong.
Als ich 34 Jahre später, im Herbst 2012, für drei Monate in die Volksrepublik reiste, war es genau umgekehrt. Heute reden alle von der neuen Weltmacht China, aber im Westen – besonders in der jungen Generation – wissen nur noch wenige, wer Mao Zedong war. Dabei beherrscht sein Bild auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts weiterhin »die Mitte der Mitte«, den zentralen Platz des Himmlischen Friedens in der chinesischen Hauptstadt.
»Man kann nicht über heute reden, ohne über die Mao-Zeit zu reden«, betont der chinesische Schriftsteller Yan Lianke. »China (ist) ein Baum, auf dem heute andere Früchte wachsen, der aber immer noch die gleichen Wurzeln hat.«3 Mao Zedong ist auch deshalb nicht von gestern, weil seine verwirklichten wie auch seine gescheiterten Visionen, die Fortschritte, aber auch die schrecklichen Verheerungen, die er zu verantworten hat, wichtige Bezugspunkte geblieben sind, seit ein neuer »chinesischer Traum« gesellschaftlich verhandelt wird. Seit der Spagat zwischen Kapitalismus und Kommunismus, Globalisierung und Gerechtigkeit, Kontrolle und Freiheit und vor allem zwischen Diktatur und Demokratie gewagt wird. Dabei fragt sich vor allem die nach 1980 und damit in die neuerliche Öffnung Chinas hineingeborene Jugend – wie schon vor 100 Jahren der Student Mao Zedong: In welcher Gesellschaft wollen wir leben? Wann gilt und was bedeutet am Beginn des 21. Jahrhunderts eigentlich die Losung »Rebellion ist gerechtfertigt«?
Das Mao-Porträt am Tor des Himmlischen Friedens sieht glatt und plakativ aus. Schon allein durch die Größe des Ölbildes wirkt der Staatsgründer unantastbar, fast übernatürlich. Die »Mona Lisa der Weltrevolution« wird er auch genannt. Sanft lächelt er der Menge zu, einheimischen wie ausländischen Touristen, die sich tagtäglich mit der berühmten Ikone fotografieren lassen.
Im wirklichen Leben war Mao Zedong nicht glatt und sanft, sondern machtbewusst und, wenn er es für nötig hielt, auch brutal. Er wurde geliebt und gehasst, als »rote Sonne« besungen und als mächtiger »roter Tiger« gefürchtet, er fanatisierte und faszinierte die Menschen – bis heute. Mao war kompliziert und widersprüchlich, genau wie das Land, das er als Herrscher und Revolutionär prägte, und wie die Zeit, in die der rebellische Chinese aus Hunan hineingeboren wurde.
»Wir sind erwacht. Die Welt gehört uns,
die Nation, die Gesellschaft ist unser.
Wenn wir nicht sprechen, wer soll es dann tun?
Wer außer uns wird sich erheben und kämpfen?«4Mao Zedong mit 25 Jahren
Der Vorname war wichtig. Er musste gut klingen, poetisch sein und von den Hoffnungen der Eltern erzählen. Für ihren Sohn wollten der 23-jährige Vater, Mao Yichang, und die 26-jährige Mutter, Wen Qimei, die richtige Wahl treffen und suchten einen taoistischen Priester auf. Er deutete das Horoskop des Jungen, der am 26. Dezember 1893 oder – nach dem Mondkalender – am 19. Tag des 11. Monats im Jahr der Schlange auf die Welt gekommen war, und gab den Eltern folgenden Rat: Weil im Horoskop die Grundelemente Holz, Feuer, Metall, Erde ausreichend, das Wasser als fünfte Kraft aber zu wenig vorkomme, müsse der geschriebene Name des Kindes unbedingt ein Wassersymbol enthalten.
Der 23-jährige Hochschulabsolvent Mao Zedong im chinesischen Gelehrtenrock. Familienbild mit den zwei Jüngeren Brüdern Zemin und Zetan (li) und seiner Mutter, aufgenommen in deren Todesjahr 1919
Diese Bedingung erfüllte das Schriftzeichen1 泽, Ze, für die erste Hälfte des Namens Zedong: Die drei kleinen Striche am linken Rand 氵symbolisieren das Wasser und das einsilbige Wort bedeutet »Glanz« und »Gunst« oder auch »Wohltäter«. Dass der Erbe einmal als »wohlwollender Herr« glanzvoll über Haus und Hof walten möge, erhofften sich die Eltern. Der zweite Teil des Vornamens 东, Dong, steht deshalb für die Himmelsrichtung des Sonnenaufgangs und so kann Zedong ebenso als »Glanz des Ostens« gelesen werden. Als solcher wird der Bauernsohn ein halbes Jahrhundert später in einem der berühmtesten Loblieder auf den Vorsitzenden Mao mit großem Pathos besungen werden:
Der Osten ist rot,
die Sonne geht auf,
aus China kommt ein Mao Zedong.
