Gertrud Höhler
Die Patin
GERTRUD
HÖHLER
DIE PATIN
Wie Angela Merkel Deutschland umbaut
Copyright © 2012
Orell Füssli Verlag AG, Zürich
www.ofv.ch
Rechte vorbehalten
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Lektorat: Annalisa Viviani, München
Umschlaggestaltung und Motiv: David Hauptmann, HAUPTMANN & KOMPANIE
Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung eines Fotos von © Keystone / dpa.
Das Motiv auf der Umschlagrückseite stammt aus der BILD-Bundesausgabe vom 28. Oktober 2011; © AFP / Eric Feferberg; INTERFOTO / NG Collection.
e-Book: mbassador GmbH, Luzern
ISBN 978-3-280-05480-2
eISBN 978-3-280-03724-9
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Für alle, die die Faust noch in der Tasche haben.
Inhalt
DIE WÖLFIN UND DAS SCHWEIGEN DER MÄNNER
Agentin in eigener Sache: Die Schlafwandlerin erwacht · Erfolgsgeheimnis: Bindungslosigkeit · Das Rudel in Deckung – Das Mädchen als Vollstreckerin · Wer führt der Täterin die Hand? · Täterprofil: Zwei-Väter-Tochter · Was macht die Exotin überlegen? Werte-Abstinenz als Waffe · Die Maske fällt – und keiner schaut hin. Merkels Bekenntnis: Stummer Super-GAU für die Demokratie · Die Iden des Friedrich Merz: Wer die Faust aus der Tasche nimmt, muss gehen
ERSTES WETTERLEUCHTEN:
VORSPIELE FÜR DEN ABSCHIED VON DER MARKTWIRTSCHAFT
Ideenleasing im CDU-Themenpark: Merkels Ankündigungsdemokratie · Erlkönigin auf der Rüttelstrecke: Testfahrerin Angela im Themenpark der CDU · Die überparteiliche Kanzlerin: Ideentransfer aus der SPD · Die Planwirtschaft der Werte: Das System M entsteht · Die Kanzlerin enteignet SPD-Botschaften: Die Parteigrenzen verschwimmen · Der Staat rückt vor und schwächt die Parlamente · Nicht Sachpolitik, sondern Machtpolitik: Merkels Punktlandung in der parteilosen Mitte
NEUES DESIGN FÜR DIE WAFFENKAMMERN DER MACHT
Die Kanzlerin greift nach Europa · Euro-Rettung: Lizenz zur Rechtsbeugung · Merkels ‹Meisterleistung›: Ein deutscher Maßanzug für Europa · Keine Zeit für Demokratie: Der europäische Zentralstaat · Europa am deutschen Gängelband · Der Ausstieg vom Ausstieg: Das schwarz-gelbe Bekenntnis · Die ‹Energiewende›: Merkels Moratorium der Demokratie · Der Ausstieg vom Ausstieg vom Ausstieg: Merkels Salto mortale · Atomausstieg: Nebelbomben für das Volk · Normen in der Zentrifuge · Die Leitwölfin der Bindungslosen
POLITLABOR DEUTSCHLAND – EINE DEMONTAGE
Die schleichende Entmachtung der Parteien · Die sinkende Macht der Wähler · Merkels Geheimnis – Windsbraut oder Windmaschine? · Die Aussteigerin · Die Starken gehen, die Schwachen bleiben · Regieren: Ein Entsorgungsunternehmen für alle Bindungen · Der gefährlichste Gegner für das System M: die Liberalen
STUNDEN DER WAHRHEIT
Der Freiherr darf nicht Freiwild werden · Lautlose Sprengungen im Wertsystem · Fresse halten – bald auch im Parlament? · Deine Sprache verrät dich – Angela Merkel im Sprachversteck
PRÄSIDENTENDÄMMERUNG – DRAMA IN DREI AKTEN
Erster Akt: Das Amt als Beute der Politik · Zweiter Akt: Nicht nur die Kandidaten, auch das Amt entmachten · Dritter Akt: Das Gauck-Paradox – Unsterbliche Werte, die im Sterben liegen
DER STAAT GEHÖRT DEN BÜRGERN – NICHT DIE BÜRGER DEM STAAT
Demokratie im Stresstest · Das System M präsentiert: Die unsinkbare Kanzlerin · Plötzlich und unerwartet: Einer wagt den offenen Kampf · Staatsstreich als Chefsache · Wer wollen wir morgen sein? Der Tag der Entscheidung kommt wie ein Dieb in der Nacht
DOKUMENTATION
Angela Merkels FAZ-Artikel vom 22. Dezember 1999
ANHANG
DANK
PERSONENREGISTER
SACHREGISTER
DIE WÖLFIN UND DAS
SCHWEIGEN DER MÄNNER
Agentin in eigener Sache: Die Schlafwandlerin erwacht
Donnerstag ist ihr Saunatag. Der 9. November 1989 ist ein Donnerstag. Angela Merkel hört im Fernsehen die flattrigen Sätze des neuen ZK-Sekretärs für Informationswesen der SED, Günter Schabowski, irgendetwas von offenen Grenzübergängen; aber es ist ihr Saunatag. Als sie nach der Sauna mit ihrem Kulturbeutel wieder auf die Straße tritt, ist die Grenze an der Bornholmer Straße offen. Mit ihrem Saunazeug treibt sie im Menschenstrom nach Westberlin. Irgendein Zimmer in Wedding, wo lebhaft und fröhlich diskutiert wurde, taucht in der Erinnerung auf. Sie bleibt nur kurz, schließlich muss sie morgen wieder arbeiten. Sie staunt über ihre Freunde, die ihren ‹Dritten Weg›, die Reform des Sozialismus, verschüttet sehen.
«Fließende Prozesse», so sagt sie noch 2012, muss man vor allem genau beobachten. Alles ist relativ. Überschwang trübt die Analyse. First things first, würde sie im Managementjargon sagen, wenn sie ein Mann wäre. Ihr Saunaprogramm am 9.November hat sie nicht zurückgeworfen. Sie wartet lange, ehe sie Traumziele festlegt – eine virtuose Tagträumerin mit einem ganz langen Atem.
«Ich glaube nicht, dass ich unter den Verhältnissen des Westens Politikerin geworden wäre», sagt sie 2009.1 «Meine Entscheidung, in die Politik zu gehen, ist wirklich den chaotischen Umständen geschuldet.» Im Westen wäre sie «vielleicht Lehrerin geworden oder Dolmetscherin». Sie leidet, aber sie läuft nicht weg: «Der Westen war nur eine Art Rückversicherung, sagte sie, wenn es mal ganz schlimm kommen sollte.»2 Wir hielten uns aus dem Glutkern heraus, sagt Michael Schindhelm, ein Arbeitskollege in der Akademie der Wissenschaften in Ostberlin. Ihr Verhältnis zur DDR sei nicht «aggressiv kritisch» gewesen, sondern «eher distanziert». Abwarten und beobachten, Angela Merkels politische Kernkompetenz, hat eine solide Trainingsvorgeschichte.
