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Für Véronique, Eva und Lola
Für Jean-Marc, Olivier und Valérie

Übersetzung aus dem Französischen von Monika Buchgeister
Die Originalausgabe erschien 2003 unter dem Titel »Accès direct à la plage« bei Editions Delphine Montalant, Queyrac.

ISBN 978-3-492-97054-9
Februar 2016
© Editions Delphine Montalant 2003
Deutschsprachige Ausgabe:
© Piper Verlag GmbH, München 2015
Covergestaltung: Cornelia Niere, München
Covermotiv: Red Edge/Ingrid Beddoes
Datenkonvertierung: psb, Berlin

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung, können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Inhalt

Capbreton Landes 1972

Philippe Avril

Danièle Girard

Jean-Michel Courtine

Henri Cami

Michel Avril

Hyères Var 1982

Sabrina Lejeune

Pascal Maître

Line Avril

Gilles Veriniani

Francis Rozé

Perros-Guirec Côtes d’Armor 1992

Hannah Gromer

Otto Gromer

Christophe Courtine

Fabienne Rozé

Vincent Decaze

Arromanches Calvados 2002

Eva Courtine

Julien Cami

Léo Veriniani

Maud Procureur

Philippe Avril

Dokumente

Nachwort

Capbreton
Landes
1972

Philippe Avril

Jeden Morgen komme ich am »Mickey Mouse Club« vorbei.

Im »Mickey Mouse Club« gibt es Schaukeln, Rutschen, sonnengebräunte Animateure im T-Shirt, und außerdem gibt es ein Schwimmbecken dort.

Meine Mutter sagt, dass so etwas albern ist: ein Schwimmbecken direkt am Meer.

Ich finde das aber gar nicht albern.

Dann höre ich die Stimmen. Sie kreischen, sie lachen, sie haben Spaß dort drüben.

Manchmal sieht man auch jemanden.

Wenn sie ganz oben auf die Rutsche klettern, die ins Schwimmbecken führt, ragen ihre Gestalten ein wenig über die Absperrung.

Wenn ich einmal Kinder habe, werden sie alle im »Mickey Mouse Club« angemeldet.

Ich hingegen sitze am Strand, zugekleistert mit einer dicken Schicht Sonnencreme und mit einem Sonnenhut auf dem Kopf. Meine Mutter liegt unter dem roten Sonnenschirm mit den weißen Fransen. Sie plaudert mit ihrer Bekannten Natascha. Sie heißt vermutlich nicht wirklich Natascha, aber es ist offenbar schick, sich Natascha zu nennen – wie die Stewardess im Comic Spirou.

Mein Vater geht immer auf Abstand, wenn Natascha auftaucht. Es ist ganz klar, dass er Natascha nicht besonders leiden kann. Er sagt, dass sie viel zu aufgetakelt ist. Wenn er zu Hause in Wut gerät, schimpft er über sie mit Worten, die ich nie verwenden darf – außer natürlich mit meinen Freunden, wenn unsere Eltern nicht dabei sind.

Meine Mutter sagt: Möchtest du nicht mal ein wenig am Wasser spielen oder eine Sandburg bauen? Hast du denn keine Freunde? Spiel doch mal mit anderen Kindern und hock nicht die ganze Zeit hier bei uns herum.

Ich habe keine Ahnung, wie ich Freunde finden soll. Die einen gehören zu einem Ferienlager, die anderen wohnen hier, wieder andere sind mit ihrer Clique unterwegs, und dann gibt es noch ein paar wie mich, die in der Regel aber nicht lange bleiben. Was uns betrifft, so sind wir für zwei Wochen hier. Früher kamen wir für einen ganzen Monat, aber ein Monat ist jetzt viel zu lang und obendrein viel zu teuer, wenn man ein Haus bauen will. Früher haben wir ein Haus mit Kiefern drumherum gemietet, jetzt haben wir eine Wohnung. Mama behauptet, dass es besser so ist, weil weniger Hausarbeit anfällt.

