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Übersetzung aus dem Schwedischen von Wibke Kuhn
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Berlin Verlag erschienenen Buchausgabe
1. Auflage 2014
ISBN 978-3-8270-7701-1
© Deutschsprachige Ausgabe:
© Berlin Verlag, Berlin 2014
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Covermotiv: © Jan Vermeer / Foto Natura / Minden Pictures /
Corbis und FinePic®, München
Datenkonvertierung: psb, Berlin
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DIE ZUGTÜR WIRD ZUGEKNALLT. Auf der anderen Seite des Fensters sieht Jenny eine uniformierte Frau den Bahnsteig entlanggehen, eine Tür nach anderen zuwerfen und kontrollieren, ob alles bereit zur Abfahrt ist. Sie sieht barsch aus, irgendwie erinnert sie fast an eine Gefängniswärterin. Jenny versucht ihr mit dem Blick zu folgen, aber dann ist das Fenster zu Ende, und die Frau ist nicht mehr zu sehen.
Kein Weg zurück. Nicht die geringste Chance, doch noch schnell auszusteigen.
Aber warum sollte sie auch? Was für ein blöder Gedanke. Sie ist ja dankbar, dass sie endlich hier sitzt. Dass aus dieser Reise tatsächlich was geworden ist.
Der Zug setzt sich in Bewegung, und Jenny schaut auf ihre Uhr. Viertel nach zwölf, nur eine Minute Verspätung.
Die Armbanduhr ist aus Stahl und hat ein schweres Gliederarmband. Das Gehäuse ist leicht gewölbt, klobig, und das Ziffernblatt bordeauxrot. Sie sieht fast aus wie eine Herrenuhr, vielleicht hätte Johan sie lieber für sich selbst kaufen sollen. Wahrscheinlich hat er das ja auch.
Sie hat immer noch Johans beruhigende Stimme im Ohr. Niemals das kleinste Anzeichen von Unsicherheit, immer die gleiche unerschütterliche Ruhe.
Jenny fährt mit dem Finger ums Ziffernblatt herum, aber dann merkt sie, dass sie beobachtet wird, und blickt auf.
»Weinst du?«
Anja hat sich zu ihr gedreht. Jenny schüttelt den Kopf.
»Das ist bloß die Zugluft vom Fenster.«
»Okay.«
Anja sieht nicht überzeugt aus. Ihre Augen wollen sich nicht von Jenny lösen, als glaubte sie, sie könnte in Jennys Inneres blicken, wenn sie nur lange genug hinschaut.
Jenny richtet sich auf. Das Fenster ist ein Stückchen heruntergelassen, und jetzt, wo der Zug Fahrt aufnimmt, zieht es tatsächlich. Sie spürt einen Hauch von Kälte in der lauen Luft, eine erste Vorwarnung, dass der Herbst nicht mehr weit ist. In den letzten Tagen ist die Augustwärme immer mehr in diese klare Kühle übergegangen, die nach der Sommerhitze so angenehm ist, aber auch immer eine gewisse Wehmut mit sich bringt.
Sie stemmt sich gegen den Griff und schiebt das Fenster hoch. Bevor sie sich wieder hinsetzt, trocknet sie sich ganz schnell die Augen.
Anja wirft ihr einen verstohlenen Blick zu, ihre Augen treffen sich, und Jenny weiß, dass Anja es versteht. Dass sie Bescheid weiß. Denn so ist sie. Trotzdem ist es nicht wie früher, es ist schon zu viel Zeit vergangen. Sie haben fast ein Jahr zu überbrücken.
»Es geht mir gut«, versichert Jenny. »Jetzt sind wir ja unterwegs.«
Anja scheint immer noch zu zweifeln, wendet sich aber erst mal wieder der Modezeitschrift zu, die sie sich am Hauptbahnhof gekauft hat. Eine Seite mit Horoskopen liegt aufgeschlagen auf ihrem Schoß, neben der Tüte mit dem Naschzeug. Jenny kennt sonst keinen Menschen, der Horoskope lesen würde, aber Anja tut es seit Teenagertagen, und sie war noch nie für Veränderungen.
Sie hat ihr Lieblingskleid an, das inzwischen schon einige Jahre auf dem Buckel hat, weiß mit kirschroten Blüten, und dazu Sandalen.
»Willst du wirklich nichts?«
Anja beugt sich herüber und streckt Jenny die Tüte hin. Ihre Nase ist mit Sommersprossen bedeckt, nicht anders als damals, als sie noch ein kleines Mädchen war.
»Nein, danke.«
Ein rascher Blickwechsel zwischen Anja und Petra, die von ihrer Zeichnung aufgeschaut hat. Skizzenblock und Stift ruhen auf ihrem Schoß, und ihr Gesichtsausdruck ist genauso bekümmert wie der von Anja.
»Du isst nicht viel«, bemerkt Petra.
»Da sind auch Salzlakritze dabei«, versucht es Anja.
Jenny lächelt.
»Ich ess dann schon was. Versprochen.«
Anja seufzt, lächelt aber zurück. Mit zwei Fingern fischt sie sich eine unnatürlich gelbe Gummibanane aus der Tüte. Der süße Geruch ist wirklich alles andere als verführerisch.
Anja reicht die Tüte weiter zu Petra, die sich nach einigem Wühlen ein Marshmallow herausfischt. Geistesabwesend kaut sie auf dem zähen Zeug herum, während ihr Stift weiter über das Papier ihres Skizzenblocks fährt. Rasch und sicher zeichnet sie, es sieht immer so aus, als könnten ihre Hände einfach alles.
Ihre hellblauen Augen huschen übers Papier. Als Teenager war Jenny immer neidisch auf Petra wegen ihres langen, ganz glatten Haars. Es ging ihr fast bis zur Taille.
Aber das ist schon lange her. Mittlerweile trägt sie einen Kurzhaarschnitt.
Jenny lehnt sich zurück, lauscht dem rhythmischen Rattern der Räder und versucht sich zu entspannen. Sie lässt die Augen über die Dinge wandern, die am Fenster vorbeiziehen, und ab und zu bleibt sie an Details hängen. Ein kleiner zitternder Hund auf einem Gehweg, ein Motorboot, das langsam über den Riddarfjärden fährt, ein gehbehinderter älterer Mann, dem eine Frau in ein geparktes Auto hilft.
