Kaum jemand versteht so viel vom Unterwegssein als Lebensform wie der polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk. Seine fünfzig Stücke kurzer Prosa über Menschen und Reisen spielen in den wenig besiedelten Gegenden an der polnisch-ukrainischen Grenze, in der sibirischen Steppe, sie entführen uns bis nach China und in die Mongolei. Ein Buch über entwurzelte Künstler aus der lemkisch-slowakischen Provinz (Andy Warhol und Nikifor aus Krynica), die Arm in Arm über den Broadway schlendern. Impressionen und Meditationen über das Ende der Sesshaftigkeit, eine Liebeserklärung an den unbetretenen, unbeschriebenen Raum, an die mongolische Steppe, die »reinste« Landschaft, wo es nichts gibt außer Himmel und Erde. Ein Brevier für erfahrungshungrige Leser, denen der Gedanke an eine Welt jenseits der eigenen einen Stich ins Herz versetzt.

Andrzej Stasiuk, 1960 geboren, lebt seit 1986 in den Beskiden und bereist seit Jahren den europäischen Südosten, neuerdings auch Russland, die Mongolei und den Pamir. Sein vielfach ausgezeichnetes Werk erscheint in fast 30 Ländern. Zuletzt erschienen Hinter der Blechwand (st 4405), Kurzes Buch über das Sterben (st 4421).

Andrzej Stasiuk

Der Stich im Herzen

Geschichten vom Fernweh

Aus dem Polnischen von
Renate Schmidgall

Suhrkamp

Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel
Nie ma ekspresów przy żółtych drogach
bei Czarne, Wołowiec.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2015

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4577

Deutsche Erstausgabe

© Suhrkamp Verlag Berlin 2015

© by Andrzej Stasiuk, 2013

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Umschlagfoto: Laurie Noble/Getty Images

Umschlaggestaltung: hißmann, heilmann, hamburg

eISBN 978-3-518-74126-9

www.suhrkamp.de

Inhalt

Transbaikalien. Krasnokamensk

Alte Straße Gródek – Jabłonna Lacka

Straße Nummer 993. Łysa Góra, dann die Kreuzung nach Folusz. Abenddämmerung

Bratsk. Flughafen

Ulan Bator, Mandalgow, Dalandzadgad, Manlai, Mandal, Sajnschand, Dzamyn Üüd

Suceava. Erinnerung

Der Leser

In der Hocke

Gamba

März

In Srostki

Ausgrabung

Nacktes Land

Hoch. Leer. Salzig

Ich stelle mir Kalabrien vor

816

Mai

Licheń. Herabsendung

Podolien

Ein Tag im Osten Polens

Der Leviathan aus meiner Heimat

Spuren

Nomaden

Shqipëria po ndryshon

Marubi

Herta Müller

Die Mittagsfrau

Terzani

Die Fabrik

Rauchen

Sommerreise mit meiner Tochter ins Reich der Kindheit

Rock ’n’ Roll

Das Wilde

September

Utopie

9,99

Auf literarischer Reise durch Deutschland (und Österreich)

Mein Onkel

Markt

Raubtier

Totenfeier

Das alte Haus

Ramsch aus Beton

Oberek

Die berühmtesten Lemken der Welt

Weihnachtsreise an die Ostgrenze

Zigeuner

Die Melancholie der Übergänge

Hibernatus

Vögel

Aus der Ferne

Es zieht

Transbaikalien. Krasnokamensk

Sand, alter Beton, Unkraut. In dem Hotel aus grauem Backstein wollen sie uns nicht. Nervös beraten sie sich. Alles Frauen. Aus der Küche riecht es. Aber schließlich sind sie einverstanden, sie bitten uns nur, niemandem zu sagen, dass wir hier wohnen. Von drinnen kommen einige chinesische Bahnangestellte. Sie gehen zum Ausgang und wir zum Zimmer, das so niedrig ist, dass ich mit der Hand an die Decke reiche. Das Fenster ist auch niedrig und geht auf das Unkraut hinaus.

