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Über den Autor
Carl Hiaasen, Autor, Journalist und Starkolumnist des Miami Herald, lebt mit seiner Familie in Florida. In seinen zahlreichen Romanen für Erwachsene und Jugendliche schreibt er bevorzugt über Floridas dunkle Seiten. Seine Bücher sind »einfach unverschämt unterhaltende, absolut berauschende Leseabenteuer« (Washington Post) und wurden in über 21 Sprachen übersetzt. Bei Beltz & Gelberg erschienen bereits Eulen, Fette Fische, Panther und Echte Biester.
www.carlhiaasen.com
Impressum
Dieses Buch ist erhältlich als:
ISBN 978-3-407-74799-0 Print
ISBN 978-3-407-74512-5 E-Book (EPUB)
© 2017 Gulliver
© 2015 Beltz & Gelberg
in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel
Werderstraße 10, 69469 Weinheim
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Copyright © Carl Hiaasen, 2014
Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel
Skink – No Surrender bei Alfred A. Knopf (USA)
Lektorat: Isabelle Ickrath
Neue Rechtschreibung
Einbandillustration: © Max Meinzold
E-Book: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza
Weitere Informationen zu unseren Autoren und Titeln finden Sie unter: www.beltz.de
Für Doug Peacock,
der das Feuer am Brennen hält

1. Kapitel

Ich ging zum Strand hinunter und wartete auf Malley, die jedoch nicht kam.
Es war Vollmond und vom Meer wehte eine warme Brise. Zwei Stunden saß ich im Sand, ohne dass Malley aufkreuzte. Zuerst fand ich das ärgerlich, doch nach einer Weile fing ich an, mir Sorgen zu machen. Meine Cousine ist nämlich trotz all ihrer Macken ein sehr pünktlicher Mensch.
Immer wieder rief ich sie auf dem Handy an, wurde aber jedes Mal nur mit ihrer Mailbox verbunden, auf der Malley mit britischem Akzent kichernd mitteilte: »Bin gerade auf dem Klo. Ich ruf dich später zurück!« Ich hinterließ ihr keine Nachricht und schickte ihr auch keine SMS.
Für den Fall, dass jemand anders ihr Handy hatte.
Zum Beispiel ihr Dad, mein Onkel. Er nimmt Malley ungefähr zweimal in der Woche das Handy weg, um sie dafür zu bestrafen, dass sie sich wieder mal danebenbenommen hat. Doch selbst wenn zu Hause dicke Luft ist, findet sie immer eine Möglichkeit, sich davonzuschleichen und zum Strand zu kommen.
Ein paar Schildkröten-Leute suchten das Ufer ab und fuchtelten mit ihren Taschenlampen herum. Ich ging in Richtung Norden, wie wir es normalerweise taten. Wir hatten noch nie gesehen, wie eine Schildkröte Eier legte, hatten aber schon mehrere Nester gefunden. Das Erste, was man bemerkt, sind die Spuren der flossenähnlichen Beine, die vom Wasser aus durch den Sand führen. Unechte Karettschildkröten, Suppenschildkröten und Echte Karettschildkröten hinterlassen so tiefe Furchen wie ein kleiner Dünenbuggy, wenn sie ihre schweren Panzer über Land schleppen.
Nachdem die Mutterschildkröte ihre Eier gelegt hat, häuft sie Sand darüber. Wenn Malley und ich auf einen dieser Hügel stießen, riefen wir jedes Mal die Leute von der Naturschutzbehörde an, die dann jemanden losschickten, um das Nest zu markieren.
Zuerst werden Holzstangen so in den Boden gerammt, dass sie ein Viereck um den kleinen Hügel bilden; danach wird ein pinkfarbenes Band von Stange zu Stange gespannt. Wenn man ein Schildkrötennest zerstört, kann man ins Gefängnis kommen. Deshalb stellen die Leute vom Naturschutz ein Warnschild auf. Trotzdem werden immer wieder irgendwelche Idioten beim Stehlen von Schildkröteneiern erwischt, die an bestimmten Orten als exotische Delikatesse verkauft werden.
Traurig, aber wahr.
Mein Handy piepte. Es war jedoch keine SMS von Malley, sondern von meiner Mom, die fragte, wo zum Teufel ich steckte. Ich schrieb ihr, dass ich nach wie vor am Strand und noch nicht von Kriminellen entführt worden sei. Anschließend versuchte ich noch einmal, Malley anzurufen, die aber auch diesmal nicht reagierte.
Deshalb ging ich allein weiter, bis ich zu einem markierten Nest kam, das meiner Erinnerung nach bei unserer letzten Tour noch nicht da gewesen war. Der aufgehäufte Sand war frisch und locker. Ich setzte mich außerhalb des Absperrbandes auf die Erde, ohne meinen Baseballschläger loszulassen, den ich auf Anweisung meiner Mom zum Schutz immer bei mir haben muss, wenn ich nach Einbruch der Dunkelheit zum Strand gehe. Es ist ein Aluminiumschläger von Easton, der noch aus der Zeit stammt, als ich in der Little League spielte. Ich finde es ziemlich bescheuert, dass ich ihn ständig mitschleppen muss, aber ohne den Schläger würde Mom mich nicht aus dem Haus lassen. Da draußen gibt es zu viele Irre, sagt sie immer.
Das schräg aufs Wasser fallende Mondlicht ließ die Wellen wie goldenen und rosa schimmernden Schaum aussehen. Ich legte mich auf den Rücken, verschränkte die Arme hinterm Kopf und schloss die Augen. Der Wind ließ allmählich nach, und von Westen, das heißt vom Festland her, hörte ich das Pfeifen eines Zuges.
Das war aber nicht alles, was ich hörte. Ich hörte auch Atemgeräusche. Atemgeräusche, die nicht von mir stammten.
Zuerst dachte ich: Eine Schildkröte. Die Atemgeräusche klangen so feucht und flach, als würde Luft durch eine kaputte Pfeife gepresst.
Ich setzte mich auf und sah mich um, konnte jedoch keinerlei Spuren im Sand entdecken. Vielleicht war es ein alter Rotluchs, der mich von den Dünen aus beobachtete. Oder ein Waschbär. Waschbären graben gern die Nester von Schildkröten aus, um die Eier zu fressen. Ich klatschte mir mit dem Baseballschläger gegen die linke Handfläche, was ziemlich schmerzhaft war. Das Geräusch war laut genug, um die meisten Tiere zu verjagen, schaffte es aber nicht, das, was da in meiner Nähe atmete, aufzuscheuchen.
