Simone Bauer
Isarvorstadt
Impressum
1. Auflage September 2012
©opyright 2012 by Autor
Cover: [D] Ligo design + development
Titelgrafik: shutterstock.com | slog21, Munich Skyline
Lektorat: Christian Ritter
Satz: Fred Uhde (www.buch-satz-illustration.de)
ISBN: 978-3-942920-16-2
Alle Rechte vorbehalten. Ein Nachdruck oder eine andere Verwertung ist nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags gestattet.
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Simone Bauer
Isarvorstadt
Alle Charaktere und Geschehnisse in diesem Buch sind fiktiver Natur, eventuelle Übereinstimmung mit real existierenden Personen und Ereignissen sind nicht beabsichtigt und somit rein zufällig.
Weil man absolut nichts mit ins Grab nehmen kann
Weil wir Dummheiten begehen
Weil wir uns nicht immer verstecken können
Weil wir wissen, wer das Postergirl aller frustrierten Singlefrauen ist
Weil es für uns rote Rosen regnen soll
Weil wir alles gegen die Wand fahren dürfen
Weil wir tanzen können, als ob uns niemand zusieht
Weil wir intervenieren
Weil wir dem Geheimnis auf der Spur sind
Weil wir nie aus unseren Fehlern lernen
Weil Rock’n’Roll und Pech Hand in Hand gehen
Weil wir unsere Versprechen nie halten
Weil wir unsere Seele verkaufen
Weil Scherben Glück bringen
Weil man Musen ausschließlich küssen darf
Weil wir mit harten Bandagen kämpfen
Weil wir unsere Schlachten auf Facebook schlagen
Weil Kurzschlussreaktionen die besten Reaktionen sind
Weil unsere Herzen gebrochen werden
Weil wir ein Hurrikan sind
Weil auch wir zur Besinnung kommen
Weil man nur unterwegs seine Heimat findet
»Ich weiß, du kannst mich echt nicht leiden, mei, wenn net, dann lass’ halt bleiben.
Ich bin Münchner, wie er im Buche steht, ich bin a Münchner, wie er ins Pacha geht.«
Christoph Süß, »Münchner«
»The city is at a war, playtime for the young and rich.«
Cobra Starship, »The City Is At War«
»Bang bang, we’re beautiful and dirty rich.«
Lady Gaga, »Beautiful Dirty Rich«
Charlottes Geschichte
»Auf jedem Begräbnis gibt es einen guten Lacher.«
Während ich an die Worte von Marcus Wiebusch dachte, war mir schon wieder zum Kichern zu Mute. Diese ganze Geschichte war so surreal, warum sollte sie auch gerade wirklich geschehen? Es war wie ein dummer, schlechter Traum. Ich wollte und konnte nicht akzeptieren, dass es wahr war, dass es wirklich Lino war, der in diesem schwarzen Sarg lag, der gerade langsam in ein zwei Meter tiefes Loch gelassen wurde. Ich konnte einfach nicht glauben, dass er nicht mehr war. Tot. Der junge Mann, den ich mit 14 am Ufer des Starnberger Sees geküsst hatte, mein allererster Kuss, er war gerade erst 16 geworden. Wie aufregend, mit einem älteren Typen rumzuknutschen, noch dazu einem so attraktiven! Lino, der immer dabei gewesen war, bei jeder Feier, zu jedem Anlass. Er hatte so zum Inventar gehört wie meine Valentino-Handtasche, die ich gerade jetzt besonders fest an mich presste, weil ich mich an irgendetwas festhalten musste.
Das Lachen erstickte in meinem Hals und wich einem tonnenschweren Seufzer. Ich wollte weinen, lachen, den Kopf schütteln, sagen: »Was für ein schlechter Scherz, Leute, Lino, komm raus aus deinem Versteck!«
Aber natürlich versteckte er sich nicht. Der Tumor in seinem Kopf war echt gewesen.
Neben mir stand Theresa Held und starrte ins Leere. Ihr dichtes, schwarzes Haar, das unter der strahlenden Sonne glänzte, hatte sie unter ein schwarzes Hütchen geschoben, ein schwarzer Schleier hing über ihren grünen Katzenaugen. Man kam nicht umhin, ihr die Ähnlichkeit mit Bettie Page anzusehen, auch, wenn sie von dem verruchten Lebensstil eines Pin-Ups weit entfernt war. Ihre scharlachrot lackierten Lippen zitterten genauso wie ihr dünner, blasser Körper, auch sie haderte mit sich, ob sie der ganzen Geschichte nun glauben sollte oder nicht. Es war unvorstellbar, dass wir wirklich gerade Lino zu Grabe trugen. Dass ausgerechnet diese gute Seele so einen kaputten Körper gehabt hatte. Theresa hätte jetzt bestimmt gesagt, Gott hätte ihn zu sich geholt, weil er einen guten Freund brauche. Schwachsinn. Unfair war das.
Wir hatten nicht damit gerechnet. Wir wussten, dass er krank gewesen war, aber wir hatten auf all die Spezialisten vertraut, die sich um ihn gekümmert hatten. Er hatte exzessiv gearbeitet, gefeiert und sein Leben in vollen Zügen genossen. Und am Ende hatte das ganze Geld ihn dann doch nicht retten können.