Am nächsten Tag fahren wir nach Osten. Die Steppe beginnt. Rechts noch einige Bäume, dazwischen Pferde, die Schatten suchen, dann nichts mehr. Gras bis zum Horizont. Die Schotterstraße schraubt sich einen Bergrücken nach dem anderen hinauf, aber auch da ist nur Grün. Unendliches Grün unter blauem Himmel. Schon immer wollte ich das sehen, ich habe versucht, es mir vorzustellen, aber so hätte ich es mir nicht gedacht. So riesig, so einfach, so schön. Das hat etwas von Religion.

Wir fuhren nach Krasnokamensk. Wir brauchten ein Ziel, einen Punkt in dieser Endlosigkeit. Dort wurde das meiste Uran in Russland gefördert. Neunzig Prozent. Für Kraftwerke, für Unterseeboote, für Raketen und Bomben. Eine Art Grauen legte sich über die Steppe. Es strahlte. Eine melancholische Stadt. Alte Betonblocks, sonst nichts. Pappeln, Staub, Wind und Unkraut. Für den Energieproduzenten einer Weltmacht sah die Stadt ärmlich aus. Aber der ganze Osten war so: Er kümmerte sich um nichts außer um seine beharrliche Existenz, außer um sein hartnäckiges Sich-über-Wasser-Halten. Alles andere hatte keine Bedeutung.

Alte Straße Gródek – Jabłonna Lacka

Hier wanderten die Toten auf den Friedhof, der sich beim zweiten Kilometer hinter dem Dorf befand. Den ganzen Weg wurden die Särge von den Verwandten auf den Schultern getragen. Die Männer wechselten sich von Zeit zu Zeit ab, achteten darauf, dass sie gleich groß waren. So brachte meine Großmutter diesen Weg hinter sich, so auch mein Großvater. Zu beiden Seiten wuchsen Bäume, man ging also im Schatten. Jedenfalls im Sommer. Im Winter wehte ein scharfer Wind von den Feldern her. Am schönsten war es im Herbst. Die Landschaft hatte etwas von einem Aquarell. Der Nebel verwischte ein wenig die Farben. Die Rot-, Gelb- und Blautöne, die Reste von Grün. Alles wogte ein bisschen, fiel in Streifen, zerfloss in der Entfernung. Die Landschaft ging zu Ende, aber jenseits von ihr war etwas, das unwiderstehlich die Phantasie anregte. Nichts Konkretes, nichts Deutliches. Es war eher das Vakuum, die Leere, erfüllt vom milchigen Herbstlicht. Sooft ich in dieser Gegend bin, bleibe ich am Friedhof stehen und halte Ausschau. Bisweilen ist es wieder da, in irgendeiner Form. Dieses Licht, dieser Glanz, der aus dem Unbekannten kam. Vielleicht von dem Ort, zu dem die Toten gegangen waren. Vielleicht auch nur aus unserem eigenen Geist.

Straße Nummer 993. Łysa Góra, dann die Kreuzung nach Folusz. Abenddämmerung

Am besten man kommt von Dukla, dann währt der Anblick länger, man braucht weder anzuhalten noch zurückzuschauen. Und es muss gutes Wetter sein. Jedenfalls muss der Liwocz zu sehen sein: der große, breite, ausladende Berg, hinter dem gleich die Sonne verschwindet. Er schließt im Nordwesten die Landschaft ab. Und von dieser Landschaft gibt es außerordentlich viel. Als wäre die Erde eigens hier eingebrochen, um ein riesiges Amphitheater zu bilden. Viele, viele Kilometer Landschaft. Häuser, Dörfer, Kirchtürme, Bäume, Wäldchen, die langen, welligen Linien der Hügel, Feldraine, die senkrechten Striche der Pappeln, alles in rotgoldenes Licht getaucht.

