Zsolnay E-Book
Rüdiger Görner
Georg Trakl
Dichter im Jahrzehnt der Extreme
Paul Zsolnay Verlag
ISBN 978-3-552-05711-1
Alle Rechte vorbehalten
© Paul Zsolnay Verlag Wien 2014
Umschlag: David Hauptmann, Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
Motiv: Max Esterle: »Karikatur Georg Trakl« © Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Innsbruck
Satz: Eva Kaltenbrunner-Dorfinger, Wien
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Datenkonvertierung E-Book:
Kreutzfeldt digital, Hamburg
für Oliver Kohler
Puis j’expliquai mes sophismes magiques avec l’hallucination des mots!
(Dann erklärte ich mir meine magischen Sophismen mit der Halluzination der Worte!)
Arthur Rimbaud, Délires (1872/73)
Die Gegenwart oktroyiert Formen. Diesen Bannkreis zu überschreiten und andere Formen zu gewinnen, ist das Schöpferische.
Hugo von Hofmannsthal, Buch der Freunde (1922)
Das Wort des Dichters macht die Dinge schwebend […] Das ist der wahre Rhythmus des Gedichts: daß es das Ding hinträgt zum Menschen, aber daß es zugleich das Ding wieder zurückschweben läßt zum Schöpfer.
Max Picard, Wort und Wortgeräusch (1963)
Das Böse und das Schöne sind die beiden Herausforderungen, die wir annehmen müssen.
François Cheng, Meditationen über die Schönheit (2008)
Vorworthafter Dreiklang
Tagebucheintrag – Zugänge zu Trakl – … und ein einleitendes de profundis
Finale Anfänge: Die Sammlung 1909
Lyrische Stimmungsumfelder – Die Sammlung 1909 oder Das Unverlorne meiner jungen Jahre
»Im Rausch begreifst du alles.«
Trakls toxisches Schaffen
Entgrenzungsversuche: Wien – Innsbruck – Venedig – Berlin oder Ist überall Salzburg?
Trakls Salzburg-Gedichte – Ein politischer Trakl?
Gedichte, 1913
Vorklärungen – Gedichte oder Romanzen mit Raben und Ratten
Poetische Farbwelten oder Schwierigkeiten mit dem (lyrischen) Ich
Heideggers Trakl-Denkwort und Farbpoetik bei Gottfried Keller und Oswald Spengler – Wie Trakls Sprache entsprechen? – Trakls »Naturtheater« und das Problem poetischer Farbgebung
Zum Tode dichten. Ein Selbstgemälde und »Begegnung mit Sterbenden«
Sebastian im Traum oder »Die Verwandlung des Bösen«
Grabmal für einen Untoten: Der Knabe Elis – Trakls Traumwelten: Kontexte – »Der Herbst des Einsamen« und »Siebengesang des Todes«
»An Mauern hin«. Lyrische Endzeitlichkeiten
Gebrochene Hymnen – Peter, dunkelster Sohn: Trakls »Dramenfragment« – Gebrochene Elegien, melancholische Gesten und andere Grenzgängereien – »Offenbarung und Untergang« oder Die Rückkehr des Ichs
Nachleben im Ungeborenen
Das Ende oder Der Abspann zum Auftakt des Danach – Wenn das Nachleben beginnt – Kritische Stimmen und eine Nebenstimme – Der Parallelfall Friedrich C. Heinle – Ausklänge – Im Ungeborenen
Anhang
Anmerkungen – Literatur – Bildnachweis – Dank
Abends in Christoph Starks Trakl-Film Tabu – Es ist die Seele ein Fremdes auf Erden; habe mich dann in dieser lauen Juni-Nacht bis zum Judenplatz treiben lassen, wo ich in einem fast leeren Schanigarten diese Zeilen notiere.
Es regnete viel in diesem Film; es goss in Strömen. Entsprechend tropfnass sind die strähnigen Haare Georgs (Lars Eidinger) und Gretes (Peri Baumeister). Der Film hätte G&G heißen sollen, handelt er doch von Geschwistern, die von der Ausweglosigkeit ihrer Liebe zueinander vergewaltigt werden. Die Hauptrolle im Film hat der Inzest übernommen – umflort von farbgesättigten Bildern.
Aus dem Drogenrausch der Geschwister entsteht ein filmischer Bilderrausch zwischen Bürgersalon und Gosse, bedrückenden Stadtszenen und scheinbar befreiender Natur. Ich denke unwillkürlich an Jane Campions Film über John Keats Bright Star (2009): Gezeigt wird darin das Dichten als wahnhafter Leidensprozess. In Tabu korrigiert die Schwester die Manuskripte des Bruders. Im Keats-Film dagegen haben sich die Verse des Dichters bereits in einen Bereich jenseits aller Korrektur begeben.
