Franz Reinisch:
Ein Leben für die Menschenwürde
Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978-3-87620-401-7
© 2012 by Patris Verlag GmbH, Vallendar/Rhein
Layout: Patris Verlag, Vallendar
Wider die Mitläufer-Mentalität
I Konflikte:
„Ich zerschlage selbst, was ich aufgebaut habe“
„Aus diesem Buben wird nichts werden!“
Jura, Gerichtsmedizin – und eine protestantische Freundin
Missglückte Flucht aus dem Noviziat
Ein melancholischer Spaßmacher
Die „freien Charaktere“ des Pater Kentenich
„Der lange Franzl wird noch um einen Kopf kürzer gemacht!“
„Ich wolle weg. Irgendwohin!“
II Verweigerung:
„Keinen Eid auf diesen Führer!“
Maulkorb von der Gestapo
„Sie haben Österreich gestohlen!“
Hitler oder Christus!
„Man darf diesem Verbrecher keinen Eid leisten!“
Bereit zum Sterben – und verliebt ins Leben
III Prüfung:
„Die Menschen können vielleicht meinen Schritt nicht verstehen, umso besser versteht mich der Herrgott“
Rausschmiss aus dem Orden – und was wirklich dahinter steckte
Zwei mal drei Meter
Wie kann ein Mensch sein Leben wegwerfen?
IV Zeugnis:
„Ich will ein Liebesopfer werden“
Sterben, damit andere leben können
„Sie müssen Ihr Leben teurer verkaufen!“
Wenn in der Menschenseele die Dämonen erwachen
Enthauptung im Morgengrauen
Die Urne im Rucksack
V Frucht:
„Ich denke, rede und handle nicht, was und weil es andere denken, reden, handeln, sondern weil das meine innere Überzeugung ist…“
Absoluten Gehorsam kann nur Gott verlangen
Der kleine Mann blickte nicht durch
Und wenn es doch der falsche Weg war?
Ein Mitläufer wollte er nicht sein
„Sich selbst treu bleiben“
Bloß ein paar Verrückte?
Benutzte Literatur in Auswahl
„Vereidigung ist Gottesdienst“, ließ im Herbst 1938 der katholische Mannheimer Militärpfarrer verlauten und für den feierlichen Treueschwur der Rekruten dort auf dem Schlosshof einen Altar aufbauen. „Du wirst und kannst diesen Schwur dem Führer mit Vertrauen schwören!“, so suchte er dem Nachwuchs der deutschen Wehrmacht etwaige Skrupel zu nehmen. „Der Führer weiß aus eigenster Erfahrung, was Krieg ist und heißt; er wird nicht spielen mit deinem Leben, das ihm verschworen ist.“ Und der Pfarrer fuhr fort: „Du wirst und kannst diesen Schwur mit Freuden leisten, weil du des Führers Parole kennst: Gegen den teuflischen Bolschewismus! Für unser liebes Vaterland, sein Recht, seinen Ruhm und seine Ehre!“
Drei Jahre vorher hatte der Freiburger Erzbischof Conrad Gröber – ein Exponent jener Fraktion der deutschen Bischöfe, die sich mit den Nazis zunächst zu arrangieren suchte und später auf diplomatischen Protest statt auf lauten öffentlichen Widerstand setzte – einen „übertriebenen und kraftlosen Pazifismus“ verdammt, „der im Krieg als solchem etwas Unerlaubtes und Widerchristliches erblickt und dem Unrecht die Herrschaft überlässt. Die katholischen Theologen haben immer den gerechten Krieg vom ungerechten Krieg unterschieden und es niemals in den Urteilsbereich des einzelnen mit seinen Kurzsichtigkeiten und Gefühlsstimmungen gelegt, im Kriegsfalle die Erlaubtheit oder das Unerlaubtsein zu erörtern, sondern die letzte Entscheidung der rechtmäßigen Obrigkeit überlassen.“
Es schien alles so einfach und klar. Millionen treuer Katholiken glaubten Hitler und seiner braunen Gefolgschaft vertrauensvoll die guten Absichten, zogen reinen Gewissens für ihn in den Krieg, verziehen ihm das, was von Judenhatz, Massakern und KZs an die Öffentlichkeit drang, bereitwillig als unangenehme Begleiterscheinung beim mühevollen Werk der nationalen Erneuerung: Bischöfe, Theologen, Gemeindepfarrer, Kanzelredner, Religionslehrer hatten sie ja in ihrer übergroßen Mehrheit ermutigt, die Zweifel beiseite zu lassen und freudig ihre Pflicht zu tun.
