Vergangenheit ist nie vorbei. Auch nicht am Ende der Welt, in einem Dorf auf der Schwäbischen Alb. Ein brutales Verbrechen bringt die Erinnerung zurück. Viele sagen, Hermann Mauser sei ein verschrobener Kauz. Ein Eigenbrötler. Das stimmt. Schon immer gewesen. Er ist einund sechzig Jahre alt, seit dreißig Jahren ist er Grundschul lehrer in Buttenhausen auf der Schwäbischen Alb. Als er den toten Mann im Berg entdeckt, wird die Vergangenheit wieder lebendig. Und Hermann Mauser er kennt, dass es Verbrechen gibt, die nie verjähren. Und Schuld, die niemand vergeben kann.

 

Ein melancholischer Krimi, ein dunkler Heimatroman, ein glänzendes Debüt. Im Mittelpunkt der Geschichte steht ein Mann allein mit einer Schuld, die plötzlich in sein Leben tritt, die nicht seine ist und die er zu seiner macht.

 

 

Rainer Gross geboren 1962 in Reutlingen/Baden-Württemberg. Studium der Philosophie und Literaturwissenschaft in Tübingen, danach Studium an einem theologischen Seminar. Er ist verheiratet und lebt seit 2002 als freier Schriftsteller in Ahrensburg. Der Kriminalroman „Grafeneck“ ist seine erste Buchveröffentlichung. 2008 ist von Rainer Gross im Pendragon Verlag der Krimi „Weiße Nächte“ erschienen.

 

Rainer Gross

 

 

Grafeneck

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für Dietmar Bittrich,

ohne dessen Unterstützung

es dieses Buch nicht gäbe.

 

 

 

 

Und wenn er nun an das Licht kommt und die Augen voll Strahlen hat, wird er nicht das Geringste sehen können von dem, was ihm nun für das Wahre gegeben wird.

 

Platon, Höhlengleichnis

 

 

 

 

 

In einem Dorf auf der Schwäbischen Alb, Ostern 1997

 

1

 

Hermann Mauser steht frühmorgens mit seinem Motorrad vor der Garage, dick vermummt im Lederanzug, denn es kann auch an einem Aprilmorgen noch Rauhreif haben. Hinter den Fenstern schauen die Leute ihm zu. Immer noch. Seit dreißig Jahren. Sie denken: Wann wird der endlich gescheit? Sie schauen ihm zu, wie er das Motorrad vom Ständer kippt, aufsitzt und den Schlüssel dreht. Sie hören den rasselnden Laut des Anlassers und dann das tiefe Bullern des Motors. Abgaswolken in der Morgenkälte.

Viele sagen, Mauser sei ein verschrobener Kauz. Ein Eigenbrötler. Das stimmt. Schon immer gewesen. Er ist jetzt einundsechzig Jahre alt, seit dreißig Jahren ist er Grundschullehrer in Buttenhausen auf der Schwäbischen Alb, unterrichtet Deutsch, Rechnen, Heimatkunde, Sachunterricht. Die Gegend kennt er wie kein anderer, weil er alles, was er lehrt, selbst nachgeprüft hat.

Mauser legt den Gang ein und fährt los, die Dorfstraße entlang, um die Kurve, über die Brücke, wo im Schatten der Teer milchig ist vom Rauhreif, zur Lautertal-Schule. Heute, an Karsamstag, hat die Schule geschlossen. Mauser hat sich das Motorrad für seine nachmittäglichen Streifzüge gekauft. Der Kilometerzähler hat die Hunderttausend schon überschritten. Es schaukelt gemächlich in den Kurven, tuckert bei wenigen Umdrehungen vor sich hin und zieht kräftig von unten herauf. Die Maschine, denkt Mauser, ist wie ich. In bauernschlauer Untertreibung nennt er die Maschine „sein Moped“.

Das Wetter ist sonnig, an den Hängen blühen Märzenbecher. Das Nachbardorf Hundersingen liegt noch im Talschatten. Hundersinger und Buttenhausener mögen sich nicht. Manche knurren zwischen den Zähnen etwas hervor, bevor sie einem den Rücken zukehren und abwinken, etwas Gehässiges, Altes, an das niemand gerne rührt: „Frag doch die Buttenhäuser Busfahrer, die wissen, wo’s qualmt!“ Ein böses Wort. Man hört es selten. Aber man hört es.

