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Andrea Bottlinger • Christian Humberg

In

80

Welten

durch den Tag

Warum Geeks einfach
mehr (vom) Leben haben

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© 2015 by Amigo Grafik GbR. All rights reserved.

Print ISBN 978-3-86425-794-0 (April 2015)

WWW.CROSS-CULT.DE

Inhalt

Neuland

Expeditionen ins Geekreich

1. Etappe: Das eskapistische Manifest

Everyone’s a critic …

Unter uns

Nerdatlas

2. Etappe: Orte zum Wegwerfen

Geekeranto

Geek & Breakfast

Nerdatlas

3. Etappe: Oase mit fünfhundert Seiten

Haltung und Pflege eines Homo Leserattis

„Melusine. Kraweel, Kraweel!“

Lies schneller!

Nerdatlas

4. Etappe: Gelobtes Land Buchmesse

Geekeranto

Kamehame-Ha!

Nerdatlas

5. Etappe: Kintopp-Memoiren

Machen Sie mal Aaaaa…rrgh

Geek & Breakfast

Nerdatlas

6. Etappe: Treffpunkt Geek

Pow! Zapp! Seufz!

Brille auf, Brille ab

Nerdatlas

7. Etappe: Der Traum vom großen Wurf

Stolperfallen am Spieltisch

Auch Schaumstoffschwerter können wehtun

Nerdatlas

8. Etappe: Scheinwerferbräune

Ready, Freddy, Go!

Geek & Breakfast

Nerdatlas

9. Etappe: Cat Content is king!

Geekeranto

Vom Looten und Leveln

Geekeranto

Der Mond über der Wüste

Nerdatlas

10. Etappe: Der ganze Rest

Geekeranto

Man reiche mir einen Igor!

Unsere Prinzessin ist in einem anderen Schloss

Nerdatlas

Hin und wieder zurück

Geek & Breakfast

Auf den Schirm!

Ad Astra

Die Autoren

Der Zeichner

ROMANE BEI CROSS CULT

Der Eskapismus (Realitätsflucht) gilt als sogenannte Vermeidungshaltung, sagen die Psychologen. Eskapisten flüchten angeblich in fiktive Welten, mitunter sogar ins Irrationale, um sich Anforderungen und Erwartungen zu entziehen, die die reale Gesellschaft an sie stellt und die sie selbst unerfüllbar finden. Eskapismus gelte als soziale und mentale Abschirmung von der Normalität, so die Wissenschaft. Er werde oft von Drogenmissbrauch und übermäßigem Medienkonsum begleitet und sei eine Folge nicht bewältigter Frustrationen. Er könne zur Sucht werden.

Dieses Buch ist all denen gewidmet, die wenig auf anderer Leute Definitionen geben. Denen, die Tag für Tag aufs Neue in fiktive Welten entfliehen, aus Leidenschaft und Freude. Es wurde von zweien von ihnen geschrieben.

Neuland

Vorwort, in dem wir unseren Reiseleitern begegnen, die erste erstaunliche Entdeckung machen und mit der Kartografie der Zukunft beginnen

„Was kostet eigentlich die Welt?“, fragt Thomas, als er mit drei dampfenden Kaffeebechern vom Speisewagen zurückkehrt. Dann gibt er sich selbst seufzend die Antwort: „Jedenfalls ist der Bordkaffee hier echt teurer. Mann, haben die Preise …“

Wir sitzen im Intercity. Es ist später Sonntagabend, und einmal mehr liegen vier prall gefüllte Conventiontage hinter uns. Düsseldorf und die FedCon, Europas größte Fantastikveranstaltung, haben erneut nicht enttäuscht, und auch unsere dortigen Lesungen und Signierstunden waren ein großer Spaß. Entsprechend glücklich sind wir … und entsprechend müde.

Letzteres erklärt den Kaffee.

„Die Welt?“ Wir nehmen uns unsere Getränke und winken ab. „Die wollen wir gar nicht kaufen. Als Fantastik-Fan hast du deine eigenen, fiktiven Welten doch sowieso immer dabei. Da brauchst du keine überteuerte Realität.“

„Hm?“ Thomas sieht uns über den Rand seines Bechers hinweg fragend an. Im Fenster hinter ihm sehen wir das Rheinland vorbeiziehen. „Was soll das denn heißen? Niemand kommt an der Realität vorbei, ihr Träumer.“

Wir schmunzeln. „Sagt ja auch keiner. Aber wer Freude an der Fantasie hat, der unternimmt doch ständig kleine Ausflüge in die Fiktion. Sei es im heimischen Fernsehsessel, im Lesesaal der Bücherei oder eben auf Cons wie der in Düsseldorf. Als Fan – insbesondere als Fantastik-Geek – ist dir eine einzige Wirklichkeit nämlich längst nicht genug.“

Als hinge selbst das Schicksal derzeit an unseren Lippen, hält der Zug plötzlich an. Lautes Quietschen erfüllt den Waggon, und durch die Scheiben sehen wir einen Bahnhof, mit dem wir nicht gerechnet hatten.

