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Impressum
„Das ist eine köstliche Frau
Emilie Reinbeck
Einleitung
Erster Teil
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Zweiter Teil
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Dritter Teil
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Vierter Teil
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Anhang
Wort- und Ausdruckserklärungen
Pressestimmen zu „Emilie Reinbeck“ aus dem Jahr 1913
Roman über die schwäbische Romantik
Herausgegeben und mit einem
Vorwort von Tilman Krause

Wir danken für die Förderung dieses Projektes:
Hertha Koenig Gesellschaft e.V., Rödinghausen

Originalausgabe
Veröffentlicht im Pendragon Verlag
Günther Butkus, Bielefeld 2008
© Copyright by Pendragon Verlag 2008
Alle Rechte vorbehalten
Der Abdruck der Fotos von Hertha Koenig
erfolgt mit freundlicher Genehmigung des
Deutschen Literaturarchivs in Marbach
Umschlag und Herstellung: Michael Baltus
Lektorat: Ansgar Walk, Alexander Gruber
Schrift: Adobe Garamond
eISBN: 978-3-865323-13-2
„Das ist eine köstliche Frau“
Vorwort zur Neuausgabe von Hertha Koenigs „Emilie Reinbeck“, dem Roman über die schwäbische Romantik
Von Tilman Krause
Wer war Emilie Reinbeck? Nun, Frauen des 19. Jahrhunderts wurden meist nicht so sehr darüber definiert, wer sie waren, sondern darüber, zu wem sie gehörten. Als Ehefrau, als Tochter also. Bei Emilie Reinbeck verhält sich das nicht anders. Nur kommt bei ihr noch hinzu, dass sie in die Literaturgeschichte hauptsächlich wegen eines dritten Mannes eingegangen ist. Dieser dritte Mann ist der Dichter Nikolaus Lenau (1802 bis 1850). Freunde der literarischen Romantik kennen daher Emilie Reinbeck, wenn sie ihnen überhaupt ein Begriff ist, als Fußnote zu Lenau. In ihren Armen brach sein Wahnsinn aus!
Der Dichter selbst beschrieb sie, kurz nachdem er sie 1831 in Stuttgart kennengelernt hatte, in einem Brief an seinen Schwager Schurz in Wien wie folgt: „Die vierte Tochter (von August von Hartmann, TK), eigentlich die erste, als die älteste, ist an Hofrat Reinbeck verheiratet.“ Und erst, nachdem er solchermaßen Emilie als Tochter und Ehefrau gewürdigt hat, kommt er auf sie selbst zu sprechen: „Das ist eine köstliche Frau. Ein ganzes Zimmer hat die Frau mit herrlichen Landschaften (Ölgemälden) behängt, alles ist ihre Arbeit. Reinbeck ist Schriftsteller; Novellen, Dramen sind von ihm da. Die wohnen nun alle in einem Hause beieinander. Was Traulicheres, Liebevolleres gibt’s nicht als das Zusammenleben dieser Menschen. Alle Schöngeister, die nach Stuttgart gekommen, haben sich in diesem Hause eingefunden. Matthisson, Tieck, Jean Paul, Rückert u.a. waren oder sind noch immer intime Hausfreunde.“
Das stimmt. Für die schwäbische Geistesgeschichte ist Emilie Reinbeck mehr als eine Fußnote. Sie ist die Mittelpunktsfigur einer literarisch-künstlerischen Geselligkeit, für die man in größeren Verhältnissen, als sie im Stuttgart des Biedermeier herrschten, die Bezeichnung „Salonnière“ verwenden würde. Das Hartmann-Reinbecksche Haus in der Friedrichstraße 14 stellte eine der ersten Adressen der Residenzstadt dar. Das ganze Personal der schwäbischen Romantik ging dort ein und aus. Ludwig Uhland und Justinus Kerner. Gustav Schwab und Karl Mayer. Wilhelm Hauff und Berthold Auerbach. Und natürlich alle Basen, Vettern, Onkel, Tanten, Nichten, Neffen, die dazugehörten. In Schwaben verlief immer alles ausgesprochen familiär.
Emilie Reinbeck, die 1794 als ältestes Kind des späteren Geheimrats und Präsidenten der Oberrechnungskammer August von Hartmann und seiner Frau Mariette, geb. Dannenberger, in Stuttgart zur Welt kam und dort auch 1846 starb, Emilie also war es von Kindesbeinen an nicht anders gewohnt, als dass, wer Rang und Namen in der Welt des Geistes hatte, in ihrer Familie verkehrte. Bereits ihr Großvater, der Domänenrat Johann Georg Hartmann, hatte ein „Haus gemacht“, wie man früher sagte. Er hatte 1779 Goethe samt seinem Herzog Carl August bei sich zu Gast, als diese auf dem Weg in die Schweiz den Weg über Stuttgart nahmen. Das war der Ritterschlag. Seitdem kam man an Johann Georg Hartmanns Haus nicht mehr vorbei. Lavater und Jung-Stilling, auch Schiller bei seiner Schwabenreise 1793, sie machten hier Station. Schubart, nach seiner Befreiung vom Hohenasperg, lebte dort. Und Hartmanns ältester Sohn, Emilies Vater, setzte nach Johann Georgs Tod 1811 die Tradition fort. Erst in seinem Haus am Postplatz. Dann, als sein Schwiegersohn Georg von Reinbeck für sich und Emilie sowie für die Schwiegereltern 1826 das Haus in der Friedrichstraße baute, dort.

Nikolaus Lenau, Ölgemälde von Friedrich Amerling (Ausschnitt), undat.
