CHRIS PRIESTLEY

MISTER CREECHER

Aus dem Englischen von Beatrice Howeg

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Vollständige eBook-Ausgabe der Buchausgabe

bloomoon, München 2013

© 2011 Chris Priestley

Titel der Originalausgabe: Mister Creecher

Die Originalausgabe erschien 2011 bei Bloomsbury Publishing Plc,

50 Bedford Square, London, WC1B 3DP.

The moral right of the author has been asserted.

© 2013 bloomoon, ein Imprint der arsEdition GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten

Text: Chris Priestley

Übersetzung: Beatrice Howeg

Umschlaggestaltung: Grafisches Atelier arsEdition, Romy Pohl,

unter Verwendung von Bildmaterial von © Getty Images/Thinkstock

Umsetzung eBook: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN eBook 978-3-8458-0153-7

ISBN Printausgabe 978-3-7607-9928-5

www.bloomoon-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung,

Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder

strafrechtlich verfolgt werden.

Für meinen Vater Tom Priestley

TEIL I

KAPITEL I

Billy zog sich den klammen Mantelkragen um den Hals. Er war vom Nebel feucht geworden und lag wie die Zunge eines toten Tiers in seinem Nacken. Sein dünner Körper zitterte. Er war fünfzehn, sah aber aus wie acht. Fieberschweiß stand ihm auf der Stirn. Sein Atem war flach, kurz und hechelnd bei jedem Zug.

Er trat vorsichtig hinaus auf den Finsbury Square. Der Nebel stand unbewegt und dicht auf dem Platz. Billy fühlte sich wie in einen Kokon gehüllt, sah nur bis zu seiner Hand, als müsste die Welt außerhalb dieses kleinen Radius erst noch geschaffen werden, als würde er sie mit jedem Schritt neu erfinden.

Es war spät am Abend, und die Besitzer der Golduhren und Seidentücher, auf die Billy tagsüber Jagd machte, saßen bereits sicher zu Hause vor einem warmen Kaminfeuer, tranken einen Brandy und schwelgten in Wohlsein und Geld.

Bernsteinfarbenes Licht sickerte wie Honig aus den Fenstern in den oberen Stockwerken, leuchtete zwischen zugezogenen Vorhängen und Fensterläden, die gegen die Kälte und die angsterfüllte Welt dort draußen verschlossen waren.

Auch Laute drangen hinaus in die feuchtkalte Nacht: eine fröhliche Kulisse aus Stimmen und Gelächter, dann erklangen die Kirchenglocken über der Stadt. Billy hörte Trinksprüche und Gesang. Die Kälte nagte an seinen Knochen. Es war der erste Januar, Neujahr 1818.

Billy war krank. Er war schon öfter krank gewesen, aber das hier war etwas anderes. Er griff nach dem Eisengeländer neben sich, wollte sich abstützen. Die Kälte verbrannte seine Hand. Winzige Wälder aus weißen Kristallen zogen sich über Holz und Metall, über Ziegel und Pflastersteine. Kleinste Eisdorne stachen auf jeder Oberfläche. Der Nebel schien Billy einzuschließen. Bald würde er ihn einfach ausradieren und mit ihm alles, was er war. Alles würde sich in diesem trüben Nichts erschöpfen.

Der Goldrand auf dem Holzschild über ihm leuchtete im Licht einer nahen Laterne. Mit geschwungenen Buchstaben stand dort: Lackington, Hughes, Harding, Mavor & Jones – Verlagshaus. Billy hatte sich schon oft die Kunden der Buchhandlung vorgenommen. Sie waren leichte Beute, wenn sie, den Kopf zwischen den Seiten ihrer neuen Bücher, gedankenverloren aus dem Geschäft traten.

Der Schatten des Schildes fiel auf den Körper eines Mannes, der mit dem Gesicht nach unten regungslos an der Mauer neben dem Eingang zu dem Verlagshaus lag. Billy wusste, wie ein Toter aussah. Die Hände waren so farblos wie ranziges Fleisch. Da war kein Laut, nicht eine Bewegung.

Mit der zynischen Gleichgültigkeit, die ihn die Jahre auf der Straße gelehrt hatten, blickte er auf den Körper. Er kannte den Mann nicht, und es war ihm egal, wie er gelebt hatte oder warum er gestorben war. Nur die Reichen konnten sich erlauben, Gefühlen nachzuhängen. Er kümmerte sich um niemanden außer sich selbst. Er war allein. Jeder war das.

So schlecht es ihm auch ging, Billy konnte einen möglichen Fang nicht außer Acht lassen. Der Körper war ein Fund zum Ausschlachten. Wie ein Baum, der womöglich Früchte trug.

Billy hatte bereits gesehen, dass die Kleider ihm nicht viel nutzen würden. Der Mann war riesig. Auch wenn der Mantel an ihm klein aussah, würde er Billy unter sich begraben. Er musste also nachsehen, was in den Taschen war.

Billy drehte sich um. Er hatte das Gefühl, er würde beobachtet, aber das hatte er immer. Es machte ihn wachsam, schärfte seine Sinne. Er war immer auf der Hut, immer bereit loszurennen. Aber heute Abend hatte er nicht die Kraft zu rennen. Vielleicht war es ja der Tod, der im Nebel wartete.

Als er sich über den Leichnam beugte, wurden seine Lider schwer, und ihm wurde schwindelig. Er schlotterte jetzt mehr, als dass er zitterte. Wie alle, die auf den Straßen Londons lebten, hatte Billy so viele Leichname gesehen, dass er sich kaum noch an sie erinnern konnte. Die Toten waren nur ein weiteres Abfallprodukt der Stadt, dieser großen Maschinerie – wie der Rauch und die Abwasserkanäle.

Sein Alter schien nicht die Todesursache zu sein: Billy konnte sein Gesicht zwar nicht gut sehen, aber sein Haar war lang und rabenschwarz. Gut möglich, dass er ermordet worden oder einer Krankheit erlegen war. Vielleicht, dachte Billy, ist er auch einfach nur verhungert. Hunger konnte einen mir nichts, dir nichts dahinraffen. Hunger war ein Mörder, der niemals hängen würde.

Die Welt schien für einen Moment auf die Seite zu kippen, und Billy wäre fast mit dem Gesicht nach unten auf den Leichnam gestürzt. Er versuchte das Gleichgewicht wiederzufinden, und blinzelte mehrere Male, um wieder klar zu sehen.

Es gab keine äußeren Anzeichen, dass der Mann angegriffen worden war: kein Blut auf dem Boden oder auf den Kleidern, keine Schnitte, keine Wunden. Aber ein Knüppel in den richtigen Händen war ebenso tödlich wie ein Messer. Billy hatte es schon gesehen. Mehr als einmal.