Mauser biegt ein auf die schmale Steige, die in die Feldflur hinaufführt. In der ersten Kehre stellt er ab, holt aus den Packtaschen eine Panzerfahrer-Kombination und Bundeswehrstiefel und zieht sich um. Einen Bauhelm mit Karbitlampe auf dem Kopf, steigt er in den Frühlingshang ein. Zwischen den kahlen Baumstämmen ist der Felsenkranz gut zu sehen. Bald hat er das Münzloch gefunden. Jetzt hält er sich rechts, klettert auf losem Schotter zwanzig Meter ab und sucht. Prüfend schaut er die Felsstotzen an und ihre Bankkalke. Weißjura Delta bis Zeta, nach Quenstedt. Dann entdeckt er den Eingang der Lehmkammerhöhle.

Im Herbst vergangenen Jahres war er zum erstenmal hier. Damals stand die Höhle voller Wasser. Heute ist es trockener. Den Südgang hat er schon gründlich untersucht. Dort geht es nicht weiter. Aber der Ostgang führt in eine kleine Halle, in der er aufrecht stehen kann. Im Strahl der Karbitlampe raucht der Lehmstaub. Vorsichtig klettert Mauser eine Gesteinsstufe hinunter und findet am Fuß der Hallenwand die Querspalte wieder. Auf dem Bauch quetscht er sich in die Röhre hinein. Den linken Arm vorgestreckt, schiebt er sich mit den Füßen vorwärts. Der rechte Arm liegt eng am Leib an, den Rucksack zieht er nach. Er muß den Hals mühsam recken, um etwas zu sehen. Der Gang wird so eng, daß der Stein ihn einklemmt. Nun muß er sich winden und die Schultern abwechselnd vorwärtsschieben. Die Luft füllt sich mit dem Staub und reizt zum Husten.

Wie lang kriecht er so? Zehn Meter? Dann mündet der Gang in einen Spalt, dahinter öffnet sich eine zweite Halle. Jetzt erst wird es wirklich eng. Weil er hager und kleingewachsen ist, kommt er in jedes Loch hinein, in jede Spalte. Wenn der Oberkörper erst einmal drinnen ist, kommt es nur darauf an, die durchgestreckten Beine nachzuziehen. Mauser schwitzt, trotz der Kälte.

Endlich kann er aufstehen und schaut sich um. Die zweite Halle ist schmaler als die erste, aber höher. Oben eine Galerie aus Sinter, wo die Druckrinne verlief. Und dort, unter einem wuchtigen Tropfstein, wölbt sich unauffällig, aber zu rund, zu glatt, eine Öffnung. Sie ist mit Lehm verstopft. Plombierung durch hereinflutenden Schlamm, denkt Mauser. Merkwürdig nur, daß es hier sonst keinen Schlamm gibt und auch nichts, woher er geflutet sein könnte.

Mauser legt eine Pause ein. Macht sich Notizen, vermißt die Kammer. Jedes Geräusch klingt dumpf und erstickt. Die Halle liegt höher als die erste und damit über dem Karstwasserhorizont, deshalb haben sich seine Stiefelabdrücke vom Herbst gut erhalten. Im Lampenlicht schimmert einer der winzigen Stalaktiten milchweiß, an seinem hohlen Ende hängt ein Tropfen. Gebläht wie eine Froschblase. Gläsern, märchenhafter Höhlentau, und in seiner feuchtglänzenden Tiefe angefressene Blumen und bizarre, splitterbesetzte Nadeln aus Kalk.

Stumm staunt Mauser über die Formen.

Kristallwelt.

Der Tropfen wächst und fällt ab.

Sacht wölbt sich ein neuer, naß über dem brüchigen Schlund. Gehalten von hauchdünner Haut. Eine Höhlengeburt.