Ihr Senkrechtstart in die gesamtdeutsche Geschichte beginnt mit einem Tarnkappenflug über die umgepflügten Landschaften beiderseits der Mauer. Stumm, fast inkognito saß sie in Versammlungen des Demokratischen Aufbruchs, wo endlich laut geträumt werden durfte – und schwieg. Wer sie später als Putschistin im Kohl-Imperium West-CDU erlebte, konnte das eine mit dem anderen nie zusammenbringen. Beim Demokratischen Aufbruch schließt sie Computer an, statt Reden zu halten. Sie geht, als diese Arbeit getan ist. Und sie bleibt, aber auf besseren Plätzen, ganz unauffällig, aber immer sichtbarer. Als sie stellvertretende Regierungssprecherin in der ersten frei gewählten DDR-Regierung wird, schreibt sie: «Nach kurzem Überlegen und Rücksprache mit meinem Vorsitzenden nehme ich das Angebot, stellvertretender Regierungssprecher werden zu können, dankend und gerne an. 9. April 1990, 20 Uhr.»3 Ihre Schrift ist «rund und mädchenhaft», aber den Posten strebt sie in der männlichen Form an: «stellvertretender Regierungssprecher», schreibt sie. Zufall? Bei Angela Merkel kaum.
Ein Jahr vorher noch saß sie «schweigend und skeptisch in der Ecke», erzählt einer der Wortführer des Aufbruchs, Andreas Apelt. Die kommt nie mehr wieder, dachte er damals. «Ich war Beobachterin», sagt Angela Merkel über den Herbst 1989. «Das war nicht meine Sache, so kurz vor Toresschluss noch abzuhauen.» Sie sagt «Toresschluss», wo es für Millionen Deutsche um Tor-Öffnung geht.Keiner fragt nach, welches Tor sie zuschlagen sieht. Es ist die Ostperspektive der kühlen Beobachterin: Toresschluss für das Experiment des Sozialismus. Was die offenen Tore taugen, wird man sehen. Schon im September 1989 hatte Angela Merkel schweigend in einer Aufbruchsdiskussion gesessen, die im Haus ihres Vaters stattfand. Christopher Frey, Gastprofessor aus Bochum und Theologe wie Angelas Vater, «war erstaunt, wie jung sie wirkte und wie unpolitisch». Sie «habe sich überhaupt nicht am Gespräch beteiligt», so Frey.
Heute, sagt Christopher Frey 2009, sehe er das «als strategisches Vorgehen. (…) Sie habe gewartet.» Dem widerspricht freilich eine andere Beobachtung, von der Frey berichtet: «Als die Männer einmal nackt in einen uckermärkischen See sprangen, habe sie seiner Frau anvertraut: Am meisten störe sie an der DDR, dass es keinen anständigen Joghurt gebe.»4
Die Versuchung, nachträglich eine Strategie zu wittern, ist groß. Es ist die Trittsicherheit einer Somnambulen, der wir beim langsamen Erwachen zusehen. Triviales mischt sich mit Ahnungen, wie sie das Publikum berauschen, wenn sich der Bühnenvorhang öffnet und exotische Landschaften freigibt. Und der Trainingserfolg des totalitären Systems bot die Tarnkappe für die kluge Schlafwandlerin Angela: entdecken und schweigen. Niemals sich selbst verraten durch Gefühlsausbrüche. So taumelt die erwachende Tochter des übermächtigen Systems schweigend von Entdeckung zu Entdeckung, ohne auch nur sich selbst den innen aufflammenden Karrieredurst zu gestehen. Schweigen ist Gold; was du gesagt hast, kannst du nie zurückholen, und potentiell jeder ist ein Verräter – dieses Wissen begleitet die Kanzlerin heute noch. Es ist nicht Strategie, sondern Trauma.
Die Geisterfahrt im perfekten Tarnkleid macht jedenfalls die meisten Mitspieler arglos. Angela lässt sich nicht mitreißen, sie hält keine flammenden Reden, setzt sich nirgends an die Spitze, wie ihre männlichen Bekannten. Sie wartet, wie sich die Dinge entwickeln. «Ich konnte mich nicht aufraffen, bei den Bürgerbewegungen mitzumachen», sagt sie. Dennoch ist sie auf Testfahrt, wortkarg auch gegen sich selbst. Nur keine Bekenntnisse, von denen man später abrücken muss. Nicht berechenbar werden. Und doch ist es fast ein Bekenntnis, was ihr Christopher Frey noch entlocken kann: Auf jeden Fall müsse man es im Osten ganz anders machen als in seiner Bundesrepublik.5 Das ist 1989. Sie hat einen Fuß im einen, den andern im anderen Deutschland. An welches sie glauben soll, ist Ziel der Testfahrten auf dem umgepflügten Wendeacker.
«Ich war ja nie unpolitisch», sagt die Kanzlerin 2009, «ich war aber lange nicht politisch aktiv.»6
Eine feine Unterscheidung: Tarnkleid bei der Annäherung an die Macht. DDR-Zeit ist Wartezeit. Sie lernt mit ihrem Bruder Hauptstädte auswendig, eine virtuelle Weltreisende im Wartestand. Mit allen Wassern der Unfreiheit gewaschen, leistet sie sich nicht mal eine Vision. Sie geht auf Tauchstation und sammelt dabei beachtliche Reserven, die sie erst einmal selbst kennenlernen muss, während die andern schon im Wendefieber auf den Straßen skandieren: «Wir sind das Volk!» Merkel ist sich da noch nicht so sicher. So rasant ihr Aufstieg ausfällt, so zaghaft tastet sie sich in die Fieberzone vor. Sie weiß wirklich nicht, wer sie ist und was sie kann. Sie habe gelernt, zwischen den Zeilen zu lesen, wird sie später einmal sagen; bei eigenen Schlagzeilen sei sie schwächer.7 In den knirschenden Fugen der Systeme war sie unterwegs, das zeigt ihr Bewegungsprofil im Wende-Deutschland.
Sie ist als Testfahrerin unterwegs, im kreidegrauen Tarnanzug, No name ohne Konturen und ohne Lack, ohne Label. Erlkönigin, würden die Autobauer sagen.
Sie schaut überall mal vorbei, anonym und wie zufällig. Suchbewegungen in den Übergangszirkeln der Aufgeregten und Träumer, der Kurzentschlossenen und der Zweifler, der heimwehkranken Therapeuten des Sozialismus. Sie schwimmt unerkannt herum, weicht zurück vor Pathos und Leidenschaft in der Berliner Bürgerbewegung: «… das war ihr alles viel zu schwärmerisch, zu pazifistisch, zu links».8
Als das Tor nicht zugefallen, sondern aufgebrochen war, schaute sie auch bei der SPD vorbei. Ihr Urteil: «zu fertig, zu eingefahren, zu langweilig».9 Beim Demokratischen Aufbruch landete sie wie eine Schlafwandlerin. Es war Ende Dezember 1989, sie wusste nicht, wie sie dorthin gekommen war, Marienburger Straße 12, aber «das Chaos gefiel ihr», so erinnert sie sich. Wer sie dort sitzen sah, «schweigend und skeptisch», erfuhr davon aber nichts. Eine Meisterin der getarnten Testläufe machte Station.«Ich fand die wabernde politische Lage da spannend», sagt sie 2009. «Die waren nicht so entschieden links. (…) Das ganze Procedere war nicht so furchtbar basisdemokratisch, es war bodenständiger.»10
Kühlen Herzens wechselt sie die Bühnen, auf denen die Männer der Ersten Stunde bereits ihre Halbwertzeit erreichen: Wolfgang Schnur, Chef des Demokratischen Aufbruchs, Michael Diestel, Günther Krause – sie alle geraten von der Winner- auf die Loser-Seite.