Er berührte die blauweiße Hand des Toten. Sie war kalt wie das Herz eines Henkers. Er war wahrscheinlich seit Stunden tot. Raureif gefror auf seinen Kleidern wie weißer Schimmel. Er war sicher bereits beraubt worden, aber Billy war es sich schuldig, noch einmal nachzusehen.

»Na«, sagte eine Stimme hinter ihm. »Wen haben wir denn da?«

Billys Herz setzte einen Moment aus. Er hätte die Stimme überall erkannt. Es war Fletcher. Billy blickte hastig nach rechts und links, in welcher Richtung er am besten fliehen könnte, aber schon tauchten im grauen Dunst schemenhafte Gestalten auf.

»Hätte dich gar nicht für einen Mörder gehalten, Billy«, sagte Fletcher, der langsam aus dem Nebel auf ihn zukam, als würde er aus dem Nichts entstehen, wie ein Gedanke, ein gemeiner, übler Gedanke.

»Ich hab ihn nicht getötet, Fletcher. Er war schon tot, als ich kam. Ehrenwort.«

Aus dem Augenwinkel erkannte Billy Skinner und Tyke, zwei von Fletchers übelsten Kumpanen.

»Ehrenwort?«, sagte Fletcher. »Ich kann mich nur wundern. Dass du das Wort überhaupt in den Mund nimmst. Warum rufen wir nicht einen Wachmann und sehen, was er dazu sagt?«

Fletchers Jungs lachten bei dem Vorschlag, aber Billy wusste, dass Fletcher niemals einen Wachmann rufen würde.

»Du hast mich betrogen, Billy«, sagte Fletcher. »Und ich mag es gar nicht, wenn man mich betrügt.«

»Ich werd es dir zurückzahlen«, sagte Billy. »Das weißt du doch.«

»Ich weiß nichts dergleichen!«, zischte Fletcher ihn an. Seine Stimme zerschnitt die Luft und schlitterte über die vereisten Pflastersteine wie ein hingeworfenes Messer. Billy merkte, dass Fletcher näher kam.

»Aber genau das wollte ich doch gerade«, sagte Billy. »Ich dachte, der Tote hier hätte vielleicht was bei sich. Das wollte ich dir dann bringen. Ich schwör’s.«

»Billy, Billy, Billy«, sagte Fletcher mit einem Seufzer. »Die Zeit, in der du mir das Geld hättest zurückzahlen können, ist um. Tyke, sieh in den Taschen nach.«

Fletcher lächelte kurz und knackte mit dem Hals.

»Die Wahrheit ist«, fuhr er mit sanfter, verschwörerischer Stimme fort und legte den Arm um Billys zitternde Schultern. »Die Wahrheit ist, dass ich dir wehtun muss.«

Billy zuckte leicht zusammen und versuchte von ihm loszukommen. Fletchers Griff um seine Schultern wurde fester. Billy konnte den Gin in seinem Atem riechen.

»Ich will dir nicht wehtun«, murmelte Fletcher. »Ich mag dich, Billy. Ich hab dich immer gemocht. Hab ich mich nicht um dich gekümmert, als du weggelaufen bist? Aber was würde wohl passieren, wenn ich zuließe, dass du mir keinen Respekt entgegenbringst?«

Billy wusste, dass Fletcher auf einem Auge blind war, doch er konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, welches Auge es war. Er war sicher, es könnte von Vorteil sein, wenn er sich nur erinnerte, aber beide Augen sahen gleichermaßen tot aus. Fletcher schien seine Gedanken zu lesen.

»Siehst du dir mein Auge an?«

Billy wusste, dass er nicht antworten musste, und schwieg. Er wollte nur noch, dass Fletcher hinter sich brachte, was immer er austeilen wollte. Solange nichts gebrochen wurde, würde es schon gehen. Billy hatte manchmal das Gefühl, er wäre eine einzige Narbe. Er war plötzlich so müde.

»Ich bin schon mit einem Auge blind zur Welt gekommen«, sagte Fletcher. »Wahrscheinlich weil sich meine Mutter damals blindlings besoffen hat.« Er lachte heiser über den Witz, doch niemand war so dumm, mit einzufallen.

»Man würde meinen, das hätte mich aufgehalten, aber nein – es hat mich zu dem gemacht, was ich bin. Man sieht die Welt klarer mit nur einem Auge. Und das, lieber Billy, werd ich dir jetzt zum Geschenk machen.«

Mit einer geschmeidigen Bewegung zog Fletcher ein riesiges Messer aus dem Mantel und hielt es dicht vor Billys fahles Gesicht, das sich in der schartigen Klinge spiegelte. Doch bevor er zur Tat schreiten konnte, hörten sie von Tyke einen solch wilden, animalischen Schrei, dass Fletcher und Billy, ja, ganz London, wenn nicht gar die Zeit selbst einen Moment stehen blieb.

Alle Augen – einschließlich Fletchers blindem, linken Auge – drehten sich zu ihm um. Der Leichnam, den Tyke gerade durchsuchen wollte, war vom Boden aufgestanden und hatte Tyke am Arm gepackt.

»Er lebt!«, rief Skinner. »Das Ding lebt!«

Und nicht nur das. Der zum Leben zurückgekehrte Tote war bestimmt der größte Mann, den Billy je gesehen hatte, und mit Sicherheit der hässlichste. Er war ein Riese von gut zwei Metern, wenn nicht gar zweieinhalb. Das strähnige schwarze Haar lag wie Tintenrinnsale über seinem Gesicht, das aussah, als hätte es tagelang am Galgenbaum gehangen und wäre schließlich Flut um Flut vom Wasser der Themse umspült worden.

Seine Augen waren klar, und wenn auch von schweren, gefurchten Augenbrauen umschattet, spiegelte sich darin das wenige Licht, das sie umgab. Sie schienen so lebendig im Gegensatz zum Rest.

»Lieberreee legarrrsson«, knurrte der Riese und zeigte auf Billy.

Auf diesen heiser kehligen Ausbruch folgte ein Moment verwunderter, ratloser Stille.

»Was zur Hölle …?«, sagte Fletcher, dessen Stimme sich ein wenig dünn anhörte.

Der Riese packte Tyke noch fester am Arm, dann drehte er ihn um. Tykes Schrei endete in einem leise gurgelnden Krächzen, dann hörten sie ein Knacken wie von einem Hühnerbein, das auseinandergerissen wird. Tyke fiel auf das Pflaster und schrie erneut.

