Philippe Avril
Jeden Morgen komme ich am »Mickey Mouse Club« vorbei.
Im »Mickey Mouse Club« gibt es Schaukeln, Rutschen, sonnengebräunte Animateure im T-Shirt, und außerdem gibt es ein Schwimmbecken dort.
Meine Mutter sagt, dass so etwas albern ist: ein Schwimmbecken direkt am Meer.
Ich finde das aber gar nicht albern.
Dann höre ich die Stimmen. Sie kreischen, sie lachen, sie haben Spaß dort drüben.
Manchmal sieht man auch jemanden.
Wenn sie ganz oben auf die Rutsche klettern, die ins Schwimmbecken führt, ragen ihre Gestalten ein wenig über die Absperrung.
Wenn ich einmal Kinder habe, werden sie alle im »Mickey Mouse Club« angemeldet.
Ich hingegen sitze am Strand, zugekleistert mit einer dicken Schicht Sonnencreme und mit einem Sonnenhut auf dem Kopf. Meine Mutter liegt unter dem roten Sonnenschirm mit den weißen Fransen. Sie plaudert mit ihrer Bekannten Natascha. Sie heißt vermutlich nicht wirklich Natascha, aber es ist offenbar schick, sich Natascha zu nennen – wie die Stewardess im Comic Spirou.
Mein Vater geht immer auf Abstand, wenn Natascha auftaucht. Es ist ganz klar, dass er Natascha nicht besonders leiden kann. Er sagt, dass sie viel zu aufgetakelt ist. Wenn er zu Hause in Wut gerät, schimpft er über sie mit Worten, die ich nie verwenden darf – außer natürlich mit meinen Freunden, wenn unsere Eltern nicht dabei sind.
Meine Mutter sagt: Möchtest du nicht mal ein wenig am Wasser spielen oder eine Sandburg bauen? Hast du denn keine Freunde? Spiel doch mal mit anderen Kindern und hock nicht die ganze Zeit hier bei uns herum.
Ich habe keine Ahnung, wie ich Freunde finden soll. Die einen gehören zu einem Ferienlager, die anderen wohnen hier, wieder andere sind mit ihrer Clique unterwegs, und dann gibt es noch ein paar wie mich, die in der Regel aber nicht lange bleiben. Was uns betrifft, so sind wir für zwei Wochen hier. Früher kamen wir für einen ganzen Monat, aber ein Monat ist jetzt viel zu lang und obendrein viel zu teuer, wenn man ein Haus bauen will. Früher haben wir ein Haus mit Kiefern drumherum gemietet, jetzt haben wir eine Wohnung. Mama behauptet, dass es besser so ist, weil weniger Hausarbeit anfällt.
Natascha hingegen mietet immer ein Haus für sich ganz allein. Aber das ist normal, weil sie keine Kinder hat und ihr Geld ausgeben kann, wofür sie will, sagt mein Vater. Nicht so wie Eltern, die wegen ihrer Gören knapp bei Kasse sind und nicht mehr tun können, worauf sie Lust haben. Sag so etwas nicht vor dem Jungen, Michel. Jetzt hab dich nicht so, er ist doch viel zu klein, er versteht nichts.
Vor mir sind die Wellen.
Ich hätte mir gewünscht, dass meine Mutter mit mir kommt, aber sie will nicht aufstehen. Meinen Vater brauche ich gar nicht erst zu fragen, er kann das Meer nicht ausstehen. Er kann auch den Strand nicht ausstehen. Wenn es nach ihm ginge, so würde er lieber in die Berge fahren, Pilze sammeln und Wanderungen machen. Aber offenbar tut das Jod mir gut, also fahren wir ans Meer. Also bleiben die anderen den ganzen Tag unterm Sonnenschirm, und ich spiele allein in den Wellen, oder ich warte.
Die Wellen sind toll.
Du kannst versuchen, über sie rüberzuspringen.
Du kannst versuchen, durch sie hindurchzutauchen.
Du kannst versuchen, mit ihnen mitzufahren.
Du kannst einer Muschel oder einer Alge folgen, die an- und wieder fortgeschwemmt wird.
Mit ein bisschen Übung kannst du dich so zwei bis drei Stunden lang beschäftigen, und dann ist es auch schon Zeit, nach Hause zu gehen.