Angela Merkel, als blauäugiges Unschuldslamm gestartet, mutiert zur Wölfin, ohne dass die Männer es spüren. Sie beobachten nicht, aber sie werden beobachtet. Die Wölfin schult ihre Sinne. Sie weiß, dass die Männer sie nicht freiwillig ins Rudel aufnehmen werden, und sie kennt den Preis, der die Männer dazu zwingen wird : Sie wird das Rudel führen. Sie hat keine andere Wahl.
Angela Merkel spielt alle weiblichen Vorteile aus: kritische Distanz zu Ritualen, Respektlosigkeit vor Regelwerken, in denen Männer ihre Status-Rivalitäten austragen. Sie verstrickt sich nicht in Loyalitäten, das bringt ihr in beiden deutschen Szenarien der Revolution unerhörte Privilegien: Niemand legt ihr eine bleischwere Hand auf die Schulter, um sie an Schwüre zu erinnern, wie es jetzt Männer mit Männern tun. Jeder zweifelt, ob sie lange bleibt, wenn sie kommt. Da sie schweigt, entstehen keine Missverständnisse; sie hat sich nirgends verpflichtet.
Zufassen wird sie erst, wenn ihr eben erwachter Machthunger ihr sagt: Beute machen! Dafür wird sie jeden Regelbruch riskieren, mit einer Radikalität, wie es nur Frauen tun. Sehr bald weiß sie: Sie kann Männer stürzen, die von Männern nicht gestürzt werden. Sie wird profitieren von den Loyalitäten der Männer mit Männern. Sie wird das Rudel erschrekken und aufspalten.
Schon die Schlafwandlerin der Wendezeit meidet bindende Versprechen. Sie liefert auch keine Bekenntnisse ab. «Angela hat sich die Glaubenskämpfe gespart», sagt Rainer Eppelmann, Mitbegründer des Demokratischen Aufbruchs und Multiminister in beiden Regierungen der Wendejahre. Aus seiner eigenen politischen Karriere lässt sich der kritische Grundton des Urteils nicht erklären, den er zu Angela Merkels Wendebilanz anschlägt: «Sie gehörte nicht zu den ersten 500, nicht zu den ersten 5000, nicht zu den 50 000, nicht mal zu den 2 Millionen, die vor dem 9.November auf der Straße waren. (…) Ich weiß nicht, ob Angela und Thierse den Druck ausgehalten hätten, den wir aushalten mussten.»11
Wäre Angela Merkel nicht eine Schweigerin, würde sie fragen: «Musstet Ihr? – Oder wolltet Ihr es auch so?» Aber sie schweigt. Ihr ist es wichtig, nie mehr Opfer zu werden. Aushalten, wie Eppelmann es schildert, heißt Opfer sein. Auch Werte rechtfertigen nicht Opferrollen, das ist Angela Merkels Folgerung aus den DDR-Kapiteln ihres Lebens.
Damit ist sie weit von Eppelmann und den zwei Millionen entfernt. Und Eppelmann spürt das.
Erfolgsgeheimnis: Bindungslosigkeit
Schon damals zeigte sich ein Motiv, das Angela Merkel auf ihrem politischen Weg begleitet: Die Überzeugungstäter bleiben zurück, sie geraten in die Opferrolle. Einige ihrer Weggefährten aus der DDR-Zeit haben das mit Selbstironie oder Resignation bestätigt, je nach Naturell. Matthias Gehler, der sie zur stellvertretenden Regierungssprecherin machte und immerhin ihr Chef war, kapitulierte bald nach ihrer Ernennung. «Die effiziente, direkte Art seiner Stellvertreterin zeigte seine Schwächen», schreibt Alexander Osang.12
So wird das immer wieder ablaufen: Wo Merkel auftaucht, werden andere überflüssig. Das Überholmanöver hat viele Varianten, und es ist ein Gesetz von Revolutionen: Die Ersten werden die Letzten sein. Eppelmanns Kränkung beruht auf dieser bitteren Erkenntnis: Da zieht eine an allen vorbei, die deren Ängste und Risiken nicht geteilt, sondern nur «beobachtet» hat, wie sie kämpften. Sie schwingt keine Fahne, springt nicht auf Barrikaden, rüttelt nicht an Toren. Warum auch «so kurz vor Toresschluss»? Wenn das Tor zur sozialistischen Illusion sich schließt, wird ein anderes sich öffnen, und da wird sie hindurchschwimmen, wieder ohne Schlachtruf, aber wachsam: Wo lohnt es sich, am anderen Ufer an Land zu gehen?
Merkels Erfolgsgeheimnis ist, so sonderbar das klingt, ihre Distanz zu allen Verbindlichkeiten, hier wie dort. Aufstieg in Umbrüchen kennt zwei Kraftquellen: Vision und Bindungslosigkeit. Selten finden sich beide in einer Person. Merkels Überlegenheit im Chaos der Wende war ihre Bindungslosigkeit. Von Visionären der untergehenden DDR umgeben, von Visionären des Westens empfangen, blieb sie das Unikat ohne Bekenntnis. Auch wo sie sich den Melodien der Einigungschöre anpasste, fiel ihr Auftritt abwartend aus: eine Sphinx, die sich sichtlich langweilte, wenn die Revolutionäre sich im Palaver Mut zusprachen.
Bindungslosigkeit in Wendezeiten, Erwachen aus Schutzhaltungen, die einem Winterschlaf in unwirtlichen Klimazonen gleichen, wären nur eine kurze Beobachtung wert, wäre da nicht eine Linie in die Zukunft der bindungslos Erwachenden, die in Angela Merkels politische Zukunft weist: Da wird ihre Bindungslosigkeit zur Führungsqualifikation, und ihre Neigung, als Beobachterin von Politik ein lösungsfreundliches Klima abzuwarten, um sich unter die Entscheider zu mischen, schützt sie vor jener Dauerkritik, die den Täter begleitet.
Ein Paradox wird sichtbar: Der selbstschützende Rückzug aus unwirtlichen Lebensumständen – Formel ‹Winterschlaf› – und seine logische Schwester, die Bindungslosigkeit nach dem Erwachen, werden zu Erfolgsgaranten für eine politische Karriere, die bis an die Spitze des Staates führt. Da dieser Staat eine Demokratie ist, mit Traditionen, die Bindung liefern, mit Rechtsnormen und Werten, erscheint Bindungslosigkeit nicht auf den ersten Blick als Führungsqualifikation – es sei denn, man bescheinigt diesem Staat ein Zuviel an überholten Traditionen, Normen und Werten.
Die junge Angela Merkel betritt die politische Bühne mit Stärken, die viele Demokraten erschrocken als Schwächen beschreiben: Relativismus, Indifferenz in Wertefragen, moralisches Desinteresse, Verzicht auf Bekenntnisse.