»Lieberreeele!«, knurrte der Riese, ohne sich weiter um Tyke zu kümmern, der sich vor seinen Füßen krümmte. Billy wurde wieder schwindelig, er fühlte sich, als würde alles Leben aus seinen Gliedern gespült, ihm schwamm die Sicht vor Augen, und hätte Fletcher ihn nicht noch immer gehalten, er wäre wie Tyke zu Boden gefallen.

Fletcher schien sich unsicher, was er tun sollte. Als Erster reagierte Skinner, der ein Messer aus der Manteltasche gezogen hatte und jetzt auf den Riesen losging.

Der Riese schien sich kaum zu bewegen. Dann sah Billy, wie das Messer zu Boden fiel und der Fremde Skinner an der Kehle packte und ihn mit ausgestrecktem Arm langsam in die Luft hob.

Skinner aß für sein Leben gern. Er war nicht wie die anderen Straßenjungen, nicht aus Haut und Knochen. Er war groß. Er war schwer. Billy konnte nur noch starren. Was war das für ein Mann?

Der Fremde warf Skinner zur Seite, als wäre er nichts als der Haufen stinkender Kleider, die er am Leibe trug. Der Junge schlug dumpf gegen das Eisengeländer und fiel reglos auf den Boden.

Billy konnte die widerstreitenden Gefühle in Fletchers Gesicht erkennen: Sollte er aufspringen und den Riesen angreifen, solange er noch konnte, sollte er losrennen – oder sollte er vorher Billy noch ein Auge herausschneiden?

Billy glaubte sicher, dass er sich für Letzteres entschieden hatte, und schloss die Augen in Erwartung der kalten Klinge. Doch öffnete er sie prompt wieder, als er den Riesen hörte, der angesichts seiner Größe mit erstaunlicher Geschwindigkeit auf sie zugestürzt kam.

Bevor Fletcher sich auch nur regen oder rufen konnte, hatte der Riese ihn am rechten Arm gepackt. Billy hörte, wie sein Handgelenkknochen brach und Fletchers Messer auf das Pflaster fiel.

Fletcher war ein hartgesottener Kerl, und ob mit gebrochenem Handgelenk oder ohne, er wehrte sich, wie er nur konnte. Er trat und schlug mit seinem unversehrten Arm auf den Riesen ein, aber ohne Erfolg. Der Riese gab ihm mit seiner gewaltigen Faust einen Schlag gegen den Schädel, und Fletcher fiel wie ein Sack Mehl zu Boden und rührte sich nicht mehr.

Als Billy sich von Fletcher abwandte, starrte er direkt auf die Brust des Riesen. Er sah nach oben. Der Riese blickte auf ihn herab, seine Haut wirkte fast durchsichtig, wie die Haut des ertrunkenen Mannes, den Billy einmal an der London Bridge gesehen hatte. Vielleicht sieht so der Tod aus, dachte Billy. Oder sein Tod zumindest.

Der Riese beugte sich zu ihm herunter und betrachtete Billy mit dem erheiterten Blick einer Schlange, die jede Sekunde zubeißen wird. Der Nebel schien sich plötzlich zu verdichten, und dann folgte nichts.

KAPITEL II

Billy flog ein paar Fuß über den Boden treibend durch die Luft. Sein Kopf baumelte hin und her. Als er die Augen öffnete, schien die Welt zu schwanken, als dümpelte er in einem Boot auf den Wellen über das Meer.

Seine Sicht war verschwommen wie durch ein schlieriges Glas. Seine Lider flackerten, halb geöffnet, halb geschlossen. Alles, was er sah, schien seiner Sicht zu entgleiten; alle festen Dinge hatten ihren Halt verloren.

Geräusche schwemmten gegen seine Ohren, aber Billy konnte sie nicht entschlüsseln. Sie spülten über ihn, hallten laut in seinem Schädel, dann wieder leise und weit entfernt.

Er war bis auf die Knochen durchgefroren. Die Luft lag kalt auf seinem klammen Gesicht, er spürte, dass sein Körper gegen etwas noch Kälteres gepresst war.

»Wohin jetzt?«, sagte eine Stimme neben seinem Ohr.

Billy hob den Kopf und sah ein paar Schritte voraus. Er träumte. Er musste träumen. Er konnte ein paar Umrisse erkennen – ein Ladenschild, ein krummes Geländer, ein vertrauter, dreckiger Hof und eine Gasse dahinter.

»Da lang«, sagte eine leise, ferne Stimme, und er brauchte einen Moment, um zu erkennen, dass es seine eigene war.

***

Billy war jetzt im Innern – er war sich sicher. Es war wärmer, die Luft war wärmer, aber ihm war immer noch kalt. Er schlotterte und merkte, dass er nicht damit aufhören konnte.

Das Schlottern rüttelte an seinem Kiefer, seinen Gelenken, jeder Knochen in seinem Körper schien sich an einen anderen Platz zu schieben. Seine Zähne klapperten, das harte Geräusch rasselte in seinem Kopf.

Billy blinzelte und blinzelte wieder, er kniff die Augen zusammen, versuchte etwas zu erkennen, irgendetwas. Aber die Welt schien sich gegen jeden seiner Versuche, sie zu erkennen, zu wehren.

Vielleicht bin ich gestorben, dachte er. Vielleicht sieht so die Welt aus, wenn man stirbt. Aber wenn er tot war, wo war er dann? Er war sich ziemlich sicher, dass man ihn nicht durch die Himmelspforte lassen würde, aber nach der Hölle sah es auch nicht wirklich aus.

Vielleicht war er an diesem anderen Ort: dem Ort, an dem man warten musste, bis über das eigene Schicksal entschieden wurde. Er versuchte, sich an den Namen zu erinnern, konnte sich aber nicht entsinnen. Vielleicht war dies alles, was da war.

Billy bemerkte ein paar Schritte vor sich einen dunklen Schatten. Zumindest sah es so dunkel und formlos wie ein Schatten aus. Er strengte seine Augen an, versuchte mit aller Kraft, mehr zu erkennen, aber statt klarer zu werden, wurde der Fleck nur größer und veränderte seine Form.

Der Schatten wuchs, füllte den Raum wie eine schwarze Rauchwolke, dann tauchte aus dem tintenschwarzen Nebel ein schreckliches Gesicht vor ihm auf. Billy schrie und schützte sein Gesicht mit den Armen. Er kauerte sich auf den Boden und wagte nicht, noch einmal hinzusehen, falls das Gesicht noch immer da wäre.

Schlaf überkam ihn. Ein eisiger, wenig erholsamer Schlaf, und doch zog er ihn mit sich ins Vergessen. Er öffnete die Augen, es war immer noch dunkel. Er konnte Ruß im Mund schmecken und wusste, er war wieder Kaminjunge und saß im Schornstein fest.