„Remagen?“, murmelt Thomas perplex. „Was bremst der denn in Remagen?“

„Hier waren wir ja noch nie“, stimmen wir in seine Verblüffung ein. Dann bemerken wir ein schönes Haus, ein zweites, ein drittes. „Aber guck mal, das ist hübsch.“

Thomas klatscht so fest in die Hände, dass ihm ein Drittel seines Kaffees auf die Hosenbeine schwappt. „Das ist es!“, ruft er in einer Lautstärke, die vermutlich noch in der Lok gehört wird.

„Das ist was?“, fragen wir, während sich Menschen in den umliegenden Sitzreihen irritiert nach Thomas umdrehen und irgendein Schaffner per Lautsprecher etwas von außerplanmäßigem Zwischenstopp berichtet.

„Euer nächstes Buch.“ Thomas nickt begeistert. „Der neue Ansatz, den ihr Blindfische gar nicht mehr seht.“ Er deutet mit ausgestrecktem Arm gen Fenster. „Das da ist euer Thema!“

Ein Buch über Remagen? Wir bezweifeln stark, dass wir damit beim Verlag punkten können. Nichts gegen den Ort, den wir ja bis heute ohnehin nur vom Namen kannten, aber bemerkenswert geekig oder nerdig wirkt er auf den ersten Blick nicht gerade.

„Nicht über Remagen.“ Unser übereifriger Begleiter klingt wie ein Vater, der an seinen begriffsstutzigen Kindern verzweifelt. „Sondern über unbekannte Welten. Neue Gegenden. Über geekiges Terrain, auf dem viele Fans einfach noch nie waren. Weil sie den Blick über den Tellerrand ihrer eigenen Nischen, ihrer Lieblingsfranchises, scheuen.“

„Ein Buch für Entdecker“, staunen wir, „die Lust auf das gesamte Fantastik-Spektrum haben.“

„Und über die Fantasie, die ihnen ihre Alltagsausflüge in die Fiktion erst ermöglicht“, ergänzt Thomas. „Erinnert ihr euch, wie überheblich die Literaturkritik mit fantastischen Werken und Welten umgeht? Wie sie sie seit Menschengedenken als trivial und wertlos abkanzelt? Und doch ist genau dieses Geekig-Triviale aktuell der absolute Renner in Buchläden und an Kinokassen. Weltweit feiern die Fans den kommerziellen Siegeszug ihrer Subkultur, und im Internet mit seinen Fanfiction-Oasen, seinen Tumblrs und Boromir-Memes geben sie ohnehin längst den Ton an. Die Generation Geek ist da, liebe Leute – und wisst ihr, was sie ganz dringend braucht?“

Tatsächlich, wir wissen es. Auf einmal sehen wir es so klar vor uns wie den lauten Mann mit dem Kaffeefleck auf der Jeans. „Einen Reiseführer.“

Thomas grinst übers ganze Gesicht. „Bingo! Einen Almanach, richtig schön altmodisch, so wie es sie im vorletzten Jahrhundert gab. Voller Berichte über eure Expeditionen an reale und erfundene Orte, die euch Fans so wertvoll und bedeutend sind.“

„Heilig“, betonen wir. Abermals denken wir an die vergangenen Tage auf der Convention. An die vollen Gänge, die tollen Erlebnisse, die freudigen Mienen. Ja, das war wirklich ein heiliger Ort, irgendwie. Zumindest für uns. Zumindest für vier Tage.

„Heilig.“ Thomas nickt. „Ein Reiseführer zu den heiligen Orten eurer Subkultur. Expeditionen ins Reich der Geeks. Lustig formuliert, aber auch informativ. Für alle, die noch nie in, hüstel, Remagen, hüstel, waren oder sich immer wieder gern dorthin zurückdenken.“

„Nach Hogwarts“, fabulieren wir los. „Nach Arrakis. Nach Mittelerde und auf die Brücke des Todessterns.“

„Und zu den Stellen, an denen die Mauern der echten Wirklichkeit für kurze Zeit ein wenig dünner sind als anderswo. An denen etwas von der ach so furchtbar trivialen Fantastik in den Alltag hinüberschwappt.“ Thomas sieht uns wissend an. „Conhotels. Lesungsbühnen. Kinos. Foren.“

„Heilige Orte.“

Geekige Orte.“

„In 80 Welten durch den Tag“, sehen wir mit einem Mal den Titel vor uns. „Warum Geeks einfach mehr vom Leben haben. Und mehr Leben, gewissermaßen.“

Thomas nippt an seinem Rest Kaffee und lächelt schelmisch. „Jules Verne kann sich schon mal warm anziehen.“

Wir zerren den Laptop aus dem Koffer. Als der Intercity endlich weiterfährt, schreiben wir bereits am ersten Kapitel.