Dann fährt man bergab, gleich kommt Żmigród, man biegt rechts ab, Marktplatz, Abfahrt und gleich nach links, die Brücke über die Wisłoka. Nach zehn Kilometern erscheint wieder die gleiche Aussicht, aber jetzt aus einem etwas anderen Winkel, das Zoom holt sie etwas heran und vergrößert sie. Die Dämmerung hat sich verdichtet, doch die neblige Luft bewahrt Reste von Licht. Man kann von der Hauptstraße nach rechts abfahren, in die Nebenstraße nach Dębowiec, und anhalten. Was da unten liegt, gleicht einem Bild. Der Liwocz ist näher und dominiert die Landschaft nicht mehr, sondern schützt sie. Schirmt sie gegen den Nordwind ab. Am Fuß des Berges wieder Häuser, Dörfer, Kirchen, Raine, Straßen, erste Lichter in den Fenstern wie ferne Funken, die Tiere kehren von der Weide zurück, man hört das Insektengeräusch eines Motorrads, im Herbst und im Frühjahr steigen Rauchbänder von den Feuern auf, im Winter streben graublaue Fäden aus den Schornsteinen senkrecht zum Himmel. Wieder treffen die horizontalen, wogenden Linien der Landschaft auf die vertikalen Umrisse der an den Straßen wachsenden Pappeln und die scharfe Spitze des Kirchturms in Cieklin. Immer wenn ich daran denke, wie ein Land aussehen müsste, nach dem man sich sehnt, habe ich diese Landschaft vor Augen. Ideal und unerreichbar in einem. Und mir kommt in den Sinn: In so einer Landschaft müsste der Mensch geboren werden, seine Kindheit verbringen und sie dann verlassen, um zu wissen, was verlorene Liebe bedeutet.

Bratsk. Flughafen

Wir flogen von Moskau nach Irkutsk. Es wurde schon hell. Unten erschien im grauen Morgenlicht ein Wasserspiegel, der nur einen Ton dunkler war. »Eto Bajkal«, sagte ein junger Russe nebenan zu sich selbst, vielleicht auch zu mir. Er sagte es mit der Bewunderung und der Achtung, die diesem Binnenmeer gebührt. Aber es war nicht der Baikalsee. Es war der Bratsker Stausee. Ein künstlicher See von sechshundert Kilometer Länge, der an manchen Stellen fünfundzwanzig Kilometer breit ist. Kurz darauf landeten wir in Bratsk. Keine Ahnung, warum. Irkutsk lag dreihundertfünfzig Kilometer weiter im Süden. Es regnete. Ein Flughafenbus kam – ein Lastwagen mit Fahrgastkabine statt Ladefläche, eine Art Kombinationsbus. Ich ging über die Treppe auf die Landebahn und sah, dass alles hier alt und marode war. Der geborstene Beton, das Unkraut in den Ritzen, die Ölflecken, dieses Fahrzeug, in das wir verladen werden sollten. Ich war zum ersten Mal in Russland und gleich so weit weg. Sie brachten uns in die Halle. Sie erinnerte an einen Busbahnhof in der Provinz, nur größer. Es war Morgen. Die Leute waren mit Bündeln unterwegs. Schmutzige Fensterscheiben, Tafeln, die Ärmlichkeit und Trostlosigkeit der Imbissbar mit geruchlosem Kaffee und chinesischen Suppen. Doch ich wusste sofort, dass ich von diesem Land nicht mehr loskommen, dass ich es nicht würde vergessen können. Weil ich hier die Spuren eines Experiments von globaler Bedeutung gefunden hatte. Der Kommunismus war keine materialistische Revolution. Er war in seinem Wesen antimaterialistisch. Er versuchte die Materie für ungültig zu erklären, ihre Nützlichkeit, ihre Notwendigkeit zu leugnen. Alles zeugte davon. Der geborstene Beton, das Unkraut, die ganze Verzweiflung und Hässlichkeit, die in den Dingen zum Vorschein kam. Alles war krumm, schief, wackelig und zugleich gigantisch. Das musste ich verfolgen, ich konnte den Blick nicht abwenden. Von Bratsk, morgens um sechs im Regen.