Auch Emilie stand also einer solchen institutionalisierten Form von kultureller Geselligkeit vor. Ob sie es gern tat, wissen wir nicht. Sie kannte es nicht anders. Und es gehörte auch zu ihren Pflichten. Sie hat sich aber, wie gesagt, gleichzeitig als Malerin betätigt. Ihr Talent war beträchtlich. Und, was ungewöhnlich war zu ihrer Zeit, sie bekam eine gediegene Ausbildung, ging unter anderem bei einem der führenden Maler des schwäbischen Klassizismus, bei Gottlob Friedrich Steinkopf, in die Lehre. Sie stellte auch im Kunstverein aus. Und zumindest Lenau war von ihren Arbeiten hochentzückt. Es verhält sich tatsächlich so, wie Hertha Koenig es im Vorwort zum Roman die Mutter sagen lässt: „Sie hat nach seinen Gedichten gemalt, und er hat nach ihren Bildern gedichtet.“ Die beiden haben sich in ihrer Vorliebe für düstere, melancholische Sujets getroffen. Lenau, auch das geht aus den zitierten Bemerkungen hervor, nahm Emilies Kunstanstrengungen ernst. Er ermahnte beispielsweise seinen Freund Karl Mayer, Emilies Cousin (in einem Brief vom 9. Juni 1832): „Mit der lieben Emilie sollst Du recht viel sprechen, besonders über ihre Malerei; seid doch nicht so gleichgültig gegen das herrliche Talent.“ Das wird ihr viel bedeutet haben. Denn das große Problem der begabten Frauen ihrer Zeit, jenes Steckenbleiben im Dilettantismus, das sie alle auf ihre Weise lösen mussten, die westfälische Schriftstellerin Annette von Droste-Hülshoff oder die Komponistinnen in Schwaben, wie Emilie Zumsteeg oder Josephine Lang, dieses Problem war auch ihres. Vorbei die Zeiten, da eine Angelika Kaufmann oder eine Ludowike Simanowitz von ihrer Kunst leben und europäische Berühmtheiten werden konnte. Die Lebensentwürfe des 18. Jahrhunderts waren freier als die des 19., des bürgerlichen Zeitalters. Noch Hertha Koenig, die fast ein Jahrhundert jüngere Urgroß-Nichte der Emilie, kannte es von sich selbst und gestaltet es am Beispiel ihrer Tante in diesem Roman. Hertha Koenigs Emilie Reinbeck ist eine zögernde, von Selbstzweifeln und Zweifeln an ihrer Kunst immer wieder heimgesuchte Frau. Doch davon später. Nach allem, was wir wissen, hat Emilie Reinbeck jedenfalls durchaus akzeptiert, dass sie in erster Linie Gattin und geselligkeitschaffende „Hausfrau“ zu sein hatte. Sie scheint auch mit ihrem 28 Jahre älteren Ehemann Georg von Reinbeck nicht unglücklich gewesen zu sein, sieht man von beider Kinderlosigkeit ab, unter der sie litt. In ihren Neujahrsbetrachtungen für 1825 stellt sie ohne klagenden Unterton fest: „Im Malen bin ich auch wieder vorgerückt und habe trotz der vielen und großen Abhaltungen durch die Gäste und dadurch vermehrten häuslichen Geschäfte sechs Bilder gemalt, wovon das eine der Onkel in Dresden (Ferdinand Hartmann, selbst Maler von Profession und Direktor der dortigen Gemäldegalerie, TK) ein zweites mein guter Vater und das dritte (eine Ansicht des Rotenbergs) Fräulein von Bawr (Charlotte von Bawr, Malerin und Pianistin, mit Hartmann-Reinbecks befreundet, TK) erhielt, das andere (sic) behielt ich selbst.“
Dass Emilie die „häuslichen Geschäfte“ keine Last waren, darauf deutet auch die Atmosphäre hin, die sie zu schaffen wusste. Man fühlte sich bei Reinbecks wohl. Und so sehen wir Emilie noch hinter Lenaus sehnsuchtsvollen Sätzen stehen, wenn er am 27. November 1833, zurück in seiner Heimatstadt, an seinen Freund Justinus Kerner schreibt: „Meine Wiener sind die Alten. Panem et Circenses! (…) Aber meine Schwaben gehen mir doch über alles.“ Eben weil bei ihnen nicht besagte Devise der Römer galt, weil sie nicht einer oberflächlichen Event-Kultur huldigten, wie wir heute sagen würden, sondern weil sie in ihrer weniger urbanen, weniger mondänen Gastlichkeit die Bedürfnisse des Dichters nach einem aufrichtigen Austausch des Herzens und der Gedanken mehr entgegenkamen als seine von ihm als oberflächlich erlebten Landsleute. Ja, Lenaus Sympathie für den familiären Umgangston der Schwaben ging so weit, dass er noch ihre Klatschsucht verteidigte. Gegenüber Emma von Suckow, dem schriftstellernden „Anmutstrampel“, wie sie von ihren schwäbischen Landsleuten genannt wurde (Kerner sprach auch von der „wahnsinnig gewordenen Äolsharfe“), gegenüber dieser Dame also, die unter dem Namen Emma Niendorf publizierte, stellte er klar, wie die „Harfe“ in ihrem Buch „Lenau in Schwaben“ von 1853 berichtet, die Klatschsucht komme „von einem liebenswürdigen Zug der Schwaben; es ist die Teilnahme, die sie für einen hegen. Da hat alles Werth, und jede Äußerung wird wiederholt und erzählt und geschrieben, Gott weiß wohin.“
Was jedenfalls Emilie und Georg von Reinbeck angeht, so ist von den Zeitgenossen die pure Begeisterung hinsichtlich ihrer Gastfreudschaft überliefert. So berichtet etwa Jean Paul am 3. August 1819 an seinen Freund Heinrich Voß, er könne August von Hartmann „samt Frau und schönen Mädchen gar nicht genug loben.“ Insbesondere Emilie und Georg von Reinbeck „nahmen vor Liebe zweimal Abschied von mir, wiewohl beide vorher noch etwas Innigeres für mich gezeigt, dass sie mich nämlich zum unterschreibenden Mitzeugen ihres Testaments gewählt. So gehörte man auf einmal ins Haus und ins Herz.“
Ins Haus und ins Herz gehörte aber vor allem Lenau. Und man darf sagen: Er hat es zu schätzen gewusst und seinerseits die Freunde dafür geliebt. Oft und oft ist er in seinem unsteten Wanderleben zu ihnen gereist, und wenn er sich in Stuttgart aufhielt, wohnte er bei Reinbecks. Er hatte sein eigenes Zimmer im Hause Friedrichstraße 14, ein rückwärtiges, neben der Küche gelegenes im zweiten Stock, mit eigenem Zugang und Blick auf die Kastanienbäume der Stadtallee sowie die Berge von Degerloch bis hin zur Feuerbacher Heide – so war das damals noch. Dort soll er oft am Fenster gestanden, Geige gespielt und – so ist man versucht, mit Tucholsky zu sagen – von seinem Vaterlande ausgeruht haben, denn natürlich war das idyllische Stuttgart mit der gemütlichen Häuslichkeit der warmherzigen Reinbeck-Hartmanns ein Antidot zu seinem chaotischen Liebesleben mit all den Affären, aus denen immer nichts wurde, Antidot auch zu seinem hektischen, aufreibenden Dasein in Wien und wo er sich sonst noch herumtrieb – er glaubte ja sogar eine Weile, nur in Amerika glücklich werden zu können und Ruhe vor seinen manisch-depressiven Schüben zu haben; eine Hoffnung, die sich allerdings schon nach sehr kurzer Zeit wieder zerschlug. Kurzum: Stuttgart, die Schwabenfreunde im Allgemeinen, Emilie im Besonderen – für Lenau stellte das eine Gegenwelt, eine heile Welt dar, in die er sich flüchtete, wenn er es nicht mehr aushielt.