Sie schaut auf ein Fenster mitten in der Fassade eines Bürogebäudes. Dort drinnen steht jemand, sie kann nicht erkennen, ob es ein Mann oder eine Frau ist. Nur dass da jemand arbeitet.
Ein Objekt nach dem anderen verschwindet innerhalb einer Sekunde aus ihrem Blickfeld und wird durch etwas Neues ersetzt. Es ist erholsam, denn wenn etwas verschwunden und Geschichte geworden ist, muss sie sich nicht mehr drum kümmern.
Am anderen Ende des Waggons schlägt die Toilettentür zu. Martina kommt durch die Sitzreihen auf sie zu. Wie immer hält sie sich das Handy ans Ohr. Man könnte sie unmöglich übersehen.
»Der ist im Gang«, sagt sie, »im linken Hängeschrank, zweites Fach von unten.«
Ihr dickes schwarzes Haar hat sie sich heute zu einem Pferdeschwanz gebunden. Es ist länger als noch vor einem Jahr. Sie hat nur eine Jeans und einen Pulli an, aber irgendwie schafft sie es trotzdem, darin elegant auszusehen.
»Super. Küsschen!«
Martina schaltet das Handy aus und stöhnt laut.
»Mann, ist das schön, endlich mal wegzukommen! Ein Glück, dass Pierre die ganze Woche die Kinder nehmen konnte. Auch wenn er nicht gerade in Jubel ausgebrochen ist.«
Sie setzt sich gegenüber von Jenny hin.
»Du siehst müde aus«, stellt sie fest. »Aber du wirst schon munterer werden, einfach dadurch, dass du mal rauskommst. Und ein bisschen Distanz gewinnst.«
Martinas Zähne leuchten weiß im Kontrast zu der Sonnenbräune, die sie sich in ihrem ausgedehnten Familienurlaub geholt hat.
»Du musst uns dann alles noch genau erzählen. Wie es vorher war, und wie er sich benommen hat. Es muss schließlich irgendwelche Anzeichen gegeben haben. Die finden sich immer, wenn man zurückblickt, obwohl man sie zu Anfang nicht sehen will.«
Jenny nickt.
»Diese Reise wird dir super guttun. Wie Marilyn Monroe schon sagte: Sometimes good things fall apart so better things can fall together.«
Jenny nickt noch einmal. Kann schon sein.
»Schön, dass du so kurzfristig freigekriegt hast«, fährt Martina fort. »Und das auch noch genau zu Ferienende. Haben sie da nichts gesagt?«
Jenny bürstet sich ein Haar von der Hose, oder vielleicht ist es auch nur ein Staubkorn.
»Nein«, sagt sie.
»Gar nichts? Toll.«
Martina beugt sich vor und legt Jenny die Hände auf die Knie.
»Auch wenn es sich schwierig anfühlt, versuch, das Single-Leben als etwas Positives zu sehen. Als Freiheit. Du bist gesund, erst vierzig Jahre alt, hast eine gemütliche Wohnung mitten in der Stadt …«
Sie hält inne und schaut Jenny streng an.
»Du hast die Wohnung doch noch, oder?«
»Ja.«
»Bravo.«
Martina schenkt Jenny ein breites Lächeln, und die lächelt zurück. Sie ist froh, dass sie nicht gemacht hat, was Johan wollte, das Wohnrecht verkaufen nämlich, für die Zweizimmerwohnung, die sie von ihrem Ersparten und einem Vorschuss auf Großmutters und Großvaters Erbe gekauft hatte, als sie zu Hause auszog. Stattdessen hat sie die Wohnung untervermietet, seit sie Johan kennengelernt hat. Das ist jetzt acht Jahre her, aber in letzter Zeit stand sie leer. Irgendetwas bewog sie, den Mietvertrag nicht zu verlängern, als er letzte Weihnachten auslief. Vielleicht spürte sie, dass irgendetwas nicht stimmte. Sie weiß es selbst nicht.
»Du wirst schon sehen, das kommt alles in Ordnung«, sagt Anja in ihrem typisch überzeugenden Tonfall.
Aber es ist tatsächlich ein Trost, Jenny fühlt sich etwas besser.
Martina drückt auf ihrem Handy herum, wahrscheinlich schreibt sie eine SMS an ihren Mann, eines ihrer Kinder oder einen Mitarbeiter ihrer Firma. Sie ist ständig von Leuten umgeben.
»Erzähl doch mal von deinem Chefjob!«, sagt sie plötzlich. »Das passte doch wie maßgeschneidert, oder? Super, dass die Geschäftsführung da auf dich gesetzt hat, du hast das echt so verdient! Das ganze Gebüffel und deine Kurse und so. Dass das Geacker sich doch mal gelohnt hat.«
Ein leichtes Schaudern vom Genick abwärts, obwohl es gar nicht kalt ist. Jenny sieht sich im Waggon um.
»Sollten wir unsere Taschen nicht herholen?« Sie deutet auf ihr Gepäck. »Hier ist doch genug Platz, viel näher bei uns.«
Alle drei spähen zu dem Regal, in das sie beim Einsteigen ihre vollgepackten Sporttaschen gestellt haben. Aber von hier kann man das Gepäck nicht sehen.
»Warum denn?«, fragt Petra. »Die stehen da doch gut, oder nicht?«
»Mir wär’s lieber, wenn ich sie sehen könnte«, sagt Jenny. »Ich würde sie gern ein bisschen im Auge behalten.«
»Die klaut doch keiner«, meint Anja. »Keine Sorge.«
Sie schaut Jenny wieder mit diesem gewissen Blick an. Dem verstehenden.
»Du musst dir überhaupt keine Sorgen machen«, wiederholt sie.
»Nein«, bestätigt Martina. »Wirklich nicht.«
Vielleicht haben sie recht. Ihre Unruhe summt zwar in ihr wie ein kleines Insekt, aber Jenny beschließt, das Gepäck zu lassen, wo es ist. Sie hat ja auch keine Wertsachen dabei, nur ihre Brieftasche, das Handy und die Wohnungsschlüssel, und die hat sie ohnehin in der Handtasche, die zu ihren Füßen steht.
»Versuch doch eine Weile zu schlafen«, schlägt Anja vor.
Jenny nickt und lehnt den Kopf an. Aber die nötige Ruhe will sich nicht einstellen.