Ulan Bator, Mandalgow, Dalandzadgad, Manlai, Mandal, Sajnschand, Dzamyn Üüd

Zehn Tage in der Gobi. Eintausendsechshundert, eintausendachthundert Kilometer. Ohne sich zu waschen. Es gab kein Wasser. Ganz einfach. Nur zum Trinken und Kochen. Die Wüste ist gelb, sie ist grau, golden und grün. Zehn Tage am Lagerfeuer, das mit Kamelmist gemacht wird. Manchmal trafen wir auf Saksaulsträucher, dann hatten wir ein wenig Holz. Wenn wir am Abend unser Lager aufschlugen, war es absolut still ringsum. Bis zum Horizont. Es sei denn, es kam Wind auf. Zehn Tage in der Hocke, im Zelt, auf Knien. Aufbauen, abbauen. Wir mussten auf Skorpione achten. Die Skorpione in der Gobi sind grünlich und unscheinbar. Zweimal habe ich einen fernöstlichen Mokassin gesehen. Ich stand morgens um sechs auf und ging los. Früher oder später traf ich auf Kamelspuren. Manchmal machten wir in Jurten Halt. Die Hirten nahmen uns auf, ohne zu staunen. Diskret betrachteten sie uns. Sie boten uns Tee mit Milch und getrockneten Käse an. Dann fuhren wir wieder weg. Sie schauten uns lange nach, den Fremden, die sie nie wieder sehen würden. Es waren viele Kilometer von einer Jurte zur anderen. Wir trafen einen Reiter. Er saß im Schatten seines Pferdes und wartete auf etwas. Ringsum war nichts, bis zum Horizont, nur Sonne und unbewegte Luft. Er bat unseren Fahrer um Wasser und trank die ganze Flasche aus. Anderthalb Liter. Wir fuhren weiter. In dem kurzen Schatten des Pferdes blieb er allein zurück. Dieses Land hat etwas Hypnotisches. Zum Reisen gibt es kein besseres. Man fährt in die Tiefe der Landschaft und zugleich in die Tiefe der Zeit. Denn hier ist fast alles, wie es früher war. Kaum etwas hat sich verändert. Man muss in der Hocke leben, am Lagerfeuer. Und in die Nacht lauschen.

Suceava. Erinnerung

Was vergangen ist, kehrt wieder. Es dringt wie eine feine Nadel ins Herz. Ein Detail genügt. Ein Laut, ein Geruch, ein Bild, ein Augenblick. Du nimmst etwas aus dem Augenwinkel wahr, und das Vergangene kehrt mit unverhoffter Kraft wieder. Die Kindheit. Immer ist es die Kindheit, und man kann nicht sagen, wo ihre Grenze verläuft. Zehn Jahre, zwölf? Als hätte die spätere Zeit nicht mehr diese Macht. Suceava vor langer Zeit, Morgen, ein paar Kinder spielen an der Wand eines düsteren Wohnblocks. Das Grau der Backsteine und des Sandes versetzt mich vierzig Jahre zurück, die Gegenwart verschwindet für Sekunden, um einem Sommermorgen bei den Großeltern auf dem Dorf Platz zu machen. Das blendet wie Blitzlichtpulver. Kinder, grauer Sand, graue Mauer. So funktioniert die Erinnerung. Es ist unmöglich, ihre Gesetze zu entschlüsseln. Es dauerte nur einen Augenblick. Das Taxi brachte uns zum Bahnhof. Es war, als hätte der Tod sich entfernt, als hätte er für diesen Bruchteil der Zeit seine Macht verloren. Genau.

Der Leser

Er hatte ein speziell für ihn konstruiertes Bett. Das nahm er sogar auf Auslandsreisen mit, weil er weiche, einsinkende Matratzen nicht ausstehen konnte. Auch ein spezielles Podest transportierte er, das man über der Toilette aufstellen konnte, denn er mochte es nicht, sich zu setzen; er musste in die Hocke gehen. Aber das Bett war das Wichtigste. Nicht ausgeschlossen, dass er mehr Zeit in horizontaler als in vertikaler Position verbrachte. Er verdaute und las. Schon in seiner Jugend formulierte er den Gedanken vom größten Glück: »Ich esse jeden Tag ausgezeichnet, was meinem Bauch willkommen ist, und achte auf die Gesundheit. Und ich kann alle Bücher lesen, auf die ich Lust habe. Das ist wirklich wunderbar«, schrieb er an einen Freund. Später, als er die uneingeschränkte Macht errungen hatte, ließ er sich in ebenso uneingeschränkter Zahl Frauen in sein Spezialbett kommen. Sein Leibarzt behauptete, es seien bisweilen vier oder fünf gleichzeitig gewesen. Alle jung, berauscht von seiner Gegenwart. Er wusch sich nicht, er putzte nicht die Zähne. Den Mund spülte er mit Tee aus, seinen fetten Körper ließ er mit einem heißen Handtuch abreiben.