Mauser holt den Klappspaten aus dem Rucksack und beginnt, die Wölbung am Boden aufzugraben. Knirschend schiebt sich die scharfe Schaufelkante durch die dünne Sinterschicht in den Lehm. Er muß die gesamte Röhre freischaufeln, die sacht ansteigt. Nach drei Metern durchstößt er die Schicht, hier macht die Röhre einen Knick nach oben. Sorgfältig schält er einen Schluf frei und kann sich hindurchdrücken. Schwierige Übung, denn der Spalt ist gerade mal schulterbreit, und hinter dem Knick folgt gleich ein Kriechgang. Dessen Lehmboden ist unberührt, keiner ist je hiergewesen.

Der Gang mündet in einer kleinen Kammer, gerade hoch genug zum Aufrechtstehen. Wände, Boden und Decke sind mit einer dicken Lehmschicht verkleidet. Mauser schaut sich um. Die Kammer hat muffige Luft, wer weiß, denkt Mauser, wie lange die schon hier drin steht. Mauser spürt die Stille. Hier ist etwas aufbewahrt worden, denkt er. Für mich. Eine Vergangenheit ist gegenwärtig, seit Jahrzehnten stumm, die jetzt zu sprechen anfängt.

Mauser geht gebückt die Kammer ab und sieht im hinte ren Teil, wo sich der Boden senkt, etwas liegen. Etwas, das nicht hierhergehört. In Höhlen gehört außer Stein, Dreck und Dunkelheit nichts her.

Aber deutlich liegt dort, im Lampenlicht, ein Mensch. Er liegt ausgestreckt, die Arme ordentlich an den Körper gelegt.

Er schläft.

Er trägt einen Anzug. Einen schwarzen Anzug, wenn das Licht nicht täuscht, eine Krawatte und ein weißes Hemd. Das Jackett ist zugeknöpft und sauber, kein bißchen Dreck, als hätte der Mensch nicht zwanzig Meter durch die Einge wei de des Weißjura kriechen müssen, um hierherzukommen.

Mauser tritt vorsichtig näher, als wollte er ihn nicht wecken. Dann erschrickt er. Das grelle Licht entblößt das Gesicht, ein verdorrtes, ledriges Gesicht wie von einer Schneiderpuppe. Die Kleider scheinen das Echteste an ihr.

Dieser Mensch.

Und plötzlich spürt Mauser eine Anwesenheit: sein Vater, gestorben vor über dreißig Jahren. Kommt aus der Vergangenheit hierher wie zu Besuch, Mauser fühlt ihn ganz nahe und die vergangene Zeit, die er mitbringt. Mauser ist kein Spiritist, aber eine Ahnung kommt ihn an, hier in den Tiefen des Gesteins, eine Vorahnung von Nachrichten und Geschehnissen aus einem Damals, das längst tot ist. Eine Zeit, in der der Vater gekämpft, gelitten, standgehalten hat. Was hat aber dieser tote Mensch mit seinem Vater zu tun?

Irgendjemand, geht es Mauser durch den Kopf, hat diesen Menschen in Anzug und Krawatte hierhergelegt, damit er wie eine Puppe aussieht und ich, Mauser, mich an diesem sonnigen Aprilmorgen an ihm erschrecke.

Aber niemand kann hiergewesen sein. Es gibt keinen Zugang.

Aus den Ärmeln ragen klein und hutzlig die Hände. Mauser setzt sich ratlos in den Lehm.

Je länger er sitzt, desto unerträglicher wird die Stille. Die Zeit ist hier verwahrt wie Grundwasser in Gesteinsbecken. Manchmal tritt es herauf aus dem Grund, ist auf einmal da, der Brunnen beginnt zu laufen. Hier wird etwas überquellen, wird zutage treten, ein Geschehen, das niemand ab sehen kann. Mauser ahnt es, er weiß nicht woher.

Er braucht lange, bis er seinen Fund begreift. Merkwürdig, daß er sich nicht gruselt. Doch die stumme Begegnung, hier im schalldichten Versteck, ist so unwirklich wie der Laut seines Atems.

Er schaut sich seinen Menschen genau an, nimmt Einzelheiten wahr, ohne sie zu verstehen. Es ist wie ein Film in seinem Kopf, der belichtet und erst später entwickelt wird, zuhause, in der wirklichen Welt.

Die Leiche ist mumifiziert. Seltsam, denkt Mauser träge. Überhaupt alles seltsam. Ungereimtes Zeug.