Er kämpft für das Glück des Volkes,
er ist sein Erlöser.
Maos Geburtsort Shaoshan liegt in der zentralchinesischen Provinz Hunan. Wo der schärfste und beste rote Pfeffer des Landes wächst, lebt ein besonders widerständiges Volk, das als stur, hart und aufbrausend gilt. Ein Sprichwort sagt, China könne nur erobert werden, wenn alle Huanesen tot sind.
Die bergige Provinz wird von vier großen Flüssen durchschnitten, darunter der Chang Jiang, der »lange Fluss«, in Europa früher als Jangtsekiang bekannt, heute oft nach seinem letzten Abschnitt nur Yangzi genannt. Seine Quelle entspringt im Himalaja. Er teilt das Land in zwei Hälften, »nördlich des Flusses« und »südlich des Flusses«. Auf dem längsten Strom Asiens fuhren damals erste Dampfschiffe und Lastkähne, vorbei an der Stadt Wuhan bis zur Küstenmetropole Schanghai und dann weiter in das Ostchinesische Meer. Die huanesische Provinzhauptstadt Changsha entwickelte sich gerade zu einem geschäftigen Binnenhafen, den der Xiang-Fluss mit dem mächtigen Chang Jiang verband. Etwa 50 Kilometer südwestlich lebte der Mao-Clan bereits in der 19. Generation im Dorf Shaoshan. Seine Bewohner züchteten Hühner und Schweine und bauten Gemüse an, aber vor allem waren sie Reisbauern. Verstreut lagen die Gehöfte, verbunden durch schmale Pfade auf den Begrenzungswällen der Reisterrassen.
Das fruchtbare Tal überragt der heilige Berg Shao. Benannt ist er nach einer 4000 Jahre alten Zaubermusik, Shaoyu, die sogar Tiere zum Tanzen gebracht haben soll. Für den kleinen Weiler mit dem Namen »Zauber(musik)berg« wie für das gesamte Hinterland galt: »Die Berge sind hoch und der Kaiser ist weit.« Die Erlasse des Kaiserhofes brauchten Wochen, bis sie vom 1700 Kilometer entfernten Beijing, der »nördlichen Hauptstadt«, in den abgelegenen Ort kamen, dort per Anschlag bekannt gemacht und vorgelesen wurden. Tageszeitungen gab es keine, Handwerker und Händler auf der Durchreise berichteten, was andernorts passierte.
Bei Maos Geburt herrschte der Kaiser Guangxu zusammen mit seiner Tante, der Kaiserinwitwe Cixi, die in der »Verbotenen Stadt« in Beijing die politischen Fäden zog. Die Macht der von den Mandschus begründeten, über 200 Jahre alten Qing-Dynastie zerfiel immer mehr. Das große China war »der kranke Mann« Asiens. Als Erste waren die Engländer mit Kanonenbooten gekommen und hatten 1842, nach dem gewonnenen Opiumkrieg, Hongkong zur britischen Kronkolonie gemacht. Mit immer mehr »ungleichen Verträgen« zwangen nun auch Frankreich und Deutschland, Russland, Amerika und Japan den Kaiserhof, ihnen Häfen und Handelsrechte abzutreten. Die kaiserlichen Heere waren machtlos gegen die modernen Waffen der Eindringlinge. Nicht nur in der Millionenstadt Schanghai gab es inzwischen Viertel, die unter ausländischer Hoheit standen, die sogenannten Konzessionen. Die Einheimischen schufteten in den Spinnereien und Webereien, Abertausende Tagelöhner trieben für fremde Konzerne neue Bahnstrecken ins Hinterland. Westliche Waren überschwemmten die Märkte und machten immer mehr Menschen arbeitslos. Das provozierte Aufstände im Inneren – von der Taiping-Rebellion, auf die ein 13-jähriger Bürgerkriegs mit 20 Millionen Opfern folgte, bis zum Aufstand der »Geheimgesellschaft der fliegenden Fäuste« im Jahr 1900, der im Westen »Boxeraufstand« genannt wird. Auch arme Bauern erhoben sich immer häufiger gegen korrupte Beamte, gegen die Adligen und die Großgrundbesitzerklasse, die ständig reicher wurden, während auf dem Land das Volk darbte. Dem Riesenreich drohten Zersplitterung und Chaos.