Sein Tod war dann von heute auf morgen passiert. Ich hatte mir die Details nicht anhören können, genauso wie ich mich vor Weltuntergangsfilmen verschloss – es war zu grausam.
Es war uns allen in unseren schwarzen Kostümen und Anzügen viel zu heiß, wir schwitzten hinter verspiegelten Sonnenbrillen und unter eleganten Hüten. Die Trauerweide über Linos Grab spendete uns nicht den geringsten Schatten. Eigentlich sollten wir weg vom Schwabinger Nordfriedhof, Richtung Starnberger See, raus aus Munich City mit all ihren Sperenzchen, uns unter der Sommersonne vergnügen und plantschen. Stattdessen beerdigten wir einen unserer besten Freunde.
So hart wie es für uns auch war, umso schlimmer war es für Romina Oberhausen. Sie hatte etwas Aristokratisches an sich, wie sie mit ihrem brünetten, geflochtenen Haar auf dem kerzengeraden Ballerinahaupt dastand – und litt. »Romy«, wie wir sie alle nannten, war Linos um zwei Jahre jüngere Schwester. Sie stand ganz vorne, vor der Grube, eingerahmt von ihren Eltern, die aufpassten, dass Romy nicht gleich hinterher sprang. An dem Tag, an dem Lino uns verlassen hatte, hatte der letzte Rest Gutes diese Welt verlassen, dessen waren wir uns alle sicher.
Romys Eltern waren extra aus Österreich angereist. Sie waren nicht gekommen, als Lino die Krankheit in seinem Körper bemerkt hatte. Wahrscheinlich war es ihnen auch schwer gefallen, überhaupt den Flug von Wien nach München einzuplanen, wegen den vielen Terminen und so. Romys Vater war Unternehmensconsulter, ihre Mutter Grande Dame österreichischer Wohltätigkeitsorganisationen – wohltätig zur eigenen Familie war sie nie gewesen. Die Eltern unserer Generation waren so, 1968 geboren und trotzdem Spießer durch und durch. Was in dieser Welt zählte, waren Kapitalanlagen, nicht die Gefühle des Einzelnen. Zu meiner Irritation, wie ich Linos Tod einordnen sollte, gesellte sich eine gute Prise Hass. Wären wir nicht in diese Welt hineingeboren worden, wäre Lino noch am Leben. Würde nicht für die Sünden seiner Eltern büßen müssen. Aber er war tot. Und alle Gefühle waren nicht mal mehr fünf Cent wert.
Romys Weinen übertönte das Streichquartett, übertönte die Worte des Priesters. Es war ein rabenschwarzer Tag – für uns, für diese Stadt – und es war so schwer zu begreifen.
Mein Blick glitt zu Moritz Roth, der neben Theresa stand, und die Spitzen seiner Budapester anstarrte. Was sollte ich nur tun, ohne Lino? Seine Weisheiten hatten mich am Leben gehalten. Er hatte immer gewusst, was zu tun war. Zwar hatte er mich nicht immer davon abgehalten, etwas Dummes zu tun, aber meistens hatte er dann doch erfolgreich an meinen Verstand appellieren können. Er war immer zu gut gewesen, zu nett, zu freundlich. Wahnsinnig klug. Und er wollte auch immer, dass wir alle glücklich waren, hatte sich immer hinten angestellt. Eines seiner großen Projekte war gewesen, mich mit Moritz zu verkuppeln. Es war ihm nicht mehr gelungen. Ihm war so vieles nicht mehr gelungen. Er war einfach viel zu jung gegangen. Hinter uns schniefte Bibi, Theresas Schwester, die zusammen mit ihrem Freund Leopold gekommen war. Entschuldigung, Verlobten. Lino hatte diese Verbindung immer für eine Farce gehalten. Er kannte Bibi gut, sie hatten gemeinsam studiert. Leopold stand ziemlich teilnahmslos daneben, wie ein in Hugo Boss eingekleideter Küchenschrank. Irgendwie sah er überall, außer im Fitnessstudio, ein wenig fehl am Platz aus.
Romy und ihre Eltern waren als Erste dran, Graberde auf den Sarg zu schütten. Romy zitterte wie unter großen Schmerzen, als sie ihrem Bruder eine Rose zu warf. Ihr Vater checkte seinen Blackberry, kaum, dass er die Schaufel weggestellt hatte. Er mochte sauer darüber sein, dass Lino mit Romy Österreich verlassen hatte und nicht in seine Fußstapfen getreten war, aber das ging zu weit! Ich wollte schreien, wollte, dass sie alle gingen. Schreien in einem unfassbar lauten Ton. Nur die, die auch von Lino berührt worden waren, sollten heute hier sein, von ihm Abschied nehmen. Und sich die unsägliche Frage stellen: Wie sollte es nur jetzt mit uns allen weitergehen?
»Ich finde, es war eine schöne Trauerfeier«, meinte Theresa, nachdem sie auf den Sitz meines azurblauen Cabrios gerutscht war. Sofort zog sie diesen furchtbaren Organizer aus ihrer Handtasche. Ihr Termintagebuch. Eine Mischung aus strikter To-Do-Liste und gefühlvollen Notizen (»Linos Beerdigung, 14 Uhr, ätzend«), die sie sofort aktualisierte, kaum, dass ihr Arsch das Leder des Sitzes berührt hatte.