Die Winterschläferin hat ihre Lektion gelernt: Alles ist relativ. Alles ist vorläufig. Alles ist reversibel. Auch Werte sind relativ, so die Lektion. Wer sich an Werte bindet, kann auf der Loser-Seite landen. Misstrauen ist gut, weil auch die andern misstrauisch sind. Unberechenbarkeit ist gut, so lernte die Schweigerin, sie schützt vor allen, die uns ausrechnen wollen, um uns zu beherrschen.
Es ist ein Antiwerte-Kanon, den wir in der Lektion lesen, die Angela Merkel in ihrem Schutzschlaf als Abgetauchte gelernt hat.
Wenn es ein Antiwerte-Kanon ist – was macht sie dann überlegen im politischen System des geeinten Deutschland? Kein Pathos! Keine Versprechen! Grenzenlose Flexibilität! Merkels Qualifikationsprofil ist so neu, so exotisch, dass jedes Déjà-vu ausblieb. Das hatte noch niemand gesehen. Also konnte es keinen Bestand haben – so die geschockten Kollegen.
Revolutionslandschaften sind wie Lava, die mit ihren Glutströmen neue Konturen formt. Was gestern war, ist nicht mehr lesbar, und davon zu berichten fehlt die Zeit. Die Lava überflutet auch alte Versammlungsorte, an denen sich die bindungsfreudigen Kämpfer trafen. Leere Büros der Aufbruchstrupps wecken Wehmut. Wer jetzt ohne Bindung unterwegs ist, fühlt keinen Schmerz. Die «Beobachterin» Merkel ist damit auch ihren schmerzbeladenen Kollegen voraus: Christopher Frey, der Theologe aus Bochum, bemerkte «keine Regung» bei Angela Merkel, als sie am 24. September des Jahres 1989 mit anderen in der Kirche saßen und der Pfarrer seine Predigt mit den Worten begann:«Israel ist 40 Jahre durch die Wüste gewandert.» Bewegung und Raunen ging durch die Reihen, weil die Menschen an die 40 DDR-Jahre dachten. Merkel reagierte nicht.13
Wer das Aufstiegsparadox der Angela Merkel verstehen will, der sollte bei ihren Startqualifikationen anfangen. ‹Nicht lesbar sein›, wie in der Kirchenszene gezeigt, ist eine der Lektionen, die sie gelernt hat. Wer sie vom ersten Wendejahr an umherstreifen sieht in den vulkanischen Landschaften der Wende, der erkennt von Anfang an das Fazit, dem sie fortan folgen wird: Macht ist besser als Ohnmacht – in jedem System. Deshalb lautet die Erfolgsformel für Merkels Weg: No commitment. Nur wer ohne Anhänglichkeiten unterwegs ist, kann an allen vorbeiziehen. Die Macht als Gesetzgeber des eigenen Handelns ist ein besserer Erfolgsgarant als Werte und Prinzipien, so Merkels Lektion. Weil das Motto einfach ist, erlaubt es Konsequenz und Schnelligkeit. Der Senkrechtstart von Angela Merkel hat damit zu tun, dass in ihrem Kopf und Herzen wenig Störfeuer war, das ihre Erkenntnis hätte durchkreuzen können: Macht ist besser als Ohnmacht. Immer und in allen Systemen. Das Geheimnis des Zugangs lautet: No commitment. Keine Bindung. Keine Verpflichtung.
Fünfzehn Jahre wird es dauern, bis Merkels Motto Schritt für Schritt Parteidoktrin wird. Regierungshandeln wird zum Umbauprogramm. Merkels Lektion wird Staatsräson: No commitment.
Warum ist eine bindungslose Führungspersönlichkeit in der demokratischen Gesellschaft erfolgreich? Ist sie erfolgreich trotz oder wegen ihrer Bindungslosigkeit? Hat ihr Auftritt mit der Kraft, auch Werte und ethische Standards zu relativieren, konstruktive Wirkungen, die den Verlust übertreffen, den viele Demokraten empfinden?
«Unter den Verhältnissen des Westens», so Merkel, wäre sie wohl nicht Politikerin geworden. Gern wüssten wir, was sie mit den «Verhältnissen» des Westens meint. Spricht sie mit diesem Satz von einem Sendungsbewusstsein, das sie als Systemfremde mitbringt? Wir wissen es nicht. Jedenfalls verfolgt sie nach ihren «Beobachter»-Streifzügen ein konsequentes Karrieremanagement.
Noch ehe ein Jahr nach dem 9. November 1989 vergangen ist, bittet sie einen Kollegen aus ihrem DDR-Leben um Vermittlung: Sie möchte Helmut Kohl vorgestellt werden. Es ist die letzte Ausschusssitzung des Demokratischen Aufbruchs, am 31. August 1990, als sie den Chemiker Hans Geisler aus Dresden um eine Gefälligkeit bittet. Geisler ist Kandidat für den CDU-Vorstand und erfüllt ihre Bitte gern. Sie möchte am Vorabend des CDU-Parteitags in Hamburg dem Bundeskanzler vorgestellt werden. Ihr Timing zeigt, dass sie nun ein Konzept für ihre Karriere hat. Der Vorabend des Parteitags ist zugleich Vorabend der Deutschen Wiedervereinigung. An diesem 2. Oktober 1990 wird Angela Merkel dem Übervater der CDU vorgestellt, jener Partei, bei der sie eher zufällig gelandet ist, nachdem der Demokratische Aufbruch von der CDU verschluckt wurde.14
Er wird sie «Mädchen» nennen, ohne zu ahnen, dass sie längst eine Aspirantin auf seinen Platz ist, ohne das bleischwere Marschgepäck einer Traditionspartei. Verschiedener könnten die beiden nicht sein, der Schwarze Riese und das Mädchen. Dass hier Welten aufeinandertreffen, weiß Merkel wahrscheinlich besser als Kohl.
Eines, an das beide in diesem Moment sicher nicht denken, verbindet sie: Kohl, der Kanzler, hat soeben die Geistesgegenwart bewiesen, den «Mantel der Geschichte», der plötzlich vorbeirauschte, zu ergreifen. Und sie, das Mädchen Angela, hat genau das auch getan: den Mantel der Geschichte, ehe er vorüberglitt, zu ergreifen.
Was der Kanzler nicht weiß: Das Mädchen ist gefährlich. Sie wird es sein, die seinen zögernden Söhnen den Vatermord abnimmt.
Das Rudel in Deckung – Das Mädchen als Vollstreckerin
«Sie hat die Macht, die andere zurückgelassen haben, einfach aufgehoben», sagt Ehrhart Neubert, Mitbegründer des Demokratischen Aufbruchs.15
Angela Merkel legt zwischen 1990 und 1999 einen rasanten Aufstieg hin. Sukzessive Ämterhäufung könnte man das nennen. Das Tempo des Wandels ist der Taktgeber. Ihr Gefühl für den kairos, den Helmut Kohl gern den «Mantel der Geschichte» nannte, ist verblüffend. Noch scheint sie mit Kompass unterwegs; zumindest beim eigenen Karrieremanagement. Betörend rechtzeitig ihr Wunsch, dem Kanzler vorgestellt zu werden. Und erstaunlich sinngeladen das Datum der ersten Begegnung: Am gleichen 2. Oktober haben sich Ost- und West-CDU zusammengeschlossen, abends trifft das «Mädchen» den Kanzler, am nächsten Morgen dämmert der Tag der Deutschen Einheit herauf.