Der Mensch sieht unversehrt aus. Nur wo sein linkes Au ge sein sollte, klafft ein Loch. Eine Schußverletzung. Man müßte den Kopf anheben und hinten nachschauen, denkt Mauser. Ob der Schuß durchgegangen ist. Wo ist dann die Kugel? Es müßte eine Patronenhülse geben. Aber vielleicht ist er gar nicht hier erschossen worden. Oder er hat sich selbst erschossen. Oder jemand hat ihn hierhergeschleift. Aber es gibt keinen Zugang. Aber wo ist dann die Waffe ... ?

Lange sitzt Mauser, ohne sich zu rühren. Der Mensch steht nicht auf und wird nicht lebendig. Dann begreift Mauser, daß ihm dieser Mensch anvertraut ist. Dieser Mensch und die Geschichte seines Lebens, die dunkle Angelegenheit seines Todes. Niemand weiß von seinem Grab, und hätte Mau ser nicht die Lehmplombe erbrochen und die Totenkammer entdeckt, würde in hundert Jahren noch niemand davon wissen.

Er gehört mir, denkt Mauser. Ich bin es, der ihn ent schlüsseln muß. Wer er war, wie er hierherkam, warum er starb.

Der Gedanke an Polizei ist lächerlich. Der Gedanke an Waiblinger, den Dorfpolizisten, erst recht. Was hat das Hacken der Schreibmaschine in Waiblingers Büro, der Geruch nach Aktenschränken und Bohnerwachs, die Gießkanne, aus der Waiblinger seine Kakteen wässert – was hat das mit einer Pharaonengruft zu tun? Mit dem Tod, der zerbrechlich in der Tiefe der Erde verwahrt wird? Der Tod, der lichtlose, lehmumschlossene, gehört nicht in Amtsstuben. Jedenfalls nicht sofort.

Zuerst brauche ich ein wenig Zeit, denkt Mauser. In aller Ruhe nach Spuren suchen. Er möchte den Hergang entblättern wie im Steinbruch einen Schieferbrocken, sorgsam den Schneckenschmuck freischälen, der zwischen den ölfeuch ten Platten aufgespart wurde für ihn, den späten Be obachter, der ihn zu lesen versteht. Er möchte die Schichten aus Heimlichkeit abtragen, behutsam mit Pinsel und Pinzette, um das in sie Eingebettete zu bestimmen.

Morgen wird er wieder herkommen und ein paar Sachen mitbringen, eine Lupe vielleicht oder einen Fotoapparat oder vielleicht tatsächlich eine Pinzette. Was braucht man zur Erkundung eines Toten?

Gedankenlos gräbt er mit den Fingernägeln im Lehm und nimmt eine Probe mit. Das tut er immer, also muß er es auch diesmal tun. In der zweiten Halle überlegt er sich, ob er den Gang wieder zuschaufeln soll, aber das würde genauso auffallen und ihn jedesmal eine Menge Arbeit kosten.

Keuchend langt er draußen an. Die Luft ist süß vom Waldgeruch, die Sonne blendet. Vögel zwitschern in den Buchen. Der Anzug schlottert ihm feucht und lehmverschmiert um den Leib, als er zur Straße hinuntersteigt. Am Motorrad zieht er sich um, stopft den Anzug in eine Plastiktüte und verstaut ihn in den Packtaschen.

Ein Mann mit seinem Trecker tuckert den Steig herauf und will zu seinen Äckern.

„So“, ruft der Mann herüber. „Der Herr Lehrer. Berg und Tal kommen nicht zusammen, aber die Leut.“ Mauser erkennt ihn, es ist der Eugen Mattes. Er trägt einen braunen Cordhut und eine blaue Latzhose. „Sind wir wieder im Dreck rumgekraucht, ha?“

Mauser nickt und zwingt sich zu lächeln.

Der Mann hält an, die Bremse rastet ein.