Hat sie etwas vergessen? In Gedanken geht sie noch einmal den Inhalt ihres Koffers durch. Sie hat versucht, so wenig wie möglich einzupacken, weil sie ja die ganze Zeit unterwegs sein werden. Kleidung für fünf Tage, ihren Kulturbeutel, Haarbürste, Nachthemd, Unterwäsche, Strümpfe, eine Regenjacke, die sie gerade erst gekauft hat, einen Wollpulli für den Fall, dass es kalt werden sollte, und eine Shorts für den Fall, dass es richtig warm werden sollte, denn das kann ja auch noch passieren. Und atmungsaktive Sportkleidung natürlich.
Sie sieht, wie Martina sich zurechtsetzt und die Beine hochlegt. Es sieht so entspannt aus, vor allem, wenn sie dann auch noch die Hände in die Ärmel ihres blaugestreiften Pullis schiebt und sich in den Sitz kuschelt wie eine schläfrige Katze. Jenny wäre gern genauso ruhig und träge. Wahrscheinlich muss sie zu viel über diese Reise nachdenken. Die Planung und die Buchungen, die sie gemacht hat, alles muss klappen.
Die fast einjährige Pause hat nichts verändert. Sowie sie sich wiedersahen, schlüpfte jede wieder in ihre alte Rolle, auch wenn die anderen drei fragten, ob es wirklich okay war für Jenny, dass sie wieder die Hotelbuchungen und auch die ganze restliche Organisation übernahm. Eigentlich sollte es wohl mal jemand anders machen, meinten sie, nur dies eine Mal.
Aber Jenny beteuerte, es beruhige sie, sich mit der Hotelsuche zu befassen und sich Gedanken über die Restaurants zu machen, Reiseführer zu wälzen und die Route abzustecken. Eine Ablenkung, die sie nur zu gut brauchen konnte.
»Schön, dass schon alle Hotels gebucht sind«, sagt sie zu Anja, die gerade ihre Süßigkeitentüte wegräumt.
Anja scheint wirklich glücklich über ihre Bemerkung.
»Langsam kenn ich dich wieder«, sagt sie.
Petra und Martina lächeln ebenfalls. Jenny kann sich in ihren Augen sehen, die Person, die sie bitte schön sein soll. Die Freundin, die immer für sie da ist und die genau weiß, wie man sein Leben organisiert.
Die nicht in irgendwelche Fallen tappt und Mist baut und vom richtigen Weg abkommt.
Draußen hat es angefangen zu nieseln, und die Tropfen hinterlassen Punkte an der Scheibe, kleine Perlen, die sofort vom Fahrtwind verwischt werden. Sie sind so flüchtig, dass sie kaum existieren, bevor sie auch schon wieder für immer verschwunden sind. Und dann werden wieder neue geboren, wieder und wieder.
Genau wie Martinas impulsive Einfälle, zu denen auch diese Reise gehört.
Plötzlich ist dieses stechende Gefühl im Bauch wieder da. Hätte sie nicht doch in Stockholm bleiben sollen, statt sich zu dieser Tour überreden zu lassen? Hat sie sich einfach mitziehen lassen wie eine willenlose Puppe, weil sie dem Enthusiasmus ihrer Freundinnen nichts entgegenzusetzen hatte?
Das Geheimnis. Jenny verschiebt es ganz tief in ihr Innerstes, so weit hinein, dass es sich in der Dunkelheit fast auflöst. Dort muss es jetzt mindestens fünf Tage fest unter Verschluss bleiben.
Dann macht sie die Augen zu. Sie kann sich noch deutlich an den Tag erinnern. Kann fast jedes Detail vor sich sehen, wenn sie die Augen schließt. Es ist noch nicht mal ein Jahr her.
JENNY SCHLICH SICH HINTER Johan, der sich gerade Frühstück aus dem Kühlschrank nahm. Sie ließ die Hände unter sein T-Shirt gleiten und drückte ihn fest an sich.
»Guten Morgen«, sagte er und drehte sich um. Er hatte einen kleinen Fruchtjoghurt in der Hand. »Wie geht’s dir?«
»Ganz okay.« Sie nahm ihm den Joghurt aus der Hand. »Vielleicht noch ein bisschen nervös.«
Er nahm noch einen Joghurt für sich selbst heraus und aß ihn, während er sie ansah.
»Weißt du, wie stolz ich auf dich bin?«, fragte er. »Wenn ich heute Abend peinlich werde, darfst du mich unterm Tisch treten. Aber nicht zu fest.«
»Du brauchst es vor den anderen nicht zu übertreiben mit deinem Stolz. Aber es fühlt sich schon ganz schön gut an, endlich irgendwie dazuzugehören.«
»Wie meinst du das?«
»Dir ist es vielleicht nicht aufgefallen, aber ich musste immer danebensitzen und zuhören, wenn ihr euch über Unternehmensführung und Personalführung und all so was unterhalten habt. Es wird toll, wenn ich mich an solchen Gesprächen endlich auch mal beteiligen kann.«
»Ich glaube, ich weiß, was du meinst«, sagte er.
»Und es tut ja auch nicht gerade weh, dass ich fast doppelt so viel Gehalt kriege … So ganz nebenbei bemerkt.«
Sie lächelte ihn breit an, und er lächelte zurück. Genau dieses Lächeln, das sie am meisten an ihm liebte.
»Nein, es ist echt super«, sagte er. »Ich kann es selbst kaum glauben.«
Dann wurde sein Lächeln ein wenig schwächer. Er blickte in seinen Joghurtbecher statt in ihr Gesicht und rührte ein bisschen darin herum. Sie ahnte, woran er dachte.
»Ist es wegen deiner Firma? Du wirst schon sehen, das wird bald wieder. Ihr habt momentan bloß einen Durchhänger.«
»Vielleicht.«
Er seufzte.
»Aber schön ist es nicht. Ich kann mir kaum ein anständiges Gehalt auszahlen. Und die Jungs – an die denke ich am meisten.«
Jenny stand auf und nahm ihn wieder in die Arme. Wie sie es immer machte, wenn er auf seine Kinder zu sprechen kam, seine zwei Söhne im Alter von zehn und dreizehn Jahren. Wegen denen Johan ständig ein schlechtes Gewissen hatte, weil sie ganz bei ihrer Mutter lebten und die Arbeit so viel von seinem Leben schluckte.