Überhaupt ist mittlerweile das Schreiben zu einem Filmthema geworden. Die Kamera konzentriert sich auf Feder und Tintenklecks sowie den schwarzen Schreibfinger im Film Becoming Jane (2007), in dem Anne Hathaway die beständig schreibende Jane Austen spielt, oder in Shakespeare in Love (1998), in dem Joseph Fiennes als William die Feder stets in Bereitschaft hält, wenn ein gewisser Blick Worte auf dem Papier auslöst.
Lars Eidinger gibt einen Trakl, der phasenweise fieberhaft schreibt und streicht, als jage ihn die Sorge, bestimmte Worte nicht aufs Papier werfen zu können, auch wenn er ansonsten erstaunlich wenig Angst zeigt; er wirkt, wenngleich zuweilen am Rande von Gewaltausbrüchen, immer im Vollbesitz seiner Selbstkontrolle. Vergisst man, dass Eidinger Trakl sein soll, dann überzeugt er. Anders Peri Baumeister als Grete; sie ist das Wunder einer Verkörperung, gerade weil man von der authentischen Grete (aber was ist das schon!) zu wenig weiß. Ihr genialisches Klavierspiel sieht sich nur noch übertroffen durch die kurzen Hörproben von ihrer eigenen Musik, die an Skrjabin erinnert. Ja, sie ist, was sie sein soll: unwiderstehlich. Unglaubwürdig wirkt sie nur an der Stelle im Film, wo sie ihrer hartherzigen Mutter vorwirft, nicht schon viel früher gegen die inzestuöse Beziehung zwischen ihr und Georg, von der sie gewusst habe, eingeschritten zu sein.
Die Bilder bleiben, ihr Sinn verflüchtigt sich. Über dem Schanigarten setzt Nieselregen ein. Er wird nicht ausreichen, das Haar tropfnass werden zu lassen.
Wiederholt spielen sich einige Filmszenen des gestrigen Abends in mir ab. In einem hatte der Film recht: Trakl lebte nur, wenn er schrieb. Und er schrieb nur, wenn er Gedichte verfasste. Ansonsten schien er zu vegetieren, sich treiben zu lassen oder ins Wahllose getrieben zu sein.
Ganz in der Nähe: Freuds Berggasse, wo Totem und Tabu entstand und der Satz: »Das Tabu heißt uns einerseits heilig, geweiht, anderseits: unheimlich gefährlich, verboten, unrein.«1 Erschienen 1913. In jenem Jahr war Trakl zwei-, dreimal in Wien, hatte Umgang mit Karl Kraus, Adolf Loos, Peter Altenberg und Oskar Kokoschka. Und in jenem Gedicht, dem der Band seinen Titel entlehnte, »Es ist die Seele ein Fremdes auf Erden«, rief er zweimal aus: »Reinheit! Reinheit! Wo sind die furchtbaren Pfade des Todes, / Des grauen steinernen Schweigens, die Felsen der Nacht / Und die friedlosen Schatten? Strahlender Sonnenabgrund.«2 Da sind sie, die extremen Gegensätze, die nur eine Vermittlung kennen: den Klang, den Rhythmus, der auch dann magisch bleibt, wenn er, wie hier, gebrochen wird durch Ausrufe und Fragen, die im Ton an Hölderlin erinnern – nicht an den Analytiker Freud.
Man kennt die lustvollen Tabubrecher in der Literatur um 1900 von Frank Wedekind bis Heinrich Mann, Arthur Schnitzler, Oskar Kokoschka, Egon Schiele und in der Musik die »Zwölftöner«.3 Und Trakl? Brach er mit Tabus? Oder spielte er mit ihnen oder sie mit ihm – Katz und Maus? Das Ringen um Reinheit, die Ahnung des Heiligen – beides ist so gegenwärtig in seinen Gedichten wie der strahlende oder in Dunkelheit versinkende Abgrund, die Gosse, die Verelendung der Seele.
Trakl in der Berggasse – wie hätte er sich verhalten, wäre er Freuds Patient geworden? An analysebedürftigen Träumen hatte es ihm ja nicht gemangelt; zumindest seinen Gedichten nicht. Vielleicht hätte er einfach stumm auf der Couch gelegen und Freud dann und wann ein Gedicht ins Schweigen gereicht. Vielleicht …
Ein knappes Jahrzehnt lyrischer Produktivität, ein Jahrzehnt voller Extreme in Kultur und Politik, im Gesellschaftlichen und Ökonomischen: Historismus wie hier im Hotel Regina contra Sezession am anderen Ende der Ringstraße, die Zeitverhältnisse verschleiernde Neoromantik contra Analyse der modernen Psychosen. Trakl weilt in Salzburg, die Auflösung der Eisenhandlung seines verstorbenen Vaters steht an, als in Wien am letzten März-Tag des Jahres 1913 Arnold Schönberg im Großen Saal des Musikvereins seine Kammersinfonie dirigiert, etwas von Anton von Webern und Alban Bergs Lieder mit Orchester nach Ansichtskartentexten von Peter Altenberg: Das »Skandalkonzert« nimmt seinen Lauf, das ganz Wien erregt und Oscar Straus, den Operettennebenkönig, solchermaßen, dass er Schönberg, den Präsidenten des Akademischen Verbandes für Literatur und Musik, dem auch Trakl als Student angehört hatte, auf offener Szene ohrfeigt, dem dann wiederum Trakls Freund, Erhard Buschbeck, eine Maulschelle verabreichte.