Das Bett war so konstruiert, dass man Stapel von Büchern darauf unterbringen konnte. Er lag und las. Wie die meisten Tyrannen war er eine Art gescheiterter Künstler. Er plante Fiktionen und setzte sie dann in die Realität um. Denn was, wenn nicht eine schwindelerregende Fiktion, war denn die Idee, alle Spatzen im Staat auszurotten, weil die Vögel die Ernte vernichteten? Und tatsächlich – das ganze Land, einige hundert Millionen Menschen machten Tag und Nacht einen Heidenlärm, fuchtelten mit Stöcken, warfen mit Steinen, schlugen auf Töpfe, so dass die kleinen grauen Diebe keinen Augenblick mehr Ruhe hatten, sich nicht für einen Moment mehr hinsetzen konnten. Die Vögel starben vor Erschöpfung im Flug. Ganz China war mit kleinen Vogelkörpern übersät, doch die verhungernden Bauern hatten etwas zu essen.

Tyrannen werden aus der Lektüre geboren. Die größten Tyrannen lasen permanent. Sie unterbrachen nur, um die Fiktion in Realität zu verwandeln. Unser Held brachte Millionen von Menschen um, und dann verschanzte er sich in seinem Lager, um zu kopulieren und zu lesen. Er hielt nicht gern Reden, sprach schlecht Mandarin, hatte keine Angehörigen, er lag und las. Die Lektüre vermischte er mit Erfindung, und anschließend rief er seine Untergebenen, die sich auf die abgenutzten Stühle am Fuße des Bettes setzten, und befahl: »Verwandelt China in ein Reich der Schweine, dank dessen wird es viel Mist geben sowie Fleisch im Überfluss, das man exportieren wird, im Tausch gegen Eisen und Stahl.« Oder er verkündete, dass das Land in der Hüttenindustrie einen Wettkampf mit Großbritannien beginnen werde und in einigen Jahren den Sieg davontragen solle. Die Bauern gaben ihre Arbeit im Feld auf und bauten in den Dörfern primitive Schmelzöfen. Aus Mangel an Erz schmolzen sie Töpfe, Löffel, Klinken ein, das ganze erbärmliche Metall, das sie in ihren Hütten fanden. Als sich das Land am Rande der Selbstausrottung befand, als man die Opfer des Großen Sprungs in Millionen zu zählen begann, zog sich der große Steuermann auf sein Bett zurück, um etwas über die Leistungen der alten Kaiser zu lesen. Zum Beispiel darüber, wie Qin Shi Huang, der das Kaiserreich vereinigt hatte, befahl, alle Bücher zu verbrennen, die Gelehrten zu ermorden und ganz von vorne anzufangen. Das war übrigens die Idee der »Kulturrevolution«, die Mao proklamierte. Nur dass es inzwischen wesentlich mehr Bücher zu verbrennen gab und die ermordeten Gelehrten in die Millionen gingen.

Deshalb wollte ich ihn letzten Endes sehen. Die Schlange wand sich um das Mausoleum. Hunderte, vielleicht Tausende von Menschen. Die Rucksäcke mussten wir abgeben. Die Polizisten trieben uns an wie Vieh, das verladen wird. Über eine Treppe in den ersten Saal, wo eine helle Statue steht, unter der man Blumen ablegte, und dann in den zweiten, wo er unter Glas lag. Rosig, aufgedunsen, mit der chinesischen Flagge bedeckt. Man konnte kaum einen Blick auf ihn werfen, schon jagten sie einen weiter. Ein Polizist in weißen Handschuhen legte in einer absurden Geste den Finger an den Mund, als solle man still sein, damit er nicht erwacht. Ein, zwei Sekunden für den Anblick einer fetten, aufgeblähten Leiche.

Gegen Abend leert sich der Tian’anmen. Militär und Polizei jagen alle weg von dem größten Platz der Welt. Damit er Ruhe hat. Vielleicht liest er dort in seinem Aquarium. Am Tor zur Verbotenen Stadt hängt ein gigantisches Porträt von ihm. Ein fettes, ausdrucksloses Gesicht mit einer Warze am Kinn. Er blickt direkt auf den Ort seiner Bestattung.