Der Schornsteinfeger kläffte Befehle von unten in den Schacht, sein scharfer Tonfall drohend wie die Schläge, die er zu erwarten hatte. Billy holte keuchend Luft, er erstickte fast an dem Ruß, der ihm in Nase und Kehle strömte.

Der Kamin war eng, aber Billy war mager, vom Schornsteinfeger absichtlich ausgehungert. »Es ist nur zu deinem Besten«, sagte er. »Wir wollen doch nicht, dass du auf halbem Wege stecken bleibst.«

Er war so müde, so furchtbar müde.

Er wusste nicht, wie lange er sich noch halten konnte. Er sah nach unten, weit unter sich konnte er die Feuerstelle ausmachen. Wie konnte sie nur so weit weg sein. Er schluckte, Angst stieg in ihm auf.

Wenn er jetzt fiele, wäre es das gewesen. Alles, was er tun musste, war loslassen.

Billy sah hinauf ins Tageslicht am Ende des Kamins, die Öffnung schien wie ein leuchtender Vollmond in einer schwarzen Nacht.

Er ließ den Bürstenkopf fallen, der durch den Schornstein nach unten polterte, und kletterte hinauf ins Licht.

KAPITEL III

Billy fuhr mit einem Ruck aus dem Schlaf, so wie immer. Er war wie eine Katze, im Schlaf fast ebenso wachsam wie bei Tag, doch war er benommener als sonst. Er versuchte sich zu konzentrieren. Ein Traum … Ein merkwürdiger Traum …

Zitronengelbes Licht fiel in Streifen durch den dunklen Raum, beleuchtete Galaxien von Staubpartikeln, die endlos vor seinen wachen Augen durch die Luft flogen. Am anderen Ende saß der Riese, der Fletcher und seine Bande so schlimm zugerichtet hatte.

Billy schrak zusammen und krabbelte rückwärts, bis er an eine Wand stieß und nicht weiter konnte. Sich zu bewegen war falsch gewesen. Es drehte sich ihm der Kopf, und ihm war übel. Wo war er?

»Rrruhig«, knurrte der Riese.

»Was?«, sagte Billy erschöpft. »Sie können sprechen?«

Der Riese nickte. Billy versuchte sich aufzusetzen, aber der Schwindel war stärker. Er sank zurück gegen die Wand.

»Fieber«, sagte der Riese.

Billys Gedanken schienen von den gleichen Staubpartikeln vernebelt wie der Raum.

»Fletcher«, sagte er. »Was ist passiert?«

»Das war vor drei Tagen.«

»Drei Tage …« Billy brachte den Satz nicht zu Ende. Er schüttelte den Kopf und schloss die Augen, als hoffte er, der Riese wäre verschwunden, wenn er sie wieder öffnete, aber er war noch da. Es war kein Fiebertraum.

»Moment«, sagte Billy und kniff die Augen zusammen. »Ich weiß, wo wir sind. Auf dem Dachboden über der Bäckerei in der Chalk Street.«

Es war eines von Billys Lieblingsverstecken, von dem er nie jemand erzählt hatte. Die Hitze der Öfen unten machte es im Sommer unerträglich, aber im Winter rettete sie einem das Leben.

»Du hast uns hierhergebracht«, sagte der Riese.

»Was?«, sagte Billy. »Ach ja. Ich erinnere mich. Ich dachte, ich würde schweben.« Billy fühlte sich noch immer, als würde er schweben. Ihm war schwindelig. Alles flirrte vor seinen Augen. Seine eigene Stimme dröhnte in seinem Kopf. Das Knurren des Riesen war ohrenbetäubend. Billy zog den Kopf ein und blinzelte durch die halb geschlossenen Lider.

»Ich habe dich getragen«, sagte der Riese.

Er hatte einen schweren Akzent – den gleichen Akzent wie die französischen Weber in Spitalfields.

»Und Sie haben sich um mich gekümmert?«, fragte Billy.

Der Riese nickte langsam.

»Warum? Wer sind Sie?«

»Schlaf!«, sagte der Riese und beugte sich über ihn.

Es klang mehr nach einem Befehl als nach einem Rat, und Billy wollte mit dem Fremden – wer oder was er auch war – keinen Streit anfangen. Und mit einem Mal schien ihm Schlaf auch mehr als verführerisch.

***

Billy sah sich nach dem Riesen um. Nicht immer, wenn Billy aufwachte, war der Riese da, und hätte Billy nur ein wenig mehr Kraft gehabt, er wäre aus dem Fenster geklettert und verschwunden. Aber er hatte bereits versucht, auf die Füße zu kommen, merkte jedoch, dass seine Beine seinen Wunsch zu fliehen offenbar nicht teilten.

Aber so oder so, der Riese war zurück. Billy sah ihn am anderen Ende des Dachbodens hocken.

Fahles gelbes Licht fiel durch das Fenster. War es Morgen? Oder Abend? Billy konnte es nicht sagen.

Aber wenigstens konnte er wieder etwas klarer sehen, und auch der Nebel um seine Gedanken hatte sich gehoben. Dennoch fand er nur schwer den Mut, etwas zu sagen.

»He«, sagte Billy.

Der Riese hob den Kopf, seine wässrigen Augen funkelten in der Dunkelheit. »Du bist wach?«, sagte er.

Er war so groß, stehend wäre er sicher mit dem Kopf durchs Dach gebrochen. Und so bewegte er sich auf Händen und Füßen langsam auf Billy zu. Billy stockte der Atem.

»Warum helfen Sie mir?«, sagte er.

»Du brauchtest Hilfe«, sagte der Riese mit einem Achselzucken.

Billy zog ungläubig die Augenbrauen hoch.

»Du meinst wegen meinem … Aussehen«, sagte der Riese und kräuselte die Lippen. »Du meinst, in mir könnte nichts Gutes stecken?«

»Ich weiß nicht«, sagte Billy.

»Du glaubst, ich sei ein Dämon?«

»Ich weiß nicht, was Sie sind«, sagte Billy, aber er hätte es mit Sicherheit lieber gehabt, wenn das Wort Dämon nicht gefallen wäre. Der Mund des Riesen verzog sich zu einem unangenehmen Grinsen.

»Vielleicht bin ich ja auch der Teufel selbst?«, knurrte er.

»Was?«, sagte Billy unruhig.

»Ja …« Dem Riesen schien der Gedanke zu gefallen.

»Verflucht wie Satan bin ich allemal, ich werde gemieden, wie er gemieden wurde. Für mich gibt es keinen Himmel, auf Erden oder sonst wo, für mich gibt es nur die Hölle.«

Für mich läuft es auch nicht gerade rosig, dachte Billy. Aber er sagte: »Fletcher haben Sie zumindest die Hölle schon mal heißgemacht.«

Billy wurde abermals schwindelig, und er schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, schien alles in die Ferne gerückt und leicht verschwommen.