Was mögen seine Gefühle gegenüber Emilie gewesen sein? Wir sind auf Spekulationen angewiesen. Tatsache ist, dass Emilie, als sie Lenau 1831 kennenlernte, mit ihren 37 Jahren noch eine durchaus attraktive Frau gewesen sein muss. So ist sie uns jedenfalls in einem Aquarell von ihrer Schwester Mariette aus dem Jahr 1830 überliefert. Geradezu kokett, wenngleich nicht ohne seelenvollen Zug schaut sie da unter der Haube, die ihre schwarzen Locken nur wenig bedeckt, und mit ein wenig schiefgelegtem Kopf dem Betrachter direkt, ja geradezu intensiv ins Gesicht. Andererseits führt kein Weg daran vorbei, dass Lenau bei jenem Spaziergang hinauf zum Schloss Solitude, mit dem Hertha Koenig die Liebe der beiden beginnen lässt, hauptsächlich für die junge Charlotte Gmelin Augen hatte, eine Nichte Gustav Schwabs, die auch dabei war. Auch dazu gibt es natürlich einen Brief, den Hertha Koenig möglicherweise gar nicht kannte. Er ist wiederum an den Schwager Schurz gerichtet, und in ihm heißt es am 8. November 1831: „Jetzt kommt wieder ein Spaziergang, und zwar auf die Solitüde (…). Der Zufall wollte es aber, daß ich mit einer Frau zu gehen kam, der Hofrätin Reinbeck, einer ausgezeichneten Landschaftsmalerin. Diese verwickelte mich so sehr in ein interessantes Gespräch über Kunstgegenstände, daß ich aushalten mußte, wollt ich nicht unartig sein (…), auch blickt ich einige mal scharf auf die Lotte hin und drückte dem Schwab die Hand, daß er aufschrie.“ Das liest sich doch bei Hertha Koenig deutlich anders. Auch was Emilies Gefühle für den Wiener Dichter angeht, so ist durch die doch so klatschsüchtigen Zeitgenossen nichts überliefert, was auf eine amouröse Aufwallung schließen lässt. Emma Niendorf zitiert in ihrem bereits erwähnten Buch einen Brief von Emilie vom 22. Juli 1843, aus dem klar hervorgeht, wie diese ihre Gefühle zu Lenau definierte: „Und dann weißt Du ja, wie es meinem armen Herzen zum Bedürfnis geworden ist, unserem Freunde all die Liebe und Sorge zu widmen, die ich einem Kinde geschenkt, wenn der Himmel mir nicht dies Glück versagt hätte.“ Da kannten sich die beiden freilich schon länger als zehn Jahre. Vielleicht hatte sich Emilie auch aus Resignation in diese mütterliche Rolle geschickt. Denn die Liebschaften Lenaus in der zurückliegenden Zeit, ob diese nun Charlotte Gmelin oder Sophie von Löwenthal, ob Karoline Unger oder Marie Behrends galten, können ihr nicht verborgen geblieben sein. Jedenfalls lässt auch die jüngste Lenau-Biographie, die des Wiener Germanisten Michael Ritter, keinen Zweifel daran, dass ihr Verhältnis rein freundschaftlicher Natur gewesen sei: „Sehr bald wurde sie (Emilie, TK) Lenaus Beraterin und in gewissem Sinne damit auch Mutterersatz, obwohl sie nur acht Jahre älter war als er“, schreibt Ritter in „Zeit des Herbstes“, seiner Lenau-Biographie von 2002. Vielleicht umschreibt man das Verhältnis der beiden am besten mit dem etwas altmodischen Wort „Seelenverwandtschaft“.
Lenau, wie er da knapp dreißigjährig nach Stuttgart kam, war allerdings ein Mann, bei dessen Anblick die Frauen schwach werden konnten. So wirken jedenfalls die zahllosen Bildnisse, die von ihm überliefert sind. Jeder, der ihn traf, scheint ihn gemalt, jeder dabei seine Phantasien in ihn hineinprojiziert zu haben, denn mal sieht er wie ein Bruder des geheimnisvollen Teufelsgeigers Paganini aus, mal wie ein feuriger Räuberhauptmann. Kurzum, bei den biederen Schwaben schlug er ein wie der sprichwörtliche Meteor. Noch heute teilt sich das Höherschlagen der Herzen mit, wenn man liest, wie die Zeitgenossen auf ihn reagiert haben, Männlein wie Weiblein übrigens. Nicht einmal die betuliche Sprache des Biedermeiers kann ihn ganz kleinreden, den sex appeal, der von diesem gleichzeitig so männlichdraufgängerischen und so weich und wehmütig wirkenden Sohne Ungarns ausgegangen sein muss. Der leicht narzisstische Touch, das kokett ausgespielte Sorgenkindhafte, das der Unstete an den Tag legte, ein James Dean seiner Zeit, der noch dazu diese einschmeichelnden, sehnsuchtsatmenden Gedichte schrieb, das alles trug zu seiner enormen Wirkung bei den Schwaben bei – bei ihnen zunächst mehr als bei anderen Deutschen übrigens. Ja, man kann es so sagen: Schwaben hat Lenau groß gemacht. Cotta wurde sein Verleger. In Stuttgart nahm sein Ruhm seinen Anfang, und Ruhm war es, was er in seinen wenigen produktiven Jahren erntete, bis er mit 42 Jahren dem Wahnsinn verfiel. Zusammen mit dem so ganz anders gearteten, dem bürgerlichrespektablen, dabei immer ein wenig trockenen Uhland wurde Lenau zum meistgelesenen und übrigens auch zum bestbezahlten deutschsprachigen Dichter seiner Zeit. Und wie rührend haben es die Schwaben ihm vergolten, dass Lenau bei ihnen so glücklich war. Fast von Tag zu Tag sind seine Aufenthalte dort dokumentiert. Noch im selben Jahr, 1853, als Emma Niendorf Lenaus Erdenwallen in Schwaben heraufbeschwor, brachte Karl Mayer seinen Briefwechsel mit Lenau heraus. Bis zum Ende des Jahrhunderts sollten sie immer wieder erscheinen, Publikationen mit Dokumentationen von Lenaus schwäbischen Verhältnissen. 1908 wurde die Lenau-Gedenktafel am Hartmann-Reinbeck’schen Haus in der Friedrichstraße 14 angebracht. Sie galt seinen Aufenthalten in der württembergischen Residenzstadt zwischen 1831 bis 1844. Wie das gesamte Haus wurde sie 1942 zerstört.
Übrigens gibt es noch ein kleines Nachspiel zu Lenaus Liebesaffäre mit den Schwaben, das Hertha Koenig wahrscheinlich gar nicht kannte: Emilies Base Mimi Mayer, die im ersten Teil des Romans ihren Auftritt als charmant-vorlautes kleines Mädchen hat, heiratete 1822 den späteren Konsistorialpräsidenten August von Köstlin. Beider erster Sohn, wiederum ein August, verehelichte sich 1853, also drei Jahre nach Lenaus Tod, mit dessen Nichte Therese Schurz. 1855 siedelte das Ehepaar nach Wien über. Dort leitete August Köstlin jun. lange Jahre das Brückenbaubüro der Österreichischen Staatsbahnen, für das er selber viele Brücken im gesamten Gebiet der Donaumonarchie entwarf. Er war nicht der einzige schwäbische Ingenieur und Architekt, der damals in die Kaiserstadt zog. Auch Friedrich Schmidt, der Erbauer des Wiener Rathauses, gehörte zu dieser Schwabenkolonie sowie der gebürtige Heilbronner Carl Wilhelm Doderer. Letzterer war der Großvater des bedeutenden Wiener Romanciers Heimito von Doderer, mit dem der schwäbische Einfluss endgültig im Österreichischen aufgegangen ist.

Was macht nun Hertha Koenig aus dem Emilien-Stoff? Was interessierte sie an diesem Zusammenprall zweier Welten, an der Begegnung von Nikolaus und Emilie, also dem ausschweifenden österreichisch-ungarischen Dichter-Bohémien mit der künstlerisch ambitionierten, wiewohl grundsoliden Bürgersfrau aus Schwaben? Dass sie relativ frei mit dem historischen Material schaltete, wurde schon gesagt: Sie akzentuierte die Gefühle, spitzte zu erklärter, obwohl an den Verhältnissen scheiternder Liebe zu, was allenfalls für Emilie zugetroffen haben mag. Diese steht denn auch für Hertha Koenig klar im Mittelpunkt. Hertha Koenig gibt in ihrem Roman Emilies „Lebensbild“, wie man früher sagte.