Expeditionen
ins Geekreich

Eine Bedienungsanleitung für dieses Buch

Konträr zur Ansicht gewisser engstirniger Personen, welche die menschliche Spezies bevorzugt auf die Erde beschränkt wüssten, als sei sie ein magischer und keinesfalls zu übertretender Kreis, werden wir eines Tages zum Mond reisen, zu den Planeten und Sternen, und zwar ebenso mühelos, zeitig und gewiss, wie wir heute die Fahrt von Liverpool nach New York meistern!– Jules Verne, Von der Erde zum Mond (1865)

Hochverehrte Passagiere,

treten Sie ruhig näher. Die Schotten werden gleich erst geschlossen, die Planken erst allmählich eingeholt. Noch können Sie also getrost zu uns an Bord. Der Almanach, welchen Sie soeben in Händen halten, soll ihr Begleiter auf der Reise sein, die gemeinsam mit uns anzutreten wir Sie auf den folgenden Seiten einladen möchten; er wird uns durch fremde Lande und an faszinierende Häfen führen, wie es sie – so dürfen wir ob der Route wohl getrost behaupten – fantastischer nirgends gibt. Lassen Sie die Schranken der Naturgesetze und die Verfechter der Normalität also weit hinter sich, für die allein selig machend ist, was man mit nacktem Auge sieht. Wir, die wir zur weltweiten Gemeinschaft der Geeks und Nerds zählen, wissen es schlicht besser. Wir verstehen, auch im Alltag das All zu finden. Wir bringen den Fan in die Fantasie.

Dieses Buch zeigt Ihnen das Wie, das Wo und das Warum. Es feiert das Triviale, zelebriert den Eskapismus und macht jenen, die über beides ihre Nase rümpfen, genüsslich grinsend eine lange solche.

Ihre Expeditionsleiter Bottlinger und Humberg scheuten weder Gefahr noch Entbehrung, um an exotischen Plätzen wie Convention-Hallen, Buchmessen und Lichtspielhäusern dem Phänomen namens Fantasie auf den Grund zu gehen. Sie lebten unter bunt kostümierten Cosplayern, lauschten den Stammesältesten der unterschiedlichsten Fandoms, wagten sich in die tiefsten Tiefen des Klischees und vor die elfenbeinfarbenen Paläste der Traumfabriken, um uns von ihren Erlebnissen zu berichten. Ihre Erkenntnisse sollen uns der Kompass zu unseren eigenen sein.

Wagen wir uns also gemeinsam in die unendlichen Weiten! Es erwarten uns informative Abhandlungen über diverse Aspekte der Fantastik, humorvoll überspitzte Gattungsdefinitionen, Erinnerungen und Ausblicke. Ein Buch, so bunt und fröhlich wie die Fantastik selbst.

Die Segel sind gehisst, die Maschinen dampfen. Der Kapitän nickt von der Brücke herab und hat bereits den Horizont im Blick. Schmettern wir dem Himmel über unserem Mast also ein letztes „Geronimo!“ und „So say we all!“ entgegen, dann legen wir ab. Von dieser in achtzig weitere Welten, die gleich nebenan auf uns warten.

Energie!

1. Etappe:
Das eskapistische
Manifest

auf der uns Herr Humberg zeigt:
„Die tun nichts, die wollen nur spinnen“

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„Tja“, sagt der Zahnarzt und sieht mich über seinem Mundschutz teilnahmsvoll an. „Das nützt nichts. Da müssen wir bohren.“

Ich zucke mit den Schultern. Wenn Sie das sagen, wird das so sein, will ich erwidern. Legen Sie los. Was dann über meine Lippen dringt, sind allerdings andere Worte. Worte, die zwar ganz Ähnliches kommunizieren, mir aber irgendwie näher sind.

„Sie sind der Doc, Doc“, sage ich – dann muss ich grinsen. Und während er mit verständnislosem Stirnrunzeln zu bohren beginnt, denke ich an einen meiner Lieblingsfilme.

Dann sitze ich im Bus. Hauptbahnhof, alles raus, alles rein. Als sich die Türen endlich wieder schließen und das Motorenbrummen lauter wird, lehne ich mich ganz reflexartig in meinem Sitz vor, richte den Blick geradeaus, als wäre ich ein bekannter, fast ganz kahlköpfiger britischer Charakterdarsteller älteren Baujahrs. Und just als der Bus losfährt, murmele ich „Energie!“

Und plötzlich dreht sich meine Begleitung zu mir um. „Warum machst du das eigentlich immer?“

„Hm?“, erwidere ich verwundert.