»Fletcherrr?«, sagte der Riese und rollte die Silben im Mund, als würde er sie einzeln kosten. Billy hatte noch nie so weiße Zähne gesehen.

»Ja«, sagte Billy und versuchte sich zu konzentrieren. »Sie wissen schon – der mir das Auge ausstechen wollte. Ist er tot?«

Der Riese zuckte gleichgültig mit den Achseln.

»Hören Sie, was wollen Sie eigentlich von mir?«, sagte Billy. Der Klang seiner Stimme hallte in seinem Schädel, und er senkte seine Stimme zu einem Flüstern. Ihm war, als hätte ihm jemand, während er schlief, den Kopf aufgesägt. Sein Gehirn fühlte sich roh und weich an, und seine Gedanken lagen bloß.

Der Riese antwortete nicht. Er starrte auf seine blaugrauen Hände, drehte sie mit den Handflächen nach oben, dann nach unten, starrte darauf, als hätte er sie noch nie zuvor gesehen oder als gehörten sie jemand anderem.

»He, Mister!«, rief Billy. Der Klang seiner Stimme schepperte durch seinen Kopf wie Würfel in einem Becher. Der Riese drehte sich zu ihm um. »Haben Sie gehört, was ich gesagt habe?«

Der Riese legte den Kopf schief.

»Ja«, antwortete er mit tiefer, knurrender Stimme.

»Wer sind Sie?«, fragte Billy und versuchte seine Benommenheit wegzublinzeln.

»Wer?«, sagte der Riese.

»Sie«, sagte Billy und zeigte mit dem Finger auf das Gesicht des Fremden.

»Ich?«, fragte der Riese und tippte sich an die Brust.

»Ja, Sie«, wiederholte Billy. »Wie heißen Sie?«

Der Riese zog die Brauen zusammen und murmelte: »Creature.«

»Wie war das? Creecher?«, sagte Billy und sah sich derweil immer wieder nach einem Fluchtweg um. »Also, Mister Creecher. Ich denke, ich sollte mich bei Ihnen bedanken.«

»Mister Creature?«, wiederholte der Riese langsam. Dann fing er an zu lachen – zumindest nahm Billy das bei dem seltsam heiseren Pfeifton an, den er von sich gab.

Billy hob die Augenbrauen. Wer war dieser merkwürdige Riese von einem Mann? Kam er aus einem Zirkus? War er aus einem Irrenhaus geflohen?

»Ich heiße Billy.«

»Bil-ly …«, sagte Creecher.

»Würden Sie bitte aufhören, alles zu wiederholen, was ich sage?«

Creecher starrte ihn böse an. Billy antwortete mit einem nervösen Lachen.

»Schon gut, tut mir leid. Ich wollte Sie nicht anfahren. Woher kommen Sie?«, fragte er schnell. »Sie sind doch nicht aus London? Oder überhaupt aus England? Woher kommen Sie?«

»Woherrrr?«, sagte Creecher. Die Frage schien ihn zu verwirren.

»Ja«, sagte Billy und sprach sehr langsam und deutlich weiter – als würde er mit einem der Fremden auf der Straße sprechen, bevor er sie um ihre Uhren erleichterte. »Woher kommen Sie? Wo waren Sie, bevor Sie hierherkamen?«

Creecher zog die Stirn in Falten und schien nachzudenken. Überlegte er, woher er kam, oder versuchte er sich eine Lüge auszudenken? Billy fragte sich, ob der Riese nicht doch einen Schlag auf den Kopf bekommen hatte. Vielleicht war sein Hirn nicht ganz in Ordnung. Dann schien dem Riesen ein Gedanke zu kommen.

»Aus der Schweiz«, sagte Creecher.

»Der Schweiz?«, sagte Billy. »Ich dachte, Sie wären Franzose. Ihr Akzent. Hört sich französisch an. Sind Sie sicher, dass Sie kein Franzose sind?«

Creecher gab keine Antwort. Die Schweiz? Billy war genauso schlau wie vorher. Seine Länderkenntnis war doch recht begrenzt. Er kannte London wie seine Westentasche – genau genommen sogar besser. Aber außerhalb der Stadtgrenzen begann für ihn die Fremde. Die Schweiz, Frankreich, Wales – das war für Billy das Gleiche.

»Ich bin hier geboren. In London«, sagte Billy. »War nie woanders.«

Der Riese sagte nichts. Die Stille war irgendwie beklemmend, und Billy hatte das Gefühl, dass er etwas sagen musste.

»Ich bin Waise«, sagte er. »Meine Mutter starb, als ich acht war. Meinen Vater hab ich nie kennengelernt. Er hat uns verlassen, als ich noch ein Baby war, das hat mir zumindest meine Mutter erzählt.«

Billy war erstaunt, als er auf dem furchteinflößenden Gesicht des Riesen einen Ausdruck von Mitgefühl sah. Creecher schüttelte den Kopf, und Tränen stiegen ihm in die Augen. Ob die Tränen Billy galten oder ihm selbst, konnte Billy nicht sagen.

»Wie sind Sie hierhergekommen?«, fragte Billy, richtete sich auf und rieb sich die Augen.

»Mit einem Schiff«, sagte Creecher.

»Nein«, sagte Billy und schüttelte den Kopf. »Ich meine – warum sind Sie hergekommen. Sie sehen mir nicht gerade wie der übliche Städtereisende aus.«

Der Riese gab keine Antwort.

»Warum lagen Sie auf dem Finsbury Square?«

»Ich weiß nicht«, sagte Creecher und runzelte die Stirn. Er versuchte sich anscheinend zu erinnern. »Ich muss geschlafen haben.«

»Geschlafen?«, sagte Billy. »Bei dem Wetter?«

Billy wusste noch, wie sicher er war, dass Creecher tot sein müsste, als er ihn an dem Abend gefunden hatte. Plötzlich kehrte seine Angst vor dem Riesen zurück. Ihm lief es kalt den Rücken hinunter, sein Herz flatterte in seiner Brust wie eine gefangene Motte. Creecher schien es zu bemerken.

»Hässlich?«, fragte er und fuhr sich mit der Hand vor das Gesicht.

»Hab schon Schlimmeres gesehen«, sagte Billy, auch wenn sie beide wussten, dass das nicht stimmte.

Creecher schien wieder in Tagträumen zu versinken, und Billy überlegte, ob er nicht aufspringen und verschwinden sollte. Aber er hatte keine Kraft.