Der Roman, erstmals 1913 und dann auch in mehreren Auflagen und Ausgaben erschienen, ist bereits im Vorwort ausgewiesen als familienhistorischer Roman. Aus alten Familienpapieren stamme der Stoff, schreibt die Autorin ausdrücklich. Emilie war, wie gesagt, eine Urgroß-Tante mütterlicherseits von Hertha Koenig. Das mit dem Historienroman ist allerdings Fiktionalisierung und literarische Konvention, denn der Inhalt der alten Mappen, die Hertha Koenig als Kind mit der Mutter angeschaut hat, wie sie im Vorwort schreibt, liegt zum größten Teil längst gedruckt vor, ist also der interessierten Allgemeinheit zugänglich, als die erwachsene Hertha an die Niederschrift ihres Romans geht. Doch damit nicht genug: Von Fiktionalisierung kann man noch in anderer Hinsicht sprechen. Denn was Hertha Koenig präsentiert, ist etwas sehr Gegenwärtiges, etwas sehr Typisches in ihrer Zeit: Es ist die Geschichte einer weiblichen Selbstfindung. Das lag um 1900 literarisch in der Luft. Auch Ricarda Huch und Ina Seidel oder Annette Kolb haben damals solche weiblichen Selbstfindungsgeschichten vorgelegt – in Ricarda Huchs „Vita somnium breve“ kommt sogar ein „Malweib“ vor, wie der abschätzige Ausdruck damals für die vielen Kunststudentinnen lautete, die um 1900 eine Frühform der Emanzipation versuchten und damit weiterführten, was die historische Emilie Reinbeck mehr als ein halbes Jahrhundert vorher ja auch probiert hatte, obgleich auf eigene Faust und ohne den Beistand gleichgesinnter Kommilitoninnen. Hertha Koenig hat sich übrigens noch ein weiteres Mal an der Thematik abgearbeitet, mit dem nur wenige Jahre später, nämlich 1917 herausgekommenen und wiederum autobiographisch grundierten Roman „Die große und die kleine Liebe“. Ohne allen schwäbisch-historischen Ballast, gewissermaßen freier, auch in formaler Hinsicht, handelt sie dort von einer ernsten, vielleicht allzu ernsthaften jungen Frau, die sich doch nur schwer Klarheit darüber verschaffen kann, was sie im Leben eigentlich will.
Auch Emilie ist so angelegt. Ein nachdenkliches, ein ganz besonders pflichtbewusstes junges Mädchen, das sich vor allem nützlich machen will, stellt die Autorin vor uns hin. Wenn der Roman beginnt, ist die junge unverheiratete Emilie bereits berufstätig und kränkelt – mit 18! Ungewöhnlich genug für die Zeit um 1810, arbeitete Emilie Hartmann, wie sie damals noch hieß, tatsächlich als Lehrerin in der vom späteren Minister Wangenheim gegründeten Pestalozzi-Schule in Stuttgart. Ihre Jugendliebe, der Cousin August Mayer, mit dem sie sich an Pfingsten 1811, bei einem Ausflug auf den Wartberg oberhalb Heilbronns verlobt, ist ein Bruder des bereits erwähnten Karl und ebenfalls angehender Dichter der schwäbischen Romantik. Er kommt nur wenig später im napoleonischen Russlandfeldzug um. Beim Übergang über die Beresina im Winter 1812 scheint er erfroren zu sein. Auch hier wissen wir nicht, ob von Liebe tatsächlich gesprochen werden kann. Dieser August, offenbar ein Junggenie, der nicht nur dichtete, sondern auch komponierte – die erste Vertonung von Uhlands „Ich hatt’ einen Kameraden“ stammt von ihm – und dem sein Bruder Karl 1867 in seiner Uhland-Biographie ein anrührendes Denkmal gesetzt hat, er zählte erst 18 Jahre, als er zusammen mit 15.800 anderen Württemberger Soldaten auszog, um sich für den großen Machtwahn des kleinen Korsen verheizen zu lassen – 300 Soldaten nur kehrten damals in die Heimat zurück. Dass er seine Base Emilie gemocht hat, ist sicher. Er bittet in seinen Rundbriefen aus dem Feld, dass sie ihm schreibe, und er bedankt sich, ebenfalls in Rundbriefen, nachdem dies geschah.
Wie auch immer: Mit der frühverstorbenen Jugendliebe, mit der versagten Erwachsenenliebe zu Lenau modernisiert Hertha Koenig die historische Emilie, verleiht ihr zusätzliche Züge der Gebrochenheit. Auch die Darstellung ihres familiären Umfelds weist auf moderne Problematisierung und Psychologisierung: Herthas Emilie leidet unter der Enge ihrer Verhältnisse, die allerdings in der historischen Wirklichkeit keineswegs so eng waren – Kennzeichen des Hartmann-Reinbeck’schen Hauses waren ganz im Gegenteil Geselligkeit und Kontaktfreude, intellektuelle Aufgeschlossenheit und künstlerische Interessen. Herthas Emilie ist eine durch die neuromantische Schule gegangene große Einsame, Unverstandene. Die historische Emilie mag Schwierigkeiten gehabt haben, ihre Rollen der Ehe- und Haufrau hier, der Künstlerin dort in Einklang zu bringen – einsam war sie nicht. Einsam war hingegen Hertha Koenig, als sie ihre „Emilie“ schrieb. Soeben hatte sie sich von ihrem über zwanzig Jahre älteren Ehemann (eine weitere Parallele zu Emilie), dem Literaturwissenschaftler Roman Woerner (1863 – 1945) getrennt, mit dem sie nur drei Jahre verheiratet gewesen war, weil sie „für Liebe hielt, was Freundschaft“ war, wie sie die Lösung des Verhältnisses später begründen sollte. Unmittelbar danach verliebte sie sich unglücklich in den Schriftsteller Otto von Taube, der eine andere heiratete. Einsam blieb Hertha Koenig bis zu einem gewissen Grade ihr Leben lang. Sie, die über einen großen Bekanntenkreis verfügte, die vor allem in ihrer Münchner Zeit während des Ersten Weltkriegs und davor eine Größe des literarischen und künstlerischen Lebens an der Isar war – vor allem als Freundin und Förderin Rilkes in dieser Zeit ist sie ja in die Annalen eingegangen – Hertha Koenig war zeit ihres Lebens eine Vereinzelte, eine bis zur Suizidgefahr depressiv gestimmte Frau. In diesem Erstling hat sie also auf subtile Weise auch eigene Probleme, Sehnsüchte, Zweifel verarbeitet und damit den Roman in ihrer feinen, zurückhaltenden Art mit einem Firnis von Melancholie und Traurigkeit überzogen. Doch bemerkenswert ist dabei, mit wieviel emotionaler Distanz und historischer Genauigkeit dieses Lebensbild aus der schwäbischen Romantik dennoch geschrieben ist. Da spielte sicher auch die große Pietät gegenüber der eigenen familiären Überlieferung eine Rolle. Hertha Koenig hat zwar nie in Württemberg gelebt, aber sie hat es oft besucht. Noch leben Nichten und Neffen von ihr, die dies bezeugen können und auch aus eigenem Erleben Hertha Koenigs wissen, wie wichtig ihrer Tante die schwäbischen Wurzeln waren. Sie selbst hat übrigens in ihrem Erinnerungsbuch „Hinter den Kulissen eines Lebens“ mehrfach darauf hingewiesen.