In Shaoshan zweifelte niemand daran, dass Naturkatastrophen Zeichen waren: Sie kündigten an, dass Herrscher das »Mandat des Himmels« verloren hatten und einer neuen Dynastie weichen mussten. An die letzte große Hungersnot konnte sich Maos Mutter noch erinnern. Sie war zehn Jahre alt gewesen, als zwischen 1876 und 1879 elf Millionen Menschen starben. Und jetzt hörte sie von neuen Missernten. Damals war in China »das Schönste der Natur und des von menschlicher Fantasie Ersonnenen unentrinnbar mit den traurigsten Bildern dieser Erde vermengt«, in den Dörfern und auch Städten hing »der Gestank von Jauche und menschlichem Unrat« in der Luft.5 Unheimliche Krankheiten, gegen die keine Medizin half, rafften immer wieder die Dorfkinder hinweg. Eine weitere Plage waren neben den Seuchen die wiederkehrenden Überschwemmungen der großen Flüsse – sie vernichteten Menschen in einer heute unvorstellbaren Zahl und oft auch die Ernten. Ein Todeskreislauf, in dem ein einzelnes Leben wenig bedeutete. Als Mao aufwuchs, lag in China die durchschnittliche Lebenserwartung, wie im europäischen Mittelalter, bei nur knapp über 30 Jahren.
In diesen Zeiten brauchte ihr Sohn einen besonderen Schutz, beschloss Wen Qimei. Denn nur ein männlicher Nachkomme sicherte den Fortbestand der Familie und brachte eine Schwiegertochter ins Haus. Nur er konnte die religiösen Riten am Ahnengrab vollziehen, damit die Seelen der Verstorbenen dereinst Frieden fänden. Sobald Zedong laufen konnte, brachte seine Mutter ihn zu einer über zwei Meter hohen Steinformation, der die Leute magische Kräfte nachsagten. Der Junge umrundete den Felsen, unter dem eine Quelle entsprang, mehrmals und verbeugte sich dabei vor seiner »steinernen Mutter«. Zedong wurde seitdem von Wen Qimei im Gedenken an zwei früh verstorbene Brüder gerne Shisanyazi gerufen, »das dritte Kind mit dem Namen Stein«.6
Die gläubige Buddhistin bat sicher auch Guanyin, die Gottheit der Barmherzigkeit und des Glücks, um Gesundheit für Zedong und opferte im Tempel Essstäbchen, Kuaizi genannt. Denn der chinesische Name klingt wie: schnell (kuai) ein Kind (zi)! Vor allem Söhne brachte die beliebte Guanyin, die auf einer Lotusblüte thront und auch im 21. Jahrhundert als Porzellanfigur noch immer viele volksrepublikanische Wohnungen schmückt.
Frau Wens Bitten wurden erhört: Als Zedong zweieinhalb Jahre alt war, kam Bruder Zemin und erst neun Jahre später, 1905, der kleine Zetan auf die Welt. Gemeinsam repräsentierten die Brüder nun die 20. Generation der Mao-Sippe. Eine Cousine zweiten Grades, die »kleine Schwester Chrysantheme«, nur einen Monat jünger als Zetan, wurde mit sieben Jahren in die Familie aufgenommen, als der bald 19-jährige Zedong schon das Haus verlassen hatte. Besonders die Großeltern mütterlicherseits verwöhnten die drei Brüder und deren Adoptivschwester, bis alle ab dem siebten Lebensjahr auf den Feldern mitarbeiten mussten, und das hieß vor allem, Reisschösslinge setzen und Tiere hüten. Als Erwachsene werden die Geschwister dieselbe politische Überzeugung teilen, doch nur einer von ihnen wird die Revolution überleben: das Steinkind Zedong.
Als der letzte Sohn auf die Welt kam, galt Vater Mao in der 2000-Seelen-Gemeinde als reich. Er konnte sich einen Knecht leisten und bei der Wintersaat Arbeiter einstellen. So erwirtschaftete er pro Jahr einen Überschuss von fast 300 Kilo Reis. Die Familie hatte nicht nur genug zu essen, Bauer Mao sparte im Laufe der Zeit sogar ein Vermögen von 3000 Yuan an, etwa hundertmal so viel, wie ein Tagelöhner im Jahr verdiente. Auch als Händler betätigte er sich und verlieh Geld. Mit dem Abakus, einem Rechenbrett, wusste das Familienoberhaupt umzugehen, obwohl er nur zwei Jahre lang eine Schule besucht hatte. Zedongs Vater beherrschte 200 Schriftzeichen, was ausreichte, um kaufmännische Bücher zu führen, aber nicht, um ein Buch zu lesen.