In der Hocke

Sie werden geboren, wenn es kalt ist. Im Februar oder Anfang März. Darin liegt eine gleichgültige Grausamkeit. Draußen funkelnder Frost, und dort kommt zwischen vier nicht allzu warmen Holzwänden etwas so Zartes zur Welt. Es fühlt sich kalt an, weil es mit der Fruchtblase, mit Ausscheidungen, mit den Resten des vorherigen Lebens bedeckt ist, das zur Hälfte ein Leben im Wasser war, und hier dieser Frost, und man hat ein wenig Angst, dass es gleich erfrieren könnte. Man muss also ein Bündel Heu nehmen, es abreiben, massieren, bis es halbwegs trocken ist. Obwohl man nicht immer zur Stelle ist, schaffen sie es irgendwie. Vor allem die sogenannten primitiven Rassen, uralt und nicht von der Zucht verdorben – der Zucht, die ein wildes Tier in ein raffiniertes Produkt verwandelt, das ohne den Menschen nicht mehr auskommt.

Jedenfalls brachte der Februarfrost immer eine Mischung von Furcht und Mitleid mit sich. Bis ich in die Mongolei gefahren bin und die Winterquartiere der Schafe am Rande der Altan Els gesehen habe – dieser nördlichsten Wüste der Erde. Das waren nicht einmal Gebäude, sondern Umzäunungen aus Steinen, in Bodensenken verborgen, die vor den Nordwinden aus Sibirien schützen sollten. Im Winter lagen die Temperaturen dort bei minus fünfunddreißig Grad.

Jetzt mache ich mich nicht mehr so verrückt. Ich reibe sie mit dem Heu ab und schaue, ob sie sich auf den Beinen halten können. Die Beine sind das Längste an ihnen, überproportional lang, denn sie werden die einzige Waffe dieser recht wehrlosen Geschöpfe sein. Manchmal dauert es, bis sie aufstehen, weil sie noch zu schwach sind, weil es ein bisschen zu früh ist, weil das Leben noch nicht gezündet hat, dann muss man helfen: vor allem den Weg zur Zitze der Mutter zeigen. Man muss ihnen die Zitze unter die Nase halten, sie in das kleine Maul stecken und festhalten. Die Zitze ist das Wichtigste. Wenn man es recht überlegt, ist der Rest der Mutter eigentlich überflüssig. Nötig ist nur die angeschwollene, heiße Zitze voller Milch. Im Vergleich zur Ziege beispielsweise hat das Schaf weniger Milch, aber dafür ist sie fetter, dicker, süßer und schmeckt im Grunde gar nicht wie Milch, sondern wie ein erlesenes Dessert. Vielleicht schmeckt sie wie das Leben selbst, wie seine Essenz? Und wenn die warme Maschinerie dann in Gang kommt, wenn das Lamm – platt wie eine Flunder, langbeinig und auf den ersten Blick nicht besonders gelungen – die Quelle erreicht hat, können wir beruhigt sein: Es wird leben.

Und wie! Immer mehr. Von Tag zu Tag stärker. Bald schwillt es an, wird rundlich, gewinnt massive Körperlichkeit. Um saugen zu können, wird es in seiner knienden Lammhaltung gnadenlos in die Zitze stoßen und mit dem halblahmen Lammschwänzchen nach allen Seiten wedeln. Fünfmal wedeln und ein Stoß ins Euter, fünfmal wedeln und wieder die brutale Massage, damit es besser ins Maul fließt. Dieser anfangs so schwächliche, klapprige, wacklige Körper verwandelt sich nach zwei, drei Wochen in eine Körperkugel. In ein Geschoss aus Fleisch. Es hüpft, kullert, mit junger, zarter Wolle bedeckt drängt es vorwärts, stößt sich mit den Hinterbeinen ab, vollführt mit den Vorderbeinen Pirouetten und Saltos. In Momenten von absolutem Schafsglück stößt es sich auf urkomische Weise mit allen vieren ab und hüpft wie auf Sprungfedern in die Ferne. Ein heiterer Tag und ein bisschen Sonne genügen. In dieser Hinsicht sind Schafe ganz wie Menschen.