Auf dem Rückweg kommen wir beim »Mickey Mouse Club« vorbei, immer noch höre ich das Lachen und die Rufe der Animateure: »Jaaa! Super! Weiter so! Du machst das echt gut!« Wir begegnen auch den Kindern des Ferienlagers, die auf ihrem Weg laut singen: »… ein Hut, ein Stock, ein Regenschirm, und vorwärts, rückwärts, seitwärts ran, und eins …« Wir kommen am Casino vorbei, wo Natascha immer einen Blick hineinwirft, um zu sehen, ob Bekannte drinnen sind. Schließlich führt der Weg am »Boudigot« vorbei, dem Restaurant, in das wir nie gehen, und dahinter liegt schon die Wohnanlage »Résidence des Pins«, in der wir unsere Wohnung haben.
Manchmal bleibe ich noch draußen auf der Schaukel.
An diesem Abend saß ein Junge in meinem Alter auf der Schaukel. Also setzte ich mich auf die Bank und las Spirou.
Ich weiß, dass er gleichaltrig war, weil wir später noch miteinander geredet haben. Er kam zu mir und sagte zuerst etwas. Er fragte mich, ob ich noch andere Spirou-Bände habe. Ich sagte, dass sie in der Wohnung seien und ging sie sogar holen. Wir haben noch ein wenig draußen gelesen, und dann haben wir geredet. Er war für einen Monat hierhergekommen. Er war mit seinen Großeltern unterwegs. Sie wohnten in der Wohnung unter uns. Er wusste, wer ich war. Ich war der Sohn von dem Typen, der die ganze Zeit mit schrecklichen Schimpfworten über eine Frau, die Natascha hieß, herzog. Ich wurde puterrot.
Ich sagte ihm, dass ich ihn noch nie am Strand gesehen hätte. Er antwortete, dass das nicht verwunderlich sei, da er im »Mickey Mouse Club« sei.
Plötzlich schlug mir das Herz bis zum Halse.
Ein Mitglied des »Mickey Mouse Clubs«.
Ein leibhaftiges.
Ein echtes.
Ich wollte ihm zehntausend Fragen über den »Mickey Mouse Club« stellen; wie es da drinnen aussah und was sie dort machten, denn vom Strand aus konnte man ja nichts erspähen; ob das Schwimmbecken groß war; wie viel Grad das Wasser hatte; welche Spiele sie spielten – aber ich brachte lediglich ein gestottertes »Ach, toll!« hervor.
Und was erwiderte er darauf: »Phhh!«
Einfach nur Phhh!
Im ersten Stock öffnete eine Frau das Fenster, und wir konnten den Song Pop Corn, der gerade im Radio lief, hören.
Ich fragte, was das heißen sollte, phhh!
Er zuckte die Schultern.
»Ich bin den ganzen Tag dort. Meine Großeltern liefern mich um neun Uhr morgens ab und kommen um fünf Uhr nachmittags wieder vorbei, um mich abzuholen. Ich war noch kein Mal am Strand. Ich war noch kein Mal im Meer.«
»Was ist mit deinen Eltern?«
»Meine Eltern, die sind in Paris.«
»Ach so! Sie arbeiten also?«
»Nein.«
»Aha!«
»Sie sagen, dass sie Freiraum brauchen. Und dass es mir guttut, das Jod und die Luft hier am Meer.«
»Wann fährst du wieder?«
»In einer Woche.«
»Wir legen unsere Handtücher immer an die gleiche Stelle. In die Nähe der Bademeister, wegen Natascha.«
»Ich kann nicht aus dem ›Mickey Mouse Club‹ heraus.«
»Und nachts?«
»Wie, nachts?«
»Wir könnten nachts ans Meer gehen.«
»Meine Großeltern werden das niemals erlauben.«
»Meine Eltern auch nicht. Aber sie müssen es ja nicht wissen.«
Ich möchte mich zum Retter aufschwingen. Der Held, der dem kleinen Jungen dabei helfen wird, endlich das Meer zu sehen und in den Wellen zu spielen.
Er schneidet eine Grimasse.
Er weiß nicht, was er davon halten soll.
Die Versuchung ist groß, das ist klar.
Ich sage nichts weiter.
Schließlich streckt er mir die Hand hin und sagt: »Ich heiße Benoît.«
Ich schüttele seine Flosse, wie es mein Vater immer tut, und sage: »Philippe.«
Und die Sache ist abgemacht. Wir verabreden uns für den nächsten Abend.
Am nächsten Abend beschlossen meine Eltern, nach Biarritz zu fahren.
Ich wollte nicht mit und fing mir zwei schallende Ohrfeigen für meinen Widerstand ein.
Ich habe ihn nicht wiedergesehen.
Seine Eltern waren ihn abholen gekommen.