„Nahezu jedes Mal.“ Sie seufzt und sieht dabei echt ratlos aus. Es steckt Frust in ihrem Tonfall. „Kaum fahren wir los, brummelst du dir dein ‚Energie!‘ in den Bart. Manchmal streckst du dabei sogar Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand nach vorn, als hättest du gerade wem einen Befehl gegeben. Beim Frühstück verlangst du ausnahmslos immer nach ‚Earl Grey. Heiß.‘ Verlierst du beim Mau-Mau, verziehst du theatralisch das Gesicht und rufst nach Olli Kahn oder so. Und wenn mal jemand sagt, er habe mit irgendetwas nicht gerechnet, erwiderst du in neun von zehn Fällen sofort und ungefragt, niemand rechne mit der Spanischen Inquisition.“ Wieder ein Seufzer. „Dabei ist von der nun wirklich nie die Rede! Ernsthaft: Bist du krank im Kopf oder so?“

Krank? Ich will gerade vehement verneinen, da macht etwas hinter meiner Stirn klick. „Vielleicht“, antworte ich und schmunzele.

„Was für eine Krankheit soll das denn sein, hm? Dummschwätzeritis?“

Ich schüttele den Kopf. „Tourette“, sage ich. „Geek-Tourette.“

Das kommt hin, oder? Seit ich denken kann, habe ich den unwiderstehlichen Drang, Zitate aus Filmen und Serien, die ich mag, im Alltag anzuwenden. Wo immer sie passen. Beim Zahnarzt bringe ich „Zurück in die Zukunft“ zu Gehör, im Bus spiele ich leise einen Moment aus „Star Trek: The Next Generation“ nach, und ein wenig Monty Python hat meines Erachtens auch noch nirgends geschadet.

Wenn Sie dieses Buch für sich selbst gekauft haben, geht es Ihnen da vermutlich nicht völlig anders. Warum ich das mache? Keinen Schimmer, echt nicht. Es bereitet mir Spaß. Und ich erwarte auch wirklich nicht, damit verstanden zu werden – ich zitiere diese Textstellen nicht für mein jeweiliges Gegenüber, nicht für den Zahnarzt oder Busfahrer. Ich zitiere sie ganz allein für mich. Als mein kleines Privatvergnügen.

Ich mag die Geschichten und fiktiven Wirklichkeiten eben zu sehr – und habe sie nicht selten auch viel zu oft gesehen/gehört/gelesen –, als dass ich sie vergessen könnte. Und ich weiß, dass ich da längst nicht allein bin.

Geeks, Nerds, Fans – wir genießen die Dinge, die uns gefallen, nicht einfach. Wir feiern sie. Auf großen Veranstaltungen wie mehrtägigen Conventions, auf kleineren wie dem örtlichen Fanclubstammtisch und im ganz Kleinen, nämlich daheim im Fernseh- und Lesesessel, im Kino … und im Alltag. Wir, die wir mit akuter Dummschwätzeritis infiziert sind, können gar nicht anders, nein: wollen gar nicht anders, als unsere Lieblingssymptome in die Realität mitzunehmen. Schlicht und ergreifend aus Spaß an der Sache. Schon als Kind machten uns langweilige Sonntagsspaziergänge deutlich mehr Freude, wenn wir uns einbildeten, sie führten, statt durch das immergleiche Wäldchen hinter dem Haus, zur Abwechslung mal durch Mordor. Geeks können, nein: wollen es sich gar nicht verkneifen, „Shuttle“ zu sagen, wenn sie von ihrem Auto sprechen, oder den Partner morgens mit einem Nicken und einem respektvollen „Nummer Eins“ zu begrüßen.

Gut möglich, dass das unser Umfeld mitunter, na, sagen wir, verwirrt. Wir finden aber, es macht das Leben lustiger. Bunter. Fantastischer.

Zumindest unseres …

G’Kars Weisheit

Und es baut Brücken. Fragen Sie jeden Geek, den Sie möchten – Sie werden stets eine Variante der folgenden „Origin Story“ zu hören bekommen. Die Details werden andere sein, der inhaltliche Kern bleibt aber relativ identisch. Dessen sind wir uns sicher. Und so, wie es die Folgende ist, werden auch die anderen Geschichten absolut wahr sein. Selbst wenn Sie sie nicht glauben sollten.