In diesem Winter sind drei dazugekommen, und alle sind schwarz. Ich gehe öfter zu ihnen, als es meine Pflicht als Schafhirte gebietet, und schaue einfach. Emil Cioran hat geschrieben, wir sollten, statt uns ständig wie verrückt um die Wette zu zivilisieren, verlaust und fröhlich in der Wärme der Tiere hocken oder so ähnlich. Ich lese ausgesuchte Philosophen, aber ihre Lehre kann ich nur auf treuherzige und unmittelbare Art annehmen. Also gehe ich zu den Schafen und hocke mich hin. Ich warte, bis sie näher kommen und den fremden, menschlichen, aber ihnen doch bekannten Geruch wittern. Bis sie für einen Augenblick das Misstrauen vergessen, dem sie ihr Leben verdanken, und in Reichweite kommen. Jetzt ziehe ich ihren Geruch in die Nase. An warmen, trockenen Tagen ist es ein scharfer, ausgeprägter, betäubender Geruch. Er hat etwas Fernes, Archaisches. Falls er uns jemals eigen war, haben wir ihn schon lange und für immer verloren.

Einmal haben wir uns nachts in der Gobi verirrt. Innerhalb weniger Augenblicke war es total dunkel. Zu unserem Lager waren es einige Kilometer. Es gab keinen Funken, kein Licht – nichts. Ich ging vor mich hin und schnupperte die Dunkelheit. Im schlimmsten Fall rollen wir uns zusammen und warten, bis es hell wird, dachte ich. Aber ich schnupperte die Finsternis und witterte schließlich den uralten Geruch von Tieren, die unter freiem Himmel stehen, scheinbar domestiziert, aber doch nicht ganz. Auf der Spur dieses Geruchs gelangten wir nach etwa einer Viertelstunde zu einer Jurte. Daneben war das Gatter für die Tiere. Die Hirten halfen uns, unseren Lieferwagen und die Zelte zu finden.

So hocke ich heiter da, auf die Verlausung kann ich gerne verzichten, und schnuppere meine Miniherde. Sie riecht wie die in der Gobi. Schön, stark, betäubend. Der Mensch – ich bemühe mich, Ciorans Ton nachzuahmen – sollte Schafe haben. Sie retten uns nicht, befreien uns nicht von der Einsamkeit, aber sie können uns im Dunkel den Weg weisen. Nicht unbedingt in dem Dunkel, zu dem wir streben, aber in dem, aus dem wir gekommen sind.

Eines ist nicht ganz schwarz. Es hat ein weißes Sternchen am Kopf.

Gamba

Um einen Teil des Geldes bat er gleich am Anfang. »Ich muss den Kindern etwas hierlassen«, sagte er. Wir fuhren in eine Siedlung mit zehnstöckigen Wohnblocks. Sie waren desolat wie die meisten gemauerten Häuser in dieser Stadt. Die Graffiti an den Eingängen zu den Treppenhäusern hatten die Form verzierter Hakenkreuze. Rasch kam er zurück, und wir brachen auf.

Er war klein und zerbrechlich. Wie ein Vogel oder ein Kind. Aber gut über sechzig, und unlängst hatte er seine Frau verloren. Er trug eine große, altmodische Brille mit getönten Gläsern, aber die Trauer in seinen Augen war trotzdem zu sehen. Auch das Auto hatte etwas Melancholisches. Grau, mindestens zwanzig Jahre alt, sowjetisch. Im Innern roch es nach billigem Benzin und Abgasen. Aber als wir in Fahrt gekommen waren und der Wind durch die offenen Fenster wehte, verschwanden die Gerüche. Das große Lenkrad aus schwarzem Ebonit ließ seine Gestalt noch zierlicher erscheinen. Er erinnerte an einen Jungen, der den Erwachsenen ein Auto geklaut hat, um eine illegale Spritztour zu machen. Er fuhr in blauen Gummischlappen, und ich fragte mich, wie er an die Pedale kam.