Zwei Monate später gewinnen CDU und FDP die erste gesamtdeutsche Bundestagswahl mit 53,8 Prozent der Stimmen. Es ist der 2. Dezember 1991. Sechs Wochen später wird Angela Merkel Bundesministerin für Frauen und Jugend; im Herbst des Jahres löst sie Lothar de Maizière als stellvertretende Parteivorzitzende ab. Die Veteranen der Revolution gehen, Angela Merkel bleibt. Die Amterhäufung gewinnt an Fahrt: 1992/93 Vorsitzende des Evangelischen Arbeitskreises der CDU/ CSU, Juni 93 Landesvorsitzende der CDU in Mecklenburg-Vorpommern, 94 Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, 95 Präsidentin der Klimakonferenz der Vereinten Nationen in Berlin.
Im September 1998 verliert die Regierung die Wahl. Am 7. November wird Angela Merkel Generalsekretärin der CDU. Ende Dezember heiratet sie in zweiter Ehe den Chemieprofesor Joachim Sauer.
Die konventionellen Kapitel dieser Startgeschichte sind damit zu Ende. Anpassung ist erkennbar, aber die Lunte brennt: Am Horizont steht die düstere Wolke der Spendenaffäre.
Das inzwischen sehr ausgeschlafene «Mädchen» sieht das Morgenrot ihres größten Coups heraufziehen: das Vakuum an der Spitze.
Schon nach ihrer Wahl zur Generalsekretärin im November 1998 setzt Merkel ein Zeichen der Distanz zum Vorsitzenden: Nicht «Sicherheit statt Risiko» soll der Parteislogan heißen, sondern «Risiko statt falscher Sicherheit». Niemand kam damals auf den Gedanken, dass hier ein neuer Antiwerte-Kanon in die Testphase ging: Wer Sicherheit sucht, wird aufgeschreckt: Sicherheit kann «falsch» sein. Wer Risiko meiden möchte, der lernt: Risiko ist unser Versprechen. Fazit: Risiko ist richtig, Sicherheit ist falsch. Als Botschaft an die Wahlbürger ein ziemlich ungewohntes Versprechen.
Merkels Ziel ist die «Modernisierung» der Partei. Die CDU soll zur «modernsten Volkspartei Europas» werden. Die Presse beobachtet: Merkel profitiert davon, dass sie unterschätzt wird. Das könnte sie mit Kohl verbinden, der gern in pfälzisch gefärbtem Hochdeutsch sagte: «Ich profitiere ja davon, dass ich unterschätzt werde.» Beobachter im Jahr 1999 meinen, die Generalsekretärin sei zu leicht lesbar: Langeweile, Ärger oder Freude seien in ihrem Mienenspiel zu leicht ablesbar. Sie weiß das – und sie wird auch diese Lektion schnell lernen: schwer lesbar werden.
Christian Wulff, der – ein absolutes Novum – ab Dezember 2011 eine Kampfpräsidenschaft praktizieren wird, taucht in Merkels Vita regelmäßig mit positiven Kommentaren auf. Von 2012 aus betrachtet, klingen sie wie Vorauszahlungen in ein Präsidentenschutzprogramm, das alle Merkmale dessen trägt, was Wulff generell als «Freundschaft» bezeichnet.
Im Dezember des Jahres 99 verdichten sich die Mutmaßungen über einen «Königsmord» am Ehrenvorsitzenden Helmut Kohl. Spiegel Online titelt: «Dolch im Gewand». Obwohl sie bereits «Die Rächerin der CDU» genannt wird, zeigt die Generalsekretärin nach außen Gelassenheit: «Ich nehme das Leben, wie es ist.» Mit dem Bundesvorsitzenden Schäuble arbeite sie «super Hand in Hand».16
«Beide leben mit dem Dilemma von Loyalität und Verantwortung», meint der Spiegel Online-Autor Markus Deggerich. Aber er fügt hinzu: «Merkel scheint dabei noch eher als Schäuble bereit zum Königsmord.» Nach außen plädiert sie für «Gründlichkeit vor Schnelligkeit» bei der Prüfung der Geldströme auf den Spendenkonten. Wieder ist es Christian Wulff, Parteichef in Niedersachsen, der Merkel unterstützt. Spiegel Online kommentiert: «Langfristig nutzt es ihm mehr, sich jetzt als Saubermann, der auf gründliche Aufklärung drängt, darzustellen.»17 Merkel glaubt, Zeitdruck zu spüren, und gewinnt zugleich den Eindruck, dass sich die Idealfigur für den Bruch mit Kohl finden lässt: ein Wegbegleiter, der in der CDU kein Amt mehr hat. Die Männer weichen aus.
Merkel spürt, dass Abwarten nun von Tag zu Tag gefährlicher wird. Der MDR-Hörfunkdirektor Johann Michael Möller erinnert sich an einen heftigen Wortwechsel zwischen CDU-Spitzenleuten, in dem Angela Merkel sagte: «Wir müssen jetzt handeln, sonst reißt der Alte die ganze Partei mit hinab.»18 Drei Tage später, am 22. Dezember 1999, trat Merkel selbst als Vollstreckerin auf. Sie stürzte ihre männlichen Kollegen in ein Wechselbad der Gefühle.
Am 22. Dezember 1999 wird der Bruch vollzogen. Es ist die Generalsekretärin selbst, die den eher umständlich geführten Dolchstoß mit ihrem Namen zeichnet.19 Wer ihr Ghostwriter war, ist bis heute nicht bekannt. Merkel-Rhetorik ist der Artikel nicht. Dennoch war es den Mitspielern offenbar wichtig, dass der mächtige Vorsitzende und Kanzler der Deutschen Einheit aus dem Kreis seiner Jünger gestürzt wurde. Dass es die Söhne sind, die den Vater wegräumen, ist uns schon aus dem Mythos vertraut. Dort freilich wütet auch Chronos, der seine Söhne verschlingt, damit sie ihm nicht nach dem Leben trachten können. Er verschluckt auch seine Tochter, die kuhäugige Hera, die er wieder ausspeit. Dass sie es gewesen wäre, die den Vater Chronos ermordet, wird freilich im Mythos nicht berichtet.
Kohls politische Söhne weigern sich, den mächtigen Ehrenvorsitzenden abzuräumen. Mit ihrem Ausweichen vor dem quälenden Zwiespalt aus Dankbarkeit und Feigheit beginnt der lange Geleitzug der Männer, die nie beide Hände aus den Taschen nehmen können – weil eine immer zur Faust geballt ist –, sie würden sonst von Reue und Scham zerrissen werden. Dieser Geleitzug wird die Kanzlerin Merkel auf ihrem Weg begleiten, denn auch sie gibt dem Zwiespalt Nahrung: Gehorsam bei Hofe oder Mut vor Königsthronen.