Die Sache war bei mir nämlich die: Die TV-Serie „Babylon 5“ flimmerte gerade über deutsche Fernsehschirme und brannte sich auf ewig längst nicht nur in mein Hirn, als ich erstmals meine spätere Universität besuchte. Und das absolut allererste, was ich von dem altehrwürdigen Campus sah, war ein Wahlplakat auf seinem Parkplatz. Ich entsinne mich längst nicht mehr, welche Hochschulgruppe dort gerade um einen Posten im Studierendenparlament warb, aber ich kann den Inhalt des Plakates bis zum heutigen Tag wörtlich und fehlerfrei wiedergeben, so sehr verblüffte und begeisterte er mich. „Wir“, stand dort nämlich in pechschwarzen Lettern auf weißem Grund, „sind gegen die Besetzung des Planeten Narn durch die Centauri.“

Mitten in der Normalität. Schlimmer noch: auf dem Gelände einer Uni. Eines Elfenbeinturms der Hochkultur.

Da forderte niemand günstigeres Mensaessen oder den autofreien Campus. Kein junger Politiker trat dort gerade für längere Öffnungszeiten in der Bibliothek ein oder für mehr Kaffeeautomaten im English Department.

Sondern für die Freiheit einer unterdrückten Spezies aus einer Science-Fiction-Serie mit billigen Spezialeffekten und völlig durchgeknallten Kostümbildnern.

Ich verliebte mich sofort. Ich weiß noch sehr genau, dass ich mit offenem Mund vor diesem Plakat – meinem ganz persönlichen Empfangskomitee, das nicht besser zu mir hätte passen können – gestanden und es sekundenlang einfach nur angeglotzt habe. Zwei sehr wichtige Sachen wurden mir in diesen Sekunden klar.

Erstens: Nur ein Bruchteil der Leute, die hier parkten, würde die Pointe verstehen, bezog sich das Plakat doch eindeutig auf „Babylon 5“ und nicht auf die Uni, aber man hatte es trotzdem hier aufgestellt. Vermutlich, weil man nicht anders konnte, nein: wollte. Das verstand ich gut.

Und zweitens: Ich hatte mich definitiv für die richtige Hochschule entschieden. Ich war, anders ausgedrückt, soeben, ohne es zu ahnen, daheim angekommen. Das war die Aussage, die von dem Plakat zu mir durchdrang. Und ich würde dort mit Sicherheit schon bald Menschen meines Schlages finden. Menschen, die das Verhalten der ebenso aggressiven wie lächerlich grottig frisierten Centauri so sehr verdammten wie diese herrlich alberne Hochschulpartei und ich1.

Fans.

Geeks.

Leute, denen eine einzige Wirklichkeit längst nicht genügte.

Der Schund vom Schund

Als es Michael Ende zu schlimm wurde, zog er weg. „Richtiggehend erstickend“ fand der große Schriftsteller, dem wir Werke wie „Die unendliche Geschichte“ und Figuren wie Jim Knopf verdanken, wie engstirnig die Intelligenzija des Landes mit dem Genre umging, das er liebte. Fantastik, so hatte man ihn nämlich wiederholt wissen lassen, sei keine „anständige“ Literatur, sondern bloß trivialer Kram und eines echten Schriftstellers unwürdig. Nichts von Wert. Die Fantastik sei gewissermaßen kein Sujet für Erwachsene mit voll funktionierenden Gehirnen.

Ende war in guter Gesellschaft. Der Eskapismus-Vorwurf ist im Grunde so alt wie die fantastische Fiktion und so ziemlich jedem ihrer Schöpfer bereits gemacht worden. Überall, wo jemand unterhaltende Geschichten erzählt – oder „nur“ öffentlich genießt –, deren Schauplätze und Personal nicht unbedingt der Wirklichkeit entspringen, gibt es mindestens einen zweiten, der ihm unterstellt, vor der Realität zu fliehen. Nicht seriös genug zu sein. Zeit zu vergeuden. Zu träumen.

Kann uns mal wer erklären, was am Träumen schlimm sein soll?

Wir Leser, Zuhörer, Zuschauer und Fantasten träumen nämlich mit großer Begeisterung. Wir denken uns sehr gern in die fiktiven Wirklichkeiten, die Erzähler wie Michael Ende für uns erschaffen – und nicht selten beschäftigen wir uns noch weit nach dem Ende der Lektüre mit ihnen. Das macht uns zu Fans. Das befeuert unsere eigene Kreativität. Das eröffnet uns faszinierende Freundschaften mit Gleichgesinnten.

Sind wir unseriös, wenn wir im selbst genähten Doctor-Who-Kostüm auf einem Szenetreffen erscheinen? Wir wären es vermutlich in unserer Bankfiliale oder beim Zahnarzt, aber unter Unseresgleichen? Unter Geeks?