Ich hielt es für besser, mich davonzumachen, doch nachdem ich etwa vierzig Meter zurückgelegt hatte, drehte ich um und ging wieder zum Nest zurück. Was immer ich gehört hatte, konnte nicht sehr groß sein, weil ich es sonst entdeckt hätte. Auf einem leeren, vom Vollmond beschienenen Strand konnte man sich nirgendwo verstecken.
Als ich das Schildkrötennest erreicht hatte, legte ich meinen Baseballschläger auf die Erde und hielt die Hände hinter die Ohren, um das Geräusch der Wellen auszublenden. Das mysteriöse Atmen schien aus dem Nest zu kommen.
Ob das vielleicht ein Krebs ist?, überlegte ich. Ein Krebs mit Asthma?
Frisch gelegte Schildkröteneier geben keinen Mucks von sich. Das wusste ich ganz genau.
Vorsichtig stieg ich über das Absperrband und hockte mich hin. Das rasselnde Geräusch hielt an, langsam und gleichmäßig. Als ich mich weiter nach unten beugte, sah ich einen gestreiften Trinkstrohhalm aus dem Sand ragen, aus dem jedes Mal, wenn das unterirdische Wesen ausatmete, ein warmer Lufthauch ausgestoßen wurde.
Der Strohhalm ragte nur wenige Zentimeter hervor, doch das reichte mir, um ihn mit den Fingern zu packen. Als ich ihn aus dem Sand zog, hörten die Atemgeräusche abrupt auf.
Reglos stand ich da und wartete auf irgendeine Reaktion. Ich wollte nicht, dass das Wesen da unten erstickte. Ich wollte es nur dazu bringen, herauszukriechen, damit ich sehen konnte, was zum Teufel es eigentlich war. Außerdem hatte ich vor, mit meinem Handy ein Foto zu machen und es an Malley zu schicken.
Denn das musste ja wohl der raffinierteste Krebs der Welt sein, oder?
Doch während ich noch auf die Stelle starrte, an der sich der Strohhalm befunden hatte, explodierte das Schildkrötennest, und ein Mann schoss, Sand um sich spritzend, aus dem Boden. Ich glaube, mir blieb ungefähr zehn Sekunden lang das Herz stehen.
Hustend, fluchend und spuckend stand er vor mir. Er hatte die Statur eines Grizzlybären und einen langen, verfilzten Bart. Auf seinem Quadratschädel trug er (ich schwöre es!) eine geblümte Duschhaube. Und was noch seltsamer war: Seine Augen blickten in völlig unterschiedliche Richtungen.
Ich sprang über das Absperrband zurück und schnappte mir meinen Baseballschläger.
»Nun mal sachte, mein Junge«, sagte er.
Nachdem ich mich wieder beruhigt hatte, fragte ich: »Was machen Sie denn hier?«
»Ich bin am Ersticken. Dank dir.«
Ich wollte mich entschuldigen, brachte aber kein Wort heraus, weil ich total von den Socken war.
»Verrat mir mal deinen Namen«, forderte der Mann.
»R...R...Richard.«
»Nennt man dich Rick?«
»Nein.«
»Ricky? Oder Richie?«
»Nur Richard.«
»Erstaunlich. Ich glaube, deine Eltern gefallen mir.«
»Mensch, Sie können doch nicht in einem Schildkrötennest schlafen!«
»Was hast du mit meinem Strohhalm gemacht?« Er klopfte sich den Sand von der Kleidung. Der Mann war wie gesagt sehr groß. Eins neunzig oder vielleicht sogar zwei Meter. Er trug eine schäbige, alte Armeejacke und eine Camouflagehose und hatte einen verdreckten Seesack in der Hand.
»Dafür kommen Sie ins Gefängnis«, sagte ich.
»Ach ja?« Er drehte sich einmal um sich selbst und trampelte auf dem Sand herum. Ich hielt mir die Augen zu.
»Weißt du, Richard«, sagte er, als er fertig war, »das ist gar kein richtiges Schildkrötennest.«
Er riss die Stangen eine nach der anderen aus dem Boden und band sie mit dem pinkfarbenen Absperrband zusammen. Dann stopfte er das ganze Bündel in seinen Seesack und erklärte: »Ich habe auf jemanden gewartet.«
»Während Sie im Sand vergraben waren?«
»Es sollte eine Überraschung sein. Der Typ heißt Dodge Olney. Gräbt Schildkröteneier aus und verkauft sie für zwei Dollar pro Stück auf dem Schwarzmarkt. Eines Nachts wird er mich ausgraben.«
»Und dann?«, fragte ich.
»Dann werd ich ein bisschen mit ihm plaudern.«
»Warum rufen Sie nicht einfach die Polizei?«
»Olney ist schon drei Mal verhaftet worden, weil er Nester von Unechten Karettschildkröten ausgeraubt hat«, erklärte der Mann. »Der Aufenthalt im Gefängnis hat leider nichts zu seiner Besserung beigetragen. Ich werde die Sache anders angehen.«
Das sagte er völlig ruhig und ohne Zorn in der Stimme, aber so entschlossen, dass ich froh war, nicht Mr Olney zu sein.
»Sag mal, Richard, was machst du eigentlich hier draußen?«
Ich habe keine große Erfahrung mit Obdachlosen, deshalb war mir ziemlich mulmig zumute. Aber da er ein alter Mann war – vermutlich im selben Alter wie mein Opa –, kam ich zu dem Schluss, dass er mich nicht einholen würde, wenn ich davonrannte.
Als ich die Küste entlangblickte, stellte ich fest, dass ich allein war. Die Schildkröten-Leute, die mit ihren Taschenlampen herumfuchtelten, waren über hundert Meter weit weg. Auf der anderen Seite der Dünen befand sich eine Reihe von Häusern. Notfalls konnte ich also dort hinlaufen, an irgendeine Tür klopfen und um Hilfe rufen.
»Ich muss los«, sagte ich zu dem Fremden.