Dieser Mut fehlte auch ihr, der Generalsekretärin, die der Partei und den Bürgern mit geschlossenem Visier über die Medien ihre Botschaft vermittelte. Deren Kühnheit mochte das Medium preisen, das ihr den roten Teppich auslegte; aber kühn wäre dieser Auftritt gewesen, wenn sie, wie Kohl und Genscher, unter offenem Himmel zu den Tausenden geredet hätte, die sich schnell versammelt hätten, wenn eine Ankündigung über Agenturen getickert wäre. Sie hätte ja nicht lauten müssen: ‹Der König ist tot, es lebe die Königin›, sondern: ‹Die Generalsekretärin der CDU möchte zu den Parteimitgliedern und allen Bürgern sprechen. Es geht um Deutschlands Zukunft›.
Eine so schrille Botschaft, in Seidenpapier gehüllt und mit dem Styropor simulierten Mitgefühls verpackt, sozusagen in absentia, in Abwesenheit, in die Republik sickern zu lassen, entspricht Merkels Neigung, undercover als Testfahrerin unterwegs zu sein. Das neue Produkt im Großlabor Deutschland mit gestylter Sprache unter die Leute zu bringen, die das Authentische der Sprecherin mit wasserdichten Sprachbausteinen vernichtet, zeugt von wenig Respekt vor allen, um die es geht: dem Kanzler, seinen Getreuen und den Menschen im wiedervereinigten Deutschland.
Wer führt der Täterin die Hand?
Merkel ist nicht als Heldin gekommen. Sie hat die Helden der Revolution hinter sich gelassen. Auf dem neuen, dem gesamtdeutschen Terrain wird sie die beiden Haupthelden hinter sich lassen: Helmut Kohl, den Kanzler der Einheit, und Wolfgang Schäuble, seinen Kronprinz.
Der Schuss aus der Deckung, mit dem sie Kohl degradiert, braucht den Schalldämpfer der Agentursprache, weil Themen transportiert werden sollen, die Kohls Sturz ethisch begründen. Die Argumente sollen schlüssig vernichtend ausfallen für beide Szenarien: die Helden der Revolution und die zerrissenen Kohl-Anhänger und Kohl-Feinde im Westen. Das Sujet liegt Angela Merkel nicht. Ihr eigenes Ziel, Häuserkampf auf der Straße zur Macht, muss ja inkognito bleiben. Schon wegen dieser komplizierten Beweislage musste die Sprache experimentell erstarren: Verständnis in alle Richtungen, aber Unerbittlichkeit und Endgültigkeit.
Dass der Gestürzte seine Ehre höher gestellt hatte als die Parteiräson und die Gesetze, konnte spielend übergangen werden. Wer darüber nachdächte, könnte in Kohls Prioritäten gleichfalls einen revolutionären Zug entdecken. Merkel dürfte freilich auf keinen Fall die Entdeckerin sein, denn viele Linien führen von dieser Herrschaftswillkür in der Rangordnung der Werte zu ihrem eigenen Umgang mit Ehre, Recht und Werten – den die Zeugen ihrer Amtsführung erst später kennenlernen werden.
Kohl zu stürzen, ist also für die junge Leitwölfin einerseits leichter, andererseits schwerer, als es für seine unentschlossenen Söhne gewesen wäre. Leichter, weil sie ihre ‹Mädchen›-Rolle längst als ein Missverständnis begriffen hatte und ihre Karriere an sein Abrücken gebunden sah. Schwerer, weil sie Auftrittsort und Sprachkostüm ausleihen musste, um möglichst viele Zuhörer zu überzeugen. Niemand wird die FAZ als Merkels journalistische Heimat bezeichnen wollen. Aber die Helfer, Anreger und/oder Ghostwriter für die finale Attacke kamen von dort. «Auch du, meine Tochter Angela?» hätte der Überfallene sagen können.
In einem Gespräch wenige Wochen nach dem Schuss aus der Dekkung sagte Kohl im Gespräch mit mir nachdenklich und leise: «Meine Mutter hat mir immer gesagt, dass die Hand, mit der man jemanden streichelt, eines Tages gebissen wird …»
Die Textregie von außen hat einige Schlüsselbegriffe in das FAZ-Requiem für Helmut Kohl eingebaut, die in Merkels Regierungszeit nicht wiederkehren. «Die Partei hat eine Seele», steht da. Im Christentum gibt es verschiedene Annahmen, was aus der Seele der Menschen wird, wenn ihr irdisches Wirken endet. Für Organisationen wie Parteien finden wir dort keine Antwort auf die Frage, ob die «Seele der Partei» mit Kohl ins Off gegangen sei, oder ob sie sich nur versteckt hält, bis die Zeiten wieder seelenfreundlicher werden.
Schwieriger ist es mit der Formel vom «wahren Fundament», weil jedes Beispiel fehlt, was darunter zu verstehen sei. Fragen ergeben sich: Hatte die CDU einmal ein «wahres Fundament»? Wird sie es wieder haben, und dann eher ohne als mit Kohl?
Die Partei müsse «aus dem Schussfeld geraten», steht da, und wir vergleichen: «Ins Schussfeld geraten» ist das, was wir kennen. Man will dort nicht sein, und plötzlich gerät man hinein. Aus dem Schuss herausgeraten, also eher zufällig und vielleicht sogar ungewollt, das scheint eher ein verrutschtes Bild beim kollektiven Textbau zu sein. Für eine Aufmerksamkeitslücke der Ghostwriter spricht auch der Schluss jenes Schussfeldsatzes. Die Bedrohten geraten heraus aus dem Schussfeld der Heuchler, die aufgebrochen sind, um «die CDU Deutschland kaputtzumachen». Das ist Volkston statt Kammerton, und zwar ganz plötzlich. Vielleicht waren die Haute Couture-Sprachdesigner in der Pause, und die paar Wortsplitter im Pofalla-Merkel-Ton rutschten dazwischen.
Der Klassiker unter den sloganfähigen Sätzen des Artikels fällt am nächsten Tag, dem 23. Dezember, und schon am Abend des 22. melden Presse und Bildmedien: «Die Partei muss also laufen lernen.» Um dem Missverständnis vorzubeugen, es könne sich um ein Fitnessprogramm handeln, wird das Laufbild komplettiert: «Sie [die Partei] muss sich wie jemand in der Pubertät von zu Hause lösen …» Das heißt immerhin, die CDU sei unter Helmut Kohl in einer Kindheit steckengeblieben, die nun eilends beendet werden müsse. Pubertät auf Zuruf oder Verordnung ist natürlich ein Unding – zumal bei einer Sechzigjährigen. Charme hat das Beispiel deshalb, weil hier, zumindest virtuell, eine spricht, die vor nicht allzulanger Zeit selbst politisch «laufen gelernt» hat. Dass Kohl sie gönnerhaft zurückstufte, als er zuließ, dass sie «sein Mädchen» genannt wurde, mag zu dieser Idee beigetragen haben. Merkel freilich hatte ihre politische Pubertät glatt übersprungen. Das traut sie der Kohl-Partei nicht zu.
Man muss sich nicht wundern, dass die Männer in der CDU die Aufforderung zum «Laufenlernen» dreist und das Pubertätsbeispiel anmaßend fanden. Immerhin hatte ihnen die Karrieristin aus Anderland den Weg freigeschaufelt, den keiner von ihnen als Wegweiser hätte zeigen wollen. Wer von ihnen am Coming-out von Merkel in der FAZ beteiligt war, bleibt unseren Vermutungen überlassen.