»Schön? Die ganze Veranstaltung war lächerlich. So heuchlerisch. Der Priester weiß doch gar nicht, von wem er gesprochen hat, er kannte Lino doch gar nicht. Und dann auch noch Romys Eltern. Die sind doch nur scharf darauf, den Flieger nach der Testamentseröffnung pünktlich zu kriegen«, knurrte ich und setzte mich hinters Steuer. Während ich in meinem schwarzen Täschchen nach den Schlüssel suchte, feuerte ich weiter: »Und den Brauch eines Leichenschmauses werde ich auch nie verstehen!«
»Der Leichtrunk soll uns Lebenden signalisieren, dass das Leben weitergeht«, warf Moritz ein, als er es sich hinten im BMW gemütlich machte. Bei seinem Anblick dachte ich mir wehmütig, dass es zu windstill war, als dass seine schöne, braune Haartolle – nicht im Stil von Dick Brave, eher im Stil von James Dean, denn genauso sah er aus, wie der letzte Rebell auf Erden – bei vollem Alarm auf der Straße aufgewühlt werden würde. Ich liebte es, wenn er zerzaust war, weniger geleckt als jetzt in seinem maßgeschneiderten Anzug. Ich mochte es, wenn er mit einer Zigarette im Mund auf der Bühne stand und einen Liter Wodka nach dem anderen in sich hineinschüttete. Aber generell fand ich eh alles an ihm super. Doch egal, wie verliebt ich in ihn war – er wusste ja sowieso nichts davon –, ich musste ihm Paroli bieten: »Hast du das gerade noch schnell bei Wikipedia gegoogelt oder was?«
Ich startete den Wagen, Theresa und Moritz schwiegen. Sie wussten, dass sie sich nicht mit mir anlegen brauchten, wenn ich ungehalten war. Und dennoch meinte Theresa: »Willst du nicht noch ein letztes Mal auf ihn trinken?«
»Nein«, ich schüttelte vehement den Kopf, »Ich setze euch am Prinzregentenplatz ab. Wir sehen uns dann zu Hause.«
Als wir am Nordfriedhof vorbei zogen, fühlte ich mich in die Anfangsszene von »Eiskalte Engel« versetzt. Ich wünschte mir, ein wenig kälter im Bezug auf Linos Tod zu sein. Aber es war nicht möglich. In mir war auch etwas gestorben.
Theresa und ich wohnten zusammen, einfach, weil sie in der Ludwigvorstadt gewohnt hatte und dort heutzutage doch keiner mehr lebte. Auf dem Klingelschild stand allerdings nicht »Kleeblatt & Held«. Schon alleine, weil Theresas Name wie aus einem Groschenroman klang. Und außerdem war es immer noch meine Wohnung – und ich hatte gelogen, ich fuhr nicht direkt dorthin. Ich parkte meinen Wagen und trank irgendwo, in einer absolut billigen Spelunke, schon um vier Uhr nachmittags Bier aus dreckigen Gläsern, weil ich eben doch auf Lino trinken wollte, alleine, so lange, bis dieses Bierstüberl zumachte und ich nach Hause wankte. Ich war nicht bescheuert, ich würde nicht besoffen Auto fahren, schon gar nicht, wenn es ein 3er Cabrio ist. Als ich also in meiner Wohnung ankam, war bereits die Nacht über die Isarvorstadt hereingebrochen. Eine angenehme Kühle senkte sich über diesen Stadtteil, endlich wieder frei durchatmen. Theresa war noch nicht wieder zurück, wahrscheinlich saßen sie noch immer im Hypocampus und redeten über die alten Zeiten. Die alten, vergangenen Zeiten.
In meiner Wohnung erkannte man mich in jedem Winkel wieder. Mich, Charlotte Kleeblatt, die 22-jährige Modestudentin, die aussah wie Michelle Williams. In einem Anfall von besonderer Fashion-Infiziertheit hatte ich meine wasserstoffblonden Haare zu einem radikalen Pixie schneiden lassen, wirklich gestört hatte es niemanden. Jemandem besonders aufgefallen – wie zum Beispiel Moritz, für den ich es im Endeffekt getan hatte – leider auch nicht. Ich liebäugelte mit einem Undercut, aber man ließ sich die Haare normalerweise nach dem Ende einer Beziehung schneiden, nicht nach dem Ende eines Lebens. Oder auf der Suche nach einem neuen Look, und meiner funktionierte eigentlich ganz gut.
Theresa hatte trotz ihrem Einzug in mein Gästezimmer kaum etwas an meiner Wohnung verändert, sie war noch immer die Malibu-Stacy-Fantasie, von der jede 12-Jährige träumte. Ich liebte Kitsch. Ich war so schnell wie möglich von zu Hause ausgezogen um eine ganze Wohnung mit Kitsch füllen zu können. Kitsch und Fotos von all meinen Freunden, von all den coolen Partys, Erinnerungsstücke an Reisen und Events. Und wo wir schon von zu viel Romantik sprechen: Unter meinem Bett lagerte ich ein Poster von Moritz’ Band Dance Polly Dance. Dance Polly Dance hatte zwar noch nicht mal einen Plattenvertrag, aber Merchandise stellten sie schon her wie die Wilden. Am liebsten zog ich das Poster unter meinem Bett hervor und küsste Moritz’ verwegene Fotografie. Unter dem Poster lagen noch viele andere Poster. Moritz war ziemlich rastlos und gründete ständig neue Bands, wie es ihm gerade so passte. Öfter als nur manchmal bewunderte ich seinen Ehrgeiz, seine Kreativität.