Ertragen wir die Realität nicht, wenn wir uns nach Feierabend eine Fortsetzung unserer Lieblingsfilme ausdenken? Fliehen wir vor unseren Frustrationen, wenn wir im Keller an einem maßstabsgetreuen Modell der SOL aus den Perry-Rhodan-Romanen basteln? Haben wir Probleme im Zwischenmenschlichen, wenn wir klingonische Vokabeln lernen, bei „Game of Thrones“ mitsprechen können und genau wissen, wie die Abenteuer im Marvel Cinematic Universe miteinander verzahnt sind?

Oder haben wir einfach nur Spaß?

Um die vorletzte Jahrhundertwende attestierte sich die deutsche Buchbranche, drei Viertel des Publikums, das sich primär für unterhaltende (soll heißen: „nur“ triviale) Werke interessiere, haben das Nervenkostüm eines Grobschmieds – und leider auch bloß dessen Geschmack. In diesen Texten müsse es also bedauerlich oft ordentlich rumsen, knallen und zur Sache gehen; nur dann fühle sich die Zielgruppe auch angesprochen. Mit wahrer literarischer Qualität und Anspruch könne so ein Grobschmied ja leider nichts anfangen.

Gut fünfzig Jahre später ging der US-amerikanische Psychiater Fredric Wertham sogar noch weiter, als er mit seinem Buch „Seduction of the Innocent“ einen wahren Kreuzzug gegen die damalige Comic-Industrie lostrat, im Zuge dessen es zu Bücherverbrennungen und politischer Einflussnahme auf die Branche kam2.

Und das sind nur zwei von zahlreichen Beispielen, die wir aufführen könnten. Sie alle würden dasselbe belegen: Die Produkte der Fantasie wurden schon oft dem Vorwurf der Minderwertigkeit ausgesetzt, als Schund und Schmutz verschrien. Ihre Schöpfer und Themen sind dem Feuilleton suspekt3, ihre Anhänger gelten als schrill und realitätsfern oder werden von den Medien aus Gründen der dramaturgischen Überspitzung zumindest gern so dargestellt.

Ich bin mir nicht sicher, ob meine Begleitung aus dem Captain-Picard-Gedächtnisbus ihnen da allzu überzeugt widerspräche …

Dreams are my reality

Dabei müsste sie es eigentlich, oder? Wir tun doch niemandem weh. Im Gegenteil, wir sorgen durch dieses kleine bisschen All im Alltag, diesen Schuss Fantasie in unserer Reality dafür, dass uns der ganz normale Trott weniger wehtut. Und wir sind mehr als bereit, diesen Trick mit anderen zu teilen.

Das wirkt, ganz ehrlich. Wenn man dem ungezogenen Nachwuchs ein „Ich bin dein Vater, Luke“ an den Kopf werfen, den Hausarzt mit „Hallo, Pille“ begrüßen (sowie verwirren) und nach einem katastrophalen Tag im Büro den Blick zur Decke richten und „Computer? Programm beenden!“ befehlen kann. Danach geht es uns besser – und Ihnen auch, sollten Sie die Zitate erkannt und darüber geschmunzelt haben. Lachen ist die beste Medizin, und was kümmert es uns, ob wir die Einzigen sind, die sie einnehmen?

Übrigens werden wir immer mehr. Die Geek-Kultur ist längst kein Nischending mehr, und ein Gutteil derer, die heute in Unternehmen wie Microsoft und Apple, in Hollywood und sogar im Weißen Haus unsere Gegenwart prägen, wurden früher genau wie wir auf dem Schulhof gehänselt, weil sie sich für andere Dinge begeisterten als die Masse. Dinge, deren Wertschätzung vielleicht etwas mehr Grips erforderte. Etwas mehr Fantasie.

Ist es da nicht sogar angebracht, unsere Kultur ein wenig zu feiern – und zwar nicht allein im stillen Kämmerchen, sondern … überall? Da ist sie nämlich schon längst. Geekaffine Produkte sind in Hollywood seit Jahren der heiße Scheiß, und als Menschen, die in ihrer Jugend echt Himmel und Erde in Bewegung setzen mussten, um an Raumschiff-Enterprise-Merchandise ranzukommen, verblüfft und begeistert es uns Autoren dieses Buches zutiefst, dass die heutige Generation von Kindern schon im EDEKA am Ende der Straße im Prinzip alles findet, was ihr Jedi-Herz begehrt.

Was früher Nische war, wird zusehends Mainstream. Doch anders als bei früheren ähnlichen Entwicklungen scheint der Mainstream unserer Nische diesmal nicht den Schneid abzukaufen. Weil es diesmal nicht um einzelne Produkte und Themen der Nische geht – also nicht um „Akte X“, beispielsweise, das uncool wurde, als es irgendwann echt jeder guckte –, sondern um das Lebensgefühl Nische selbst. Geek ist chic.