Angela Merkel wird 1999 Parallelen wahrgenommen haben, denen sie sich nicht bewusst stellen durfte, wenn sie handlungsfähig bleiben wollte. Ein Déjà-vu ließ die Szenarien ineinanderfließen: das autoritäre System, aus dem sie kam, und die autoritätsgeladene Übermacht des Kanzlers in den Köpfen seiner männlichen Vasallen.
Täterprofil: Zwei-Väter-Tochter
Der Chefarzt der Klinik für Psychotherapie in Halle, Hans-Joachim Maaz, Autor des Buches Der Gefühlsstau: ein Psychogramm der DDR,20 erkennt in Merkels Rächer-Rolle ein zwangsläufiges Muster: «Herausragende Führungsqualitäten und visionäre Kraft sind nicht die Kompetenzen, die ihre Karriere erklären können. (…) Ganz grob gesagt, hat sie die ‹Drecksarbeit› gemacht, sie hat den Mut gezeigt, den ‹Patriarch› in Frage zu stellen, wozu die abhängigen Männer (noch) nicht in der Lage waren. Die Parteifreunde mit kritischen Meinungen waren längst alle ‹weggebissen›, und die Verbliebenen waren durch Ämter und Funktionen ‹eingekauft› worden oder noch zu jung, um die ‹ödipale› Auseinandersetzung schon zu wagen. In der Ära Kohl folgte die Beziehung der Männer auf klassische Weise einem autoritären Modus: Die potentiellen ‹Söhne› wurden weggedrängt oder gingen von selbst, und die Schwachen wurden in Abhängigkeit gebracht und gehalten.»
«Dieses Dilemma konnte nur eine Frau lösen», fährt Maaz fort, «genauer gesagt: eine Vater-Tochter. Kohls Apostrophierung Angela Merkels, die er ‹mein Mädchen› nannte, ist eben weniger eine liebevolle Beziehungsgeste als eine vormundschaftliche Abwertung, die nicht ohne Rache bleiben konnte.» Angela Merkels Bereitschaft, die Autorität Helmut Kohls zu zertrümmern, nachdem er Verfehlungen und Schwächen gezeigt hatte, hat einen noch massiveren Antrieb in ihrer eigenen Geschichte als der Psychotherapeut sieht. Merkel war ja zweifache Vater-Tochter. So wenig wir über das Verhältnis zu ihrem leiblichen Vater Horst Kasner wissen: ihr privates Tochterschicksal begann mit der autoritären Anmaßung des Vaters, seinen Kindern ein Leben in einem autoritären Unrechtsstaat zu verordnen. Vater Kasner sah beim Mauerfall seinen Traum vom reformierten Sozialismus zerrinnen. Die Tochter hatte nach ihrem Physikstudium bei Antritt ihres Arbeitsplatzes in der Akademie der Wissenschaften das Gefühl, nun sei ihr Leben zu Ende.
Es ist anzunehmen, dass der Vater von dieser depressiven Stimmung seiner Tochter nie erfahren hat.
Kaum ist sie dem autoritären System entronnen, meldet sich das Vater-Tochter-Modell erneut: Der übermächtige Vater ist der Regent einer autoritär strukturierten Partei.
Angela Merkel hat also ein doppeltes Motiv, diese Väterwelt zu erledigen. Sie erkennt bald, dass keiner der Söhne den Befreiungsschlag führen wird. Sie spürt die Gefahr für ihre Karriereziele, darum leiht sie sich die Argumente aus der Väterwelt aus: vertraute Motive für die wehmütigen Jünger und zugleich eine zuverlässige Tarnung ihrer eigenen Kernmotive, die ins autoritäre Schema nicht passen. Sie wird der Wertewelt ihrer Vorgänger mit einem Antiwerte-Kanon trotzen, der keinen Stein der Wertepyramide auf dem andern lässt.
Die Tochter schießt aus der Deckung. Sie benutzt die Argumente der Söhne, die sich weiter in einer vertrauten Welt wähnen, aus der nur der mächtige Olympier verstoßen wurde. Die Vater-Tochter hat ganze Arbeit geleistet.
Die Söhne werden nicht vergessen, dass diese Frau ihnen den brutalen Akt des Vatersturzes abgenommen hat. Schuldgefühle mischen sich von nun an mit zähneknirschender Dankbarkeit: eine fatale Mischung, die der Stellvertreterin nun Sieg auf Sieg erlaubt. «Auf keinen Fall darf der Bewerber auf eine politische Machtposition wahrhaftig, ehrlich, internal, offen und persönlich werden. Unsicherheiten, Ängste, Ratlosigkeit – zutiefst und unvermeidbar menschliche Eigenschaften – müssen auf jeden Fall verborgen bleiben …» Daher, so der Psychotherapeut Maaz weiter, «sind Politiker, die ihre eigenen sehr tief gehenden Unsicherheiten und Kränkungen im Machtstreben hervorragend kompensieren können, die geeigneten Mitspieler».21 «Misstrauen und Vorsicht als Sozialverhalten (…) waren in der DDR überlebensnotwendige Fähigkeiten. Auf dieser Basis konnte sie Kohl entgegentreten, (…) sich abschotten und wenig Blöße zeigen. Das weibliche Selbstverständnis der Ost-Frau hat sie an die Macht gebracht», meint Maaz, «mit dem Mut und der Frechheit gegen den ‹Patriarchen›, der Schwäche zeigte und Fehler machte-und ‹entsorgt› werden musste. Eine Rolle wie geschaffen für eine ‹Vater-Tochter› aus dem Osten.»
«Die konkurrierenden Männer der Partei», so der Psychiater weiter, «konnten sich sicherlich nicht vorstellen, dass sie sich länger an der Macht halten würde. (…) Jedenfalls werden häufig die Systemschwächen und -fehler des Sozialismus auch den Menschen zugesprochen, ohne zu bedenken, dass sie durch Repression, Einschüchterung und Mangel auch besondere Eigenschaften entwickeln, mit denen sie gerade in widrigen Verhältnissen gut und würdig überleben.»22
Für Angela Merkel war der Karrieresprung, der ihrem Coup in der FAZ folgte, der Garantiebonus, den ihr die Männer nicht verweigern konnten. Die Beißhemmung der männlichen Kollegen, die als Konkurrenten gestartet waren, war ihr für Jahre sicher. Was Merkel getan hatte, war im CDU-Selbstverständnis eigentlich ‹Männerarbeit›. Wer sich bis dahin als männliches Alpha-Tier verstanden hatte, lernte erschrocken eine weibliche Variante von Alpha-Dominanz kennen, die eine schwere Kränkung bedeutete. Hin- und hergerissen zwischen Erleichterung und Demütigung, setzten die stärkeren CDU-Männer nun auf wachsame Distanz. Die schwächeren entschlossen sich bald für gehorsame Bewunderung. Was sich nach dem Sturz des Patriarchen schon früh andeutet, ist ein Muster, das die gesamte Machtkarriere der Angela Merkel begleiten wird: Die Starken gehen, die Schwachen bleiben.23
Das ‹Mädchen› als Putschistin – die Undercover-Züge in ihrem Politikstil, Ergebnis einer perfekt angewandten Lektion aus ihrer Zeit im autoritären Staat, verhindern bis heute, dass ihr Turbo-Aufstieg in der gesamtdeutschen Politik als autoritärer Griff der «Rächerin» nach der Macht verstanden wird. Die männlichen Bewerber hockten in den Büschen, als sie den Chronos der CDU entmachtete. Die Ohnmacht der Söhne wurde umso peinlicher, da die Tochter aus Anderland voll in die Saiten des CDU-Wertekanons griff: «Die Partei hat eine Seele» – wann haben wir das später noch einmal von ihr gehört? Das «wahre Fundament», von dem die Putschistin Angela spricht, klingt so zustimmungsfähig, dass keiner fragt, was damit gemeint sei – und später niemand nachforscht, ob die Aufsteigerin es liefert.