Der Mann war ein einziges Ungetüm. Und doch, vor nicht einmal einer Stunde hätte er ihn in Stücke reißen können, wenn er es gewollt hätte. Außerdem – hatte er Billy nicht sogar das Leben gerettet? Und nicht nur einmal, sondern zweimal? Bei Fletcher und jetzt während des Fiebers?

»Was wollen Sie eigentlich von mir?«, fragte Billy erneut.

»Ruh dich aus«, sagte Creecher. »Ich werde Essen holen. Wenn es dunkel ist.«

KAPITEL IV

Die nächsten Stunden trieb Billy fiebrig zwischen Schlaf und Wachsein hin und her, bis er sich schließlich aufsetzte und seine schmerzenden Glieder streckte.

Der Raum lag fast in völliger Dunkelheit. Nur ein bläulicher Schein fiel durch die halb geöffneten Läden. Und auch wenn der Schatten am anderen Ende des Dachbodens den Riesen leicht hätte verdecken können, war Billy sicher, dass er allein war.

Billy war nicht nur wach, er merkte auch, dass er kein Fieber mehr hatte. Er fühlte sich etwas benommen und hatte Hunger, das war alles. Es war langsam an der Zeit, hier rauszukommen, weg von Creecher, was immer er auch plante.

Billy kam etwas zu schnell auf die Beine und musste sich an einem Balken festhalten. Leuchtende Punkte tanzten ihm vor Augen. Er wollte gerade die Fensterläden aufstoßen und auf das Dach hinausklettern, als er merkte, wie steif seine Glieder waren. Er schüttelte sich, versuchte seine Muskeln zu lockern. Er musste verschwinden, bevor der Riese zurückkam.

Aber wo genau sollte er hin? Creecher wusste anscheinend nicht, ob Fletcher tot war oder nicht, und wenn Fletcher noch lebte, würde er ihm früher oder später über den Weg laufen. Diesmal würde sich Fletcher bestimmt nicht mit einem Auge zufriedengeben.

Billy ertappte sich bei dem Gedanken, wie angenehm es wäre, Creecher bei sich zu haben, wenn er Fletcher das nächste Mal traf. Creecher könnte ihm diesmal den Rest geben. Bis Fletcher nicht erledigt war, war London für Billy nicht sicher.

Aber wie sicher war Billy bei Creecher, wer oder was er auch war? Noch während er darüber nachdachte, sah er, wie sich etwas von draußen auf das Fenster zubewegte.

Anstatt die Läden zu öffnen, kroch Billy zu dem Haufen Säcke und Pferdedecken zurück, die ihm in den letzten Tagen als Lager gedient hatten, und tat, als hätte er sich nicht von der Stelle gerührt.

Kaum hatte er sich hingelegt, gingen die Läden auf und Creecher glitt durchs Fenster.

Billy war es ein Rätsel, wie ein so großer Mann sich so leise bewegen konnte. Auf den Dachziegeln hatte er Creecher so gut wie nicht gehört, und Diebe hatten gute Ohren.

Creecher war in der Hocke gelandet, jetzt erhob er sich wie ein riesiger Schatten und kam langsam mit ausgestreckten Händen auf Billy zu. Billy entfuhr ein leiser Schrei, und er wich ängstlich zurück.

»Hier«, sagte Creecher. »Iss.«

Erst jetzt sah Billy den Laib Brot in seinen Händen. Gierig griff er danach. Er hatte bereits mehrere Bissen verschlungen, als er sich besann und ein undeutliches »Danke« nuschelte.

Creecher hatte sich auf die andere Seite des Dachbodens zurückgezogen und aß seinen eigenen Laib Brot. Zwischen ihnen lag ein kleiner Beutel auf dem Boden.

»Was ist das?«, fragte Billy.

»Hühnchen.«

Billy sprang aus den Decken, hastete über die dreckigen Dielen und stürzte sich auf den Beutel. Er griff mit der Hand hinein und zog ein ganzes, gebratenes Huhn heraus. Der Geruch allein machte ihn benommen, und er musste sich kurz hinsetzen. Dann hielt er das Hühnchen Creecher hin.

»Hier«, sagte er. »Sie sollten als Erster was nehmen.«

Creecher schüttelte den Kopf.

»Ich esse kein … Fleisch«, sagte er.

Dass dieser riesige Brocken von einem Mann sich den Genuss von Fleisch verwehrte, schien irgendwie wenig glaubhaft.

»Sie wollen wirklich nicht?«, fragte Billy. »Sind Sie sicher?«

Creecher lächelte und schüttelte wieder den Kopf.

»Ja«, antwortete er und zeigte auf Billy. »Es ist alles für dich.«

Das ließ Billy sich nicht zweimal sagen. Er zog sich mit der Beute auf seine Seite des Dachbodens zurück und machte sich mit der Zurückhaltung eines gierigen Wolfes darüber her. Als er fertig war, sackte er gesättigt zurück gegen die Wand. Das Essen lag ihm schwer im Magen, aber er mochte das Gefühl. Es schien ihn von innen zu wärmen.

Billy war wieder bei klarem Bewusstsein, und jetzt, da er gegessen hatte, fühlte er sich auch imstande, mit der eigenartigen Situation umzugehen. Er hatte vor dem Riesen noch immer große Angst, aber sie schien ihn nicht mehr zu lähmen.

Billy musste aufstoßen, dann sah er zu Creecher. Er hatte ihn beim Essen nicht weiter beachtet. Die riesenhafte Gestalt hätte ihm den Appetit verschlagen. Jetzt aber sah er den Riesen, wie er über ein Buch gebeugt dasaß.

Es war ein außergewöhnlicher Anblick. Das Buch wirkte in seinen Händen winzig. Was war das für eine seltsame Kreatur, dieses furchterregende knurrende Ungetüm, das kein Fleisch aß und Bücher las?

»Wie können Sie bei dem Licht lesen?«, fragte Billy. Er konnte in dem Halbdunkel den Riesen kaum erkennen.

Creecher zuckte mit den Achseln.

»Was ist das für ein Buch?«

»Es heißt Überredung«, antwortete Creecher.

»Ach«, sagte Billy. »Und worum geht es?«

»Es handelt von einer Frau, die einen Mann liebt, der aber von ihrer Familie nicht anerkannt wird.«

»Wie kommt’s?«, sagte Billy.

»Er hat nicht genügend Geld.«

Billy rümpfte die Nase. »Klingt logisch. Wer hat es geschrieben?«

»Jane Austen«, sagte Creecher.

Billy lachte laut auf. Sogar er hatte schon von Jane Austen gehört. Creecher sah ihn finster an.