»Gute Idee.«
»Wenn Sie hier irgendwo ein Mädchen in meinem Alter sehen … das ist meine Cousine.« Ich wollte, dass er das wusste, falls er auf irgendwelche verrückten Ideen kommen sollte. Er merkte sicher, dass ich mir im Mondlicht sein Gesicht genau ansah und mir vor allem seine merkwürdigen Augen, die nicht zueinanderpassten, einprägte.
»Soll ich ihr sagen, dass sie dich anrufen soll?«, fragte er.
»Sprechen Sie sie lieber nicht an. Das würde sie erschrecken.«
»Verständlicherweise.«
»Vielleicht sollten Sie sich eine andere Stelle suchen, wo Sie sich aufs Ohr hauen können«, schlug ich vor.
Er grinste – dabei wurden die weißesten, strahlendsten, geradesten Zähne sichtbar, die ich je gesehen hatte. Nicht unbedingt das, was man bei einem schmuddeligen alten Typ, der aus einem Loch im Boden aufgetaucht war, erwarten würde.
»Mein Junge, ich bin bei dieser Jagd den ganzen Weg von Lauderdale gelaufen und habe jede Nacht am Strand geschlafen. Das waren über zweihundert Kilometer, und du bist der Erste, der daraus ein Problem macht.«
»Mach ich ja gar nicht«, erwiderte ich. »Das war nur ein Vorschlag.«
»Tja, und ich hab auch einen für dich: Geh nach Hause.«
»Wie heißen Sie?«, fragte ich.
»Damit du meinen Namen an die Cops weitergeben kannst? Nein, danke.«
Ich versprach ihm, nicht die Polizei zu rufen, was auch stimmte. Der Mann brach schließlich kein Gesetz, wenn er mit einem Strohhalm zum Atmen unter der Erde schlief. Eigentlich belästigte er niemanden und dann war ich aufgetaucht und hatte ihn gestört.
»Mein Name ist Clint Tyree«, teilte er mir mit, »obwohl ich ihn schon seit Jahren nicht mehr benutze. Und jetzt gute Nacht.«
Er ging am Ufer entlang davon. Ich setzte mich neben die Überreste des unechten Schildkrötennests, holte mein Handy heraus und googelte seinen Namen, um mich zu vergewissern, dass er nicht auf einer Homepage stand, wo Kinderschänder aufgelistet waren. Das war nicht der Fall.
Trotzdem wurde ich fündig.
Ich rannte ihm hinterher. Als ich ihn eingeholt hatte, teilte ich ihm mit, dass er laut Wikipedia tot sei.
»Wikiwas?«, fragte er.
»Das ist eine freie Enzyklopädie im Internet.«
»Davon hab ich so viel Ahnung wie ein Marsbewohner.« Er ging weiter, wobei die Wellen über seine Schuhe rollten.
»Mensch, ich würde wirklich zu gern Ihre Geschichte hören«, sagte ich.
»Erzähl mir erst mal von deiner Cousine. Du machst dir Sorgen um sie, stimmt’s?«
»Nicht wirklich.«
»Blödsinn.«
»Okay«, gab ich zu. »Ein bisschen schon. Wir wollten uns heute Abend hier treffen, aber sie ist nicht erschienen, was komisch ist.«
»Hast du versucht, sie anzurufen?«
»Na klar. Mehrmals.«
Der Mann nickte. »Halt mal mein Auge«, sagte er und holte sein linkes Auge heraus.
Als Malley mir endlich eine SMS schickte, lag ich schon im Bett. »Hab wieder Hausarrest«, schrieb sie. »Konnte mich nicht davonschleichen. Sorry.«
Eine absolut glaubwürdige Erklärung, die allerdings einen Haken hatte. Nachdem ich den Strand verlassen hatte, war ich zu ihrem Haus gelaufen und hatte gesehen, dass in ihrem Zimmer alles dunkel war. Dabei war Malley eine Nachteule und blieb immer bis weit nach Mitternacht auf. Es war aber erst halb elf, als ich hinter der Eiche vor ihrem Haus gekauert und ihr Fenster beobachtet hatte. Im Zimmer hatte kein Licht gebrannt, was bedeutete, dass Malley nicht zu Hause war.
Was wiederum bedeutete, dass sie keinen Hausarrest hatte.
Vom Bett aus simste ich zurück: »Alles okay?«
»Ja. Ruf dich morgen an.«
Natürlich konnte ich danach nicht einschlafen. Deshalb ging ich ins Wohnzimmer, wo Trent sich im Pay-TV ein Cagefighting-Match ansah. Ungelogen.
»Deine Mom schnarcht wie ein Büffel«, sagte er.
»Die schnarchen auch? Ich dachte immer, die schnauben nur.«
»Hey, Kumpel, bevor du dich hinsetzt … hol mir doch mal eine Flasche Mountain Dew aus dem Kühlschrank.«
Trent trinkt mehr Mountain Dew als jeder andere Mensch auf diesem Planeten. Das ist kaum mit anzusehen, weil er das Zeug so schnell in sich hineinschüttet, dass es ihm wie grüner Sabber vom Kinn tropft. Wir reden hier von mehreren Litern dieses extrem zuckerhaltigen und koffeinhaltigen Gesöffs am Tag.
Trotzdem holte ich ihm eine Flasche. Trent ist mein Stiefvater und wir kommen gut miteinander klar. Er behandelt mich wie seinen kleinen Bruder und ich behandle ihn genauso. Er ist harmlos, gutmütig und dumm wie Brot.
»Ist das Eis?«, fragte er mich.
Nein, Trent, das ist ein Käsebällchen mit Schokosoße.
»Willst du auch eins?«, erwiderte ich.
»Vielleicht später, Kumpel. Sind diese zwei Kerle nicht unglaublich?« Trent war süchtig nach Cagefighting. »Mann, siehst du das? Das ist echtes Blut!«, sagte er.
»Wow.« Mehr brachte ich nicht zustande. Ehrlich gesagt würde ich mir eher eine Doku über unseren ehemaligen Präsidenten Calvin Coolidge reinziehen, als mir anzusehen, wie sich zwei Blödmänner mit kurz geschorenen Haaren in einem überdimensionalen Hundezwinger gegenseitig zu Brei schlagen.