Sie schießt sich frei mit einem Komplettpaket aus Werte-Reminiszenzen, die im Herzen der Traditionspartei CDU lagern. Jetzt niemanden aufschrecken; da läuft auch der absurde Widerspruch glatt durch, mit dem die aufständische Tochter ihre Barrikadenrede abschließt, nachdem sie die «fließende Weiterentwicklung» ungenau genug angekündigt hat: Die Partei werde «sich verändert haben, wenn wir diesen Prozess annehmen» – und für alle, die doch ein wenig erschrekken: «aber sie wird in ihrem Kern noch dieselbe bleiben». Keiner von den Söhnen springt aus dem Versteck und stellt die Revoluzzerin zur Rede: Was denn das Wörtchen «noch» bedeute? Steckt da ein Vorbehalt, gar ein Dementi?
Natürlich steckt es da! Noch, aber nicht mehr lange werde die Partei dieselbe bleiben, nachdem das ‹Mädchen› den Jungs ihre Pubertät bescheinigt hat. Der ‹Kern› wird geknackt. Merkels Anspruch auf eine Kette von Führungsrollen trifft auf günstige Umstände: Die Partei ist in der Opposition, Regierungsämter sind nicht zu haben, aber die Machtspiele können beginnen.
Merkel verblüfft ihre Wettbewerber in der Partei vor allem durch ihren leidenschaftslosen und wertneutralen Umgang mit politischen Angeboten. Sie verhält sich wie eine hochflexible Anbieterin im Markt der Politprodukte: Was nicht läuft, wird vom Markt genommen. Bekenntnisse meidet sie, weil sie Flexibilität kosten. Wer sich in ein Angebot verliebt, wird es nicht rechtzeitig wegsortieren, wenn die Kunden, die Wähler, kein Interesse zeigen. Die CDU-Vorsitzende absolviert regelrechte Testläufe mit Angeboten, die einerseits in der CDU, andererseits bei den Wählern anderer Parteien ein Echo auslösen, das die ‹Produktakzeptanz› widerspiegelt. Die Politik, so Merkels Position, kann dann das Sortiment der Angebote optimieren: Die Lager werden aufgeräumt, umgeräumt, ausgeräumt mit dem Ziel, immer mehr ‹Kunden› hinter dem Angebot der herrschenden politischen Kraft zu versammeln.
Dieses Politmanagement führt, wie wir sehen werden, immer häufiger zu Entscheidungen im Parlament – oder am Parlament vorbei –, denen nur noch eine verschwindende Minderheit, meist am linken Rand, widerspricht. Eine Quasi-Einheitspartei hat so am Ende des ersten Jahrzehnts in Schicksalsfragen mit Verfassungsrang immer öfter über alle Parteigrenzen hinweg für das Regierungskonzept entschieden.24 Ein gutes Zeichen? Ein Vernunftschub der Parteien in Krisenzeiten? Oder auch ein Verlustsignal : die Agonie des politischen Wettbewerbs in der Demokratie?
Was macht die Exotin überlegen? Werte-Abstinenz als Waffe
Angela Merkels Aufstieg löste Debatten über die Männer aus, an denen sie vorbeizog, die sie im Vorübergehen entmachtete oder in Positionen mattsetzte. Eine dritte Variante der männlichen Reaktionen auf den Durchmarsch des ‹Mädchens› liefert die flankierende Story zu Merkels Aufstieg und Regentschaft: Es sind die Abschiede dominanter Anwärter auf Positionen, die Angela Merkel durchlaufen, hinter sich gelassen und anschließend wieder freigegeben hat: Generalsekretärin, Fraktionsvorsitzende, Parteivorsitzende und – Stoppschild für alle: Kanzlerin. Keiner von den aufstiegsverdächtigen Alpha-Männern der CDU blieb, um Angelas Abrücken von einer Führungsposition abzuwarten und ihr nachzufolgen. Ihre Nachfolger in allen Aufstiegspositionen wurden «neue» Kandidaten, die vorher unscheinbar oder unsichtbar auf Parlamentsplätzen gesessen hatten: Kauder, Gröhe, Altmaier, Pofalla heißen ihre Favoriten für jene Ämter, die sie selbst absolviert hat oder dank wachsender Machtfülle neu besetzen kann. Keiner von den früheren Aspiranten auf Top-Positionen ist unter ihnen.
Der spektakuläre Machtkampf mit Friedrich Merz wurde zum legendenumwobenen Symbol für das, was man das Merkelsche Gesetz in der Personalpolitik nennen könnte: Die Starken gehen, die Schwachen bleiben. Ein ganzes Rudel bundespolitisch qualifizierter Ministerpräsidenten verabschiedete sich in Etappen aus dem Alpha-Club der Bewerber für höchste Bundesämter. Top-Manager der politisch dominierten Institute der Finanzindustrie gaben ihre Positionen frei oder kapitulierten, bevor unklare Zusagen zu Absagen wurden, oder weil der politische Druck ihre Verantwortung in der Sache überrollte: Axel Weber und Jürgen Stark arbeiten auf Spitzenpositionen außerhalb Deutschlands weiter,25 Wolfgang Schäuble, Finanzminister der schwarz-gelben Koalition, teilt auf den ersten Blick das Schicksal der abgerückten Alphatiere nicht; er hat aber seine Entmachtung schon hinter sich: Nach Kohl stürzte auch er über eine Spendenaffäre, und Merkel übernahm seine Position als Fraktionsvorsitzende im Bundestag. Nahezu vergessen ist die von oben betriebene Verhinderung Schäubles als Regierender Bürgermeister von Berlin im Jahr 2001 nach der Abwahl von Eberhard Diepgen.
Merkels Umgang mit Schäuble tritt damit in eine ungewollte, aber symptomatische Kontinuität zu Kohls Kronprinzenstory mit Schäuble: Die Kanzlerin bewegt sich ebenso wie ihr Vorgänger in Widersprüchen, wenn es um Schäuble geht. Demütigungen und Gunsterweise wechseln sich ab. Damit hat Schäuble einen Sonderplatz, den sich nicht jeder gefallen lassen würde; er gehört zu den Starken und bleibt. Ein verschlüsseltes Alpha-Tier, das bei beiden Kanzlern widersprüchliche Reaktionen auslöst.
Immer, so begann diese Überlegung zu Merkels Überlegenheit, wird über die Schicksale und Fluchtbewegungen sowie die Unterwürfigkeit der Männer diskutiert, wenn es um Merkels ungestörten Aufstieg auf fremdem Polit-Terrain in einem weitgehend ‹fremden› Land geht.