Heilige Orte

Also: Was soll’s, wenn wir Fans fröhlich mit Filmzitaten um uns werfen? Wen kümmert’s, wenn wir als Weeping Angel auf die Con fahren, als Sailor Moon zum Anime-Treffen auf der Buchmesse? Das ist keine Flucht vor der Wirklichkeit und kein Ausdruck von Frustration. Im Gegenteil: Wir wären viel eher frustriert, wenn wir’s nicht täten. Es macht doch Spaß. (Ganz ehrlich gesagt, machen die fragenden Blicke der Passanten sogar erst recht Spaß.)

Es liegt ein Zauber in diesen Momenten und in den Orten, an denen wir unseren Spaß ausleben. Einer, der sie uns zu besonderen Orten macht, gewissermaßen zu heiligen Orten auf Zeit. Außenstehenden mag so eine Mehrzweckhalle im hessischen Niemandsland zweckmäßig und nüchtern erscheinen, für die deutsche Geek-Szene wird sie aber zum Mekka, wenn wieder der legendäre Buchmesse Convent stattfindet und sich Hunderte von Autoren, Verlegern, Grafikern und Lesern darin tummeln. Normale Hotelgäste dürften nicht verstehen, was all die so seltsam Kostümierten in der Bar des Düsseldorfer Maritim-Hotels wollen, wenn wieder die FedCon stattfindet. Sicher wundern sich auch die Einwohner des amerikanischen Städtchens Snoqualmie, Washington, warum Jahr für Jahr Unmengen an Besuchern aus aller Welt extra anreisen, um sich dort gegenseitig vor dem Waldrand zu fotografieren und danach Kirschkuchen zu futtern, als gäbe es kein Morgen mehr4. Und wer unseren „Glauben“ nicht teilt, für den ist die Brücke des vom wackeren Han Solo gesteuerten Millennium-Falken auch nur ein Filmset aus Sperrholz, Farbe und blinkender Pseudo-Elektronik – aber als Regisseur und Podcast-Legende Kevin Smith sie während der Dreharbeiten zu „Star Wars: Das Erwachen der Macht“ besuchte, schossen ihm die Tränen in die Augen. Verständlich, finden wir.

Heilige Orte. Heilig, weil die Fantasie sie dazu macht. Weil sie es für einen mal kurzen, mal wiederkehrenden und – etwa bei Drehorten wie Snoqualmie oder den anderen im Folgenden präsentierten Beispielen – mal auch längeren Zeitraum sein dürfen. Weil Fans sie dazu erklären. Weil Fans ihnen Bedeutung geben.

Und sie den Fans.

Völker, hört die (außerirdischen) Signale

Es ist also dringend an der Zeit, den gepflegten Eskapismus mal ordentlich zu feiern, finden Sie nicht auch? Genau das will dieses Buch. Die folgenden Kapitel werden Sie an reale und fiktive Orte führen, die unserer immer populärer werdenden Subkultur wichtig sind. Heilig, gewissermaßen. Diese Kapitel sind Ihnen und uns Reiseführer und Reisebegleitung in einem. Sie bringen uns durch die Galaxis, ohne dass wir per Anhalter fahren müssten, und in bester Hobbit-Tradition hin und wieder zurück. Sie kennen die Hotelpreise in R’lyeh, die schönsten Wanderstrecken Mittelerdes und die einheimische Küche auf Kronos.

Und für all das müssen wir nicht einmal aus unserem Lesesessel aufstehen. Denn im All namens Alltag zeigt uns, die wir mit der unheilbaren Krankheit Fantastik infiziert sind, das Kopfkino die schönsten Filme. Genießen wir sie. Ganz egal, was die Realitätsfanatiker davon halten.

Anstatt uns richtiggehend eingeengt zu fühlen, wie es Michael Ende tat, oder vor den blasierten Ansichten der Literaturkritik zu kapitulieren … anstatt mit eingezogenem Kopf und unter weitem Mantel verstecktem Kostüm zum Fantreffen zu schleichen … anstatt, anders ausgedrückt, uns wie frustrierte Realitätsvermeider vorzukommen, wenn die Normalität uns das mal wieder vorwirft, sollten wir unsere Geek-Fahnen noch stolzer schwenken als ohnehin und Rocky Horrors alten (und herrlich unheiligen) Timewarp schneller tanzen denn je zuvor. Nur so zeigen wir den Werthams und „Schundliteratur“-Rufern dieser Welt, dass wir im Gegensatz zu ihnen noch viele weitere Welten kennen (und mitunter sogar täglich betreten). Für Leute mit Fantasie sind das Sternenflottenhauptquartier, der Strand hinter Innsmouth, die Brücke der Serenity und die saftigen Wiesen des Auenlands eben immer nur einen Katzensprung entfernt.

Sie wissen schon: It’s just a jump to the left (And then a step to the riiiight …).