Mom hat Trent im letzten Dezember geheiratet, fast drei Jahre nach dem Tod meines Vaters. Dad war ein toller Typ und ich vermisse ihn sehr. Er war wesentlich klüger als Trent, ist aber auf echt blöde Weise umgekommen. Er wäre der Erste, der das zugeben würde.
Das Ganze ist folgendermaßen passiert: Nachdem er zwei Bier getrunken hatte, sprang er auf sein Skateboard und prallte mit voller Geschwindigkeit gegen das Heck eines geparkten Lieferwagens von UPS. Obwohl es ein großes Fahrzeug war, bemerkte mein Vater es nicht rechtzeitig, was daran lag, dass er damit beschäftigt war, einen Schokoriegel auszuwickeln, während er die Florida State Route A1A entlangsauste.
Natürlich trug er keinen Helm. Ich meine, wir reden hier von einem fünfundvierzigjährigen Mann, der am Georgia Institute of Technology seinen Master in Ingenieurwissenschaften gemacht hatte. Unglaublich.
Bei der Beerdigung stand einer seiner Skaterkumpel auf und sagte: »Wenigstens ist Randy gestorben, als er etwas gemacht hat, das er wirklich liebte.«
Was?, dachte ich. Hat er es etwa geliebt, dass ihm das Blut aus den Ohren floss?
In der Zeit danach war Mom völlig fertig, was sich erst gab, als sie Trent kennenlernte, dessen einziges Hobby Golf ist. Er arbeitet hier in Loggerhead Beach als Immobilienmakler, doch da die Geschäfte nur mau laufen, hat er viel Freizeit, was ihm nicht gut bekommt. Seine zweitliebste Fernsehsendung ist eine Realityshow mit dem Titel Die Bigfoot-Tagebücher.
Um Trent ein bisschen aufzuziehen, teilte ich ihm mit, dass ich am Strand einen Skunk Ape gesehen hätte.
»Erzähl keinen Scheiß«, erwiderte er.
»Na ja, zumindest hat er wie ein Skunk Ape gestunken
»Wart’s nur ab, Kumpel. Eines Tages wird man eines dieser haarigen Monster fangen. Ich freu mich heut schon darauf, dann deinen Gesichtsausdruck zu sehen.«
Trent glaubt ernsthaft an Bigfoots, Sasquatches und Skunk Apes, wie man sie bei uns in Florida nennt.
»Der, den ich kennengelernt habe, hatte ein Glasauge«, fuhr ich fort. »Ich hab ihm den Sand davon abgewischt.«
»Wirklich sehr komisch, Richard.« Er setzte die Flasche Mountain Dew an die Lippen und trank sie gluckernd aus. »Wie ich gehört habe, will man demnächst mit Drohnen Jagd auf sie machen. Wie bei den Taliban. Ist das nicht cool?«
»Supercool«, gab ich zurück und ging wieder ins Bett.
Bis ich einschlief, hörte ich mir Willie Nelson an, einen von Dads Lieblingssängern. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, hatte mir ein Mädchen namens Beth, Malleys beste Freundin im Leichtathletikteam, eine SMS geschickt.
»Sie ist abgehauen!«, teilte Beth mir mit.
»Abgehauen? Wohin?«, simste ich zurück
»Das hat sie nicht gesagt! Was sollen wir denn jetzt machen?«
 
 
 
 
 
 
 

2. Kapitel

Mein Onkel schien überrascht zu sein, mich zu sehen. Er hatte noch seine Arbeitskleidung an. Sein Name ist Dan. Er ist bei Florida Power & Light angestellt und fährt einen Lkw mit Arbeitsbühne.
»Ist Malley da?«, fragte ich.
»Nein, Richard. Sie ist gestern abgereist.«
»Wohin?«
»Zur Schule. Hat sie dir das nicht erzählt?«
»Ich dachte, der Unterricht fängt erst in ein paar Wochen an.«
»Komm doch rein«, sagte Onkel Dan. »Ich bin gerade von der Arbeit nach Hause gekommen.« In der Hurrikansaison übernimmt er gern die Nachtschicht, weil das besser bezahlt wird. »Möchtest du was zum Frühstück? Sandy schläft noch.«
Er schüttete mir Cornflakes in eine Schüssel und schnitt eine Banane hinein, die so alt und matschig war, dass selbst ein ausgehungerter Schimpanse sie verschmäht hätte.
»Also, Malley ist schon hingeflogen, um an einem Einführungskurs teilzunehmen«, erklärte er.
Ich nickte, während ich meine Cornflakes kaute, ohne die vergammelten braunen Scheiben anzurühren.
»Sie hat das Ganze völlig vergessen«, fuhr Onkel Dan fort, »bis dann vor zwei Tagen die Vertrauenslehrerin des Wohnheims anrief. Aber so ist Malley nun mal.«
»Typisch«, sagte ich.
Onkel Dan und Tante Sandy hatten beschlossen, Malley auf ein Mädcheninternat namens Twigg Academy zu schicken, hauptsächlich deswegen, weil sie sich nicht mehr tagtäglich mit ihr auseinandersetzen wollten. Malley ist ohne Frage eine echte Landplage.
Malley hatte mir erzählt, dass das Schulgeld an der Twigg Academy neununddreißig Mille pro Jahr betrug, wobei das Essen extra zu bezahlen war. Rechnete man noch die Kosten für Winterklamotten sowie für Flugtickets nach und von New Hampshire hinzu, dann konnte man sich nur fragen, wie ihre Eltern das Ganze finanzieren wollten. Malley vermutete, dass sie eine zweite Hypothek auf ihr Haus aufgenommen hatten, was hieß, dass sie ziemlich verzweifelt sein mussten.
»Komisch, dass sie dir nicht gesagt hat, dass sie abreist«, meinte Onkel Dan, »damit ihr euch noch voneinander verabschieden könnt.«
»Ist doch nicht so schlimm«, erwiderte ich, was absolut gelogen war.
Malley und ich wurden im Abstand von nur neun Tagen geboren. Abgesehen von den Ferien haben wir beide unser ganzes Leben in Loggerhead verbracht. Ich konnte mir sie einfach nicht an einem Ort vorstellen, wo es so kalt wurde, dass die Motoren der Autos einfroren. Genau genommen konnte ich sie mir auch nicht in einem Internat vorstellen. Malley in Schuluniform? Völlig ausgeschlossen.