»Was ist so komisch?«

»Das ist ein Buch für Frauen!«, sagte Billy. »Ist doch ein Roman, oder nicht? Nur Frauen lesen Romane!«

Creecher warf ihm einen vernichtenden Blick zu, dann widmete er sich wieder dem Buch.

»Entschuldigung, war nicht so gemeint«, sagte Billy.

Creecher beachtete ihn nicht weiter.

»Ehrlich. Ich wollte Sie nicht verletzen.« Billy unterdrückte ein Grinsen. »Ich hab nur noch nie einen Mann gesehen, der Romane liest.«

»Viele Männer schreiben Romane, und viele Männer lesen Romane«, sagte Creecher. »Außerdem hilft es mir bei meinem Englisch.«

Und es stimmte. Billy bemerkte tatsächlich, dass sein Englisch immer besser wurde.

»Und? Ist es gut?«, fragte Billy. »Ich meine, das Buch?«

»Nicht schlecht«, sagte der Riese. »Liest du nicht?«

»Doch. Natürlich«, verteidigte sich Billy. »Ich kann schon lesen, wenn ich muss. Meine Mutter hat es mir beigebracht. Sie sagte, aus mir wird nie etwas werden, wenn ich nicht lesen kann. Wozu es aber Geschichten gibt, hab ich nie verstanden. Die sind doch was für Kinder. Oder Frauen!«

Er musste wieder lachen. Als er aufblickte, sah er, dass der Riese ihn eingehend betrachtete.

»Du sagst, deine Mutter hätte es dir beigebracht«, sagte Creecher. »Bist du nicht zur Schule gegangen?«

»Nein«, sagte Billy. »Ich bin im Armenhaus aufgewachsen.«

»Aber deine Mutter konnte lesen?«

»Ja«, sagte Billy. »Sie hat viel durchgemacht, und dann … na ja, dann war da ja noch ich.«

Creecher nickte.

»Und dein Vater?«

Billy schüttelte den Kopf.

»Hab ihn nie gesehen«, sagte er. »Er hat meine Mutter einfach sitzen lassen. Hat sich nicht um sie geschert. Um mich auch nicht. Ich hasse ihn. Wahrscheinlich ist er sowieso schon tot. Ich hoffe es.«

Der Riese brauchte einen Moment, um alles in sich aufzunehmen, und wieder war Billy erstaunt, diesen sanften Ausdruck auf seinem scheußlichen Gesicht zu sehen.

»Und wie bist du ein Dieb geworden?«, fragte der Riese.

»Ich war Kaminjunge bei einem Schornsteinfeger, aber ich bin weggerannt.«

»Warum?«

Billy zuckte mit den Achseln, dann sah er zur Seite. »Wir sind nicht gut miteinander ausgekommen.«

»Also hast du gestohlen«, sagte der Riese.

Billy wehrte sich innerlich gegen den vorwurfsvollen Ton.

»Und was ist mit Ihnen?«, fragte er.

Der Riese antwortete nicht.

»Wie haben Sie das Essen hier bezahlt? Sind wohl ein reicher Mann? Sehen mir nur nicht sehr reich aus.«

Der Riese furchte die Stirn.

»Ich bin kein Dieb. Ich nehme nur, was ich brauche«, knurrte er.

»Machen wir das nicht alle?«, sagte Billy. Er lehnte sich zurück, legte die Hände auf seinen vollen Magen und stöhnte leicht. Er musste irgendwohin und nachdenken.

»Hören Sie. Danke fürs Essen. Sie haben mir aber immer noch nicht gesagt, was Sie von mir wollen. Nicht, dass ich nicht dankbar wäre, Sie verstehen schon. Sie scheinen mir einfach nur nicht der mildtätige Typ zu sein. Ich denke, Sie wollen etwas von mir. Nur was?«

Der Riese nahm sich für die Antwort so viel Zeit, dass Billy schon ein zweites Mal fragen wollte, als Creecher sich langsam vorbeugte. Der Riese mochte kein Fleisch essen, aber sein Atem roch wie das Abflussgitter eines Metzgers.

»Ja«, sagte er. »Es gibt etwas, das du für mich tun kannst. Aber dafür musst du mitkommen. Meinst du, du schaffst das?«

Billy nickte. Er war froh, endlich aus der stickigen Dachkammer zu kommen und seine Lunge mit ein wenig kalter Londoner Luft zu füllen – und er war froh, ein wenig Platz zwischen sich und den Riesen zu bekommen. Aber wobei konnte er diesem Ungetüm nur helfen?

KAPITEL V

Creecher wartete, bis Billy aufgestanden und durch das Fenster auf das Dach geklettert war. Billy kannte den Weg so gut, dass er das Mondlicht im Grunde gar nicht brauchte, um hinunter in die Gasse hinter der Bäckerei zu finden. Creecher folgte ihm auf dieselbe beunruhigend leise Art, wie er gekommen war, und setzte lautlos neben ihm auf dem Boden auf. Ein Geist hätte mehr Lärm gemacht.

»Also«, sagte Billy. »Was jetzt?«

»Wir müssen zum Fluss, in die Nähe der Waterloo Bridge.«

Billy rieb sich die Arme.

»Ist Ihnen gar nicht kalt?«, fragte er.

»Doch«, sagte der Riese und nickte. »Mir ist immer kalt. Die Kälte sitzt mir in den Knochen.«

»Wohin gehen wir also?«, fragte Billy. »Ich meine, welche Straße?«

»Whale Street«, sagte Creecher. »Komm.«

Der Riese wollte gerade losgehen, als Billy ihn am Arm fasste. Der Riese fuhr so abrupt herum, dass Billy schützend den Arm vor sich hob.

»Puh. Immer mit der Ruhe«, sagte er. »Ich kenne die Whale Street. Hier lang geht’s schneller.«

Creecher sah Billy an und nickte. Ohne ein weiteres Wort ging Billy los. Er musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass der Riese ihm folgte. Er spürte es irgendwie.

Auch wollte er Creecher nicht unbedingt sehen. Schon so wäre er am liebsten davongerannt. Er musste sich nicht auch noch zu der finsteren Gestalt umdrehen.

Billy bewegte sich schnell und unauffällig durch die schmalen Gassen, über verwitterte Stufen, hinaus über verlassene Plätze, nur hier und da blieb er an einer Straßenecke stehen, um sich auf der Straße umzusehen.

Unten am Fluss war die Luft sogar noch kälter. Billy spürte, wie sie in seine Lunge strömte und seine Brust vereiste. Er hatte einen fauligen Geschmack im Mund. Er hustete und spuckte aus, dann drehte er sich das erste Mal zu Creecher um, der fast auf seinen Hacken stand.