Maos Mutter blieb ihr Leben lang Analphabetin, wie rund 90 Prozent ihrer knapp 400 Millionen Landsleute. Sie entstammte der armen Familie Wen aus dem Nachbarkreis Xiangxiang. Ihre Eltern hatten die Kinder einfach durchgezählt, und sie war Qimei, die »siebte Schwester«. Schon mit 13 Jahren war sie mit dem 10-jährigen Yichang aus Shaoshan verheiratet worden, weil dort ein Ahnengrab der Wens lag. Ohne gebundene Füße hätte Qimei niemals einen Mann finden können. »Ein durchschnittliches Gesicht schenkt der Himmel, aber zu große Füße zeugen von Faulheit«, warnte der Volksmund, und wer wollte schon eine faule Frau?
Der Brauch des Füßebindens war im 10. Jahrhundert in der südlichen Tang-Dynastie entstanden. Als die Geliebte des Kaisers Li Yu auf der Mitte einer für sie angefertigten Lotusblüte aus Gold tanzte, soll sie mithilfe weißer Seidentücher ihre Füße zu zwei Halbmonden geformt haben. Diese »Lotusknospen« kamen zuerst in den oberen Schichten in Mode und wurden mit der Zeit als »Lilienfüße« zu einem verbreiteten Schönheitsideal. Große Füße dagegen galten als hässlich und unerotisch und waren ein Zeichen niederer Herkunft.
Normalerweise begann eine Mutter ihrer Tochter schon ab dem dritten Lebensjahr die Füße mit langen Bandagen regelrecht zusammenzufalten. Zwei Jahre dauerte diese schmerzhafte Prozedur. Nur bis zu einer Länge von zehn Zentimetern galten Lilienfüße als klein und damit auch als schön, doch sie taugten nicht, um auf dem Feld mitzuarbeiten. Deshalb zögerten arme Familien, die auch im Haushalt jede Arbeitskraft benötigten, die Verkrüppelung möglichst lange hinaus. Als Mao Zedong heranwuchs, war in den Dörfern noch das Wimmern der Bauernmädchen zu hören, denen erst im Alter von sechs bis acht oder sogar zehn Jahren die Fußknochen mit einem Stein gebrochen wurden, um die Zehen umbiegen und auf die Fußsohle binden zu können.
Als Erste versuchten die Taiping-Rebellen Mitte des 19. Jahrhunderts, diesen grausamen Brauch zu verbieten, aber selbst Kaiserin Cixi konnte 1902 mit einem Dekret das Füßebinden noch nicht ausrotten. Zedongs Adoptivschwester Zejian blieb von der althergebrachten Sitte verschont, die seine Generation bereits als grausam und rückständig ablehnte. Mutter Mao dagegen konnte auf ihren spitzen Füßchen kaum das Gleichgewicht halten. Dieser unbeholfene, schwankende Gang galt als Symbol der Rückständigkeit. In einer Rede polemisierte der Politiker Mao Zedong gegen zu ängstliche Genossen, die wie alte Frauen mit gebundenen Füßen einhertrippeln und klagen würden, es gehe zu schnell. Und inhaltlose Artikel der Parteimitglieder seien wie »die Fußbinden einer Schlampe lang und übelriechend«.7
Mao Zedong sah seiner Mutter mit dem offenen runden Gesicht sehr ähnlich. Er hatte ihren kleinen, trotzdem vollen Mund geerbt, das leicht fliehende Kinn und eine flache, hoch angesetzte Nase – ein typisch chinesisches Gesicht. Ihren Ältesten liebte und verwöhnte Wen Qimei besonders und er erwiderte diese Liebe. Freundlich, großzügig und mitfühlend sei seine Mutter gewesen. In Hungerzeiten verteilte sie Reis an die Armen und lehrte als fromme Buddhistin auch Zedong, was Mit-Leiden heißt. Deshalb soll sie gebilligt haben, dass er seine wattierte Jacke einem Jungen schenkte, den er frierend und nur mit einem Hemd bekleidet an einem Wintertag getroffen hatte. Unzählige solcher Geschichten kursieren, die nur ein Ziel haben – zu zeigen, dass Mao, obwohl er Nachkomme eines reichen Bauern war, schon seit frühester Jugend aufseiten der Ärmsten stand, die er später für die Revolution mobilisierte.
Seinen hageren Vater erlebte Mao als geizig und hartherzig, jähzornig und streng. Für die letztere Eigenschaft brachte der Sohn sogar Verständnis auf; und Jähzorn sollte dem erwachsenen Mao auch nicht fremd sein. Wie der Tigervater, so das Tigerkind, sagte man in Shaoshan.