Ich bewunderte grundsätzlich jeden, der es schaffte, seinen Arsch aus dem Sessel zu bringen, in dem ich die meiste Zeit saß und Wiederholungen amerikanischer Sitcoms guckte. Ich fühlte mich träge, von der Muße verlassen. Moritz gründete Bands, Lino hatte an einem Club gearbeitet, Theresa war wahnsinnig begabt, was Mode betraf. Und ich? Ich schaffte es nicht mal, meine Wohnung selbst auf Vordermann zu bringen und beschäftigte einen persönlichen Einkäufer und eine ukrainische Haushälterin. Weil ich der Meinung war, dass ich, wenn ich in die Knie ging, nichts aufheben sollte.
Trotz der langsamen Abkühlung der Stadt war es eine dieser heißen Nächte, in denen ich mich komplett auszog und immer noch brannte. Als hätte ich Fieber, war meine Haut ganz furchtbar heiß. Ich stellte mich vor das offene Fenster und starrte hinaus, versuchte, mich abzukühlen. Bei jeder Bewegung war mir bewusst, wie schlaff mein Hintern geworden war. Im Verhältnis zu Mischa Barton sah ich nackt natürlich immer noch super aus, aber ich machte mir nichts vor, bald war ich kein junger Hüpfer mehr, bald landete ich genauso wie Lino in der Kiste. Wir sind alle nur vergänglich. Die Gedankenspirale »Ich stehe kurz vor meiner Menopause« setzte sich in Bewegung. Was konnte ich jetzt noch großartig erreichen? Ich war verhandlungssicher in Englisch und konnte in sieben weiteren Sprachen Kaffee bestellen, war mehr so der Wolfgang Joop an der Modeschule und weniger die Vivienne Westwood – und sowieso nur noch dort, weil meine Eltern das nötige Schulgeld aus der Portokasse zahlten. Sehnsüchtig starrte ich den Mond an. Lino, was soll ich nur tun?
Ich bekam keine Antwort. Stattdessen entschied ich mich, ein paar Xanax zu werfen, um ins Bett gehen zu dürfen. Und zu vergessen.
Am nächsten Morgen, ein Samstag, traf ich Bibi vor dem Konsulat. Noch immer war die Stadt aufgeheizt, die sonst so hippen Radfahrer hatten abgesattelt und schoben müde ihre Fahrräder an uns vorüber. Kleine Kinder machten auf FKK und die Mütter, die ihnen hechelnd hinterher liefen, wünschten sich wohl eben so sehr, blank ziehen zu können.
Vor mir stand eine dampfende Tasse Kaffee, während Bibi an einer Saftschorle nippte.
»Gestern, da dachte ich kurz, wie schön es wäre, schwer zu trinken. Scotch oder Bourbon, von mir aus auch Grey Goose.« Bibi seufzte. Sie war ein Kontrollfreak. Warum sollte sie also trinken und sich so außer Kontrolle geben? Eben. Aber ich wusste ja, dass sie mit Lino studiert hatte und es ihr auch deswegen sehr, sehr schwer fiel, Abschied von jemandem zu nehmen, den man so lange gekannt hatte.
»Lass uns nicht darüber reden.« Ich starrte in die unbarmherzige Sonne. Während ich blinzelte, versuchte ich, nicht wieder alle Emotionen hochkommen zu lassen. Die letzte Nacht war schlimm genug gewesen, trotz der Xanax hatte ich mich kaum beruhigen können.
»Ich bin froh, dass es doch mal mit einem Treffen zwischen uns klappt«, meinte ich schließlich, schob meine Tasse zur Seite und legte meine rechte Hand feierlich auf Bibis. Bibi starrte auf die Hand und murmelte: »Na ja, du kennst ja Leopold, er mag es nicht so gerne, wenn ich was ohne ihn mache.«
Ich folgte Bibis Blick. Unter der Sonne glitzerte Bibis Verlobungsring nur halb so schön wie der Diamant, gelb wie eine Tulpe, den ich mir selbst an den Mittelfinger gekauft hatte. Er passte hervorragend zu meinem Floralträgerkleid. Eine alte Frau in der Schlange vor mir beim Bäcker, eine Stunde zuvor, hatte etwas Ähnliches getragen, aber ich versuchte, meine vorzeitige Midlifecrisis erst einmal zu verdrängen und das Beste aus der Situation zu machen. Lieber erfreute ich mich an dem Funkeln des Rings und das entging auch Bibi nicht. Schnell zog sie ihre Hand unter meiner weg und fuhr sich durch die Haare. Ich nahm wieder meine Tasse Kaffee. Zwischen zwei Schlucken fragte ich: »Und? Was wünschst du dir als Hochzeitsgeschenk?«
»Ach, ich …«, Bibi zögerte. Ich machte mir keine Mühe, zu verschleiern, dass ich Bibis und Leopolds Hochzeit nach nur knapp einem Jahr Beziehung für eine absolute Farce hielt.