Was hat Trakl darüber von Freund Buschbeck erfahren? Hat es ihn bekümmert, entsetzt? Sprach man noch davon, als er im Juli jenes Jahres wieder nach Wien kommt, währenddessen Buschbeck in Salzburg Trakls Schwester Grete affärenhaft nahe kommt? Wie bezeichnend wenig weiß man von diesem verfehlten Leben Trakls; einiges mehr freilich von dem abgrundtief melancholischen, geglückten Werk.
Immer der Salzach entlang, auch in Innsbruck, noch in Wien, selbst in Berlin, zuletzt gar in Krakau im ersten Kriegsherbst, immer entlang diesem milchigen Grün, in das er blutige Kloaken münden sah, diese schaumgekrönten Wasserwirbel um Kalksteine, die Totenschädeln gleichen können. Wen wundert, von ihm, Georg Trakl, ein Gedicht dieses Titels (»Entlang«: »Astern von dunklen Zäunen / Bring dem weißen Kind«) zu finden?
Hat er zuletzt den Hohen Markt, den Wáwel gesehen, den Krönungshügel in Krakau? Hat er ihn als einen reduzierten Mönchs- oder Kapuzinerberg wahrgenommen oder alle Berge als Golgatha? Zuweilen sehr unsicher, was er mit seinem Leben anfangen sollte, bewarb er sich für den Kolonialdienst auf Borneo; nach Albanien wollte er, aber am Ende blieb es bei dem, was er als Schüler getan hatte: Damals hatte er sich die Welt, Briefmarken sammelnd, erschlossen.
Immer war Salzburg, die Hölle des Schönen, wo noch die schärfste Dissonanz es sich erlauben kann, Wohlklang zu simulieren. Immer hörte er es, das schweigende Singen der Putten, die Stimmen der Steine. Und Trakl führte, dichtend, Satan in Versuchung, indem er die Sünde heiligte im Gedicht. Als Protestant gab es für ihn keine Beichte; ausgesetzt blieb er in den Abgründen dessen, was ihm selbst sündhaft vorkam. Aber es gab das Wort, das alles zu leisten hatte und unter seiner Hand nahezu alles leistete. Der Wortschatz war sein einziger wirklicher Besitz. Er blieb überschaubar und zeugt doch von wirklichem Reichtum. Dieser bestand aus sprachlichen Kondensaten, sorgfältig geschliffen, aber auch aus Auflösungen, Mischungsverhältnissen, vokalischen Farbstoffen, Traumwucherungen. Trieb er Unzucht mit der Phantasie?
Und Trakl sah wieder Zäune. Im Traum und hier im Geschäft des Vaters, reihenweise Zäune aus Metall, von unterschiedlicher Maschendichte, geschichtet, gut ein Klafter tief, unübersteigbar, und im kleinen Georg warfen sie vermutlich die Frage auf, wer denn wohl so viele Zäune brauche. Hatte nicht schon jeder Vor- oder Hintergarten, der Trakl’sche zum Beispiel, wo er mit den Geschwistern spielte, oft auch allein oder nur mit Schwester Grete, Zäune genug? Zäune, über die er später – im Gedicht – Sonnenblumen sich neigen sehen wird; Zäune, die er entlangging, die sich aber bald zu unübersteigbaren Mauern verdichten sollten.
Bis auf die letzten Jahre vor seinem Tod gingen die Geschäfte des Vaters gut; seinen Laufburschen und Gesellen gabe er diskret Anweisungen, anscheinend ohne ein lautes Wort. Da ging es bei den Handwerkern der Stadt anders zu. Ohrfeigen schallten, die Meister fauchten die Lehrlinge an, fluchten. Ihr père, Maître Trakèl, erklärte die elsässische Gouvernante, sei eben ein Geschäfts- und Ehrenmann, ein entrepreneur. Oui, vraiement.
