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Wiener Vorlesungen im Rathaus

Band 175
Herausgegeben für die Kulturabteilung der Stadt Wien
von Hubert Christian Ehalt

Podiumsgespräch
am 21. August 2013
im Rahmen des Europäischen Forums Alpbach

Hubert Christian Ehalt · Asfa-Wossen Asserate
Stéphane Gompertz · Julya Rabinowich
Kathrin Röggla

Höflichkeit heute
Zwischen Manieren,
Korrektheit und Respekt

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Copyright © 2015 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien

Alle Rechte vorbehalten

Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien

ISBN 978-3-85452-575-2

eISBN 978-3-71175-223-9
Informationen zu den Wiener Vorlesungen unter
www.vorlesungen.wien.at

Informationen über das aktuelle Programm

des Picus Verlags und Veranstaltungen unter

www.picus.at

Inhalt

Hubert Christian Ehalt Beziehungen leben und gestalten – zwischen Respekt, Manieren, Höflichkeit, Korrektheit und Solidarität

Stéphane Gompertz Vom guten Benehmen

Kathrin Röggla Respekt

Respekt und Manieren sind Geschwister Asfa-Wossen Asserate im Gespräch mit Hubert Christian Ehalt

Die Grenze zwischen mir und dem anderen ist heilig Julya Rabinowich im Gespräch mit Hubert Christian Ehalt

Die Autorinnen und Autoren

Die Wiener Vorlesungen im Rathaus

Am 2. April 1987 hielt der bedeutende polyglotte deutsche Soziologe Prof. Dr. René König im Rahmen der Tagung »Wien – die Stadt und die Wissenschaft« einen Vortrag im Wiener Rathaus zum Verhältnis von Stadt und Universität. In seinem Referat gab René König den Akteurinnen und Akteuren der Wiener Stadtpolitik und -verwaltung den Rat, Wien möge ihre Universitäten als Impulsgeber intellektueller Kultur in die Stadt »einnisten«. Die Stadt Wien folgte diesem Ratschlag durch die Initiierung zahlreicher Förderungsinitiativen, durch die Gründung von sechs neuen Wissenschaftsförderungsfonds, durch die Wissenschaftsfundierung ihrer Verwaltungsarbeit und last but not least durch eine Vortragsreihe, die »Wiener Vorlesungen«, das Dialogforum der Stadt Wien an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit.

Die Wiener Vorlesungen beschäftigen sich mit den großen wissenschaftlichen und intellektuellen Fragen der Zeit. Die Wissenschaften kommen in immer kürzeren Zeiträumen zu eindrucksvollen Ergebnissen, die sehr oft in für Bürgerinnen und Bürger interessante Anwendungen münden. Die Wirksamkeit der Wissenschaften bietet aber auch Probleme, die jedenfalls in immer stärkerem Maß eine Auseinandersetzung der Öffentlichkeit mit Voraussetzungen und Folgen von Forschung notwendig machen.

Aus den Wiener Vorlesungen ist ein intellektuelles Netz aus Veranstaltungen, Publikationen und TV-Sendungen geworden. Die Vorlesungen waren als Projekt der Wissenschaftsvermittlung, der Aufklärung, aber auch der Kritik geplant, und sie arbeiten an diesen Zielsetzungen durch ständige Selbstreflexion, Methoden- und Formatwechsel, vor allem aber durch die Einladung von Vortragenden, die eine interessante Botschaft haben. Somit ist das Konzept der Wiener Vorlesungen von Beginn der Initiative an klar und prägnant: Prominente Denkerinnen und Denker stellen ihre Analysen und Einschätzungen zur Entstehung und zur Bewältigung der brisanten Probleme der Gegenwart zur Diskussion. Die Wiener Vorlesungen skizzieren nun seit Anfang 1987 vor einem immer noch wachsenden Publikum in dichter Folge ein facettenreiches Bild der gesellschaftlichen und geistigen Situation der Zeit. Das Faszinierende an diesem Projekt ist, dass es immer wieder gelingt, für Vorlesungen, die anspruchsvolle Analysen liefern, ein sehr großes Publikum zu gewinnen, das nicht nur zuhört, sondern auch mitdiskutiert.