Natascha hingegen mietet immer ein Haus für sich ganz allein. Aber das ist normal, weil sie keine Kinder hat und ihr Geld ausgeben kann, wofür sie will, sagt mein Vater. Nicht so wie Eltern, die wegen ihrer Gören knapp bei Kasse sind und nicht mehr tun können, worauf sie Lust haben. Sag so etwas nicht vor dem Jungen, Michel. Jetzt hab dich nicht so, er ist doch viel zu klein, er versteht nichts.

Vor mir sind die Wellen.

Ich hätte mir gewünscht, dass meine Mutter mit mir kommt, aber sie will nicht aufstehen. Meinen Vater brauche ich gar nicht erst zu fragen, er kann das Meer nicht ausstehen. Er kann auch den Strand nicht ausstehen. Wenn es nach ihm ginge, so würde er lieber in die Berge fahren, Pilze sammeln und Wanderungen machen. Aber offenbar tut das Jod mir gut, also fahren wir ans Meer. Also bleiben die anderen den ganzen Tag unterm Sonnenschirm, und ich spiele allein in den Wellen, oder ich warte.

Die Wellen sind toll.

Du kannst versuchen, über sie rüberzuspringen.

Du kannst versuchen, durch sie hindurchzutauchen.

Du kannst versuchen, mit ihnen mitzufahren.

Du kannst einer Muschel oder einer Alge folgen, die an- und wieder fortgeschwemmt wird.

Mit ein bisschen Übung kannst du dich so zwei bis drei Stunden lang beschäftigen, und dann ist es auch schon Zeit, nach Hause zu gehen.

Auf dem Rückweg kommen wir beim »Mickey Mouse Club« vorbei, immer noch höre ich das Lachen und die Rufe der Animateure: »Jaaa! Super! Weiter so! Du machst das echt gut!« Wir begegnen auch den Kindern des Ferienlagers, die auf ihrem Weg laut singen: »… ein Hut, ein Stock, ein Regenschirm, und vorwärts, rückwärts, seitwärts ran, und eins …« Wir kommen am Casino vorbei, wo Natascha immer einen Blick hineinwirft, um zu sehen, ob Bekannte drinnen sind. Schließlich führt der Weg am »Boudigot« vorbei, dem Restaurant, in das wir nie gehen, und dahinter liegt schon die Wohnanlage »Résidence des Pins«, in der wir unsere Wohnung haben.

Manchmal bleibe ich noch draußen auf der Schaukel.

An diesem Abend saß ein Junge in meinem Alter auf der Schaukel. Also setzte ich mich auf die Bank und las Spirou.

Ich weiß, dass er gleichaltrig war, weil wir später noch miteinander geredet haben. Er kam zu mir und sagte zuerst etwas. Er fragte mich, ob ich noch andere Spirou-Bände habe. Ich sagte, dass sie in der Wohnung seien und ging sie sogar holen. Wir haben noch ein wenig draußen gelesen, und dann haben wir geredet. Er war für einen Monat hierhergekommen. Er war mit seinen Großeltern unterwegs. Sie wohnten in der Wohnung unter uns. Er wusste, wer ich war. Ich war der Sohn von dem Typen, der die ganze Zeit mit schrecklichen Schimpfworten über eine Frau, die Natascha hieß, herzog. Ich wurde puterrot.

Ich sagte ihm, dass ich ihn noch nie am Strand gesehen hätte. Er antwortete, dass das nicht verwunderlich sei, da er im »Mickey Mouse Club« sei.

Plötzlich schlug mir das Herz bis zum Halse.

Ein Mitglied des »Mickey Mouse Clubs«.

Ein leibhaftiges.

Ein echtes.

Ich wollte ihm zehntausend Fragen über den »Mickey Mouse Club« stellen; wie es da drinnen aussah und was sie dort machten, denn vom Strand aus konnte man ja nichts erspähen; ob das Schwimmbecken groß war; wie viel Grad das Wasser hatte; welche Spiele sie spielten – aber ich brachte lediglich ein gestottertes »Ach, toll!« hervor.

Und was erwiderte er darauf: »Phhh!«

Einfach nur Phhh!

Im ersten Stock öffnete eine Frau das Fenster, und wir konnten den Song Pop Corn, der gerade im Radio lief, hören.

Ich fragte, was das heißen sollte, phhh!

Er zuckte die Schultern.