»Wenn ich nur mal mit ihnen verreisen könnte«, sagte er. »Nach Mallorca oder so. Ihre Freunde fahren alle mindestens einmal im Jahr ins Ausland, und Love und Sander nie.«
»Dann solltet ihr das mal machen, finde ich«, sagte Jenny. »Fahrt doch nach Mallorca. Nur ihr drei.«
Johan sah sie verständnislos an. Sie strich ihm über die Nackenhaare.
»Ich bezahl das. Ich kann es mir jetzt leisten, und ich fänd’s einfach schön. Letztendlich schulde ich dir ja auch eine Menge, nach dem, was du so alles für mich mitgezahlt hast. Früher.«
Er machte den Mund auf, um zu protestieren, aber sie legte ihm die Hand auf die Lippen. Sanft, aber bestimmt.
»Bitte, lass mich das tun. Ich will. Für dich. Damit deine Kinder merken, was sie für einen tollen Vater haben, und ihr so richtig Zeit miteinander verbringen könnt.«
Sie nahm die Hand von seinem Mund, gab ihm einen Kuss auf die Wange und machte den Kühlschrank auf.
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, meinte er.
»Wie wär’s mit ›Herzlichen Glückwunsch‹? Zum Job und zu einem glücklichen Mann.«
»Meinst du das wirklich ernst?«
»Ja. Allerdings.«
Sie lächelte, während sie Saft und Aufschnitt aus dem Kühlschrank nahm. Jetzt war sie dran.
Jenny zehrte immer noch von ihrem Glücksgefühl, als sie in die Firma kam. Es hatte etwas Feierliches, auf den Fahrstuhlknopf zu drücken, obwohl sie ins selbe Stockwerk musste wie vorher. Aber jetzt musste sie nach dem Aussteigen nach rechts gehen, wo ihr neues Büro lag. Die ersten zwei Wochen auf der neuen Stelle waren schnell vergangen, mittlerweile war es schon Anfang November.
Sowie sie aus dem Fahrstuhl stieg, kam ihr Erik entgegen. Sein Anzug war ein ganz wenig zerknittert, er hatte keine Krawatte um, und sein Haar, das er sonst locker zurückgekämmt trug, war fast zerzaust. Er fuhr sich immer und immer wieder mit der Hand hindurch, und sein Blick flackerte.
»Jetzt ist es raus«, sagte er.
»Was?«
»Die Umstrukturierung. Ich hätte es gleich wissen müssen, dass das irgendwie durchsickert. Obwohl das Ganze erst nächsten Herbst stattfinden soll. Vielleicht hat sich jemand aus der Geschäftsführung verplappert oder war unvorsichtig. Oder vielleicht war es einfach ein Angestellter, der etwas geahnt und Spekulationen angestellt hat. Jetzt heißt es jedenfalls, so schnell wie möglich handeln.«
Es war wirklich ernst, das hörte Jenny. Doch Erik war schon lange dabei, er wusste, wie man mit so einer Situation umgehen musste.
»Und, was machen wir jetzt?«
»Es wäre wirklich ungut, wenn wir in diesem frühen Stadium schon Unruhe in der Firma hätten, wo es ja noch nicht mal feste Pläne gibt.«
»Ja, natürlich.«
Erik machte ein paar Schritte hin und her, während er überlegte. Er bewegte sich geschmeidig, seine Haltung war aufrecht und selbstbewusst. Bestimmt war er am Morgen schon im Fitnessstudio gewesen.
Wieder fuhr er sich mit der Hand durchs Haar.
»Wir rufen heute Nachmittag alle Angestellten zu einer Mitarbeiterversammlung zusammen. Du musst ihnen erzählen, dass es noch überhaupt keine konkreten Pläne gibt und dass die Arbeit weitergeht wie gehabt. Es ist nicht ausgeschlossen, dass es in der Zukunft Veränderungen geben wird, aber momentan gibt es da noch keinerlei Überlegungen. Die einzige Veränderung besteht darin, dass du die neue Personalchefin und administrative Leitung bist und dass du auch Gunillas frühere Rolle als Büroleiterin mit übernommen hast. Daran kannst du sie bei der Gelegenheit ja auch gleich noch mal erinnern.«
»Verstehe.«
Jenny spürte, wie sich Nervosität in ihr breitmachte. Gott sei Dank war sie vorgestern beim Friseur gewesen. Die ausgeblichenen, strapazierten und viel zu langen Haare, die sie sich in den letzten Wochen in Ermangelung einer richtigen Frisur meistens zum Zopf gebunden hatte, waren der Schere zum Opfer gefallen. Jetzt war ihr Haar schulterlang und kastanienbraun getönt. Der neue Stil passte besser zu der erwachsenen Vierzigjährigen, die sie war. Eine reife, erfahrene und gut vorbereitete Mitarbeiterin, die ihre Verantwortung ganz selbstverständlich übernehmen konnte.
»Die von der Gewerkschaft haben uns gemailt«, sagte Erik. »Kannst du dir im Grunde an den Hut stecken, wir werden ja doch antworten, dass wir vorerst keine Kürzungen vorhaben. Aber lies dir die Mail auf jeden Fall mal durch.«
Sie sah Niklas aus seinem Büro weiter hinten im Flur kommen. Gut gebaut, etwas größer als sie selbst, lässig in Jeans und beiges Sakko gekleidet. Er hatte seine Stelle erst vor relativ kurzer Zeit angetreten, war aber schon etwas vor ihr da gewesen. Er nickte ihr zu und verschwand mit einem Zettel um die Ecke zum Kopierer.
Als Jenny in ihr Büro kam, sah sie im Stehen rasch die Post durch, bevor sie den Mantel auszog.
»Wir sind zutiefst beunruhigt über die Gerüchte, die uns bezüglich einschneidender organisatorischer Veränderungen zu Ohren gekommen sind. Der wichtigste Baustein einer guten Personalpolitik und eines gesunden Arbeitsklimas sind eindeutige und rechtzeitige Mitteilungen.«
Erik war ihr nachgekommen und wartete jetzt an der Tür.
»Wie du siehst, kommen wir nicht mehr darum herum«, sagte er. »Wir müssen jetzt vor allem für Ruhe sorgen, damit die Arbeit weitergehen kann, bis es dann wirklich losgeht, sonst kriegen wir hier echt ein Problem. Viele arbeiten hier nämlich schon seit einer halben Ewigkeit.«
Jenny sollte sich also vor das gesamte Personal stellen und ihnen erzählen, dass alle Befürchtungen unbegründet waren.
»Wie wollen wir das Ganze aufziehen?«, fragte sie.