Das Wiener Rathaus, Ort der kommunalpolitischen Willensbildung und der Stadtverwaltung, verwandelt bei den Wiener Vorlesungen seine Identität von einem Haus der Politik und Verwaltung zu einer Stadtuniversität. Das Publikum kommt aus allen Segmenten der Bevölkerung; sehr viele Zuhörerinnen und Zuhörer sind in den akademischen Feldern der Universitäten beheimatet; das Wichtige an diesem Projekt ist jedoch, dass auch sehr viele Menschen zu den Vorträgen kommen, die sonst an wissenschaftlichen Veranstaltungen nicht teilnehmen. Das Rathaus ist ein guter Vortragsort, viele Besucherinnen und Besucher der Wiener Vorlesungen identifizieren es als einen »Ort ihrer Angelegenheiten« und sie verstärken durch ihre Anwesenheit den demokratischen Charakter des Hauses.

Die Referentinnen und Referenten der Wiener Vorlesungen sind Persönlichkeiten, die ihre Wissenschaft und ihr Metier durch die Fähigkeit bereichert haben, Klischees zu kritisieren und zu zerschlagen und weit über die Grenzen ihres Faches hinauszusehen. Das Besondere an den Wiener Vorlesungen liegt auch in dem dichten Netz an kollegialen und oft freundschaftlichen Banden, die die Stadt zu einem wachsenden Kreis von Forscherinnen und Forschern und Intellektuellen in aller Welt knüpft.

In den 28 Jahren des Bestehens der Wiener Vorlesungen ist das Interesse an Wissenschaft ständig gewachsen. Die Wiener Vorlesungen haben dieses Interesse aufgegriffen und verstehen sich zunehmend als Schnittstelle zwischen der Forschung und einer an Wissenschaft interessierten Öffentlichkeit.

Die Vortragenden – bisher etwa 6000 – kommen aus allen Kontinenten, Ländern und Regionen der Welt, und die Stadt Wien schafft mit der Einladung prominenter Wissenschafterinnen und Wissenschafter eine kontinuierliche Einbindung in die weltweite »scientific community«. Für die Planung und Koordination der Wiener Vorlesungen war es mir stets ein besonderes Anliegen, diese freundschaftlichen Kontakte zu knüpfen, zu entwickeln und zu pflegen.

Das Anliegen der Wiener Vorlesungen ist eine Schärfung des Blicks auf die Differenziertheit und Widersprüchlichkeit der Wirklichkeit. Sie vertreten die Auffassung, dass Kritik ein integraler Bestandteil der Aufgabe der Wissenschaft ist. Eine genaue Sicht auf Probleme im Medium fundierter und innovativer wissenschaftlicher Analysen dämpft die Emotionen, zeigt neue Wege auf und bildet somit eine wichtige Grundlage für eine humane Welt heute und morgen. Das Publikum macht das Wiener Rathaus durch seine Teilnahme an den Wiener Vorlesungen und den anschließenden Diskussionen zum Ort einer kompetenten Auseinandersetzung mit den brennenden Fragen der Gegenwart, und es trägt zur Verbreitung jenes Virus bei, das für ein gutes politisches Klima verantwortlich ist.

Die Wiener Vorlesungen analysieren mit dem Wissen um die unterschiedlichen zeitlichen Bedingungshorizonte der Gegenwart (Naturgeschichte, Sozialgeschichte, Ereignisgeschichte) die wichtigen Probleme, die wir heute für morgen bewältigen müssen. Wir sind uns bewusst, dass die Wirklichkeit der Menschen aus materiellen und diskursiven Elementen besteht, die durch Wechselwirkungsverhältnisse miteinander verbunden sind. Die Wiener Vorlesungen thematisieren die gegenwärtigen Verhältnisse als Fakten und als Diskurse. Sie analysieren, bewerten und bilanzieren, befähigen zur Stellungnahme und geben Impulse für weiterführende Diskussionen.