Schwaben, das Land der Mutter und Vorfahren mütterlicherseits, nach dem sich im düsteren Westfalen zumindest Hertha Koenigs Mutter, eine geborene Helfferich, oft zurückgesehnt haben mag, lag ihr wohl näher als die väterliche Sphäre. Man kann sich jedenfalls gut vorstellen, wie Mutter und Tochter sich an langen Winterabenden auf Gut Böckel bei Bielefeld, wo Hertha Koenig aufwuchs und auch starb, in die alten schwäbischen Familiendokumente vertieften. Anders als mit einer solchen innigen, intimen Vertrautheit ist der liebevolle Kenntnisreichtum nicht zu erklären, mit dem die Welt der schwäbischen Romantik und des schwäbischen Biedermeiers in „Emilie Reinbeck“ heraufbeschworen wird. Hier arbeitet sich jemand auch an einem familiären Privatmythos ab. Nicht zuletzt deshalb gelingt ihr unter der Hand ein Roman über das schwäbische Bildungsbürgertum in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Ja, „Emilie Reinbeck“ aus dem Jahre 1913 ist wie kein anderes Werk der deutschen Literatur ein Buch, in dem diese sehr spezielle kulturelle Gemengelage lebendig wird, die den geistigen Reichtum Württembergs in jener Zeit ausmacht. Dieser Roman schildert anschaulich, was für das schwäbische 19. Jahrhundert so typisch ist und was es so unendlich liebenswürdig macht, eben jenes Ineinander von Literatur, Politik und einer Geselligkeit, die oszilliert zwischen familiärer Intimität, intellektueller Wissbegierde und künstlerischer Produktivität, eine Welt, in der Intellektuelle und Künstler eingebunden waren in die Gesellschaft und nicht als vereinsamte, unverstandene Einzelne abseits standen oder gar ausgegrenzt wurden, wie es für den modernen Künstler typisch wurde. Für einen gar nicht mal so kurzen Moment der Menschheitsgeschichte sind hier im Württemberg des 19. Jahrhunderts die sonst so antagonistischen Mächte Kunst und Gesellschaft versöhnt. Hier, wo alle sich kannten, alle sich austauschten, alle miteinander befreundet und verwandt waren und sich heirateten, wurde ein Stück Utopie gelebt. Und alle, die der kleinen Schicht des aufgeklärten Bürgertums entstammten, jener Schicht, die dem Jahrhundert seinen Stempel aufdrückte, durften sagen, sie sind dabeigewesen. Hertha Koenig hat in „Emile Reinbeck“ allerdings in Moll gesetzt, was die Zeitgenossen wohl doch hauptsächlich in Dur erlebten. Aber so ist das mit den Sehnsuchtsländern, die uns aus unserer Kindheit herübergrüßen: Sie sind immer das verlorene Paradies. Da passt nur Moll.

Emilie Reinbeck, Aquarell von Marietta Zoeppritz, undat.
Einleitung
„… und das ist Tante Emilie Reinbeck“, sagte meine Mutter, wenn sie im Hartmannschen Familienbuche auf ein kleines ovales Frauenporträt deutete. „Das war die Freundin Lenaus – sie hat nach seinen Gedichten gemalt, und er hat nach ihren Bildern gedichtet.“
Das Bild gefiel mir als Kind, weil Tante Emilie Reinbeck nicht solch eine wunderliche weiße Haube über den seitlichen Stirnlocken trug wie die andern Tanten neben ihr; sie hatte ein faltiges Tuch zierlich um den Kopf geschlungen, das zu beiden Seiten auf die Schultern herabfiel. „Das nannte man ein ‚Iphigenientuch‘“, erklärte Mutter – „Künstlerinnen mußten schon damals was Besonderes haben.“
Später fiel mir auf, daß auch ihr Antlitz sich unterschied von all den andern durch seinen Ausdruck der Enttäuschung um Augen und Mund.
Der Lebensabriß, den ihr Gemahl, der Hofrat Georg von Reinbeck, in das Familienbuch geschrieben hat, gibt dafür keine Erklärung. In den Literaturgeschichten findet sich überall nur ein kurzer Satz, der ihre Freundschaft mit Lenau berichtet.
Später erschloß sich mir das Schicksal dieser Frau mehr und mehr aus urkundlichen Zeugnissen – dank der gütigen Hilfe meines Großonkels, des Oberstudienrates Julius von Hartmann in Stuttgart, den Erich Schmidt den „kundigsten Urschwaben“ nennt.
In seinem Haus machte ich die Bekanntschaft aller Hartmannsahnen, die in altmodisch-feingemalten Ölbildern von den Wänden herabschauen.
Und er öffnete mir seine Mappen mit vergilbten Papieren. Da fand ich persönliche Aufzeichnungen von Emilie Reinbeck und ihren Schwestern, Tagebuchblätter und beschauliche Schilderungen.
Vor allem fesselten mich Bekenntnisse Emiliens (im Besitz des Marbacher Schillermuseums), niedergeschrieben nach ihrem ersten Ehejahr.
Ich gewann auch Einblick in die wohlerhaltenen Räume des Hauses auf der Friedrichstraße, wo Lenau so oft bei Reinbecks als Gast weilte – wo dann die Geisteskrankheit bei ihm zum Ausbruch kam.
Onkel Hartmann wußte mir noch vielerlei mündliche Überlieferungen seines Vaters zu erzählen, namentlich über die Freunde des Hartmann-Reinbeckschen Hauses: Therese Forster (Huber) und ihre Tochter Luise von Herder, Justinus Kerner und vor allem Lenau.
So wuchs mir schon frühe die Lust, Emiliens Schicksal ihrem Leben getreu zu fassen und zu deuten.
1
„Nun, was hat er Emilien verordnet, der Herr Medizinalrat?“
August Hartmann hob den Kopf zwischen den vorstehenden Ecken seines Vatermörders und schob den emsigen Federstiel hinters rechte Ohr. Frau Mariette war schnell zurückgeschlupft, als sie ihn durch den Türspalt über seine Akten gebeugt sitzen sah, dann folgte sie zögernd der Aufforderung zu berichten: „Es komm’ halt alles vom Wechselfieber – auch das Kopfweh – und das sei eine gar inaccessible Krankheit. Er hat ihr ein Dekokt von China verordnet, und sonsten mehrlei Pillules. Die einzige Proposition, die ich für den Augenblick tun kann, ist: Luftveränderung – hat er gesagt – schicken Sie halt die Jungfer sobald wie möglich von Stuttgart weg in andere Konditions; das würde günstig auf ihren Zustand influieren. Und im Herbst muß sie wieder bei ihm vorsprechen.“
„Da will er ihr wohl auch eine Traubenkur verordnen, wie unsrer Herzogin?“
Frau Mariette nickte und streifte, mit den Fingern verlegen raschelnd, an ihren breiten Hutbändern nieder. Über die Kuriererei hatte ihr Mann von jeher den Kopf geschüttelt.