»Hat sie denn viel mit dir darüber gesprochen, dass sie ins Internat geht?«, fragte Onkel Dan. »Weil wir den Eindruck hatten, dass sie sich irgendwie darauf freute. Ich glaube, wir alle brauchen eine Auszeit.«
»Sie schien es ganz okay zu finden«, erwiderte ich, was stimmte.
Als sie mir die Neuigkeit mitgeteilt hatte, war Malley erstaunlich ruhig und gelassen gewesen. Ich an ihrer Stelle wäre unglaublich sauer gewesen, wenn man mich auf irgendeine stinkvornehme Privatschule abgeschoben hätte.
New Hampshire? Im Ernst?
Trotzdem war ich nicht bereit, die Sache mit dem angeblichen Einführungskurs zu schlucken.
»Sie hat sich ein Buch von mir ausgeliehen«, sagte ich zu Onkel Dan. »Hast du was dagegen, wenn ich es mir hole?«
»Natürlich nicht, Richard.« Er versuchte gerade, mit dem digitalen Waffeleisen, das meine Mutter ihm zum Geburtstag geschenkt hatte, Waffeln zu backen. Die Programmierung des Dings war so kompliziert, dass er vollauf beschäftigt sein würde, während ich in Malleys Zimmer herumschnüffelte.
Ihr One-Direction-Poster hing immer noch an der Wand, ebenso die Poster von Bruno Mars und Jimi Hendrix Experience. Malley stand auf alle möglichen Arten von Musik. Der Wandschrank war nicht so leer, wie ich erwartet hatte, und mir fiel sofort auf, dass sie ihre Wintersachen nicht mitgenommen hatte. Im Schrank hingen ein dicker Parka, dessen Kapuze mit künstlichem Kaninchenfell besetzt war, sowie eine rote Fleecejacke, an der noch das Preisschild von L. L. Bean baumelte.
Na gut, es war ja erst August. Vielleicht hatte sie vor, kurz wieder nach Hause zu kommen und ihre Wintersachen zu holen, bevor es im Norden richtig kalt wurde. Oder vielleicht wollte Sandy alles zusammenpacken und ihr schicken.
Oder vielleicht war Malley gar nicht nach New Hampshire geflogen.
Ihr Laptop war weg, ihr Schreibtisch ausgeräumt. In einer Schublade lag allerdings ein weißer Umschlag, auf dem die Buchstaben T. C. und eine Adresse in Orlando standen.
T. C. war ein Typ namens Talbo Chock, der älter als Malley war. Er wohnte in der Nähe von Disney World und war angeblich ein ganz heißer DJ in einem Club. Malley war ihm noch nie persönlich begegnet, sondern hatte sich online mit ihm angefreundet, was superdämlich war. Das hatte ich ihr schon x-mal gesagt.
Obwohl der Umschlag nicht an mich adressiert war, machte ich ihn auf.
Er enthielt einen Brief in Malleys Handschrift: »Talbo, bitte vergiss mich nicht, wenn ich an dieser ätzenden Schule bin. Sieh zu, dass du einen Gig in Manchester an Land ziehst, damit wir endlich zusammenkommen können!«
Dem Brief lag ein Foto im Postkartenformat bei. Es war ihr Klassenfoto vom letzten Jahr, als sie noch ihre Zahnspange getragen hatte – eine Aufnahme, die sie nicht mochte und die sie nie an einen Typ geschickt hätte, den sie beeindrucken wollte.
Malley hatte immer ein paar süße Selfies auf ihrem iPhone. Davon hätte sie problemlos eines an Talbo Chock senden können. Den Text hätte sie ihm ebenfalls simsen können.
Aber das Ganze war gar nicht für T. C. bestimmt, und Malley hatte auch nicht vergessen, den Brief abzuschicken. Sie hatte ihn absichtlich in ihrem Schreibtisch zurückgelassen, damit ihre Eltern ihn fanden. Ich legte ihn in die Schublade zurück.
Sobald ich wieder zu Hause war, googelte ich die Adresse in Orlando, bei der es sich um ein Motel in der Nähe von Sea World handelte. Ich rief das Motel an und erfuhr – was mir einen ziemlichen Schock versetzte –, dass dort niemand namens Talbo Chock abgestiegen war.
Als Nächstes suchte ich die Nummer der Twigg Academy heraus und rief das Sekretariat an.
»Wann beginnt denn der Einführungskurs für neue Schüler?«, fragte ich die Dame am anderen Ende der Leitung.
»So etwas gibt es bei uns nicht«, teilte sie mir mit.
Danach rief ich sofort Beth an, um ihr alles zu erzählen. Sie war nicht besonders überrascht. Das Gespräch, das sie an diesem Morgen mit Malley geführt hatte, hatte kaum zwei Minuten gedauert.
»Sie hat mir eingeschärft, niemandem etwas zu verraten«, sagte Beth, »aber sie hat mir so wenig erzählt, dass es gar nichts zu verraten gibt.«
»Was ist mit Talbo Chock?«
»Sie hat nur gesagt: Mach dir keine Sorgen, das ist ein Mann von Welt
»Das war Jack the Ripper auch.«
»Ich hab Angst«, gab Beth zu.
»Ich werd versuchen, was rauszufinden.«
Der Fremde, der sich am Strand eingebuddelt hatte, war kein normaler Obdachloser, falls es so was überhaupt gibt. Vor langer, langer Zeit war er unglaublicherweise Gouverneur von Florida gewesen.
Laut Wikipedia war Clinton Tyree am College ein Footballstar gewesen, bevor er nach Vietnam gegangen war und jede Menge Tapferkeitsmedaillen eingeheimst hatte. Nach dem Krieg überredeten ihn ein paar Freunde, für das Amt des Gouverneurs zu kandidieren, obwohl er nichts von Politik hielt. Im Wahlkampf gab er das Versprechen ab, mit der Korruption in Tallahassee, der Hauptstadt unseres Bundesstaats, aufzuräumen, was er dann offenbar mit allen Kräften versuchte, bis er schließlich total frustriert und deprimiert war und – wie manche behaupteten – sogar den Verstand verlor.