Ganz wenige Querköpfe aber waren nicht bereit, sich das selbstständige Denken austreiben und die persönliche Verantwortung abnehmen zu lassen. Gegen den übermächtigen Druck der öffentlichen Meinung, gegen den Zwang des „man macht das jetzt eben so“, gegen das ständige Trommelfeuer von guten Ratschlägen, freundlichen Ermunterungen und finsteren Drohungen von allen Seiten brachten sie es fertig, ihr Gewissen entscheiden zu lassen. Ließen sich auslachen, terrorisieren, im schlimmsten Fall einsperren und töten.
Einer von ihnen war der aus Tirol stammende Priester Franz Reinisch, von der Gestapo nach regimekritischen Äußerungen mit einem Predigtverbot belegt. Er berief sich auf ein Notwehrrecht gegen das Prinzip der Nazis „Gewalt geht vor Recht“ und erklärte, es müsse Menschen geben, die gegen den Missbrauch der Macht protestierten. Die gegenwärtige Regierung sei durch „Gewalt, Lug und Trug“ ans Ruder gekommen. Besonders verübelte er den Nationalsozialisten die Annexion seiner geliebten österreichischen Heimat.
1942 verweigerte er den Wehrdienst und den Fahneneid auf den „Führer“: Vor der Wehrmacht habe er Respekt und auf das deutsche Volk könne er so einen Eid leisten, „aber auf einen Mann wie Hitler – nie!“ Reinisch, ein Stur- und Feuerkopf, der seinem Gefängnispfarrer in Berlin-Tegel einmal fast entschuldigend gestand, er sei eben „ein Mensch, der immer aufs Ganze geht“, war alles andere als ein verbohrter Fanatiker. Selbstkritisch stellte er seine Entscheidung immer wieder auf den Prüfstand. Nie machte er den Mitbrüdern Vorwürfe, die den Fahneneid mit ihrem Gewissen zu vereinbaren vermochten. Nur er – er konnte ihn nicht leisten.
„Ich denke, rede und handle nicht, was und weil es andere denken, reden, handeln, sondern weil das meine innere Überzeugung ist!“
Franz Reinisch 1942
Der gefährlichste Widerstand gegen die Nazis, so lesen wir in neueren Studien, habe nicht in der politischen Aktion gelegen, sondern in der Nichtanpassung des Denkens, in der Weigerung, sich Weltsicht und Feindbilder vorschreiben zu lassen. Die braunen Herrenmenschen sahen das ähnlich; sonst hätten sie solche Nonkonformisten unter den Priestern und Laienchristen nicht so wütend verfolgt.
Reinischs kurzes, strahlendes Leben – er wurde wegen „Wehrkraftzersetzung“ zum Tod verurteilt und am 21. August 1942 neununddreißigjährig mit dem Fallbeil hingerichtet – enthält eine eminent politische Botschaft: Leute wie er, Menschen wie Franz Jägerstätter, Alfred Delp, Edith Stein, Dietrich Bonhoeffer, die Geschwister Scholl geben hervorragende Zeugen gegen die wieder in Mode gekommene Mitläufer-Mentalität ab. Ihre Lebensgeschichten zeigen, dass die Deutschen (und die Österreicher, versteht sich) eben nicht alle unwissend in das Dritte Reich hineingeschlittert und dem Regime dann machtlos gegenüber gestanden sind, wie die schlichten Vergangenheitsbewältiger so gern behaupten. Natürlich hat man gewusst und gesehen, was da geschah – nicht alles, aber genug und von Monat zu Monat mehr. Die Frage ist nur, ob man es hinnehmen musste.
„Den Eid, den Soldateneid auf die nationalsozialistische Fahne, auf den Führer, darf man nicht leisten, das ist sündhaft. Man würde ja einem Verbrecher einen Eid geben! (…) Unser Gewissen verbietet es uns, einer Obrigkeit zu folgen, die nur Mord und Totschlag in die Welt bringt um der lüsternen Eroberung willen. Man darf diesem Verbrecher keinen Eid leisten!“
Franz Reinisch 1939
Helden hätte es gar keine gebraucht und keine selbstmörderischen Widerstandsaktionen – zumindest in den ersten Jahren des Nazismus, als noch nicht hinter jeder Wand ein Spitzel lauerte und der gnadenlose Terror sich noch nicht wie ein Spinnennetz über das Land zog. Helden hätte es gar keine gebraucht, nur ein wenig Vernunft und Zivilcourage, meint etwa der Dominikanerpater Franziskus Stratmann, der sich gemeinsam mit dem Berliner Dompfarrer Bernhard Lichtenberg im „Friedensbund deutscher Katholiken“ engagierte und dafür schon 1933 ins Gefängnis wanderte.