„Meinetwegen Luftveränderung“, brummte er gutmütig, „aber wohin mit ihr?“
Er war inzwischen aufgestanden und ging elastischen Schrittes vor seinem Schreibpult auf und ab, ein wenig hinkend, denn der eine Fuß war schwach geblieben, seitdem er als hilfreicher junger Mann bei einem Brandunglück einmal die ganze Nacht im Wasser gestanden hatte.
„Ich dachte zur Therese nach Günzburg“, meinte Frau Mariette.
„Und wer soll für sie Schule halten? Freilich Gesundheit geht vor. Nach Günzburg? Mir deucht, der Huberin soll man nicht auch noch Gäste zumuten, die Zeiten sind grad knapp genug für sie.“
„Vielleicht wüßte Freund Kerner in Wildbad, ob wir sie dort platzieren könnten?“
Der Geheime Oberfinanzrat blieb vor seiner Frau stehen und faßte mit der Rechten nach ihrer Schulter: „Mariette, du kennst mich schlecht, Doktor Justinus in Ehren, aber er soll mir kommen mit seiner Sympathie, mit seinem Magnetismus, Spiritismus, Somnambulismus. Nei, nei, da schicken wir sie lieber ins Mayerhaus nach Heilbronn, der Schwager hat unsre Mädle erst neulich invitiert.“
Frau Mariette hielt den schwarzen Tuchkragen noch auf dem Arm; sie hängte ihn über die Stuhllehne und löste vorsichtig den geschlossenen Hut vom Scheitel, um ihn mit dem weißen goffrierten Häubchen zu vertauschen. Dann setzte sie sich in den dunkelbraunen Lehnstuhl, um einen vernünftigen Beschluß zu erwägen.
Emilie war gleich nach dem Heimkommen den langen Hausflur entlang gegangen, ein wenig leise am Kinderzimmer vorbei. Sie mußte erst allein das Bevorstehende ausdenken.
„Zu Tante Therese nach Günzburg!“ Sie seufzte tief und nahm von ihrem kleinen gelben Kirschbaumpult das eingerahmte Bildchen eines dunklen Frauenkopfes. Letztes Jahr, als Tante Therese lang im Hartmannshause weilte, hatte Emilie selbst diese Zeichnung gemacht, nach einem Miniaturporträt, das noch aus der Zeit stammte, da Therese Huber Forsters Frau gewesen.
Sie wandte den Blick schnell von den etwas schräg gestellten, eindringlichen Augen, als fürchtete sie sich.
Von Kindheit an hatte diese Freundin ihrer Mutter sie mit wohlgemeinter Erziehung verfolgt; stets, wenn sie etwas sagte, wurde sie von ihr gemahnt: „Wiederhole den Satz, Emilie! Deutlich, mach deinen Mund auf!“ Als kleines vierjähriges Mädchen hatte sie einmal weinerlich die Entschuldigung gewagt: „I hab halt so e klei’s Mäule!“, und das hatte erst recht einen Verweis zur Folge. Da betete sie abends, anschließend an ihr Vaterunser: „Lieber Gott, laß mich auch ein großes Maul kriegen.“
Allerdings, seitdem Emilie nun bald ein Jahr den Unterricht an der Pestalozzischule übernommen hatte, mochte ihr wohl selbst Tante Therese mehr Würdigung entgegenbringen. Seither wurde daheim mit Wichtigkeit auf ihre Stellung als Lehrerin Rücksicht genommen; sie konnte sogar in den Freistunden hinter ihren Zeichnungen und Malereien sitzen bleiben, ohne daß Mutter jeden Augenblick hereinrief: „Du läßt Schwester Julie wieder ganz allein das Zinn putzen“ – oder „Den Tisch decken – du, als die Ältere …!“
Eine fröhliche Aussicht lockte sie beim Gedanken an den Günzburger Aufenthalt: das Zusammensein mit ihrer Freundin Luise, Tante Theresens jüngster Tochter. Wie oft würden sie wieder zusammenhocken und „ratschen“, wie Luise es nennt, noch abends spät vorm Einschlafen …
Sie fuhr erschreckt zusammen, als die Mutter mit ihrer raschen Beweglichkeit die Tür öffnete.
„Nun hast du dich umsonst auf den Besuch bei Tante Therese gefreut, mein Kind. Vater meint, du sollst lieber nach Heilbronn fahren, zu Onkels – aber da ist’s ja auch schön“, tröstete sie, „und die Luft in der ländlichen Umgebung wird dir gut tun.“
Emilie fühlte die heiße Blutwelle, die ihr verräterisch das Gesicht rötete, und sie bemühte sich, ihrer Stimme den Ton ruhiger Gleichgültigkeit aufzuzwingen.
„Ja, bei Onkel Mayers ist es auch schön!“
„Und es wird Onkel und Tante gelegen sein; gerade jetzt, wo die Söhne nicht daheim sind, ist Raum genug in dem großen Haus.“
Richtig, August ist nicht daheim – die Blutwelle ebbte langsam zurück – aber vielleicht, daß er sonntags einmal von Tübingen herunterkommt – in seiner hellgrünen Frankenmütze mit dem glänzigen schwarzen Schild.
Sie folgte der Mutter aus dem Zimmer.
Drüben saß Schwester Julie über dem Flickkorb und hütete die beiden Kleinen, die am Tisch saßen und Seifenblasen machten. Das dreijährige Lottchen begnügte sich damit, das runde Händchen in der Seifenschale herumpatschen zu lassen, wie oft sie auch Schwester Julie von ihrer Arbeit aus strafend anschaute. Mariette pustete ihre schmalen Wänglein auf, damit eine ganz, ganz große herauskäme.
Emilie setzte sich neben sie, den Arm auf die Tischplatte gestützt, und schaute zu, wie unten aus dem dünnen Strohhalm ein bunt schillernder Ansatz nach dem andern sich ründete und in der unsichtbaren Luft verschwand.
2
Am nächsten Morgen wollte es Emilie nicht recht gelingen, beim Unterricht Meister Pestalozzis Forderungen zu genügen und „die Mittel zur Verdeutlichung der Anschauungserkenntnisse“ recht anzuwenden. Selbst Josefs bunter Rock in der biblischen Geschichte fiel ein wenig farbenmatt aus, und die kleinen Köpfe gruben sich ungeduldig in die ausgebreiteten Ellenbogen auf dem Schultisch.
Nachmittags mußte sie den Herrn Präsidenten von Wangenheim um Ferien und Vertretung angehen.
„Gewiß, liebe Emilie“, sagte der jugendliche Protektor seiner Schulanstalt, „nur die Gesundheit nicht negligieren! Wir brauchen Sie, Mamsell, kerngesund – kommen Sie nur erst wieder ohne die leidigen Zufälle, dann soll’s Ihnen an Arbeit nicht mangeln – und nicht an Ehre.“ Dabei kniff er verräterisch die lebhaften Augen zusammen. Emilie war zu bescheiden, nach dieser Andeutung weiter zu fragen.
„Ich sehe die Eltern abends beim Großvater Hartmann“, sagte er, als Emilie sich verabschiedete.
Der Heimweg führte sie über den Schloßplatz. Auf den langen, fensterbedeckten Flächen des neuen Schlosses spiegelte sich der Glanz des froh werkenden Frühlings.