Die Fronten in der Familie beschrieb der Revolutionär Mao erst sehr viel später, 1936, mit dem Politjargon dieser Zeit. Er tat das mit einem lauten Lachen, wohl wissend, dass er als Kind und Jugendlicher solche Begriffe noch nicht gekannt hatte: Zu Hause war der Vater die »herrschende Macht«. In die »Opposition« gingen Zedong und Zemin zusammen mit der Mutter und manchmal bildeten sie mit den Arbeitern auch eine »Einheitsfront«. Seitdem der Vater anderer Leute Land belieh, wuchs Maos Unbehagen, und »der dialektische Kampf« in der Familie erreichte »eine neue Stufe«. Nur in einem Punkt stand Mao im Widerspruch zu seiner Mutter: Sie befürwortete »eine Politik der indirekten Angriffe« und rügte jede offene Gefühlsäußerung und »alle Versuche offener Rebellion gegen die herrschende Macht«, weil es nicht »die chinesische Art« sei.8
Familie Mao bewohnte den linken Flügel eines stattlichen einstöckigen Steinhauses, zuerst war es mit Stroh, später mit Ziegeln gedeckt. Das Haus liegt immer noch am oberen Südhang von Shaoshan neben einem Teich, über den ein Steg führt. Im Sommer blüht hier der Lotus. Es war ein schöner und ruhiger Ort, an dem Zedong aufwuchs.
Gleich hinter der Eingangstür liegt die große, fensterlose Wohndiele mit dem gestampften Lehmboden, die sich die Maos mit den Bewohnern des rechten Flügels teilten. Üblicherweise standen hier geschnitzte Holzstühle, auf denen die Hausherren Platz nahmen, um Gäste zu empfangen. Das erste Zimmer links daneben ist das Elternschlafzimmer. Zwei Porträtfotos der Eheleute flankieren das Bett, in dem Mao zur Welt kam. Die aus rötlichem Holz gezimmerte Schlafstatt hat hohe Eckpfosten, zwischen denen Baumwollvorhänge gespannt sind.
Rund zwei Millionen Besucher schieben sich heute pro Jahr unter den strengen Blicken und Anweisungen des soldatischen Wachpersonals – »Bitte nicht stehen bleiben!« – durch Maos Elternhaus. Es ist ein Zentrum des »roten Tourismus«, dessen Ziel historische Stätten der sozialistischen Revolution sind. Und diese begann in den Augen vieler Chinesen genau hier mit der Geburt von Mao Zedong.
Auch in seinem Zimmer, das direkt anschließt, stehen ein mit Schnitzereien verziertes Alkovenbett und, wie in allen Zimmern, ein einfacher Tisch mit Stuhl. Jedes der vier Kinder hatte ein eigenes Zimmer, ein seltener Luxus. Fensterglas gab es noch nicht, im Winter wurden die holzverstrebten Fenster mit Ölpapier abgedichtet. Auch eine Heizung fehlte, was »südlich des Flusses« bis heute die Regel ist. Wenn es nachts kalt wird, und auch in den Wintermonaten, wärmt man sich mit Steppdecken, wattierten Hosen und Jacken oder man zieht mehrere Kleidungsstücke übereinander und trinkt heißes Wasser.
In Sichtweite des Elternhauses lag die private Dorfschule, die Zedong ab seinem achten Lebensjahr besuchte. Der Vater bezahlte den Lehrer auch aus Eigennutz, denn Bauer Mao hatte vor einiger Zeit einen Prozess verloren, weil er seine Position nicht mit einem passenden Konfuzius-Zitat absichern konnte. Sein Sohn sollte die Klassiker später besser kennen.
Konfuzius war kein Philosoph im europäischen Sinne. Lehrmeister Kong – das bedeutet sein Name Kong Fuzi – versuchte im 5. Jahrhundert vor Christus nicht, die materielle Welt und die menschliche Existenz zu begreifen oder gar zu hinterfragen, sondern hinterließ in vier Büchern eine »Lehre der Gelehrten«. Die konfuzianischen Werke liefern eine Art moralisches Grundgesetz, um ein harmonisches Staatswesen zu schaffen mit »Edlen« an der Spitze. Jeder, der einmal Staatsbeamter, Mandarin, werden wollte, musste diese Texte und andere Klassiker auswendig lernen und auslegen können und sich strengsten Prüfungen unterziehen. Über 2000 Jahre lang wurde auf diese Weise die Führungselite ausgewählt; ihr musste sich das ungebildete Volk unterordnen und gehorchen wie der Sohn dem Vater, die Frauen den Männern und die Kinder den Eltern. Für Söhne und Töchter war die »kindliche Pietät«, der ehrfürchtige Respekt vor Vater und Mutter, oberstes Gebot: »Man soll sich so verhalten, dass die Eltern nur dann Sorgen um die Kinder haben müssen, wenn sie krank sind.«9
Das erste Sprachlehrbuch, das Zedong in Händen hielt, war die Dreizeichenfibel, die in dreifüßigen Versen – daher der Name – geschrieben war. Einer der Anfangssätze lautet: »Darum Unterweisung, sonst gerät die Natur auf Abwege, und der Sinn der Unterweisung: Übe dich in Selbstzucht.«10 Zedong hatte Chinesischunterricht, wobei sich die Schriftsprache von der gesprochenen Sprache so unterschied wie das heutige Deutsch vom mittelalterlichen Latein! Um schreiben zu lernen, wurde ein transparentes Papier über Schriftzeichen gelegt und jeder einzelne Strich in einer festen Reihenfolge mit dem Pinsel nachgezogen. Etwas Geschichte und Gedichte gehörten ebenfalls zum Bildungskanon, aber vor allem lernten die Kinder Klassikerzitate auswendig, die sie im Chor laut aufsagten.