„Dass das deutsche Volk, um das nationalsozialistische Unheil zu verhindern, aus lauter ‚Helden‘ hätte bestehen müssen, kann ich nicht gelten lassen“, beharrte Stratmann. „Es hätte nur aus simplen, aber politisch vernünftig denkenden und entschlossen handelnden, bzw. einfach an ihrem Ort stehen bleibenden Staatsbürgern bestehen müssen. Der ‚Widerstand‘ wäre dann von selbst dagewesen: in jedem Beamten, der sich verfassungswidrige und wahnsinnige Anordnungen auszuführen geweigert hätte, in jedem Professor und Lehrer, der nach wie vor bei der zuvor von ihm erkannten wissenschaftlichen Wahrheit geblieben wäre, in jedem Pfarrer, der fortgefahren hätte, das unverkrümmte Evangelium zu verkündigen, in jedem Offizier, der an dem, was er früher für seine Ehre hielt, festgehalten hätte, und in jedem schlichten Mann, der nach wie vor zu seinem eigenen und zum gemeinsam verbrieften Recht gestanden wäre. Heldentum? Nein, zivile Gesundheit! Mündigkeit statt des trostlosen Sichführenlassens! (…) Als ob man durchaus ein Held sein müsste, um kein Waschlappen zu sein! (…) Fragte man mich: Wer hat mehr Verantwortung dafür, dass die Dinge in Deutschland so gelaufen sind, das halbe Prozent Gangster oder die 99 Prozent der Ordentlichen, so würde ich ohne weiteres sagen: diese, die Ordentlichen.“
In der Schönstattfamilie, der Pater Reinisch voller Begeisterung angehörte, gibt es viele hilfsbereite Geister und unermüdliche Quellensammler, die Reinisch-Briefe, Dokumente aus der Familie und der pallottinischen Gemeinschaft, Justizakten und Gefängnisaufzeichnungen hüten. Ihrer Unterstützung habe ich viel zu verdanken, vor allem Frau Ursula Kowalski, die in Vallendar-Schönstatt das Reinisch-Sekretariat leitet, und den beiden Pallottiner-Patres Prof. Dr. Heribert Niederschlag und Dr. Werner Weicht.
An erster Stelle jedoch ist wieder einmal der agile Geschäftsführer des Patris Verlags, Pater Rudolf Ammann, zu nennen, der mich zu dem Buch inspiriert und über manche Durststrecke hinaus bei der Stange gehalten hat. Er konnte auch den Provinzial der Pallottiner in Deutschland, Pater Hans-Peter Becker, dafür gewinnen, das Buch gemeinsam im Verlag der pallottinischen Gemeinschaft, Friedberg, und im Verlag der Schönstatt-Patres, Vallendar, herauszubringen – ein Novum in der Geschichte der beiden Gemeinschaften, geeint von der leidenschaftlichen Vision einer gläubigeren, menschlicheren, gerechteren, wahrhaftigeren Welt, wie sie auch Pater Franz Reinisch antrieb.