»Ich bin den ganzen Tag dort. Meine Großeltern liefern mich um neun Uhr morgens ab und kommen um fünf Uhr nachmittags wieder vorbei, um mich abzuholen. Ich war noch kein Mal am Strand. Ich war noch kein Mal im Meer.«

»Was ist mit deinen Eltern?«

»Meine Eltern, die sind in Paris.«

»Ach so! Sie arbeiten also?«

»Nein.«

»Aha!«

»Sie sagen, dass sie Freiraum brauchen. Und dass es mir guttut, das Jod und die Luft hier am Meer.«

»Wann fährst du wieder?«

»In einer Woche.«

»Wir legen unsere Handtücher immer an die gleiche Stelle. In die Nähe der Bademeister, wegen Natascha.«

»Ich kann nicht aus dem ›Mickey Mouse Club‹ heraus.«

»Und nachts?«

»Wie, nachts?«

»Wir könnten nachts ans Meer gehen.«

»Meine Großeltern werden das niemals erlauben.«

»Meine Eltern auch nicht. Aber sie müssen es ja nicht wissen.«

Ich möchte mich zum Retter aufschwingen. Der Held, der dem kleinen Jungen dabei helfen wird, endlich das Meer zu sehen und in den Wellen zu spielen.

Er schneidet eine Grimasse.

Er weiß nicht, was er davon halten soll.

Die Versuchung ist groß, das ist klar.

Ich sage nichts weiter.

Schließlich streckt er mir die Hand hin und sagt: »Ich heiße Benoît.«

Ich schüttele seine Flosse, wie es mein Vater immer tut, und sage: »Philippe.«

Und die Sache ist abgemacht. Wir verabreden uns für den nächsten Abend.

Am nächsten Abend beschlossen meine Eltern, nach Biarritz zu fahren.

Ich wollte nicht mit und fing mir zwei schallende Ohrfeigen für meinen Widerstand ein.

Ich habe ihn nicht wiedergesehen.

Seine Eltern waren ihn abholen gekommen.

Danièle Girard

Ich gehe sehr früh an den Strand. Um sieben Uhr morgens ist kaum jemand dort. Ich begegne bloß ein paar Fischern, die noch hinausfahren wollen, aber die meisten sind schon unterwegs. Die Händler müssen beliefert werden. Die Männer schenken mir keine Beachtung. Und das ist mir gerade recht. Ich trage Stoffhosen, schwarze Espadrilles und eine ganz normale Bluse. Ich bin nicht geschminkt. Ich bin Danièle Girard. Und ich lebe.

Ich könnte stundenlang, so auf die Brüstung gestützt, verweilen und den Ozean betrachten, wie er sich zurückzieht und wiederkehrt.

Der Arzt hatte recht.

Der Ozean beruhigt.

Man blickt auf ihn hinaus, und er ist einfach da.

Dann spürt man die unermessliche Weite der Welt, man spürt, dass man nur ein Sandkörnchen im Universum ist und dass letztlich alles nicht so furchtbar wichtig ist.

Dann legt man den Kopf in den Nacken und beginnt zu lächeln. Man kann seinen Weg fortsetzen und in die Wohnung zurückkehren.

Unterwegs sieht man aus seinen Augenwinkeln die in den Schaufenstern der Geschäfte ausgestellten Strandkleider.

Man fasst die Auslagen angestrengter ins Auge, wenn ein gut gebauter Mann des Weges kommt. Er erinnert sich an nichts. Man lockt ihn nicht an. Er wird noch ein paar Stunden warten müssen. Es ist Zeit, sich noch einmal schlafen zu legen.

Natürlich schlafe ich nicht.

Ich bleibe auf dem Bett liegen und lausche den Geräuschen im Gebäude gegenüber. Die ersten Schimpftiraden von Michel. Und seine Frau, die nicht antwortet. Und der Kleine, der zur Schaukel hinuntergeht.