Bei den Lehrern alten Typs durfte niemand nachfragen oder gar widersprechen. Wer faul war und aus der Reihe tanzte, wurde mit dem Bambusstock gezüchtigt oder musste auf einem Brett mit alten Münzen oder spitzen Steinen knien. Vor einem besonders erbarmungslosen Lehrer floh Zedong zum ersten Mal, als er zehn Jahre alt war. Drei Tage irrte er umher, bevor die Familie das entkräftete Kind auflas, nur 500 Meter vom Wohnhaus entfernt. Danach mäßigten sich Vater und Lehrer. Dass er mit seiner Auflehnung erfolgreich war, vergaß Mao nie.
Die Klassiker memorierte der Schüler Zedong ohne Probleme, wenn auch ohne große Begeisterung, aber er entdeckte, dass sie tatsächlich nützlich sein konnten. Als Mao Yicheng seinem Sohn mehr Gehorsam befahl, zitierte der nur Konfuzius: »Ein freundlicher Vater – ein gehorsamer Sohn.« Seit seinem neunten Lebensjahr sprach er mit der Mutter immer wieder über den »unfrommen Vater«, der den Göttern nur dann Weihrauch oder Papiergeld opferte, wenn er in Schwierigkeiten war. Das Familienoberhaupt hatte ein pragmatisches Verhältnis zur Religion.
Als Zedong besser lesen konnte, entdeckte er die klassischen chinesischen Romane, in denen heftig geliebt und gekämpft wurde und das pralle Leben stattfand. Diese erzählenden Bücher, die in einem einfacheren und umgangssprachlichen Chinesisch geschrieben waren, verachtete der Lehrer als trivial und gefährlich, der Vater schimpfte sie unnütz. Doch Mao las die Romane, versteckt unter den Klassikern, sogar im Unterricht. Nicht nur mit seinen Freunden redete er über die Abenteuer der Romanhelden, sondern auch mit den alten Leuten im Dorf tauschten sich die Jungen aus. Mao las die Geschichten in einem sehr »eindrucksfähigen Alter«. In diese Bücherwelten tauchte der Schüler Zedong ein, wann immer er konnte, selbst beim Viehhüten. Sein Freiluft-Lesezimmer befand sich hinter einem alten Grab im Schatten eines Baumes. Abends, wenn die anderen schon schliefen, las er in seinem Zimmer im Schein einer alten Öllampe. Oft verhängte er das Fenster, damit er nicht entdeckt und ihm vorgeworfen wurde, er vergeude teuren Brennstoff.
Mao lernte den Affenkönig Sun Wukong kennen, der in dem Buch Die Reise nach Westen mit einem Mönch nach Indien aufbricht, um heilige buddhistische Schriften nach China zu holen. Das war seine Buße für das Unheil, das der Affe im Himmel angerichtet hatte, denn ungestüm ist dieser beliebte Volksheld, derb und antiautoritär, witzig und doch auch weise. Und im Roman Die drei Reiche, der im 2. Jahrhundert spielt, war alles über Intrigen, Schlachten und Kriegsstrategien zu finden. Maos Lieblingsbuch jedoch wurde Die Räuber vom Liang-Shan-Moor.
Seine Helden sind auch im 21. Jahrhundert noch Teil von Chinas Alltagskultur. In Comics, in Videospielen und vor allem in Fernsehserien kämpfen sie weiter. Vom Kind bis zum Greis kennen alle diese Robin-Hood-Gestalten. Diese Bande von 108 harten und grausamen Männern helfe den Armen und Unterdrückten, die wie sie von der Gesellschaft ausgestoßen worden seien, schreibt die amerikanische Missionarstochter Pearl S. Buck, die zur selben Zeit wie Mao in China aufwuchs. Unter dem Titel Alle Menschen sind Brüder übersetzte die spätere Literaturnobelpreisträgerin Anfang der 30er-Jahre den Roman ins Englische, weil er von einem wichtigen Teil des chinesischen Lebens erzählt: »Zu rebellieren gehört gewissermaßen zu den unveräußerlichen Rechten des Volkes.«11 Und das tat auch der Schüler Zedong.