Ulan Bator ist furchtbar. Jeden Tag schaue ich im Internet, wie das Wetter dort ist. Heute ist es bedeckt, und es hat nur minus zwanzig Grad. Meistens ist es kälter: minus fünfundzwanzig, siebenundzwanzig, dreißig Grad. Ich stelle mir vor, wie um drei oder vier die Dämmerung anbricht und die Stadt in Dunkelheit versinkt. Es gibt fast keine Lampen. Da leuchten die Schaufenster, ein bisschen Reklame und die Autoscheinwerfer. Ein im Frost erstarrtes Lager aus Beton mitten in der Steppe. Aus den Slums der Jurten steigt Kohlenrauch auf. Die Zeltplanen sind schwarz von Ruß. Im Übrigen muss die ganze Stadt schwarz sein, denn es wird nur mit Kohle geheizt. Die hässlichste und kälteste Hauptstadt der Welt, sagt man über Ulan Bator.

Deshalb hat der Aufbruch aus dieser Stadt etwas von einer mystischen Reise: als wären wir auf die andere Seite des Spiegels gelangt, als hätten wir die Fatalität der condition humaine mit ihrem verzweifelten Imperativ der Entwicklung und der Modernisierung hinter uns gelassen. Denn plötzlich ist alles zu Ende. Vororte gibt es gewissermaßen nicht, schließlich sieht ganz Ulan Bator wie ein Vorort aus. Die Steppe erscheint, und der Himmel wächst spurlos mit der Erde zusammen. Die Straße verschwindet am Horizont. Bald verschwindet auch der Asphalt, verschlungene Pfade führen durch die grasige Hochebene. Sie kreuzen sich, verflechten und entflechten sich auf der Suche nach den günstigsten Übergängen. Man fährt den ganzen Tag unter dem ungetrübten Himmelsgewölbe, wo Adler und Geier kreisen. Der Blick erfährt eine Linderung, wie er sie nie zuvor erlebt hat. Bevor die Dämmerung anbricht, muss ein Lagerplatz gefunden werden. Dutzende von Quadratkilometern, Hunderte von Orten, völlige Freiheit: da, unter dem Felsen. Nein, in der Flussbiegung dort. Vielleicht dort, hinter dem Bergrücken, der den Wind abhält. Oder vielleicht auf dem Hügel, damit man endlos schauen kann. In der Regel endete es am Fluss, damit wir Wasser und ein bisschen Holz für das Feuer hatten. Bäume gibt es nicht, man ist auf die Gnade der Strömung angewiesen, die hin und wieder etwas heranträgt und ans Ufer wirft.

Ich schaute ihm gerne zu, wenn wir nachts Halt machten. Er stieg aus dem Auto und ging in die Steppe. Er ging einfach vor sich hin, dem Raum entgegen, der Unendlichkeit entgegen, aus der einst berittene Krieger aufgetaucht sind, um die halbe Welt zu unterwerfen. Mit seinen blauen Plastikschlappen stieg er auf einen Hügel oder eine Düne, und seine Gestalt verwandelte sich in einen schwarzen Umriss, der sich gegen den roten Himmel abhob. Wenn er zurückkam, war er glücklich. Auf der nackten Erde legte er sich rücklings hin und breitete die Arme aus. Er schaute ins Feuer und lächelte. Wenn er auf den Blick eines von uns, eines der dahergelaufenen Weißen traf, lächelte er noch mehr. Er kannte zwanzig russische Wörter. Nach drei Tagen stellte sich heraus, dass das reichte, um mit uns zweitausend Kilometer durch Steppe und Wüste zu fahren. Der uralte UAZ ging mindestens einmal am Tag kaputt. Ich hatte früher einmal einen UAZ, und so half ich mit doppelter Freude dabei, den Vergaser und die Treibstoffpumpe auseinanderzunehmen, um die geheimnisvolle Störung zu finden, die dem Auto die Kraft raubte. Dann bauten wir alles wieder zusammen, und der Motor lief – wie immer bei diesem Modell – zu seiner alten Form auf. Am Himmel kreisten Geier, und der Schatten ihrer Flügel war der einzige Schatten, soweit das Auge reichte.

Eines Abends in der Gobi seufzte er und sagte mithilfe seiner zwanzig Wörter, wenn es uns gelänge, auf das versteinerte Ei eines Dinosauriers zu stoßen, könnte er sich endlich ein neueres Auto kaufen.