Ach, Sie wollten auch gerade Rocky Horror zitieren? Weil’s so schön gepasst hat?

Sieh an, sieh an. Was ist denn los mit Ihnen? Sind Sie krank im Kopf oder so …?

1Seitdem sind zwanzig Jahre vergangen. Ich wohne immer noch dort. Ich habe sie gefunden.

2Inwiefern Werthams Zorn angebracht war, möge jeder selbst entscheiden. Die Autoren dieses Buches weigern sich jedenfalls, jemanden ernst zu nehmen, der die Schlinge von Wonder Womans Lasso für ein Vaginasymbol und jugendliche Comicleser für werdende Drogenhändler hielt.

3„Vampire, Trolle, Elfen, Morde. Es ist entsetzlich“, so Literaturkritikerin Elke Heidenreich 2011 in einem FOCUS-Interview über die verkaufsträchtigsten Genres im aktuellen Buchhandel.

4In Snoqualmie wurde (und wird aktuell wieder!) die Kultserie „Twin Peaks“ von David Lynch gedreht, die für einen der zwei Autoren dieses Buches wichtiger ist als ein Dach über dem Kopf. Deutlich wichtiger.

Everyone’s a critic …

Wie man die Sprache der Feuilletonisten versteht

Fantastik und das Feuilleton, das ist eine seltsame Hass-Liebe. Denn für die Fantastik gilt bei den Feuilletonisten eine ganz besondere Regel: Man bespricht nicht einfach nur ein Buch oder einen Film. Das ist komplett unmöglich. Wenn, dann fällt man ein Urteil über das ganze Genre.

In anderen Genres ist es natürlich gang und gäbe, ein Werk zu betrachten, ohne von ihm auf alle anderen Werke zu schließen, auf deren Cover dieselbe Genrebezeichnung steht. Wenn der neue Dan Brown schlecht ist, dann ist das Dan Browns Schuld, nicht die aller Thriller-Schreiber vom Anbeginn der Zeit an. Ist dagegen der dritte Teil vom „Hobbit“ schlecht5, dann liegt das für das Feuilleton fundamental im Genre begründet und nicht etwa daran, dass Peter Jackson ein kurzes Kinderbuch auf drei Teile aufgeblasen hat.

Fantastik-Fans stehen solchen Kritiker-Ergüssen meist etwas ratlos gegenüber. Was tun? Sich aufregen? Lachen? Das Blatt als Notfall-Klopapier im Bad lagern?

Wir haben etwas ganz anderes gemacht. Wir haben Feuilleton-Artikel analysiert – und sind dabei auf einen geheimen Code gestoßen. Auf eine tiefere Bedeutungsebene.

Hier kommt der Schlüssel, um die wahre Bedeutung diverser Verrisse in SPIEGEL und ZEIT zu verstehen.

Infantil/Infantilisierung

Generell muss man eines über Feuilletonisten wissen: Ihre Fremdwörter verbergen ihre Unsicherheit. Deren übermäßige Verwendung gleicht nämlich den ausladenden Gesten eines Zauberkünstlers. Während der Zauberkünstler versucht, davon abzulenken, dass er gerade eine Spielkarte in seinem Ärmel verschwinden lässt, versucht der Feuilletonist davon abzulenken, dass er eigentlich nichts thematisch Relevantes zu sagen hat. Er wirft deshalb reflexhaft mit langen, aber leeren Worthülsen um sich und hofft, dass die Leser so viel Angst haben, dumm zu wirken, dass sie ihn nicht darauf ansprechen.

Aber das ist noch nicht alles.

Gerne sprechen Kritiker im Zusammenhang mit Fantasy von der Infantilisierung der Gesellschaft. Dieser Floskel bedienen sich alle jene, die beklagen, dass sich einige Erwachsene nicht ständig und ausschließlich mit den ernsten Seiten des Lebens beschäftigen.

Entschlüsselt man den Code hinter diesen Klagen, merkt man aber schnell, was die Kritiker eigentlich meinen: „Wie können diese Fantasten es wagen, Spaß zu haben, während ich immer noch über meiner Einkommenssteuererklärung sitze?“

Kompensation

Das ist im Prinzip dasselbe wie Eskapismus. Wird verwendet, wenn man in seinem Artikel bereits so oft das Wort „Eskapismus“ benutzt hat, dass es langsam ein wenig repetitiv wird. Grundbehauptung ist, dass Fantastikfans durch ihre Lieblingslektüre kompensieren wollen, wie unerfreulich und kompliziert ihr Leben ist (aufgrund der Einkommenssteuererklärung zum Beispiel).

Doch was meint der Kritiker wirklich? „Total unfair, dass die Urlaub machen können, ohne nach Mallorca fliegen zu müssen. Ich will auch so eine Fantasie, menno!“

Technikfeindlichkeit