Bald müssen die großen, riesigen Knospen der alten Kastanien sich kräuselnd öffnen, rings um die weiten Rasenplätze und Promenadenwege. Einen Augenblick überlegte sie, daß es schade wäre, fort zu sein, wenn es hier leuchtete von den steilgereckten Blütenkerzen, die sie so besonders liebte; aber dann beschleunigte sie munter die Schritte, als sollten sie den Gedanken nachfliegen, dem geheimnisausplätschernden Neckar entlang bis nach Heilbronn, unter die silbrig herabhängenden Uferweiden.
Erst als sich auf dem Dorfplatz das schwere Tor hinter ihr schloß, und sie durch die kühle gepflasterte Einfahrt des Kulturministeriums die breite Treppe zur elterlichen Wohnung hinaufstieg, bemerkte sie, daß ihr Kopf vor Hitze schmerzte, während sich die geröteten Hände frostig krampften. Ob das wohl auch durch die Luftveränderung besser würde? Onkel Kerner hatte einmal mit sonderbarer Miene obenhin gesagt: „Das gibt sich alles, wenn das Mädle heuratet – vom Schulhalten wird’s net gedeihen.“
Was er nur eigentlich damit hat sagen wollen? Soviel wußte sie, seither war ihr der Onkel Kerner unangenehm.
Daheim gab’s allerlei zu helfen und zu richten. Die schwarzen Konfirmationskleider mußten aus dem hinteren Schrank vorgeholt werden für den Abend. Onkel Matthisson kam ja vom Begräbnis der Fürstin Dessau, mit der er früher jedes Jahr im Herbst bei den Großeltern weilte, wenn sie Kur brauchte, und dann später noch aus Freundschaft zu Besuch.
Vorm Weggehen mußte sie Julie helfen, die kleinen Geschwister ins Bett zu bringen. Mariette heulte, weil sie so früh, mit dem kleinen Lolole zusammen, schlafen gehen sollte. „I bin doch neun Jahr alt“, brummte sie. ’s Lottle hingegen war ausgelassen; es gefiel ihr, daß Schwester Emilie half, da ging das Ausziehen langsamer und sanfter.
Julie zog ungeduldig der Schwester das Handtuch weg und fuhr schnell mit dem Kamm durch die wirren, hellen Haare des Kindes. „Eil dich, Emilie, zieh dich an, die Eltern werden gleich vollends parat sein!“
Im Hause des Hof- und Domänenrates Johann Georg Hartmann wurde man stets von einer ehrfürchtigen Stille empfangen. Sachte, sachte! knarrte die Eichentreppe mit dem gewundenen Rokokogeländer, wenn man unbesonnen ihre schmalen Stufen hinaufeilte. Das Schattenmännlein oben im Flur hinterm eingelegten Wäscheschrank, das die kleinen Enkel so fürchteten, huschte jedes Mal mit feierlicher Gebärde der Türe zu, wenn jemand vorüberging. Auch die Möbel in der Wohnstube redeten ihre Sprache; oft mitten in die Unterhaltung hinein krächzte das schwarze Ledersofa mit der engen Reihe weißglänzender Nägel um die Lehne: Mach dir’s nur kommod!
Heute trat man unwillkürlich mit den Zehen auf, und drückte sich still die Hand bei der Begrüßung.
Der Großvater, an dem man sonst nur den grauen Tuchrock gewohnt war, mit dem gerafften Spitzenjabot unterm hochaufgeschlagenen Kragen, hatte sich schwarz gekleidet, wie seinerzeit nach der Großmutter Tod.
Er saß im Lehnsessel und horchte auf den langatmigen Bericht Matthissons über der Fürstin Sterben, das schöne, bartlose Greisenantlitz seitlich vorgebeugt.
Der Erzähler unterbrach den feierlichen Klang seiner Stimme, indem er auf einen Glasschrank zuging, darin er allerlei Erinnerungen an die Tote entdeckte: feine Porzellanfigürchen, Vasen aus Venezianer Glas, die sie von ihren gemeinsamen Reisen zum Geschenk mitgebracht hatte. Besonders wehmütig berührte Matthisson der zierliche Schreibtisch der hohen Frau, den Großmutter Juliane Hartmann in die tiefste Fensternische hatte stellen lassen, damit sie sich des geliebten Ausblickes erfreuen mochte, über die Gartenbäume hinweg bis auf die Hügel der Feuerbacher Heide. Wie oft saß sie nicht dort, die anmutige Gestalt an die grünliche Mauer gelehnt, wenn er, ihrer Aufforderung entsprechend, eintrat, um seines Amtes als Vorleser zu walten …
Als nach dem Essen Präsident von Wangenheim erschien, wurde die Unterhaltung lebhafter, wie gewöhnlich an den geselligen Abenden im Freundeskreise. Durch seine leichte, elegante Art verstand es der junge Hofmann, die verschiedenen Altersstufen gleicherweise ins Gespräch zu ziehen. Auch sein Freund August beteiligte sich nun, der bis dahin nach stiller Hartmannsweise zugehört hatte.
„Apropos, von unserer Stadt Neuigkeiten – warum hat denn der Hofrat Reinbeck sein Amt als Redakteur des Morgenblattes niedergelegt?“ Und Wangenheim zog einen Ausschnitt der „Zeitung für die elegante Welt“ hervor und las die Mitteilung.
„Sie haben ihn gar zu sehr skandalisiert, wegen seiner Briefe an die Heidelberger Professoren“, erklärte August Hartmann und zog die mächtigen, zusammengewachsenen Augenbrauen hoch.
„Ja, jaja“, redete Matthisson schmunzelnd vor sich hin; „mein Freund Goethe hat mich letzt einen Brief des Heinrich Voß lesen lassen, darinnen er selbiges, über den Hofrat Reinbeck ausgesprochenes Anathema durchraisonnieret. Jahaha: Reinbeck sei eine totgenickte Laus – so auch das Morgenblatt.“
„Oho“, richtete sich Wangenheim auf und schlug die Beine übereinander, daß die zierliche Knopfreihe der enganliegenden Kniehose über dem seidenen Strumpfe sichtbar wurde. „Im Gegenteil! Erst recht wird das Morgenblatt seit der Geschichte gelesen, und Reinbeck – wenn er sich auch in der Sache ungeschickt benommen hat – seine Meriten sind nicht zu leugnen, er ist und bleibt ein angenehmes Glied unseres Kreises.“
Matthisson stimmte dieser freundlichen Gesinnung mit gleicher Wärme bei wie vorhin den boshaften Sätzen des Vossischen Briefes.
Johann Georg hörte solchen Gesprächen mit der Ruhe und Gleichgültigkeit des Alters zu, und er pflegte zwischen die Rauchwolken seines Meerschaumkopfes die Bemerkung zu schieben: „Das sind weltliche Dinge, die machen sich von selbst.“
Man fragte Matthisson, was sein Vorhaben sei, nachdem er nun seines Amtes entledigt. Da erzählte er im Vertrauen, daß ihm ein Ruf des Königs als Mitglied der Hoftheaterintendanz bevorstehe, und er wandte sich an August Hartmann mit der Bitte, ihm doch womöglich in seinem Hause eine Wohnung zu sichern.