»Ich dachte an einen Botoxgutschein«, plapperte ich dazwischen.
»Nervengift?« Entgeistert sah Bibi mich an.
»Da gibt es auch diese neue Operationstechnik. Dir wird etwas in die Fersen gespritzt, sodass du wie auf Wolken gehst, egal, wie hoch deine Absätze sind. Aber ich fürchte, das interessiert dich jetzt nicht so.« Bibis Blick glitt unter den Tisch und auf die einfachen Schläppchen, die sie trug. Mit denen hätte man sicher problemlos barfuß nach Australien laufen können. In meinen Jimmy Choos eher nicht so.
»Was anderes, wie läuft es mit Moritz?«, lenkte Bibi ab.
»Ich habe nach wie vor keine Ahnung, wie ich es schaffen soll, dass er sich auf mich legt«, ich zuckte mit den Schultern, »Nichts hilft! Kein Arschwackeln, kein aufreizender Ausschnitt, kein Augenaufschlag. Ich finde ihm zuliebe jetzt sogar Sonic Youth gut. Juckt es ihn? Nein. Absolut nicht.«
Nach meinem Vormittagskaffee mit Bibi zog es mich zurück in die Kühle meiner Wohnung, aber wie es meistens war, kam etwas dazwischen. Irgendetwas war ja immer. Vor allem, wenn es nach Frau Römer ging. Ich musste zugeben, ich wartete sehnsüchtig auf den Moment, in dem sich ihre Verwandten dazu entschieden, sie endlich abzuschieben. Sie hatte wahrscheinlich schon in meinem Apartmenthaus in der Isarvorstadt gewohnt, als noch die Grundmauern hochgezogen wurden. Frau Römer war wirklich steinalt. Und auch, wenn sie eigentlich furchtbar schlecht hörte, beschwerte sie sich jeden Morgen über die Lautstärke der Gespräche, die Theresa und ich beim Abendessen führten – ihr Schlafzimmer war nämlich neben unserer Küche und bekanntlich beginnt so eine handelsübliche Schlafruhe ja schon ab vier Uhr nachmittags.
Jetzt stand sie wieder im Haustürrahmen, unsere Hausmeisterin des Vertrauens, in einem Kittel, der wahrscheinlich von Else Kling persönlich inspiriert worden war. Mit zusammengekniffenen Augen starrte sie einen Umzugswagen an, der auf dem Bordstein vor dem Haus parkte.
»Guten Morgen Frau Römer.« Ich wollte schnell vorbeihuschen, aber natürlich war ich zu langsam. Und ein Cape, das mich unsichtbar machen konnte, war auch weit und breit nicht zu sehen. Schon hatte sie mich in ihren Fängen: »Grüß Gott, Frau Kleeblatt! Sehen Sie’s?«
»Was sehe ich?«, sagte ich und guckte an ihrem Gesicht vorbei, nur, damit ich das Elend nicht mitbekam. Frau Römer war alleinstehend, seit fast dreißig Jahren. Und jede einzelne Falte in ihrem Gesicht konnte ein Lied davon singen. Mal wieder fragte ich mich, warum Lino uns hatte verlassen müssen. Nicht, dass ich irgendwem den Tod wünschen würde, aber eine Ungerechtigkeit herrschte hier schon vor.
»Der Umzugswagen. Da kommt schon wieder so ein Junger.« Sie rümpfte die Nase. Dass ausgerechnet die Isarvorstadt Anziehungspunkt für die jungen Kreativen war, taugte ihr nicht so recht.
»Zieht er in die Wohnung über uns ein?« Ich erinnerte mich dunkel, dass diese Wohnung schon eine Zeit lang leer stand, weil der Banker, der sie bewohnt hatte, sich urplötzlich nach Südamerika abgesetzt hatte.
»Ja, ja. Das wird noch ein schöner Krach werden, was der alles für Möbel hat, oh mei …« Frau Römer schüttelte den Kopf. In der Tat trug eine ganze Armee von Umzugshelfern in Arbeitsanzügen Sofas, Tische, Stühle an uns vorbei ins Haus, aber vom besagten jungen Hüpfer keine Spur. Die Möbel waren von feinster Qualität. Ich war jetzt schon gespannt, ob der neue Mieter auch zu der Sorte »Bald nach Brasilien abgesetzt« gehörte. Im nächsten Moment schwang sich ein großgewachsener Kerl in hautengen Blue Jeans aus dem Umzugswagen, im V-Ausschnitt seines American Apparel baumelte lässig eine Sonnenbrille, die gerade der letzte Schrei war.
»Das ist er«, grummelte Frau Römer, als wäre gerade George W. Bush aus dem Umzugswagen gehüpft. Wobei, so gut wie ich meine Hausmeisterin kannte, wusste sie wahrscheinlich nicht mal, wer oder was George W. Bush war. Und wenn, würde sie ihn wohl auch noch gut finden! Oh je. Ihr Leben reichte vom Erdgeschoss bis zum vierten Stock, das war’s dann auch schon.