Streng überwacht vom Vater, musste der zukünftige Hoferbe schon bald bei der Buchführung helfen. Die Angst vor der väterlichen Kritik, erinnerte Zedong später, sei der Grund dafür gewesen, dass er immer fleißig und sorgfältig gearbeitet habe. Deshalb fühlte er sich besonders ungerecht behandelt, als Bauer Mao ihn eines Tages vor Gästen faul und unnütz schimpfte. Fluchend rannte Zedong aus dem Haus, obwohl die Mutter ihn anflehte zu bleiben. Der Vater folgte dem Sohn bis zum Rand eines Teiches, wo der 13-Jährige drohte, sich zu ertränken. Wie der Konflikt endete, schilderte der Revolutionär Mao erneut mit den Politvokabeln der 30er-Jahre: Zuerst »wechselten wir Forderungen und Gegenforderungen, um den Bürgerkrieg beizulegen«. Der Vater bestand darauf, dass sich sein Ältester mit einem Kotau entschuldigte: niederknien, Rücken beugen und Stirn auf den Boden! Zedong machte die geforderte Demutsgeste, aber nur auf einem Knie und erst nachdem der Vater versprochen hatte, in Zukunft auf Schläge zu verzichten. »So endete der Krieg, und ich lernte daraus, dass mein Vater, wenn ich meine Rechte durch offene Rebellion verteidigte, nachgab; wenn ich aber bescheiden und unterwürfig blieb, fluchte er nur und schlug mich umso mehr.« Die eigene Strenge habe den Vater besiegt, so Maos Fazit.
Keine Szene aus seiner Jugendzeit ist häufiger interpretiert worden. Die Autorin der einflussreichsten Mao-Biografie der letzten Jahre, Jung Chang, sieht hier bereits einen Diktator und Menschenmanipulator agieren. Andere fragten sich: War der »halbe« Kotau hinterhältig oder offenbarte sich hier schon der spätere kluge politische und kriegerische Stratege? Oder wurde Mao sein Leben lang von diesem harten Vater-Sohn-Konflikt angetrieben? Aus heutiger westlicher Sicht scheint das Aufbegehren des Teenagers Zedong mehr als nachvollziehbar, im Dorf Shaoshan zu Beginn des 20. Jahrhunderts muss sein Verhalten ungeheuerlich gewesen sein.
Nie vergessen sollte der Heranwachsende eine Hungersnot, die im Jahr 1906 viele Menschen zwang, sich von Rinde zu ernähren; in der Umgebung von Shaoshan waren die Baumstämme bis in eine Höhe von vier Metern kahl gegessen. In dieser Zeit berichteten Händler, dass in Changsha verzweifelte Menschen einen Bonzen entführt hatten, um Reis zu erpressen. Die Entführer wurden am Ende geköpft, ihre Köpfe auf Stangen aufgespießt und zur Schau gestellt – als Abschreckung für zukünftige Rebellen. Hinrichtungen und andere Bestrafungen öffentlich durchzuführen, wie manchmal auch heute noch, war die Regel. Dieses Schicksal drohte auch den Mitgliedern einer Geheimgesellschaft aus Shaoshan. Sie hatten gegen einen Großgrundbesitzer rebelliert, der sich ein günstiges Gerichtsurteil gekauft hatte. Vor dessen Soldaten floh der Anführer der Aufständischen, die angeblich ein Kind unter ihrer Rebellenfahne geopfert hätten – ein Gerücht, das später auch gegen die »roten Banditen« des Revolutionärs Mao gestreut wurde.
Für Ungerechtigkeiten sei er empfänglicher gewesen als seine Schulkameraden, erzählte Mao später. Aber als Heranwachsender entwickelte er nur »bis zu einem gewissen Grad ein politisches Bewusstsein«. Als aufgebrachte Menschen die Kampagne »Iss kostenlos Reis« anzettelten und auch eine Fuhre Getreide des reichen Bauern Mao beschlagnahmten, empfand Zedong zwar kein Mitleid mit dem wütenden Vater, der trotz Nahrungsknappheit die Lebensmittel in der nächsten Stadt verkaufen wollte. Aber die Vorgehensweise der Dorfbewohner hielt er ebenso für falsch.