»Das Wichtigste ist, dass wir jetzt die Wogen glätten und ein gutes Arbeitsklima wiederherstellen. Als Projektleiterin der Umstrukturierung musst du dich trotzdem darauf gefasst machen, dass dir im Laufe der Zeit so einiges an Zorn entgegenschlagen wird. Aber das warten wir jetzt einfach ab bis zum Herbst, wenn der ganze Zirkus wirklich losgeht.«
Sie schluckte. Jetzt durfte sie keinen Fehler machen. Dafür wurde sie bezahlt.
»Versuch dir die Einstellung zuzulegen, dass sich alles zum Besten fügen wird«, sagte Erik. »Menschen sind unglaublich anpassungsfähig, wenn man ihnen nur genug Zeit gibt. Vertrau ihnen. Eine meiner Grundregeln lautet: Wenn man den Leuten nicht vertraut, vertrauen sie einem auch nicht.«
Jenny nickte.
»So, jetzt entspann dich mal. Wird schon alles gutgehen. Betrachte es als einen ersten Test, ob du dem Druck gewachsen bist.«
Sie lachte. Natürlich war das ein Scherz. Aber zugleich merkte sie, dass ihr Lachen nicht so entspannt klingen wollte, wie sie es gerne gehabt hätte.
Sämtliche Mitarbeiter waren im Pausenraum versammelt. Jenny stieg auf das kleine Podium, das man ihr hingestellt hatte, und wartete, bis das allgemeine Gemurmel verstummt war. Das dauerte zwar nur ein paar Sekunden, gab ihr aber Gelegenheit, noch ein paarmal tief durchzuatmen und zu versuchen, ihren Magen zu beruhigen. Ihr Herz hämmerte, aber sie hoffte, dass man es ihr nicht anmerkte und dass sich ihr Puls schnell wieder beruhigen würde, sowie sie angefangen hatte.
Sie ließ den Blick über die Versammlung schweifen. Am großen Tisch in der Mitte saß ihre alte Truppe: Mats, Irene, Claudia, Sigrid, Gunilla und Joel. Es gab ihr ein Gefühl von Sicherheit, sie dort zu sehen. Sie hatten sich sogar in ihrer üblichen Formation an den Tisch gesetzt. Der Stuhl, auf dem sie selbst immer gesessen hatte, war jetzt freilich leer. Sie hatten ihre Kaffeetassen vor sich stehen, und auf einem Teller lagen die Reste des Sandkuchens, den bestimmt Irene gebacken und mitgebracht hatte.
Jenny wandte den Blick wieder ab, obwohl es ihr widerstrebte. An der einen Wand standen mit steinernen Gesichtern die fünf Gewerkschaftsvertreter. Jenny räusperte sich. Nun musste sie loslegen.
»Guten Morgen! Ich möchte diese Rede nicht allzu langatmig ausfallen lassen«, begann sie. »Wie Sie sicher wissen, bin ich die neue Personalchefin und administrative Leiterin mit Verantwortung für Personal, Verwaltung und interne Organisation. Da mir zu Ohren gekommen ist, dass man sich Sorgen wegen Personalkürzungen macht, möchte ich Sie nur informieren, wie es in dieser Hinsicht aussieht: Wir planen derzeit keine größeren Veränderungen, sondern arbeiten weiter wie immer.«
Sie lächelte ihren alten Freunden zu, aber keiner von ihnen lächelte zurück, sie saßen einfach da und starrten geradeaus. Vielleicht war die Situation etwas zu ernst. Sie ließ den Blick durch den Raum schweifen und schaute ab und zu einen einzelnen Mitarbeiter an, ohne wirklich jemand wahrzunehmen. Ihr fiel auf, dass sie gar nicht von allen die Namen kannte, aber es war auch schwer, sich die Namen all der Neulinge zu merken, die in Abteilungen arbeiteten, mit denen sie früher nicht tagtäglich zu tun gehabt hatte.
Wenn sie sich erst mal richtig eingearbeitet hatte, würden die Namen schon hängenbleiben. Im Laufe der Zeit konnte sie sich sicher auch ein klareres Bild von den verschiedenen Persönlichkeiten der Mitarbeiter machen, was sie mochten und wo ihre starken Seiten lagen.
Claudia, die mitten in der alten Kaffeepausentruppe saß, hob die Hand. Ihr Blick war finster. Jenny nickte ihr zu und musste über die Förmlichkeit der Situation ein wenig lächeln.
»Ja?«
»Es stimmt also nicht, dass jede Menge Stellen abgebaut werden sollen?«
»Nein. Absolut nicht.«
Claudia presste die Lippen zusammen und zog ihren Zopf zurecht. Einige andere tauschten Blicke.
»Wie gesagt, derzeit haben wir keine konkreten Kürzungspläne«, sagte Jenny. »Im Hinblick auf die raschen Strukturveränderungen in unserer Branche wird es selbstverständlich nach und nach zu gewissen Veränderungen in unserer Firma kommen, aber wie das aussehen wird, lässt sich jetzt noch nicht sagen. Derzeit gibt es jedenfalls keinerlei Grund zur Sorge.«
Da niemand mehr etwas sagte, fuhr sie fort:
»Ich will in meinem neuen Job versuchen, Harmonie in der Firma und ein gutes Arbeitsklima zu schaffen. Das ist mir das Allerwichtigste.«
Alle starrten sie an. Nur Sigrid hob die Hand.
»Aber man hat ja doch so ein Gefühl, als würde es demnächst zu Veränderungen kommen«, sagte sie. »Im letzten Rundbrief hieß es doch zum Beispiel auch schon, dass wir sparen müssen.«
Jenny nickte und hoffte, dass sie ruhig wirkte.
»Ja, da haben Sie recht. Wir müssen so einige Posten im Personalbudget herunterfahren. Es hat sich herausgestellt, dass die Kosten da höher waren als erwartet.«
»Und was wird das für uns bedeuten?«, fragte Claudia. »Ganz konkret?«
»Na ja, ein Beispiel wäre etwa, dass wir im Haus leider keine Obstkörbe mehr aufstellen werden. Obst am Arbeitsplatz ist ja nicht unbedingt eine Notwendigkeit.«
Vereinzeltes Seufzen und Schnauben. Hatte sie sich ungeschickt ausgedrückt? Aber jetzt konnte sie es sowieso nicht mehr ungeschehen machen.