„Was gibt’s denn da? Suchst Gold, oder was?“

„Klar“, erwidert Mauser und schraubt die Karbitlampe vom Helm ab. „Wenn Ferien sind und die Lehrer nichts zu tun haben“, sagt er und lacht dazu, „gehen sie auf Schatzsuche.“

Der Bauer lacht zurück. „So schön wollt ich’s auch mal haben. Nix zu tun und aus lauter Passletemps im Dreck rum krauchen!“

„Jaja, wer kann, der kann.“

„Ist wohl wahr!“

„Und? Was machen die Äcker?“

„Schreien nach Geschäft. Aber das Wetter ist trocken, hoffentlich bleibt’s so.“

„Du bist doch schon über die Siebzig, Eugen. Willst nicht mal Schluß machen mit der Ackerei?“

„Weißt, ich schaff noch, bis der Sargdeckel drauf ist. Ich kann halt nicht anders.“

Zum Abschied lüftet er den Hut und fährt ruckend an. Während Mauser alles verstaut und aufsitzt, den Schlüssel im Zündschloß dreht, das grüne Lämpchen aufleuchtet, atmet er erleichtert auf. Hier, im Licht des Tages, ist der Gedanke an die Mumie in der Höhle nur noch absonderlich. Ein grausiges Geheimnis, das er da hütet, und als er losfährt, weiß er nicht, ob er das lange durchhält.

2

 

„Veronika, der Lenz ist da!“ sagt er unten an der Haustür. Sie schaut aus dem Küchenfenster und schimpft.

„Du mit deinen blöden Sprüchen! Warte, ich mach dir auf!“

Er steigt die steile Treppe hinauf. In der Küche riecht es nach orientalischen Gewürzen. Er schnüffelt. Veronika hebt die teigverklebten Hände, als er sie kurz umarmt und ihr einen Kuß gibt.

„Schön, daß du da bist.“

Draußen ist es noch hell. Die Tage werden länger. Das Haus liegt am Hang eines Seitentals, an der Straße, die hinauf nach Haldenegg führt; vom Küchenfenster aus kann er auf die Hauptstraße schauen, auf die Giebel des Rathauses, auf den gegenüberliegenden Talhang, wo der Judenfriedhof liegt. Von der Lauter dringt Kinderlachen herauf. Eine Katze streift an der Hecke entlang, eine Amsel zetert.

Er seufzt.

„Was hast du denn?“ fragt Veronika und formt aus dem ausgewellten Teig kleine Taschen auf einem Backblech. Er schaut ihr zu, beobachtet ihre breiten Hände mit den kurzen, dicken Fingern. Der Ring an der Linken, der unter buttrigem Geschmier hervorblitzt. Wie ihre Hände Teigvierecke abstechen, den Fleischteig daraufballen, sacht die Ecken darüberfalten, mit der Gabel die Ränder festdrücken.

„Sieht aus wie Maultaschen“, sagt er.

„Es sind aber keine. Das ist türkisch, du wirst es mögen.“

Immer erstaunt es ihn, wie ihre plumpen Hände so geschickt sind. Mit so viel Zartgefühl begabt, denkt er. Wie sie aus dem armseligen Stoff der Welt auf der Töpferscheibe so kunstvolle Gebilde hervorbringen. Oft schaut er ihr da -
bei zu, so wie er jetzt beim Falten der Fleischpaketchen zuschaut, und wundert sich über die Vasen, Teller, Schüsseln, die aus dem Nichts entstehen. Es ist ein Wunder, denkt er oft. Sie erschafft aus dem Nichts, wie Gott. Sie umkleistert das Nichts mit Hüllen, und erst dieses herausgegrenzte Nichts ist Etwas, ein Ding, ein Gesicht, eine Botschaft.

„Was hast du denn? Du bist so komisch.“

„Auch nicht komischer als sonst“, erwidert er. „Ach, komm!“

Draußen zetert immer noch die Amsel. Die Katze ist im Gebüsch verschwunden. Der Himmel hat eine sonderbar dämmrige Helle, eine Durchsichtigkeit, als läge dahinter die weite Welt.

„Ostern“, sagt er leise zum Fenster.

„Was hast du heute gemacht?“ fragt Veronika.