Hubert Christian Ehalt

Hubert Christian Ehalt
Beziehungen leben und gestalten – zwischen Respekt, Manieren, Höflichkeit, Korrektheit und Solidarität

Die Werte, nach denen ein Mensch sein Leben ausrichtet, die Normen, die er akzeptiert und an die er sich hält, beziehungsweise die er ablehnt, die er nicht anerkennt, gegen die er opponiert, sind Teil einer sozialen Architektur, die grundlegenden Gesetzen (wie beim Bauen zum Beispiel die Statik) folgt, aber für Ausgestaltungen und Details unendlich viele Spielräume lässt.

Mit dem Handeln setzen Menschen ihre Werte, ihren Glauben, ihre (Vor-)Urteile, ihre »Weltanschauungen«, ihre Ziele in Taten um. Durch und in diesen Taten manifestiert sich die soziale Welt, in der wir – das heißt alle Menschen – uns bewegen. Es gibt keinen gesellschaftsfreien Raum. Werte, Normen, Leitbilder und Verhaltensstandards, Verhaltensmuster und -stile wurden und werden ständig weiterentwickelt. Elaboriert, ausdifferenziert und wieder vereinfacht. Individuelle Handlungssituationen folgen den vorgegebenen Mustern, sie haben aber auch Eigenständigkeit und Prägekraft. Traditionen folgen der Wiederholung und der Weiterentwicklung des Bewahrten; sie werden aber auch erfunden (Invention of Tradition, Eric Hobsbawm) – ein berühmtes Beispiel ist das Letzte Abendmahl, ein anderes die erste Schonung und Obhut, die einem Fremden gewährt wurde und aus der sich »Gastfreundschaft« entwickelte.

Gesellschaftliches Handeln folgt Regeln, die Machtverhältnisse in Formen bringen und damit eine gewisse »Außerfragestellung« bewirken. Verhaltensmuster bieten die Sicherheit, dass die handelnden Individuen wissen, was sie in einer bestimmten sozialen Situation zu tun haben. Die Sicherheit, dass man, das heißt Männer und Frauen, eine Sache richtig tut. Handlungssituationen »wollen« gesichert werden; das heißt, die Akteure wollen es. Besitz, aber auch Rechte auf Ansehen, auf Respekt, auf Ehrerbietung wollen von jenen »festgeschrieben« werden – auch in nicht schriftlichen Kulturen –, die diese Ansprüche erworben haben beziehungsweise meinen, sie erworben zu haben. Es wird ritualisiert: Rituale bewirken eine Festlegung, Sicherstellung durch Wiederholung. In schriftlichen Kulturen wird kodifiziert. Dort sind die Festlegungen und Festschreibungen abstrakter und rationaler. In der Neuzeit fanden Entwicklungen statt, die von Festschreibungen durch sinnfällige symbolreiche Handlungen zu abstrakten Verträgen – immer häufiger in schriftlicher Form – führten. Im Mittelalter und der frühen Neuzeit bedurften Rechte als Ausdruck ihrer Wahrheit und Gültigkeit der Sinnfälligkeit: zum Beispiel wertvolle Materialien (wie Gold und Edelsteine) und bedeutungsvolle, lange überlieferte rituelle Formen, deren Geschichte nicht wissenschaftlich, sondern mythologisch erzählt wurde. Jan Huizinga berichtet in seinem »Herbst des Mittelalters« von einem Prediger, der, wenn er von der Liebe zu Jesus spricht, eine goldene Tafel zeigt, auf der der Name Jesu geschrieben steht.

Verhaltensformen von Respekt, Höflichkeit, Ehrerbietung und »Augenhöhe« entstehen und entwickeln sich im Wechselspiel von gestellten Ansprüchen und der Sicherung von erworbenen, beanspruchten, erkämpften Rechten.

In der Geschichte bildeten Verhaltensformen sehr früh ein eigenständiges »Universum«, eine Welt, die unabhängig von ihren Nutzfunktionen (Macht-, Herrschafts-, Besitzstabilisierung) Gültigkeit beansprucht.