»Soll sonst noch was verschwinden? Kaffee gibt’s aber noch?«
Die Frage kam von Mats, der wie üblich grinste, und Jenny wurde unbehaglich zumute.
Ein rascher Blick zu den Gewerkschaftsvertretern an der Wand, dann beschloss Jenny, weiterzusprechen, ohne Mats’ Frage direkt zu beantworten. Am besten sagte sie die Dinge geradeheraus, dann war das Ganze überstanden. Um die Reaktionen konnte sie sich hinterher kümmern.
»Ich weiß, dass Sie darüber sehr enttäuscht sein werden, aber Julklapp fürs Personal wird es auch nicht mehr geben.«
Aufgeregtes Gemurmel im Saal.
»Das ist eine notwendige Maßnahme. Und das gilt leider auch für die Ostereier und die Geschenke vor den Sommerferien. Und die Geburtstagstorten.«
Sie legte eine Pause ein und ließ ihre Worte wirken. Sie beobachtete, wie die Mitarbeiter Blicke tauschten, und sah sehr gut, wie verdrossen sie waren.
»Ich muss ans Personalbudget denken. Ich hoffe, Sie verstehen das.«
Ihre ehemaligen Kaffeepausenfreunde saßen ganz still da, kauten keinen Sandkuchen mehr und tranken auch keinen Kaffee. Sie glotzten sie nur an. Genau wie alle anderen.
»Außerdem werden noch ein paar andere Dinge verschwinden«, sagte sie. »Es ist sicher besser, wenn Sie sich jetzt schon darauf gefasst machen.«
»Puh, das klingt aber gefährlich. Werden die Stühle und Tische einkassiert?«
Mats wieder. Er musste immer Witze machen, auch wenn die Stimmung ernst war. Vielleicht besonders dann. Er grinste pausenlos, als hätte er Jennys Worte bis jetzt überhaupt nicht ernst genommen. Seine Kiefer kauten auf einem Kaugummi herum.
»Nein, aber es wird noch einige andere Veränderungen geben.«
Ihr Herz begann wieder schneller zu schlagen. Aber es war am besten, wenn sie jetzt gleich sagte, was früher oder später ja doch gesagt werden musste.
»Als ich meine Stelle angetreten habe, konnte ich auch feststellen, dass sich hier einige Mitarbeiter eigenmächtig bestimmte Vorrechte herausgenommen haben, die von der Firmenleitung nicht genehmigt worden sind. Ich weiß zum Beispiel, dass manche sich Gleitzeit angewöhnt haben, obwohl es da keine explizite Firmenlinie gibt. Ich habe auch gehört, dass einige von Ihnen es sich zur Gewohnheit gemacht haben, Arbeitsmaterial aus der Firma mit nach Hause zu nehmen.«
Schwaches, aber empörtes Gemurmel im Saal. Ein junger Mann hob die Hand.
»Aber wenn man seine Arbeit erledigt, auch wenn man etwas abweichende Arbeitszeiten hat? Oder wenn man Arbeitsmaterial mit nach Hause nehmen muss, weil man ab und zu von zu Hause aus arbeitet?«
Jenny lächelte ihn an.
»Wir müssen das jetzt nicht bis ins Detail diskutieren. Es wird von nun an neue Regeln geben, und als Personal- und Verwaltungschefin werde ich auch gewisse Forderungen stellen. Gibt es sonst noch Fragen?«
Claudia hob noch einmal die Hand.
»Wir finden es absolut unmöglich, wie Gunilla behandelt worden ist.«
Ihre Stimme klang so hart, dass Jenny fast zusammenzuckte. Sie sah Claudia an, begegnete aber nur einem Paar eiskalten Augen. So hatte sie Claudia noch nie gesehen.
Mehrere nickten zustimmend. Gunilla selbst sagte kein Wort. Sie war blass und hatte Augenringe, ihr gelbgraues Haar sah etwas ungepflegt aus. Der altrosa Rollkragenpullover saß unvorteilhaft an ihrem unförmigen Körper.
»Sechsundfünfzig Jahre alt, und davon fünfundzwanzig in dieser Firma gearbeitet«, sagte Claudia. »Jede Menge wertvolle Berufserfahrung, und dann so was. Das ist einfach nur ein Skandal.«
Jenny atmete unmerklich durch die Nase ein und aus. Versuchte, ein neutrales Gesicht aufzusetzen, während sie hektisch nach einer passenden Antwort suchte.
Gunilla fummelte an ihrem Kaffeelöffel herum und starrte in ihre Tasse. Sie hatte ihren blassrosa Lippenstift aufgelegt, den sie immer trug, aber ganz besonders zu speziellen Anlässen.
»Ich kann verstehen, dass Veränderungen gewisse Gefühle auslösen«, sagte Jenny. »Aber die Unternehmensführung und ich haben den Ehrgeiz, Veränderungen so durchzuführen, dass alle Mitarbeiter so rücksichtsvoll wie möglich behandelt werden.«
Sie versuchte, noch mehr zu lächeln, entspannt und ermutigend.
Claudia hob wieder die Hand, aber diesmal tat Jenny so, als würde sie sie nicht sehen. Stattdessen blickte sie über die Menge, die vor ihr eine starrende Mauer bildete.
»Dann lassen Sie uns diese Versammlung abschließen. Ich sehe hoffnungsvoll und positiv in die Zukunft. Wir haben einen tollen Geist in dieser Firma und ein großartiges Gemeinschaftsgefühl. Wenn Sie mit mir über irgendetwas sprechen möchten, wissen Sie ja, wo Sie mich finden. Meine Tür wird immer offen stehen.«
Man musste immer mit etwas Hellem, Fröhlichem abschließen, das wusste Jenny noch aus ihrem Personalführungskurs. Und als sie wenig später den Pausenraum verließ, erinnerte sie sich auch daran, was ihr der Kursleiter als wichtigste Regel eingeprägt hatte: Wenn man als Vorgesetzter Kritik zu hören bekommt, darf man sie nie persönlich nehmen, sondern muss sie eher als Kritik an der Führungsposition verstehen. Das durfte sie niemals vergessen.
Claudia stand am Postfach und frankierte einen ganzen Schwung Ausgangspost, als Jenny über den Flur kam. Claudia, mit der Jenny fast zehn Jahre lang Wand an Wand gearbeitet hatte. Aber auf der Mitarbeiterversammlung war sie wahrscheinlich die Wütendste gewesen.