Er geht in die Stube hinüber und deckt den Tisch. Die Decken sind niedrig im Obergeschoß, die Fenster klein. Veronika hat keine Vorhänge dran, nur schmale Häkelstores, durch die die Nachbarn hereinschauen können. Unten in der umgebauten Garage hat sie ihre Werkstatt eingerichtet. Obwohl Ostern ist, kommen die Kunden, wann sie wollen. Veronika hat keine Öffnungszeiten, sie ist da oder nicht. Man drückt den unteren Klingelknopf, es dauert eine Zeit, dann geht die zweiflügelige Tür auf und die Künstlerin steht vor einem, mit der glänzenden Gummischürze um den Bauch und farbigen Händen. So wie jetzt, während sie die letzten Teigtaschen füllt. Farben der Erde. Pigmente aus dem Boden. Man wird in den Ausstellungsraum geführt, wo auf kühlen Regalen das Tonzeug aufgereiht steht, unscheinbar zuerst, dann im blassen Licht von draußen glänzend. Kirschrot glasiertes Teegeschirr, Schalen mit graublau geronnenen Strahlenkränzen, Schmuckteller mit schneeweißen Fließzeichen auf Umbragrund. Sehr schön, sagt man, wirklich sehr schön. Und was kostet das? So fragen die Touristen, die zufällig das Schild an der Hauptstraße gesehen haben. Die Kenner fragen: Haben Sie etwas Neues? Die Künstlerin kann davon leben. Die Leute im Dorf schütteln den Kopf darüber, ein bißchen neidisch, aber nicht allzu sehr, verständnislos, aber nicht allzu besorgt. Manche Kunden kehren im „Pflug“ ein oder entdecken das Dorf an der Lauter für ein paar Ferientage.

„War in einer Höhle beim Münzloch heute“, antwortet er. „Ein bißchen rumgesucht, aber nichts gefunden.“

„So so“, sagt sie und schenkt dem Blech, das sie in den Ofen schiebt, ihre Aufmerksamkeit.

„Kennst mich ja“, fährt er fort. „Wenn ich mir was in den Kopf gesetzt hab ...“

Als sie einander am gedeckten Tisch gegenübersitzen, jeder ein Glas Wein vor sich, Kerzen brennen, aus der Küche duftet der Backofen, meint er: „Wenn es Münzloch heißt, hat das seinen Grund, weißt. Solche Namen deuten auf römische Funde. Irgendeiner hat dort etwas gefunden und der Höhle den Namen gegeben ...“

„Wann?“

„Weiß nicht. Irgendwann, siebzehntes Jahrhundert. Müß te man im Katasteramt nachschauen, auf den Flurkarten, weißt. Kann natürlich auch bloß eine etymologische Umdeutung sein.“

„Ach, Hermann“, sagt Veronika lächelnd.

„Kann alles sein. Das weiß man nicht. Nix Gewisses ...“

„... weiß man nicht!“ ergänzt sie, beide lachen.

Beim Essen ist er nicht recht bei der Sache. Nicht, daß er ständig an etwas anderes denkt; aber in ihm ist ein luftdichter Raum, an den er nicht herankommt, er lenkt ihn ab durch seine hartnäckige Verschlossenheit. Er bekommt ein schlechtes Gewissen Veronika gegenüber. Er hat das Gefühl, sie zu betrügen. Er sitzt mit ihr beim Essen und trägt ein Geheimnis mit sich herum, eines, das ihn wegnimmt aus der Gesellschaft von Menschen, schon unteilbar geworden, und sie weiß nichts davon. Sie weiß nicht, daß da etwas in sein Leben getreten ist. Ja, er betrügt sie.

Mit einer Mumie.

„Ich hätte Lust, an Ostern mit dir ein bißchen auf den Friedhof zu gehen“, sagt Veronika plötzlich. „Auf den israelitischen.“

Sie nennt ihn immer israelitisch. Nicht jüdisch, weil sie nicht aus der Gegend stammt. Die allgegenwärtige deutsche Vergangenheit hat sie eine Moral gelehrt, die von gewissen sprachlichen Feinheiten und wohldosierten Empörungen lebt. Aber sie ist nicht hiergewesen, damals. Sie hat nicht die Braunen im offenen Wagen durchs Dorf fahren sehen, Lieder gröhlend, und sie ist auch nicht dabeigewesen, als die Leute sie am Ortsausgang gestoppt haben. Mit Knüppeln, Sensen und Holzlatten bewaffnet, Hermanns Vater un ter ihnen. Juden waren auch dabei. Sie hat nicht die Angst in den jungen, glatten Gesichtern gesehen, als der Vater seine Pistole hob. Den dunklen Fleck, der auf der Hose des SA-Sturmtruppführers erschien, zwischen den Beinen.