Gemälde des lesehungrigen, etwa 13-jährigen Schülers Mao Zedong, bevor er die Schule verließ und ein Jahr später, 1907, zwangsverheiratet wurde. Das Original hängt in Maos alter Schule in Shaoshan.
Mit vierzehn ging der älteste Sohn der Familie Mao wie alle Dorfjungen von der Schule ab und arbeitete auf dem elterlichen Hof so viel wie ein ausgewachsener Mann. Trotzdem entlohnte ihn der Vater mit keiner einzigen Kupfermünze. Und während jeder gewöhnliche Arbeiter einmal im Monat Eier oder Fisch zu essen bekam, musste sich Zedong immer nur mit Reis begnügen. Er begann den geizigen Vater regelrecht zu »hassen«. Ein hartes Wort, das er gebrauchte, und das Gegenteil kindlicher Pietät. Deshalb soll in der ersten chinesischen Rückübersetzung von Maos Lebensbericht, den er 1936 einem amerikanischen Journalisten diktiert hatte und der zwei Jahre später zuerst auf Englisch erschienen war, der Originalsatz – »Ich lernte ihn zu hassen« – gestrichen worden sein. So etwas ließ man nicht einmal dem berühmten Revolutionär durchgehen.
Der verhasste Vater und die geliebte Mutter waren sich in einem Punkt jedoch einig: Es war an der Zeit, dass ihr Ältester heiratete. Die Eltern waren mit der verarmten und fern verwandten Familie Luo aus dem Nachbarort handelseinig geworden, die fünf Mädchen verheiraten musste. Dass Yigu, die »Erste Tochter«, vier Jahre älter war als Zedong, galt als ideal: So konnte sie ihren Mann gleich miterziehen. Als der 14-Jährige von dem Brautkauf erfuhr, war er außer sich. Aber der Vertrag war rechtsgültig: Um den Jahreswechsel 1907/1908 wurde die 18-jährige Braut ins Haus der Maos gebracht.
Als die junge Frau den roten Schleier abnahm, sah der Bräutigam sie zum ersten Mal. Zedong erkannte die Ehe weder an, noch vollzog er sie. Doch Yigu ins Haus der Eltern zurückzuschicken, war unmöglich, dabei hätten alle ihr Gesicht verloren. Wenn er Gefühle gegenüber der jungen Frau hegte, dann Mitleid: »Ich hielt sie nicht für meine Frau und dachte wenig an sie.« Welche Demütigung und wie viel psychisches Elend sich für beide hinter diesen dürren Worten verbargen, darüber schwieg Mao lebenslang. Doch blieb das Thema Zwangsheirat für ihn immer ein besonderes, weil sehr persönliches.
Das sollte sich im Jahr 1919 zeigen. Als Junglehrer schrieb Mao nicht nur einen, sondern neun empörte Kommentare anlässlich des Selbstmords von Zhao Wuzhen. Die immer noch übliche Zwangsehe prangerte er als eine indirekte Vergewaltigung an. Die jungen Leute steckten in einer Art Käfig, aus dem es kein Entrinnen gebe. Genau wie er zwischen seinem 14. und 16. Lebensjahr, als er mit seiner ersten Frau im Elternhaus leben musste. Zu sagen hatten sie sich nichts, Yigu teilte keine seiner Interessen und war sicher Analphabetin. Im Dorf ging das Gerücht um, der alte Bauer Mao – er war um die 40 – habe die Verschmähte zu seiner Konkubine gemacht.
Auf einem Foto aus dieser schwierigen Zeit sieht der junge Zedong mit hängenden Mundwinkeln und traurigem Blick sehr unglücklich aus. Doch wenigstens drängte ihn nach der Heirat niemand mehr, den Ehevertrag zu erfüllen. Die Eltern duldeten sogar, dass sich der Sohn zu einem älteren Gelehrten flüchtete, der ihn stundenweise in den Klassikern schulte. Bei einem arbeitslosen Jurastudenten, der im Dorf lebte, soll Zedong sogar für Monate untergetaucht sein. Zusammen lasen die jungen Männer Zeitschriftenartikel und politische Bücher wie die Worte der Warnung. Der Jugendliche war fasziniert, denn um China stark zu machen, vertraute der Autor auf das freie Unternehmertum und pries Eisenbahnen, Telefone, Telegrafen und Dampfboote an, technische Errungenschaften des Westens, die Zedong bislang nur vom Hörensagen kannte. In der neuen Elementarschule von Shaoshan unterrichtete mittlerweile auch ein radikaler Lehrer, der Tempel in Schulen verwandeln und den Buddhismus und die Götter ausmerzen wollte. Zedong stimmte ihm bewundernd zu. Nun schimpfte die fromme Mutter auch über den vom Glauben abgefallenen Sohn.