Es lag schon mehrere Monate zurück, dass sie zusammen ein Gläschen getrunken hatten, was sie davor fast zwei Jahre lang jeden Freitag gemacht hatten.
Claudia sah Jenny entgegen. Nur ein rascher Blick, dann wandte sie sich wieder ihren Briefen zu. Jenny blieb vor ihr stehen und lehnte sich über den Tisch neben den Postfächern.
»Wie sieht es bei dir denn am Freitag aus?«, fragte sie. »Wollen wir nach der Arbeit mal wieder einen trinken gehen?«
Früher hatte Claudia immer ganz begeistert reagiert, wenn Jenny so etwas vorgeschlagen hatte, aber jetzt sah sie noch mürrischer aus als vorher, wenn das überhaupt möglich war.
»Tut mir leid, ich bin schon woanders eingeladen«, sagte sie.
Sie legte das letzte Kuvert in den Korb mit der Ausgangspost.
»Und außerdem sieht es so aus, dass ich auf Gunillas Seite stehe. Für den Fall, dass dir das entgangen sein sollte.«
»Auf ihrer Seite? Wovon redest du denn?«, fragte Jenny. »Ich hab nichts gegen Gunilla, im Gegenteil. Du solltest das nicht so sehen, das stimmt einfach nicht. Es war eben einfach so, dass ich den Job gekriegt hab und nicht sie.«
Wieder dieser wütende Blick. Dann ging Claudia davon. Jenny sah ihr nach. Sie versuchte nicht mal mehr, sie um eine ausführlichere Erklärung zu bitten. Oder selbst erklären zu dürfen. Das musste wohl warten, bis sich die Gemüter nach der Mitarbeiterversammlung wieder beruhigt hatten.
WANN HAT SIE ZUM letzten Mal eine ganze Nacht durchgeschlafen? Jenny kann sich schon gar nicht mehr erinnern. Der Schlafmangel sitzt ihr im Körper und im Kopf wie eine bleierne Schwere, und während sie die eintönige Landschaft vor dem Zugfenster betrachtet – fast nur Wälder und Felder –, müssten ihr die Augen eigentlich zufallen.
Jenny richtet sich auf, versucht das schwere Gefühl abzuschütteln. Sie wendet sich Anja zu.
»Wie geht’s dir denn überhaupt so?«
Anja zuckt mit den Schultern.
»Gut, würde ich sagen. Bisschen auf und ab. Wie bei allen.«
»Bist du eigentlich gerade fest mit jemand zusammen?«
»Nein, nein.«
Anja lacht kurz.
»Okay, vielleicht geh ich mit dem einen oder anderen aus, aber da ist kein wirklich Interessanter dabei.«
Es wird still. Jenny wirft einen verstohlenen Blick zu Anja.
»Es tut mir wirklich leid, dass ich mich so lange nicht gemeldet hab.«
»Ach, komm, lass uns nicht mehr davon reden.«
Anja lächelt sie an, doch irgendwo in ihren Augen steckt doch ein bisschen Traurigkeit. Aber nur ein bisschen. Das rotblonde, lockige Haar geht ihr fast bis auf die Schultern. Ihre Wangen sind weich und leicht gebräunt nach ihrem Aufenthalt an der Westküste.
»Und deine Familie?«, fragt Jenny. »Geht’s allen gut?«
»Ach ja, eigentlich alles wie immer«, sagt Anja. »Mama tritt langsam ein bisschen kürzer und arbeitet nur noch vier Tage die Woche. Freitags hat sie jetzt immer frei, da denkt sie sich dann meistens was für die Kinder aus.«
»Immer noch?«
»Ja, du kennst sie doch. Misan und Ruben sind furchtbar gern mit ihrer Großmutter zusammen. Sie machen alles Mögliche, gehen in die Stadt zum Shoppen, ins Kino und so was.«
Jenny nickt. Es ist lange her, dass sie Anjas Mutter gesehen hat. Über ein Jahr. So eine lange Pause hat es noch nie gegeben, Jenny war immer extra bei Anja vorbeigefahren, wenn ihre Mutter da war, und die hatte Jenny jedes Mal umarmt und sie gefragt, ob sie nicht ein Weilchen bleiben wolle.
»Grüß sie mal schön von mir«, sagt Jenny.
»Mach ich. Sie hat sich total gefreut, als ich ihr erzählt hab, dass wir wegfahren. Sie hat mir auch Geld geliehen, damit ich es mir leisten kann. Du hast ihr gefehlt.«
Das Letzte sagt Anja ganz leise. Dann verstummt sie und schaut auf ihre Knie.
Jenny schweigt. Sie hat das ganze Jahr über nicht an Anjas Mutter gedacht, aber gerade fühlt es sich an, als würde die Tür zu einer ganzen Epoche aufgestoßen. So viele Erinnerungen.
Martina reißt sie aus ihren Gedanken.
»Du musst uns alles erzählen«, sagt sie und schaut Jenny an. »Wir haben furchtbar viel nachzuholen. Gott sei Dank haben wir fünf Tage.«
Jenny verzieht den Mund zu einem Lächeln. Sie antwortet nicht, blinzelt nur ein wenig und lässt den Blick zu Petra weiterwandern, die ihren Skizzenblock gerade aus der Hand gelegt hat. Das oberste Blatt ist mit einem Landschaftsbild bedeckt. Nichts Überladenes oder Chaotisches, nur ein langer Strand, Meer und Steine.
Petra versendet gerade eine SMS. Ihr Gesicht leuchtet, als sie aufblickt. Nach der SMS ihres Freundes ist sie offensichtlich immer noch völlig selig. Es ist der Galerist Jesper, den sie zwar erst seit acht Monaten kennt, aber sie versichert trotzdem, dass er der Mann ist, mit dem sie den Rest ihres Lebens verbringen wird.
Jenny schaut Petra an. Sie weiß noch, wie sie zusammen an der Fleischtheke gearbeitet haben, damals war Petra gar nicht so glücklich wie jetzt. Sie hatte schon immer ein irgendwie durchscheinendes Aussehen, schön und schimmernd wie Wasser. Ihre Wimpern sind hell und ihre Lippen blass. Als Mädchen wirkte sie manchmal fast kränklich, wenn sie ihre düsteren Phasen hatte. Aber mittlerweile sieht sie einfach nur interessant aus, auf eine hübsche Art.