»Hey.« Ich stellte mich dem jungen Mann in den Weg, weg von Frau Römer, die offensichtlich empört darüber war, dass ich dem Feind das Du anbot. Allerdings war der Feind wahnsinnig attraktiv anzuschauen, ich mochte sein blondes Haar, seinen Dreitagebart und wie rau seine Hand war, als er sie mir reichte: »Hi. Ich bin Veith.«
»Ich bin Charlotte. Ich liege unter dir.« Ich befeuchtete meine Lippen mit der Zunge, »Ich meine natürlich, meine Wohnung liegt unter deiner. Ich wohne unter dir.«
»Schön.« Er zwinkerte mir zu.
»Dann bis zu deiner Einweihungsfeier.« Ich winkte ihm zu und eilte dann ins Haus, die Treppe zügig nach oben. Ich konnte noch hören, wie Frau Römer zeterte: »Was, Sie wollen eine Einweihungsfeier geben?«
Sonntagabend war meistens Familienkonferenz. Wir Kleeblatts legten Wert auf einen wöchentlichen Austausch, es war auch oft die einzige Gelegenheit in der Woche, bei der meine Eltern zusammen am Tisch saßen. Meine Mutter machte in Opern. Ich weiß nicht genau, was, aber ich erinnere mich an viele ätzende Abende in meiner Kindheit und Jugend, die ich in Theatern und Opern verbrachte. Jeder meiner Freunde hätte besonderen Nutzen daraus gezogen, sich inspirieren lassen. Mich hatte es einfach nur gelangweilt. Mein Vater machte in Hedge Fonds und war oft auf Reisen. Wenn ich sage, wir Kleeblatts legten Wert auf einen wöchentlichen Austausch, meine ich sowieso nur meine Eltern. Ich hätte den Abend auch getrost in der ehemaligen Ersten Liga verbringen können, aber nun saß ich eben doch beim Abendessen mit den old folks.
»Wie war Linos Trauerfeier?«, wollte meine Mutter wissen, während sie ihr Fleisch zerteilte.
Ich runzelte die Stirn: »Nett.«
»Sei doch nicht so, Charlotte. Wir haben seinen Eltern Blumen geschickt«, wies meine Mutter mich zurecht, als wäre ich diejenige ohne korrekte ethische Werte, »Stimmt es, dass Romina sein Etablissement geerbt hat?«
»Es ist ein Club, Mutter, und ich weiß es nicht.«
Nun schaltete sich mein Vater ein: »Sie hat nicht das Zeug zur Geschäftsfrau. Hatte er auch nie.«
Ich weiß nicht genau, wann meine Eltern so geworden sind. Und leider kann ich mich, außer an endlosen Abenden, die ich mit Kultur verbringen musste, auch an fast nichts aus meiner Kindheit erinnern. Ich weiß nur, dass sie nicht immer so kapitalistisch gewesen waren. Irgendwann waren sie auch menschlich gewesen. Als ich kleiner war, hatten sie mich »Marienkäfer« genannt, im Garten herumgewirbelt und mir Erdbeereis gekauft. Damals war die Welt noch in Ordnung gewesen.
Aber irgendwann hatte meine Mutter festgestellt, dass ich nicht die junge Frau werden würde, die sie sich gewünscht hatte. Ich verweigerte meinen Debütantinnenball und hatte nicht vor, in näherer Zukunft einen reichen Arzt Schrägstrich Adeligen Schrägstrich Sohn eines Immobilienmoguls zu heiraten. Stattdessen entwickelte ich kurz vor dem Abitur die heftigen Ambitionen, es als Model zu schaffen.
Was hatten sie die Stirn gerunzelt, als ich stundenlang in meinem Zimmer auf und ab gegangen war, dabei jedes einzelne Paar Schuhe durchprobiert hatte, eines höher als das andere. Model, das war früher ja vergleichbar damit gewesen, im horizontalen Gewerbe zu arbeiten! Und das wollte ich werden? Noch dazu es als Supermodel schaffen?
Ich schaffte es nicht, das Stirnrunzeln war unbegründet gewesen. Mein anfänglicher Ehrgeiz, mein Üben, all das hatte nicht gereicht. Darauf führte ich meine derzeitige Antriebslosigkeit zurück, die Gedanken, die ich mir machte, wegen denen ich auf Xanax zurückgreifen musste. Xanax sollte Angst- und Panikstörungen behandeln. Ich hatte immer Romina und Lino beneidet, die nie vor irgendetwas Angst gehabt hatten. Nicht vor der Zukunft, nicht vorm Älterwerden. Mich überwältigten regelmäßig die Gedanken über das, was kommen würde, über den Tod und die Tatsache, dass ich nichts, absolut gar nichts in dieser Welt verändert hatte, außer, dass ich vielleicht den ein oder anderen Mann außerordentlich glücklich gemacht hatte. Es war zum Kotzen. Natürlich dachte ich mir immer, dass Theresa eigentlich schlimmer dran war. Theresa, die vor lauter Verkrampfung kaum essen konnte. Die nahm aber keine Tabletten, deswegen sollte ich sie wohl doch eher bewundern. Auch, wenn ihr eine Therapie gar nicht mal schaden würde.
Man kann nicht genau festmachen, wann das alles so gekommen ist. Irgendwann, als ich mir mein Scheitern als Model eingestehen musste. Irgendwo zwischen Discokugel und Modedrogen. Theresa, die vor lauter diszipliniertem Arbeiten an ihren Hausaufgaben das Essen vergaß, und Bibi, der Kontrollfreak, waren vielleicht schon immer so gewesen, so geboren. Ich hatte vergessen, wozu ich geboren worden war.