Jedenfalls verschwand Clint Tyree, nachdem er die Hälfte seiner Amtszeit hinter sich gebracht hatte, von heute auf morgen aus dem Gouverneursgebäude. Niemand hatte den Mann entführt; er war einfach abgehauen. Seine politischen Feinde sagten, dies beweise, dass er verrückt sei, während seine Anhänger meinten, dass sein Untertauchen vielleicht eher das Gegenteil beweise.
Alle möglichen wilden Gerüchte kamen in Umlauf und einige davon stellten sich sogar als wahr heraus. Dem Eintrag bei Wikipedia zufolge wurde der Ex-Gouverneur zu einem umherziehenden Einsiedler in der Wildnis und im Laufe der Jahre war er bei mehreren »ökoterroristischen Taten« der Hauptverdächtige gewesen. Interessanterweise war er nie verhaftet oder eines ernsthaften Verbrechens bezichtigt worden, und ich hatte den Eindruck, dass seine Opfer ohnehin der letzte Abschaum waren.
Der Artikel im Internet enthielt auch Interviews mit einigen Zeugen, die Clinton Tyree angeblich zufällig begegnet waren. Die Leute sagten, er habe ein Auge verloren und nenne sich jetzt – nach einer Eidechsenart – »Skink«. Ob er verrückt war oder nicht – darüber gingen die Meinungen auseinander. Im neuesten Eintrag wurde der engste Freund des Gouverneurs, ein pensionierter Highway-Polizist namens Jim Tile, zitiert, der sagte: »Clint ist letztes Jahr im Big Cypress Swamp umgekommen, nachdem ihm eine Korallenotter in die Nase gebissen hatte. Ich habe ihn selbst begraben. Lassen Sie ihn jetzt bitte in Frieden ruhen.«
Bloß dass der Mann noch am Leben war.
Ich entdeckte ihn am Strand, ungefähr einen Kilometer von der Stelle entfernt, wo er in der Nacht zuvor gewesen war. Er hatte ein neues künstliches Schildkrötennest gebaut, sich allerdings noch nicht eingegraben. Im Moment kniete er neben dem pinkfarbenen Absperrband und zog einem Kaninchen das Fell ab.
»Ist überfahren worden«, erklärte er, als er meinen erstaunten Blick bemerkte.
»An der Ecke der Graham Street ist ein Imbissladen. Da könnte ich Ihnen ein Sandwich holen.«
»Ist nicht nötig, Richard.« Die Duschhaube saß wie ein Barett auf seinem Kopf. Jetzt bei Tageslicht konnte ich sehen, dass sie himmelblau war.
»Heute sind Sie nicht sehr weit gelaufen«, stellte ich fest.
»Stimmt.«
»Wieso nicht?«
»Vielleicht, weil ich zu alt und klapprig bin.«
Alt war er zwar, aber er sah sehr robust und zäh wie Leder aus, wie Trent immer über die Cagefighter im Fernsehen sagte.
»Ich habe Ihr Bild im Internet gefunden«, sagte ich, »eins von vor vierzig Jahren.«
»Zweifellos habe ich mich schlecht gehalten.«
»Selbst ohne den Bart habe ich sofort erkannt, dass Sie es sind.«
Der Bart war echt bizarr. Bei Mondlicht hatte er so imposant gewirkt wie der von Dumbledore. Jetzt sah ich jedoch, wie ungepflegt und schütter er war. An den Enden der zusammengedrehten Strähnen hatte Skink anscheinend Muschelteile befestigt – die sich jedoch als etwas anderes entpuppten, wenn man genauer hinsah.
»Sind diese Dinger da das, wofür ich sie halte?«, erkundigte ich mich.
»Das sind die Schnäbel von Vögeln.«
»Okay. Find ich nicht komisch.«
»Die Schnäbel von Truthahngeiern, Richard.«
»Aber … warum?«
»Weil das Geistesverwandte sind«, sagte er.
Im Sonnenlicht sah ich, dass sein richtiges Auge jägergrün war, während das künstliche – das ich gesäubert hatte – eine braune Farbe hatte und anders geformt war als das echte.
»Was gibt’s Neues von deiner Cousine?«, fragte er.
»Nichts Gutes. Ich glaube, sie ist mit einem Typen durchgebrannt, den sie online kennengelernt hat.«
»Das heißt, über den Computer.«
»Er ist älter als sie«, sagte ich.
»Wie viel älter?«
»Offenbar alt genug, um Auto zu fahren.«
»Das ist beunruhigend.« Skink wickelte das gehäutete Kaninchen in einen Lappen. Das Fell trug er zu den Dünen und warf es zwischen die Meertraubenbäume. Danach fragte er mich, was ich in puncto Malley vorhätte.
»Wahrscheinlich werd ich ihren Eltern alles erzählen. Heute hab ich ihr eine SMS geschickt und sie mehrmals angerufen, aber sie meldet sich nicht.«
»Ist das typisch für sie?«
»Manchmal schon«, antwortete ich.
Er setzte sich ein paar Meter von mir entfernt auf den Boden. Ich erzählte ihm, dass Malley behauptet hatte, an einem Einführungskurs teilzunehmen, den es an ihrer Schule aber gar nicht gab. »Der Brief, den sie zurückgelassen hat, ist ebenfalls erstunken und erlogen. Damit will sie nur ihre Eltern hinters Licht führen.«
»Verrat mir mal den Namen ihres neuen Boyfriends, Richard.«
»Talbo Chock.« Ich buchstabierte den Namen, obwohl ich selbst nicht genau wusste, wie er sich schrieb.
»Ich werd mal jemanden anrufen«, sagte er.
»Möchten Sie mein Handy benutzen?«
Skink lächelte. »Danke, aber ich habe selbst eins. Bei dem werden alle Anrufe blockiert, mit Ausnahme einer einzigen Nummer.«
»Hey, warum hat Ihr Freund Mr Tile diesem Journalisten erzählt, dass Sie tot sind?«
»Weil ich ihn darum gebeten habe. In etwa einer Stunde kannst du wieder herkommen.«
Während der Gouverneur telefonierte, ging ich zu einem Surfladen in der Kirk Street, wo mein Vater Stammkunde gewesen war. Deshalb kennen mich die Besitzer. Dort hatte mein Dad all seine Surfbretter gekauft und meine Brüder tun es nach wie vor. Bevor sie aufs College mussten, sind sie jeden Tag surfen gegangen. Da es in Gainesville keinen Strand gibt, leiden sie jetzt tierisch.