»Schön«, sagt Jenny und deutet mit einem Nicken auf die Zeichnung.
Anja sieht die beiden entzückt an.
»Ich muss mal schnell ein Foto machen«, sagt sie. »Stellt euch mal zusammen.«
Sie stehen auf, und Jenny atmet auf, weil es so angenehm ist, die Beine mal wieder zu strecken.
Petra, Martina und Jenny stellen sich in den Gang zwischen die Sitze, und Jenny merkt, wie die beiden sie rechts und links unterhaken. Sie halten sie mit festem Griff, und sie macht es genauso und legt ihnen die Hände auf die Schultern. Sie verschmelzen zu einer Einheit, ihre Freunde und sie, wie ein zusammengesetzter Körper.
Anja dreht sich zu einem Mann Mitte dreißig um, der auf der anderen Seite des Ganges sitzt und in seinen Laptop schaut.
»Könnten Sie wohl kurz mal ein Foto von uns machen?«, bittet sie.
Der Mann nickt, steht auf und nimmt ihr Handy. Anja stellt sich neben Petra und legt den Arm um sie, und dann stehen sie da zu viert und lächeln in die Kamera, während der Mann mehrere Bilder schießt.
»Bitte.« Er gibt ihr das Handy zurück.
Dann ist er gleich wieder von seinem Computer absorbiert. Mit einigen Knopfdrücken schaut Anja die Bilder durch und kichert.
»Jenny, du siehst aus wie auf Drogen.«
Jenny schaut die Bilder an, die Anja ihr zeigt. Sie sieht sich selbst dastehen, mit halbgeschlossenen Augen und einem dummen Grinsen, zwischen einer lächelnden Anja, einer neutralen Petra und einer fröhlich lachenden Martina. Die drei sehen gesund und ausgeruht aus. Sie selbst hat einen grauen Teint, und ihr Haar müsste dringend mal wieder geschnitten werden. Es hängt ihr in langen Strähnen seitlich herunter, und der herausgewachsene Ansatz ist von einem hoffnungslos langweiligen Braun. Sie hätte noch was unternehmen sollen, bevor sie losfuhren. Ihre Wangen sehen eingefallen aus. Sie hat abgenommen, da hat Anja schon recht. Aber zumindest die Reste des stressbedingten Ausschlags auf den Armen sieht man nicht, denn sie hat ein langärmliges Oberteil an.
Anja löscht das Bild, offenbar hat es ihr selbst nicht gefallen. Sie schaut das nächste an. Das ist auf jeden Fall besser. Jenny schaut gerade in die Kamera, auch wenn sie etwas Unsicheres im Gesicht hat, eine Ängstlichkeit in den Augen.
»Das ist gut«, beschließt Martina, die ebenfalls aufs Display schaut.
»Dann stell ich das so ins Netz«, sagt Anja und drückt flink auf ihrem Handy herum.
Jenny kann erkennen, was sie schreibt: »Endlich unterwegs! Jetzt kommen wir, Skåne!«
Der Zug ist ein paar Minuten vor der planmäßigen Ankunftszeit in Malmö, um sechzehn Uhr fünfzig, und sie erwischen ganz bequem ihren Anschlusszug nach Ystad, einen lila Regionalzug.
Der neue Zug schießt aus dem Stadtgebiet heraus und hat es bald hinter sich gelassen, um sich durch weite Äcker und Felder zu pflügen. Durchs Fenster nimmt Jenny alles in sich auf, was sie sieht.
Hier herrscht eine besondere Atmosphäre, das spürt man sogar im Waggon. Alles ist irgendwie ruhiger als Stockholm, stiller und persönlicher. Die Leute plaudern in rücksichtsvoll gedämpftem Ton miteinander, statt in ihre Handys zu blöken. Eine Frau Mitte dreißig mit einem kleinen Mädchen geht mit ihrem Koffer an Jenny vorbei, um sich auf den Sitz vor ihr zu setzen. Jenny nickt ihr zu und erntet ein Lächeln. So ist das wohl hier in der Provinz: natürliche Freundlichkeit statt Misstrauen und Skepsis.
Sie muss daran denken, was in dem Artikel stand, den sie vor ein paar Tagen zufällig gelesen hat. Sie stand im Supermarkt an der Kasse, als ihr die Überschrift »Der Traum wurde Wirklichkeit« ins Auge fiel und das kleine Bild auf der Sonntagsbeilage einer Abendzeitung. Sie konnte nicht anders, sie musste aus der Schlange ausscheren und sich die Zeitung kaufen.
Ein großes Bild, das fast eine ganze Seite einnahm. Erst erkannte sie Niklas gar nicht wieder, er sah völlig anders aus. Zerzaustes, von der Sonne gebleichtes Haar, viel länger als sonst, Bartstoppeln und T-Shirt. Sie hatte ihn immer nur in ordentlicher Businesskleidung mit Hemd und Sakko gesehen.
Sie sah ihn jetzt noch vor ihrem geistigen Auge, wie er im Konferenzraum stand und irgendeine Skizze aufs Whiteboard warf, wie er an seinem Schreibtisch vorm Computer saß oder über den Flur ging. Oder auf der Schwelle zu ihrem Büro stand.
In dem Artikel hieß es, Niklas habe im Frühjahr genug von seiner Arbeit als IT-Experte gehabt und sei aus dem Hamsterrad ausgestiegen, um dauerhaft nach Kivik zu ziehen, wo er seit Juni ein kleines Bed & Breakfast mit seiner Freundin Therese betreibt. Außerdem sei er künstlerisch tätig.
Auf Fotos neben dem Text waren die Bilder zu sehen, die er bis jetzt gemalt hatte. Jenny musterte sie, konnte aber nicht erkennen, was sie darstellen sollten.
Sie schaut wieder aus dem Zugfenster. Die Landschaft ist rasch immer ländlicher und flacher geworden, die Felder zu beiden Seiten der Gleise sehen aus wie riesige Teppiche in verschiedenen braunen, gelben und grünen Farbtönen. Hie und da sieht man einen Bauernhof, ein paar vereinzelte Bäume, Autos, die über Landstraßen fahren, zu unterschiedlichen Zielen, die niemand außer ihnen kennt.
Draußen regnet es ausdauernd. Und immer noch bleibt ein Tropfen nach dem anderen erst an der Fensterscheibe hängen, um dann spurlos zu verschwinden. So ist es eben. Nach dem Alten kommt immer wieder etwas Neues.