In der Etage darüber verschüttet Hubert seine Tasse Kaffee, und sofort meckert seine Frau. Ich kenne sie alle. Ich erahne all ihre Gedanken. Ich könnte ihre Lebensgeschichten schreiben. Aber das interessiert mich nicht. Ich kenne vor allem die Männer. Fast alle Männer aus dem Gebäude gegenüber, außer dem alten Henri, der nun wirklich zu alt ist. Ich kenne ihre Gemeinheiten, ihre Schwächen, ihre Enttäuschungen. Ich kenne all ihre Ekstasen. Sie klopfen heimlich an die Tür des Hauses, wenn ihre Teuerste mit der Kinderschar einkaufen gegangen ist. Sie schütten ihr Herz aus. Sie reden sich alles von der Seele. Ich bin ein perfektes Auffangbecken. Später sind sie wirklich herzergreifend, die Männer. Wenn du ihnen nämlich am Strand begegnest oder dich neben ihre kleine Familie legst. Sie erstarren. Sie fürchten sich. Sie denken, dass du alles ausplaudern wirst. Sie sind angespannt, die Männer. Innerlich beschimpfen sie dich als Schlampe, als Abschaum, als Nutte. Deine Erscheinung ist ihnen zuwider. Sie versuchen, ihre Frauen von dir fernzuhalten. Schlechter Einfluss. Und manchmal spürst du doch, wie ihr Puls in die Höhe schnellt. Sie können es nicht verhindern, die Männer. Sie lehnen dich ab, aber du ziehst sie an.

Nur der Bursche aus der vierten Etage, der gerade achtzehn Jahre alt geworden ist, verhält sich anders. Er wird tatsächlich rot. Er rührt mich wirklich. Ich war sein allerschönstes Geburtstagsgeschenk.

Aber es gibt etwas, das ich nicht vorausgesehen habe. Das ist Line. Ich habe nicht vorausgesehen, dass ich Zärtlichkeit für eine andere Frau empfinden könnte. Sie rührt mich. Sie rührt mich mit ihrem Schweigen, mit ihrer unterdrückten Wut, mit ihren Sorgen. Sie rührt mich mit den kleinen Freiheiten, die sie sich manchmal herausnimmt, wenn sie ihrem Schwein von Ehemann nicht antwortet, und auch, wenn sie den Jungen bittet, etwas weiter weg zu spielen. Sie erinnert mich an Danièle Girard. Danièle Girard vor drei Jahren. Und der Kleine, auch er rührt mich. Man könnte meinen, er sei Emmanuel Girard. Ich beobachte ihn heimlich, den Kleinen. Ich sehe ihm zu, ich belausche ihn, ich kann es nicht lassen. Ich weiß, dass der Arzt das nicht gutheißen würde. Aber der Arzt ist weit weg. Ich erinnere mich nicht mehr an Paris. Aus dem Fenster sehe ich zu, wie die Familien gegen zehn Uhr morgens zum Strand aufbrechen.

Der Vater mit den Strandmatten unterm Arm und dem Sonnenschirm, der alle drei Sekunden beinahe hinunterfällt. Die Kinder mit den Eimern, Schaufeln und den Harken. Die Frauen mit den Strandtaschen und Sonnencremetuben, der Ferienlektüre und den Zeitschriften.

Sie gehen im Gänsemarsch.

Fügsam.

Still.

Sie sehen mich nicht.

Sobald ich einen Kloß im Hals verspüre, sobald mich meine Gefühle übermannen, gehe ich sofort ins Badezimmer.

Eine dicke Schicht Make-up.

Endlos lange Wimpern.

Blauer Lidschatten, dass es nur so kracht.

Orangefarbener Lippenstift.

Ein Minirock, weil meine Beine wunderschön sind. Ein kurzärmliges Kleid, weil meine Arme wunderschön sind. Offene Schuhe, weil meine Füße wunderschön sind.

Mit dem Arsch wackeln. Ein wenig, nicht zu viel. Ganz wichtig, die Sonnenbrille. Und der Hut mit der breiten Krempe.

Libowski. Natascha Libowski. Schauspielerin. Spielerin. Heldin. Geschieden. Frei.

Ich bin Natascha Libowski.

Danièle Girard kenne ich nicht.

Und Emmanuel Girard schon gar nicht.

Ich habe nur flüchtig von dieser Geschichte gehört.

War das nicht der Junge, der vor drei Jahren im Hafen ertrunken ist?

Eine schreckliche Geschichte, nicht wahr?

Genau deshalb will ich lieber keine Kinder haben.