Ich bin kein Surfer, mag aber Badehosen und Flipflops, die im Sommer praktisch meine Standardkleidung darstellen. Gerade als ich einen Kleiderständer mit neuen Volcom-T-Shirts inspizierte, gab mein Handy ein hohes, stöhnendes Geräusch von sich, das die Leute immer zusammenzucken lässt, bis ich ihnen dann erkläre, dass das der Gesang eines Buckelwals ist. Ich ging zum Telefonieren nach draußen.
»Na, Richard?« Es war Malley.
»Wo bist du?«
»Sei nicht sauer, sonst leg ich gleich auf.«
Ich erwiderte, ich sei nicht sauer, nur enttäuscht.
»Tut mir leid, dass ich gestern Abend nicht kommen konnte«, sagte sie. »Hatte die Sache mit dem Einführungskurs völlig vergessen – muss ich irgendwie total verdrängt haben. Mom war stinkwütend, konnte mir aber noch ein Ticket für einen Nachtflug besorgen. War praktisch der letzte freie Platz im ganzen Flugzeug.«
»Wie schön«, sagte ich in sarkastischem Ton.
»Aber trotzdem hätte es fast nicht geklappt, weil die Security-Leute am Flughafen eine Flasche Vitaminwater in meinem Rucksack gefunden haben. Ungelogen! Einer der Typen hat mich aus der Schlange gezerrt und dann musste ich meinen ganzen Rucksack …«
»Vitaminwater?« Ich musste lachen. Malley war schwer in Form.
»Was ist denn daran so komisch, Richard? Vitaminwater ist doch der Hammer.«
»Ist ja auch egal. Warum hast du mir geschrieben, du hättest Hausarrest?« Ich versuchte, so leise wie möglich zu sprechen, weil ich direkt vor dem Laden stand und dauernd Kunden kamen und gingen.
»Zu dem Zeitpunkt konnte ich dich nicht anrufen«, erklärte meine Cousine, »und ich wollte nicht, dass du sauer auf mich bist, weil ich, ohne Tschüs zu sagen, abgeflogen bin.«
»Und jetzt bist du also in New Hampshire?«
»Ja. Hier ist es wie am Arsch der Welt, Richard.«
»Malley, an der Twigg Academy gibt es keine Einführungskurse«, sagte ich in ganz ruhigem Ton. »Ich habe im Sekretariat angerufen und mich erkundigt.«
»Was? Was hast du gemacht?«
»Deine Story ist aufgeflogen«, sagte ich. »Und jetzt verrat mir mal, wo du wirklich bist.«
In dem Moment legte sie auf, was nicht besonders überraschend war. Malley ist bekannt dafür, dass sie gern mitten im Gespräch auflegt. Normalerweise ruft sie dann fünf, höchstens zehn Minuten später zurück, diesmal aber nicht.
Während ich in Richtung Strand ging, kam eine SMS: »Wenn du mich bei meinen Eltern verpetzt, rede ich nie wieder mit dir!«
»Krieg dich wieder ein«, simste ich zurück.
»Ich erzähl deiner Mom, was in Saint Augustine passiert ist! Das schwöre ich bei Gott, Richard.«
»Das würdest du NIE tun.«
»Wart’s nur ab«, antwortete meine Cousine.
Plötzlich war mir übel. Nicht speiübel, sondern irgendwie mulmig.
Als ich den Strand erreichte, sammelte der Gouverneur gerade Krebse. Ich berichtete ihm, dass Malley sich endlich gemeldet habe und alles in Ordnung sei.
»Nein, mein Junge, ist es nicht«, entgegnete er.
Dann erzählte er mir etwas, bei dem mir noch mulmiger wurde.
 
 
 
 
 
 
 

3. Kapitel

Talbo Chock hatte beim U.S. Marine Corps in Afghanistan gedient. Er war in New Orleans geboren, wo er die ersten elf Jahre seines Lebens verbrachte. Dann war die Familie nach Fort Walton Beach in Florida gezogen. Auf der Highschool war Talbo Aufbauspieler der Basketballmannschaft gewesen. Sein Dad arbeitete auf einer Werft, seine Mutter war Buchhalterin und Sekretärin bei der Episkopalkirche.
Kurz nach seinem neunzehnten Geburtstag wurde der Versorgungslastwagen, den Talbo fuhr, von einer Mine in Stücke gerissen, und zwar an einem Ort namens Salim Aka, der, wie Skink erklärte, in der gefährlichen Provinz Kandahar lag. Die zwei anderen Marines im Wagen hatten schwer verletzt überlebt, während Talbo drei Wochen später in einem Militärkrankenhaus in Deutschland gestorben war.
Und jetzt hatte jemand seinen Namen gestohlen, jemand, der meine Cousine Malley dazu überredet hatte, mit ihm durchzubrennen.
»Woher wissen Sie denn das alles?«, fragte ich Skink.
»Aus zuverlässiger Quelle«, erwiderte er. »In der Zeitung von Pensacola stand damals ein kleiner Artikel über Corporal Chocks Tod. Sicher wäre ausführlicher darüber berichtet worden, wenn nicht am selben Tag ein Hurrikan im Nordwesten Floridas gewütet hätte. Der erste Name des Corporals war Earl, der zweite – sein Rufname – Talbo.«
Was erklärte, warum ich nicht fündig geworden war, als ich »Talbo Chock« gegoogelt hatte, nachdem Malley sich mit ihm angefreundet hatte.
Ich war wie vor den Kopf gestoßen. »Der Typ, der den Namen dieses Soldaten geklaut hat«, sagte ich, »könnte ein ziemlicher Mistkerl sein!«
»Mehr als wahrscheinlich.«
»Aber Malley weiß nichts davon. Malley ist …«
»In einer schlimmen Lage«, ergänzte Skink. »Du musst ihren Eltern sofort alles erzählen, Richard.«
Es heißt, jeder habe wenigstens ein Geheimnis. Kann sein, dass das stimmt. Mein Geheimnis war mehr als unschön. Ich meine, ich habe keine Bank ausgeraubt oder so, aber was ich gemacht habe, war immerhin so schwerwiegend, dass meine Mutter am Boden zerstört wäre, wenn sie es herausfände. Und die Chancen, dass Malley mich verpfeifen würde, wie sie angedroht hatte, standen mindestens fünfzig zu fünfzig. Bei Malley brennt nämlich schnell die Sicherung durch.