Es war ein halbes Jahr voller Absagen, voller Frustration, voller Aussichtslosigkeit gewesen, dann gab ich auf. Die Welt war einfach überfüllt mit dünnen, blassen, wasserstoffblonden Models. Als ich mich dann an der Modeschule einschrieb, um Designerin zu werden, atmeten meine Eltern halbwegs erleichtert auf. Meine Mutter glaubte, dass ich so wenigstens teilweise wieder anständig werden würde, aber in der Zwischenzeit hatte ich beschlossen, etwas Höheres anzustreben als die Frau eines Geschäftsmannes zu werden. Oder eine Dame zu werden, die irgendetwas mit Opern und Künsten machte. Um ehrlich zu sein, war die Modeschule nur ein Alibi. Ich hatte einfach überlegt, was ich gut konnte. Ich konnte mich sehr gut schminken, aber auf eine Ausbildung zur Visagistin hatte ich keine Lust. Fürs Theater zu schminken klang zwar reizvoll, aber ständig die schlechte Haut irgendwelcher Schauspieler unter meinen Fingern? No, thanks. Und designen konnte ja im Prinzip jeder, der ein Vogue-Abo besaß. Ich hatte zwei Abos: Einmal die französische, einmal die amerikanische.
Klar, die meisten an der Schule wollten sich selbstständig machen. Theresa beispielsweise wollte mit ihren Kreationen in die Geschichte eingehen, so wie es Alexander McQueen getan hatte. Aber irgendwelche merkwürdigen Haute-Couture-Kleider schneidern und sie in komischen Schuhen über den Laufsteg schicken? Das war nicht ganz so mein Ding. Ich wollte meine Zeit totschlagen. Vorerst. Denn ich hatte beschlossen, die High Society auf meine Art zu regieren. Mein selbstgestecktes Ziel war nicht geringer als all diese Lebensvorstellungen meiner Mutter, im Gegenteil: Ich wollte It Girl werden. Und mit dem Gedanken, ein Es Mädel zum Kind zu haben, konnte meine Mutter nun mal gar nichts anfangen. It Girls, das sind die Mädchen, die zwar in einigen wenigen Fällen »Berufe« haben (Models, Journalismusstudenten, Schauspielerinnen, Praktikantinnen bei großen Designern, Moderatorinnen), diese aber nie in Klatschmagazinen genannt werden. Da steht dann einfach nur »It Girl« daneben.
Ich dachte, das wäre doch genauso gut wie Model sein, oder? Eben.
Natürlich bekam ich dafür keine Unterstützung meiner Eltern, sie verliehen mir lieber den Titel »schwarzes Schaf der Familie«. Aus und vorbei mit Marienkäferlein.
Und da war es wieder, das Problem des Älterwerdens. Meine Mutter hätte mich schon längst gerne unter der Haube gesehen. Meinen It Girl-kompatiblen Plan, Moritz’ Baby zu werden, war ihr da natürlich auch ein Dorn im Auge. Nicht, dass ich ihr von meiner tiefen Zuneigung zu ihm erzählt hätte. Aber sie sah ja, mit wem ich mich sonst rumtrieb, wenn wieder in den einschlägigen Tageszeitungen Fotos mit mir und diversen Fußballern, Schauspielern und Malern waren. Beziehungen, die nie hielten. Und wegen dem Lotterleben des einzigen Kleeblatt-Sprosses traf meine Mutter eine Entscheidung, die schlimmer als jegliche Enterbung war. Sie verweigerte mir das Marienkleid.
Das Marienkleid war laut einer Legende eine Kreation von Margaretha Ley. Margaretha Ley, ein ehemaliges Model, hatte die Luxusmarke Escada in den wilden Siebzigern gegründet – ein Münchner Urgestein. Sie entwarf es kurz vor ihrem tragischen Tod. Es gelangte in die Hände meiner Mutter, vielleicht war es auch die ganze Zeit für sie bestimmt gewesen. Wichtige Münchner Frauen kannten einander nun mal.
Allerdings passte sie mit ihren Rundungen nicht ganz in das Kleid, das wie ein Traum war. Es wallte, es fiel perfekt, es erstrahlte in den schönsten Farben. Ein einziges Mal hatte sie es gezeigt, um mir klarzumachen, dass ich es nie, nie tragen dürfte. Weil ich es entweihen würde, ich mit meinem schändlichen Lebensstil.
»Was ist das?«, hatte ich gefragt, mit vor Verwunderung offenem Mund.
»Das ist das Marienkleid. Margaretha Ley hat es vor ihrem Tod entworfen. Es ist ihr Vermächtnis. Ein Meisterwerk«, hatte meine Mutter nüchtern gesagt, nicht aber ohne einen klitzekleinen Funken Stolz in ihrer Stimme.
»Es ist wunderschön«, hatte ich gehaucht und sie hatte mich nur abgefertigt mit: »Du bist noch nicht bereit dafür.«
Als ich jetzt dasaß und auf mein Steak starrte, das mir heute Abend serviert wurde, konnte ich nicht aufhören, an das Kleid zu denken, aus welchen Gründen auch immer.