„Meine Luise ist mir zwar eine brave Hausfrau, und ich bin gewiß, diese neue Wahl wird Euere Approbation haben, doch ihre Jugend und die Simplizität ihrer häuslichen Verhältnisse läßt eine delikate Unterstützung wünschen, die ihr bei Frau Mariette nicht mangeln würde.“
August versprach, das seinige zu tun, und äußerte seine Freude, den berühmten Dichter Matthisson als Bürger der Stadt zu begrüßen.
Als das Horn des Nachtwächters zehn Uhr kündete, entließ Johann Georg seine Gesellschaft. Man verabschiedete sich von ihm und seinem Gaste. Die alte Dienerin leuchtete die Treppe hinunter; denn die Laterne wurde nicht mehr mitgenommen, seitdem der Stadtschultheiß letztes Jahr Ölfunzeln in den Straßen hatte aufhängen lassen.
3
Ein Brief aus Heilbronn brachte die Bestätigung, daß Emiliens Besuch im Mayerhause willkommen sei.
In wenigen Tagen war alles vorbereitet: die Sommerkleidung instand gesetzt und ein haubenförmiger „Bändelshut“ genäht mit lang herabwehenden Bändern, wie es die Mode vorschrieb.
Der Vater ging zum Posthof hinüber und bestellte beim Schirrmeister einen Platz für die nächste Fahrt. Und eines sonnigen Morgens ging es im Zuckeltrab zur Stadt hinaus, über die Brücken, zwischen den grüngoldig beschimmerten Anlagen hindurch ins wiesenreiche Neckartal.
Der Frühling war jäh übers Land gekommen dieses Jahr, noch ehe der Winter seine strenge, entsagungsfordernde Herrschaft niedergelegt hatte. Und das junge Land jauchzte dem Verführer entgegen; Tulipanen und Primeln leuchteten schon in den ersten Märztagen aus den Gartenbeeten, und die Kirschblüten wollten gerade den grünen Blättchen zuvorkommen, als der Winter geärgert zupackte und mit seiner letzten Kraft die Voreiligen noch einmal tüchtig schüttelte.
„Das hat man nun davon“, seufzten die Stadtbewohner, „die Blüten werden in ihren Knospen erfrieren, und es gibt ein mageres Jahr.“ Aber die Bauern zuckten unbesorgt die Achseln, und die Weingärtner wußten ganz genau, daß der späte Frost keinen Schaden gebracht hatte, sie prophezeiten vielmehr einen guten Herbst.
Emilie kam noch bei hellem Nachmittag in Heilbronn an. Sie wurde von den Basen am Posthaus empfangen.
Außerhalb der Stadt, die Landstraße ein wenig bergab, umfriedigt ein saubrer Lattenzaun das versteckte Mayerische Anwesen.
Unter der Haustüre wartete Tante Jette zur Begrüßung, Vaters einzige Schwester, von der er stets mit solch inniger Bewunderung sprach. Ihre zarte Erscheinung und der freundliche, sorgenvolle Blick verrieten den Kampf um ein robustes Muttergemüt, das in dem kinderreichen Hause wohl vonnöten sein mochte.
Sie führte Emilie in ihr Kämmerchen, hoch oben. Auf den weißen, ein wenig steif abstehenden Gardinen des Giebelfensters bewegten sich verschnörkelte Schatten eines Baumgeästes auf und nieder.
„Schau, hier sollst du dich ausruhen, so oft du magst, da kann dich niemand stören“, – sie schlug die Gardinen zurück – „und drunten, unterm Apfelbaum, wirst du bald dein Mittagsschläfchen halten können.“
Es wurde Emilie nicht schwer, sich in dem schlichten Verwandtenkreise heimisch zu fühlen. Zuerst wollte es ihr beklemmend erscheinen, daß die erwachsenen Töchter nach alter Sitte ihre Eltern mit „Sie“ anredeten; aber sie fühlte bald, daß diese feierliche Umgangsform das behagliche Einverständnis zwischen Eltern und Kindern nicht störte.
Den Onkel sah man tagsüber nicht oft. Seine Geschäfte als Konsulent adliger Herrschaften führten ihn weit über Land. Schon früh morgens dröhnte sein gemessener Schritt über die Steinfliesen des Hausflurs, und kurz darauf hob die Klingel ihr beleidigtes Geschetter an, wenn die Türe so hart ins Schloß zurückgefallen war. Vom Zaun her klang noch die gutmütig-breite Begrüßung mit dem Kutscher, und dann rollte des Posthalters alte Taufkutsche mit ihm davon.
Wenn Emilie versuchte, den Basen bei ihren häuslichen Arbeiten zu helfen, morgens in der Küche beim Gemüseputzen oder Tassenspülen, wurde sie jedesmal fortgeschickt: „Du bist doch zur Erholung hier!“
Dann nahm sie Zeichenheft und Buntstifte und suchte draußen im Garten nach einem Ausblick auf die nahe alte Stadt, oder sie brach ein Zweiglein vom blühenden Apfelbaum unter ihrem Fenster und malte es in Wasserfarben.
Nur heute wurde ihre Hilfe angenommen zur großen Pfingstputzerei. Die Betten mußten gesonnt werden und oben die Zimmer gerichtet. August hatte sich von Tübingen in Ferien angemeldet.
Die jungen Mädchen standen mit aufgekrempelten Ärmeln und eiferglühenden Wangen unten vorm Haus und klopften im Takte die ausgebreiteten Kissen; dazwischen wurde beraten, was man in den Pfingsttagen alles unternehmen wollte. August brächte oft Freunde mit heim, lustige Gesellschaft zum Spazierengehen und Schifflefahren.
„Ach, es wird hernach net emal viel geben – der August wird halt wieder den ganzen Tag am Klavier hocken“, meinte Julie, die älteste der Basen und setzte ihre Arbeit aus; „ja, als Bruder Karl noch Student war!“
Emilie überlegte, ob er ihr wohl wieder seine Gedichte vorlesen würde, wie einst in Stuttgart, als er auf dem Gymnasium war und bei Großvater wohnte. Wie oft hatte er sie da nicht beim Versteckenspielen weit weggeführt – und in irgendeinem Hof hinter Fässern und Leinenballen mußte sie ihm zuhören. So recht aufpassen konnte sie ja nicht, weil sie immer denken mußte, ob sie wohl von den Arbeitern entdeckt würden, die unweit hantierten.
Sie empfand es wohltuend, bei diesen Erinnerungen und Erwartungen so recht ihre Arme zu bewegen und treppauf, treppab zu laufen.
Nachmittags war die Hauptarbeit getan – ein säuerlicher Duft von gescheuertem Holze durchzog das Haus.
„Emilie, Milchen, gelt, du gehst mit mir, ich muß nüber ins Dorf, zur Milcherin, Butter holen.“ Mimi, die Jüngste, schlenkerte ihr Körbchen am Arm, drängte sich schmeichelnd an Emilie heran und band ihr die große Schürze ab. „Komm, Milchen!“
Die Landstraße führte inmitten junger Saatfelder dahin; aus dem wellenden Grün leuchteten junge Obstbäume auf, und ein emsig Summen und Zwitschern wetteiferte mit dem sichtbaren Glanz im Verkünden der Entstehungsherrlichkeit.