Israelitisch.

„Damals waren es noch Juden“, sagt er laut.

„Streiten wir doch nicht.“ Sie nimmt einen Schluck aus ihrem Weinglas. Draußen ist es jetzt dunkel geworden, der Geruch von Gras und Erde weht herein. Die Amsel singt auf einem der Obstbäume im Garten.

„Möcht morgen noch mal in die Höhle.“

„Hast du immer noch nicht genug davon? Ich verstehe dich nicht ...“

„Und ich versteh nicht, was du immer auf dem Friedhof willst.“

„Das müßtest du doch am besten wissen. Die Grabmäler erzählen Geschichten, weißt du, Geschichten von den Menschen, die hier gelebt haben.“

„Die erzählen gar nichts.“

„Aber natürlich. Herr Waltz kann dir über jeden Namen etwas sagen. Was denkst du denn, woher er das weiß? Auch nur, weil er den Geschichten nachgeforscht hat.“

„So gesehen“, erwidert Mauser, „müßt ich das verstehen.“

„Die Festschrift kommt nächstes Jahr heraus, hat Herr Waltz gesagt. Dann ist er fertig. Sie haben jetzt alle identifi ziert, die damals abtransportiert wurden. Nur ein paar, von denen weiß er nicht, wo sie geblieben sind.“

„Ich weiß. Und für jeden stellt er eine Holzlatte auf, mit dem Namen in Ölkreide geschrieben.“

„Eben. Das ist auch Heimatkunde.“

„Das brauchst mir nicht zu sagen.“

„Bist du vielleicht brummig heute! Was ist denn los?“

„Mit solchen Holzlatten –“, beginnt er, besinnt sich aber. „Gehst du dann morgen mit in die Kirche?“

„Warum?“

„Weil morgen Ostern ist. Hast du das vergessen?“ „Nein, ich mein: Warum fragst?“

„Nur so. Und hinterher gehst du in die Höhle ...?“

Er nickt. Sie steht auf und geht in die Küche, um die Teigtaschen aus dem Backofen zu holen.

„Morgen, habe ich mir gedacht, mache ich Lamm“, ruft sie herein. „Das paßt doch zu Ostern, was meinst du?“

Kurz öffnet er den Mund, um es ihr zuzurufen. Um zu sagen, zwischen Backofenduft und Kerzenlicht: Ich habe einen Toten gefunden. In der Höhle. In der Unterwelt. Und ich will ihn nicht hergeben. Ich will ihn für mich haben, bis ich weiß, was mit ihm geschehen ist. Ich muß noch einmal hin, um mir alles genau anzusehen. Wenn er so lange ge legen hat, weißt, kommt es auf ein paar Tage auch nicht an. Aber er bleibt stumm, hört sie in der Küche hantieren. Mit solchen Holzlatten haben sie damals auch, denkt er. Und Vater mit der Pistole, einer alten P 04 aus der Kaiserzeit. Die Dienstpistole hat er nie für solche Sachen benutzt. Mir blieb nichts anderes übrig, hatte er Hermann später erzählt. In Öltücher eingeschlagen, liegt die P 04 noch heute im Keller. An die hundert Jahre alt. Manchmal nimmt Hermann Mauser sie heraus, zerlegt sie, putzt sie, baut sie wieder zusammen. Wie er es mit seinem Moped tut, jedes Jahr einmal. Eine Schachtel Patronen gehört dazu, das alte Sieben-Komma-Sechs-Drei-Kaliber. Mit gezogener Waffe stand Vater vor dem Truppführer, württembergischer Gendarm, das war er und wollte er bleiben. Und glaubte zu wissen, was Recht und was Unrecht sei.

Hätte ich das getan? fragt Mauser sich.

Und doch hat er den Abtransport von Mutz nicht verhindern können. Was nützt es, Recht und Unrecht zu un terscheiden?

Die Teigtaschen brutzeln leise, als sie, aus der Ofenhitze kommend, auf dem kalten Teller liegen.

„Ja“, sagt Mauser abwesend. „Hinterher in die Höhle.“