Deshalb sträubte sich der egoistische Teil von mir dagegen, ihren Eltern zu erzählen, dass sie mit diesem angeblichen Talbo Chock durchgebrannt war, weil ich Angst vor dem hatte, was meine Mutter tun würde, falls sie von Malley erfuhr, was in Saint Augustine passiert war.
Ich bemerkte, dass Skink mich mit seinem richtigen Auge eindringlich anstarrte. »Worauf wartest du denn noch, mein Junge?«, fragte er.
»Haben Sie schon mal was gemacht, wofür Sie sich echt geschämt haben?«
»Noch nie im Leben.«
»Ich meine es ernst.«
Er kicherte. »Über die ganzen Fehler, die ich gemacht habe, könnte ich Bände schreiben.«
»Vor ungefähr einem Jahr hab ich was Schlimmes gemacht … was Verbotenes … und Malley hat alles gesehen. Wenn ich ihren Eltern erzähle, dass sie nicht im Internat ist, verpfeift sie mich.«
»Würdest du es vorziehen, dass ihre Eltern es von den Cops erfahren?«, entgegnete Skink. »Nachdem sie ihre Leiche gefunden haben, meine ich.«
»Gott, sagen Sie doch nicht so was!«
Er setzte den Sack mit Krebsen ab. »Hör mal gut zu, Richard.« Er hatte die tiefste Stimme, die ich je gehört hatte. Sie hörte sich an wie das Grollen eines Donners. »Auch wenn du meinst, du hättest etwas Schreckliches gemacht – im Vergleich zum Leben deiner Cousine fällt das überhaupt nicht ins Gewicht.«
»Ja, ich weiß. Sie haben völlig recht.«
Er legte mir die Hände auf die Schultern. Dabei merkte ich, wie kräftig er war. »Dann geh jetzt«, sagte er.
Und ich gehorchte.
Trent war auf dem Golfplatz und Mom noch nicht von der Arbeit zurück. Da unsere Haustür wegen der hohen Luftfeuchtigkeit öfter klemmt, muss man manchmal mit der Schulter dagegendrücken. Nachdem ich mir etwas zu trinken geholt hatte, ging ich in mein Zimmer und schlug mit dem Baseballschläger auf die Matratze meines Betts ein. Was hatte meine Cousine sich eigentlich dabei gedacht, als sie sich mit diesem Arsch eingelassen hatte? Hatte sie den Verstand verloren?
Genau in dem Moment rief sie an, sodass ich die Möglichkeit hatte, sie selbst zu fragen.
»Er heißt gar nicht Talbo Chock!«, stieß ich hervor.
»Stimmt genau.«
»Wer ist er dann?«
»Du hast doch niemandem was erzählt, oder?«, fragte sie.
»Wo bist du?«
»Mann, Richard, hältst du mich für blöd, oder was?«
Ich war so froh, ihre Stimme zu hören, dass meine Wut im Nu verrauchte. Sie klang so cool und locker wie immer.
»Vielleicht ist der völlig durchgeknallt«, flüsterte ich.
»Ha! Vielleicht bin ich auch völlig durchgeknallt.«
»Hör auf rumzublödeln! Du weißt doch überhaupt nichts über ihn.«
»Du weißt doch gar nicht, was ich weiß«, sagte Malley.
Ich erwiderte, dass es völlig zwecklos sei, mir mit Saint Augustine zu drohen. Selbst wenn ich nichts verriet, würden ihre Eltern schließlich erfahren, dass sie nicht im Internat war.
»Ich brauche nur eine Woche«, erklärte sie. »Danach kannst du ihnen alles erzählen.«
»Eine Woche? Und was soll da passieren? Warum machst du das überhaupt?«
»Yolo«, gab sie in fröhlichem Ton zurück, die nervige Abkürzung von You only live once. Man lebt nur einmal.
»Schwache Leistung, Mal. Nur Knallköpfe sagen Yolo.«
»Muss jetzt Schluss machen.«
Nachdem sie aufgelegt hatte, checkte ich die Telefonliste, doch da stand nur: »Unterdrückte Nummer.« Dann rief ich bei Malley an, doch sofort meldete sich ihre Mailbox. Es war sinnlos, eine Nachricht zu hinterlassen – der Pseudo-Talbo- Chock kontrollierte wahrscheinlich ihre Anrufe.
Als ich hörte, wie meine Mutter zur Haustür hereinkam, atmete ich tief durch, zählte bis zwanzig und ging aus meinem Zimmer in die Küche. Mom umarmte mich und sagte, im Auto seien ein paar volle Einkaufstüten.
Ich rückte ihr einen Küchenstuhl zurecht. »Setz dich, Mom.«
Sie sah mich über ihre Sonnenbrille hinweg an. »Jetzt sofort, Richard? Lass uns doch erst mal die Tüten aus dem Auto holen. Sonst schmilzt Trents Eis.«
»Nein, wir müssen uns gleich unterhalten.«
»Worum geht’s denn? Ist was passiert?«
»Ich bin mir ziemlich sicher, dass Malley davongelaufen ist.«
»Oh.« Mom zuckte zwar nicht die Achseln, war aber auch nicht gerade erschüttert. »Es tut mir leid, das zu hören«, sagte sie.
»Diesmal ist es nicht so wie bei den anderen Malen.«
»Wie meinst du das, Richard?«
»Sie ist nicht allein«, erklärte ich. »Sie ist mit einem Typen zusammen, den sie online kennengelernt hat. Ich glaube, wir sollten Onkel Dan und Tante Sandy anrufen.«
Mom nahm ihre Sonnenbrille ab und blickte besorgt drein.
»Wie alt ist dieser Kerl?«, fragte sie.
»Malley hat mir nicht das Geringste verraten, sondern nur rumgezickt.« Ich berichtete ihr alles, was ich wusste, und erzählte auch von dem irreführenden Brief, den sie in ihrem Schreibtisch zurückgelassen hatte.