Christian Feldmann
Regensburg, 21. August 2011,
am Hinrichtungstag von Franz Reinisch
Von den braven Fotos aus seinen Kaplansjahren – mit der grässlichen Brille und dem akkuraten Scheitel im Haar, das fast gänzlich einem rabiaten Topfschnitt zum Opfer gefallen ist – sollte man sich ebenso wenig täuschen lassen wie vom gekünstelt-steifen Stil seiner Tagebuchblätter und Briefe: „Nur immer mutig und entschlossen vorwärts“, schrieb er seinen Eltern aus dem Gefängnis, „bis das Lebenswerk vollendet ist und Ihr, geschmückt mit Garben voller Ähren, zum Throne Gottes treten könnt.“ Und als zweiundzwanzigjähriger Priesteramtskandidat zog er im Abschiedsbrief an seine Freundin („Hochgeschätztes Fräulein, Lebewohl!“) bedächtig Bilanz wie ein Urgroßvater: „Welch herzliches Unterfangen war nicht das, als wir uns gegenseitig das trauliche ‚Du‘ sagen konnten (…)! Sich selbst gegenüber treu sein, sagt ein berühmter Jesuitenpater, ist gleichbedeutend wie keusch sein! Aus dem aufrichtigen Auge spricht Reinheit des Herzens, und ein treues Herz verleiht Anmut und Schönheit dem Charakter!“
Der junge Franz Reinisch war ein ausgesprochen hübscher Kerl – das zeigen andere Fotografien aus der Studentenzeit –, der die Nächte durchtanzte, bei den gleichaltrigen Damen als vollendeter Kavalier galt und großen Wert auf ein elegantes Äußeres legte: Manchmal zog er sich dreimal am Tag um, und seine Schwestern mussten ihm ständig die Hosen bügeln. Statt sich dafür zu bedanken, erschreckte er sie mit Spinnen und einem nassen Handtuch, das er ihnen um die Waden schlug, wenn sie nicht damit rechneten. Aber dann becircte er sie wieder mit den neuesten Schlagern am Klavier oder sang ihnen betörend den Evergreen aus „Gräfin Mariza“ ins Ohr: „Brüderlein, Schwesterlein, sollst mir fein glücklich sein, Sonnenschein hüll dich ein, liebes Schwesterlein!“
Keiner konnte ihm böse sein, dem quicklebendigen Charmeur: „Er lachte nur so ins Leben hinein“, brachte es seine Schwester Marta auf den Punkt. Beim Festcommers nach dem Abitur trugen alle einen schwarzen Frack; „Spund“, wie seine Freunde den Franz aus unerfindlichen Gründen nannten – ein Glas Bier reichte ihm in der Regel die ganze Nacht –, nahm sich am frühen Morgen eine Leiter und ein Fahrrad, heftete sich sein Abiturzeugnis auf den Rücken und radelte als Kaminfeger durch die Stadt.
In Feldkirch (Vorarlberg), einem Bilderbuch-Städtchen mit alten Häusern und Laubengängen, durchzogen von einem rauschenden Fluss und umgeben von hohen Bergen, kam Franz am 1. Februar 1903 zur Welt. Der Vater, ein tüchtiger Finanzbeamter mit Schalk in den Augen, brachte seinen fünf Kindern nicht nur Werte und eine aufrechte Haltung bei, sondern auch das Klavierspielen und die Liebe zur Natur. Die Mutter, still und arbeitsam, schätzte wortreiche Ermahnungen nicht sehr, lieber nahm sie die Kinder in den Gottesdienst und zur Maiandacht mit und freute sich, wenn sie über die Lichter und den Weihrauchduft staunten.
„Ich hing in meinen Kindheitsjahren mit tiefer Verehrung und Liebe an meiner Mutter. Besonders freute ich mich, wenn Mutter mich zu den herrlichen Maiandachten in die Jesuitenkirche mitnahm. Da wuchs in mir eine ganz große Marienliebe, die mich zu stillen Betrachtungen drängte. Gern sammelte ich Heiligenbildchen. Beim Anblick des Kreuzweges konnte ich einen Zorn bekommen auf die bösen Menschen, die den lieben Heiland so grausam quälten, und konnte aus Mitleid bitterlich weinen, wenn ich Jesus und Maria auf dem Kreuzwege innerlich begleitete. Doch eines hatte ich immer an mir, meine Gefühle nicht nach außen zu zeigen.“
Natürlich spielte Franz mit seinen Geschwistern auch „Messe“, wie das damals in katholischen Familien üblich war, mit gerecht verteilten Rollen und von der Mutter zurechtgeschneiderten Gewändern. Wenn die Schwestern und das Brüderchen bei seinen Predigten nicht bei der Sache waren oder gar über seine Mahnreden lachten, konnte er fuchsteufelswild werden. Einmal redete er sich so in Rage, dass ihm seine Zahnspange herausfiel, darüber musste er dann doch selbst herzlich lachen.