»Machen Sie das bloß nicht wieder!«, zischte Billy. »Müssen Sie sich so dicht ranschleichen? Das ist doch nicht normal.«

Creecher antwortete nicht, stattdessen gab er Billy ein Zeichen, er solle ihm in eine Gasse folgen. Am Eingang der Gasse blieben sie stehen und blickten zurück auf die Straße. Der Riese starrte reglos auf ein Gebäude gegenüber.

Nachdem sie mehrere Minuten so gestanden hatten, holte Billy tief Luft und atmete laut seufzend aus. Creecher blickte weiter regungslos auf das Haus.

»Was ist?«, sagte Billy schließlich. »Worauf warten wir?«

»Sei leise«, sagte Creecher.

Seine Stimme klang so bedrohlich, dass Billy sich nicht weiter rührte.

»Siehst du«, sagte Creecher und zeigte auf das Gebäude, aus dem nun zwei Männer auf den Bürgersteig traten und in Richtung Covent Garden davongingen. Creecher ließ den beiden einen kleinen Vorsprung, dann folgte er ihnen, Billy dicht hinter ihm.

Die Männer überquerten The Strand, dann gingen sie die Southampton Street hinauf. Billy kannte die Straßen gut. Städtereisende und Betrunkene waren hier leichte Beute, und von beiden gab es in der Gegend genug. Billy blieb in Creechers Nähe. Wenn Fletcher noch lebte, könnte er sich hier irgendwo herumtreiben.

Creecher mied das grelle Laternenlicht. Billy hatte das Gefühl, als würde die Dunkelheit förmlich an ihm hängen. Und jene, die einen kurzen Blick auf den Riesen warfen, nahmen nur einen flüchtigen, riesigen schwarzen Schatten wahr und beschlossen, lieber an ihren Sinnen zu zweifeln, als zu glauben, was sie gerade gesehen hatten.

Die beiden Männer tauchten in der Menge unter, ab und an verschwanden ihre Köpfe außer Sichtweite. Schließlich blieben sie vor den Säulen einer Kirche stehen. Billy und Creecher waren nah genug, um zu hören, wie sie miteinander sprachen – auf Französisch, wie Billy annahm. War Creecher den Männern aus der Schweiz gefolgt? Ein Straßenmusikant spielte in der Nähe ein trauriges Lied.

»Siehst du die Männer da?«, fragte Creecher, als wäre Billy den beiden nicht seit einer halben Stunde gefolgt.

»Natürlich sehe ich sie«, sagte Billy. »Warum?«

»Ich will, dass du ihnen folgst«, antwortete er.

»Warum?«

»Das brauchst du nicht zu wissen«, sagte Creecher. »Wenn du ihnen folgst, belohne ich dich.«

Billy betrachtete die Männer und fragte sich, was Creecher mit ihnen zu tun hatte. Im Gegensatz zu dem Riesen wirkten sie vollkommen normal. Auch schienen sie recht wohlhabend zu sein.

»Warum können Sie sie nicht selber verfolgen?«, fragte Billy.

»Am Tag bin ich zu … sichtbar«, sagte Creecher. »Und einer der beiden kennt mich.«

Billy war neugierig geworden. Aber nicht neugierig genug, um die Sache zu übernehmen. Er kräuselte die Stirn.

»Ich glaub, ich lass es lieber«, sagte er.

»Du glaubst, du lässt es lieber?«, sagte Creecher.

»Wie ich Ihnen schon gesagt habe«, erklärte Billy. »Ich bin Ihnen wirklich dankbar, dass Sie sich um mich gekümmert haben, und wenn ich Sie irgendwie bezahlen könnte, würde ich das auch tun.«

»Ich will kein Geld«, raunte Creecher. »Ich will deine Hilfe.«

Etwas in der Stimme des Riesen sagte Billy, sich besser nicht mit ihm anzulegen. Dennoch sah er keinen Grund, sich auf die Sache einzulassen, was auch immer hier vor sich ging.

Billy spuckte in den Rinnstein und vertrieb eine Ratte aus ihrem Versteck, die ins grelle Licht der Gaslaterne hastete. Sie hielt einen Moment inne, sah sich nach der nächsten dunklen Ecke um und blinzelte mit schwarzen Knopfaugen ins Laternenlicht.

Die beiden Fremden wurden von einem Pulk von Theaterbesuchern verschluckt, die aus dem Opernhaus strömten. Bettler und Diebe schwirrten um sie herum wie Fliegen um einen Kuhhaufen.

»Und?«, sagte Creecher.

Aber Billy war mit den Gedanken woanders. Er hatte zwei Jungen bemerkt, die vor dem Ofenstand eines Kastanienverkäufers herumlungerten. Sie waren kaum mehr als Umrisse, doch einen der beiden erkannte Billy sofort an seinem ausgefransten linken Ohr, an dem ein großes Stück fehlte.

Warner war einer von Fletchers Jungen, und kaum hatte Billy ihn erkannt, hatte Warner ihn auch schon gesehen. Er versuchte es zu überspielen, aber Billy war sich sicher.

Nach ein oder zwei Minuten tippte Warner dem anderen Jungen auf den Arm und beugte sich flüsternd zu ihm. Der andere Junge war nicht so geschickt wie Warner und konnte sich einen kurzen Blick auf Billy nicht verkneifen. Sofort wurde er mit einem Tritt gegen den Knöchel belohnt. Dann verschwanden die Jungen unauffällig in einer Seitengasse wie Eidechsen in einer Mauerspalte.

Billy drehte sich um und ging in die andere Richtung. Im Gegensatz zu seinem wild schlagenden Herz bewegte er sich ganz ohne Eile. Kaum war er ein paar Schritte gegangen, hörte er hinter sich eine vertraute, knurrende Stimme.

»Wohin gehst du?«

Billy drehte sich nicht um, sondern beschleunigte seinen Schritt. Der Riese hatte ihn im Nu überholt und stellte sich ihm in den Weg. Billy sah hinauf in das bleiche, zerfurchte Gesicht und die wässrigen, hellen Augen, und wie immer war er wie erstarrt. Eine Frau kam aus einem Hauseingang, warf einen Blick auf Creecher und fiel ohnmächtig zu Boden.

»Wohin gehst du?«, wiederholte Creecher mit leiser Stimme, während er über die Frau hinwegstieg.

»Fletcher ist nicht tot«, sagte Billy. »Ich fühle es. Ich muss in Bewegung bleiben.«

»Du meinst die beiden Jungen?«, fragte Creecher.

»Sie sind in Fletchers Bande«, sagte Billy. »Sie werden zu ihm gehen. Sie sind sicher schon auf dem Weg.«