Vielleicht war es der Gedanke, zu sterben, bevor ich die Gelegenheit bekäme, es doch noch tragen zu dürfen. Oder einfach grundsätzlich zu alt und zu dick dafür zu werden.
»Entschuldigt mich!«, ich schob den Stuhl zurück. Wäre Lino da gewesen, er hätte mich aufgehalten. Aber er war tot und auch sonst hätte er wohl kaum die Möglichkeit gehabt, mir die Idee, die ich gerade gehabt hatte, wieder auszureden.
Anstatt auf die Toilette, zog es mich in die oberen Räumlichkeiten meines elterlichen Hauses mitten am Speckgürtel Münchens.
Das Kleid hing im Ankleidezimmer meiner Mutter, an einem ihrer antiken, goldenen Spiegel. Ich schnappte es mir und hastete hinüber in mein altes Kinderzimmer. Schnell öffnete ich eines der Buntglasfenster – ich sagte doch, ich war kitschig – und warf das Kleid, das ehrwürdige Marienkleid, aus dem Fenster in die Äste des Baumes.
Eine Stunde nach meiner Kurzschlussaktion – noch immer klopfte mein Herz, als wäre ich einen Marathon gelaufen – tat ich ein paar Schritte in der Dunkelheit, dann blieb ich stehen und lauschte in die Nacht hinein. Von ein paar Häusern die Straße hinunter erklangen Opern-Arien, irgendwo in weiter Ferne wurde gegrillt und der Rauch zog herüber. In meinem Elternhaus herrschte aber wieder Ruhe, die Zucht und Ordnung, die mich während meiner ganzen Jugend deprimiert hatte. Ich machte kehrt, lauschte weiter.
Im Esszimmer wurde das Geschirr klappernd abgeräumt, meine Mutter hatte sich wohl nach oben verzogen, um Ayurveda-Pflegeprodukte aufzutragen. Durch das offene Fenster des Arbeitszimmers meines Vaters im Erdgeschoss hörte ich ihn telefonieren, fachchinesische Floskeln wurden über Investitionen ausgetauscht. Ich schlüpfte aus meinen hochhackigen Schuhen von Chloé und umrundete barfuss das Haus, duckte mich unter den offenen Fenstern hinweg, bis ich an der Rückseite angelangt war. Das Kleid lag dort in der Baumkrone der alten Eiche, auf die ich als Kind immer geklettert war. Wie ein Spinnennetz lag es dort ausgebreitet, nur beleuchtet vom Mondschein, in dem es fahl glänzte.
Ich fühlte mich wieder wie ein Kind von zehn Jahren, ein Mädchen, das gerne ein Junge gewesen wäre, weil Jungs draußen rumrennen durften und ich drinnen sitzen musste, wo ich die Beine stillhalten sollte. Ohne irgendwelche Vorsichtsmaßnahmen – normalerweise achtete ich ja darauf, mich weder dreckig zu machen noch zu verletzen – zog ich mich am ersten Ast hoch und trotz Tellerrock und feiner Bluse hangelte ich mich den Baum nach oben bis zur Spitze. Ich spürte jetzt schon, dass ich mir die Knie aufschürfte bei meinem rasanten Kletterstil, aber ich musste zugeben, dass es mir absolut nichts ausmachte. Meine nackten Fußsohlen berührten nicht einen glasscherbenübersäten Boden in irgendeinem Club, sondern einen dicken Ast. Die Leute hatten recht, die Natur war doch eine ganz schön angenehme Sache!
Um ein paar blaue Flecken reicher landete ich wieder auf der Erde, die nackten Fußsohlen auf dem warmen Gras, das Kleid wie ein Babybündel an die Brust gepresst. In meinem Kopf kam ich mir vor wie eine Raubkatze, wie ein Panther, als ich um das Haus herum schnellte, meine Schuhe angelte und in mein Auto stieg. Im ersten Gang rollte ich die Straße hinunter, froh darüber, dass mein Wagen so oder so geräuschlos durch die Nacht glitt. Und deswegen niemand Verdacht schöpfen konnte, was ich gerade getan hatte.
Wenig später hing das Marienkleid ganz vorne an dem Bauernschrank, in dem ich mein Geschirr aufbewahrte. Ich hatte noch keinen geeigneten Platz für das Kleid gefunden. Eine kleine, piepsige Stimme in mir wollte mir sagen, dass das Kleid sich sicher nicht mit all den anderen Kleidern in meinem Kleiderschrank verstehen würde. Nicht, dass das Marienkleid alle anderen Kleider hänseln würde, aber die anderen Kleider würden sicher zickig auf die Schönheit des neuen Kleides reagieren. So wie es halt immer auf der Welt war: Die Neider, die Hasser, niemand konnte einem irgendetwas gönnen. Und deswegen gönnte ich meiner Mutter auch nicht den Besitz dieses wunderbaren Kleides. So saß ich also vor dem Bauernschrank auf einem Stuhl, ein Bein angezogen, den Rock ausgezogen. Die Nacht hatte eine kühlende Brise mitgebracht, die ich in mir aufsog, während ich Tequila trank und auf das Kleid starrte. Es wurde von Sekunde zu Sekunde hübscher. Völlig geschafft öffnete ich ein paar Knöpfe meiner Bluse und rutschte tiefer in den Stuhl.