Wenn die „Messe“ zu Ende war, verwandelte sich der Franzl ziemlich schnell wieder in einen wilden Lausbuben, der mit seinen Kameraden raufte und die Straßenbahn zum Entgleisen zu bringen suchte, indem er Steine auf die Gleise legte. Einmal erwischte ihn die Mutter, wie er auf einem Steinhaufen stehend, einem Feldherrn gleich, mit der Schultasche auf mehrere Mitschüler eindrosch. „Aus diesem Buben wird nichts werden“, notierte der Lehrer in der Volksschule. „Die Eltern werden ein Kreuz mit ihm haben.“
Den Wohnort hatte die Familie mehrmals wechseln müssen, weil der Vater nach Bozen, Bruneck, schließlich Innsbruck versetzt wurde. Deshalb besuchte Franz die Volksschule in Innsbruck und das von Franziskanern geführte Gymnasium in Hall/Tirol. Als witzig und fröhlich wird er geschildert, als impulsiv und empfindsam, er konnte schallend lachen und haltlos weinen. Als er später eine Freundin hatte und deren Vater starb, ging ihm das so nahe, dass er ohnmächtig wurde, während er ihr sein Beileid aussprach.
Intelligent und vielseitig interessiert ist er gewesen – und ganz schön faul. Die Kriegswinter waren hart, deshalb schickte man die Kinder während der Sommermonate Tannenzapfen sammeln, die gaben ein hervorragendes Brennmaterial ab. Wütend erzählt sein Bruder Andreas, wie er fleißig in den Baumwipfeln herumkroch und die Zapfen herunterwarf – und wie sich der Franzl, statt sie einzusammeln, behaglich unter einem Baum ausstreckte und den für beide bestimmten Proviant vertilgte. Abenteuerlustig war er und ständig zu riskanten Streichen aufgelegt – doch als er einmal einen fürchterlichen Durchfall hatte und sich in die Hose machte, traute er sich aus Angst vor Strafe nicht nach Hause. Ein Hüne ist er gewesen, dem kaum ein Anzug passte, augenscheinlich vor Kraft und Gesundheit strotzend – aber an Darmlähmungen, Gesichtsrose, Nierenproblemen leidend und körperlich manchmal überhaupt nicht belastbar, etwa beim Radfahren.
Es ist nicht leicht, ein stimmiges Bild von dem jungen Mann zu gewinnen. Wenn es freilich um Überzeugungen ging, blieb er seiner Linie eisern treu. Die Innsbrucker Studentenverbindung „Leopoldina“ faszinierte ihn mit ihrem ziemlich pathetischen Motto „Immobiles sicut patriae montes“: Unverrückbar wie die Berge der Heimat steht unser Glaube an Christus und Maria! Eine kantige Religiosität, politische Prinzipientreue, gefühlsseliger Tiroler Patriotismus und eine gute Portion Dickköpfigkeit treffen sich in so einem Leitwort. Man wird sehen, dass darin erheblich mehr steckt als oberflächliche Nostalgie: eine Kraft, die zum Widerstand ermutigt, bis hin zur Preisgabe des eigenen Lebens.
Bei Franz Reinisch traf sich so eine aufmüpfige Parole mit einer langen Familientradition. Bis in die Anfänge des 15. Jahrhunderts lässt sich der Name „Reinisch“ in Tirol zurückverfolgen: Bauern, Richter, Lehrer, Orgelbauer. Die Liebe zu Freiheit und Unabhängigkeit, Verantwortungsbewusstsein und ein fast schmerzhaftes Empfinden für Gerechtigkeit gehören zu dieser Sippe, von Anfang an. Ein bärenstarker Sensenschmied namens Anton Reinisch kämpft gegen den jungen Napoleon für die Freiheit Tirols, ein weiterer Reinisch streitet ein paar Jahre später an der Seite von Andreas Hofer gegen bayerische und französische Besatzer.
Gerechtigkeitssinn, Mut, Geradheit sind dem Franzl sozusagen in die Wiege gelegt. Seiner Schwester Marta, sie ist Lehrerin, befiehlt die braune Schulbehörde eines Tages, das Kreuz von der Wand des Klassenzimmers zu entfernen. Trotzig weigert sie sich: „Ich hab´s nicht hinaufgehängt, ich nehm´s auch nicht runter.“ Dass der neunzehnjährige Franz 1922 in Innsbruck zunächst nicht Theologie, sondern Jura zu studieren begann, dass er nach ein paar Monaten an die Universität Kiel wechselte, um sich dort in Gerichtsmedizin zu spezialisieren, passt ziemlich gut zu dieser Familientradition. Die Juristerei hat hier noch etwas mit Gerechtigkeit zu tun, mit einer von Gott geordneten, menschlicheren Welt, weniger mit Tricks und Machtspielen.