So könnte eine Annäherung an Georg Trakl beginnen oder vielleicht mit einem fiktiven Brief an die Mutter, die unnahbare besessene Sammlerin von Antiquitäten, die mehr und mehr Zimmer in der großzügig bemessenen, für Altstadtverhältnisse ausgesprochen lichten Wohnung für sich und ihre Sammlungen beanspruchte. Mutter, warum leidest du an solcher Sammelwut? Warum redest du mit deinen Dingen, wir hören es oft durch die verschlossenen Türen zu deiner Kemenate, aber kaum mit uns Kindern?
Man könnte sie nicht die Traklin nennen, das wäre zu familiär; dafür wirkte sie zu unnahbar. Sie war es gewohnt, mit Vous angeredet zu werden. Sie war Madame La mère, was Georg mit Meer verwechselt haben dürfte, nicht aber mit mehr, denn er spürte wohl bald, dass mehr von ihr nicht zu erwarten war.
Hatte er sie zunächst gefürchtet? Bemühte er sich, ihr zu gefallen? Sehnte er sich nach ihrem Lob? Wann begann er sie zu hassen? Musste er es sich verbieten, ihr gegenüber Mordgelüste aufkommen zu lassen? Das wäre der Stoff gewesen für einen lebenslangen Brief. Auch ihn versagte er sich. Stattdessen tauchte die Mutter wiederholt in Gedichten auf, namenlos, ohne Gesichtszüge, meist nur mit einem weißen, ans Gespenstische grenzenden Antlitz.
Trakl als Autobiograf – wäre das vorstellbar? Hätte er wie Walt Whitman einen »Song of Myself« verfassen können, von Jorge Luis Borges übrigens die vollkommenste Fiktion genannt?4 Schwerlich – transformierte sich doch in ihm jede Erinnerung – ob an Schönes oder Grausiges, an Idyllisches oder Traumatisches – in Bilder, die er in ihr poetisches Eigenleben entließ. Trakl war der Anti-Erzähler schlechthin. Im Grunde bedürfte es einer inneren Biografie dieses Dichters, einer Seelengeschichte im Sinne Heinrich von Kleists, eines in Prosa aufgelösten Psychogramms, um der inneren Dramatik dieses nach außen gesehen missglückten, gescheiterten Lebens wenigstens annähernd gerecht zu werden.
Es war ein Leben und Schaffen wie im Zeitraffer, dabei immer wieder von Phasen lähmender Trägheit und Unentschlossenheit durchsetzt. Ruhelos schien er, aber nicht wirklich willens, aufzubrechen ins Weite, Offene. Am weitesten waren seine Vorfahren gewandert.5 In ihm jedoch wurde alles Reisen stationär.
Seltsam ausgeruht aber klingen seine Gedichte; man merkt nur sehr wenigen von ihnen an, dass sie dem »Zeitalter der Nervosität« (Joachim Radkau) entstammen. Der Klang dieser Gedichte hypnotisiert – und das bei so auffallend wenig Modulationen.
Rätselhaft lautet das Wort, das einem in den Sinn kommt, wenn man Georg Trakl bedenkt, und das heißt, sein vom dichterischen Werk rasch aufgebrauchtes Leben, das sich mit diesem Namen verbindet. »Wer mag er gewesen sein?«, fragte sich Rainer Maria Rilke, nachdem er die Dichtung Sebastian im Traum des ihm bis dahin unbekannten Sprachkünstlers aus Salzburg gelesen hatte.6 Die Frage beließ Rilke in Klammern, als sei sie zu unstatthaft, zu zudringlich, zu ablenkend vom Eigentlichen dieser Dichtung. Rilkes Klammer um diese Frage entspricht einem Fragezeichen, das hinter jedem biografischen Zugang zu Trakl stehen muss. Sie bekundet eine Befangenheit gegenüber biografisch orientierten Textdeutungen, die uns gleichfalls gut ansteht, auch wenn wir inzwischen erheblich mehr über die Lebensumstände dieses mit siebenundzwanzig Jahren im Militärlazarett zu Krakau in den frühen Morgenstunden des 3. November 1914 an einer Überdosis Rauschgift verstorbenen Dichters und k.u.k. Sanitätsleutnants zu wissen vermeinen.
Das schreibt sich so hin, dieses und anderes Faktische über Georg Trakl, und erklärt doch so wenig über das Seltsame, Fremde und Befremdliche, das von ihm auf seine Zeitgenossen ausging. Noch weniger sagt es aus über das Faszinosum dieses schmalen Werks, das wie im Zeitraffer reifte und doch ein Charakteristikum seiner an Extremen überreichen Zeit so gar nicht spiegelt: die Geschwindigkeit, die Beschleunigung der Lebensverhältnisse, ihre rücksichtslose Technisierung. Letztere scheint er erst spät wahrgenommen zu haben – als Verhängnis, in den »wilden Orgeln des Wintersturms« (»Im Osten«), in Gestalt eines schwarzen Himmels »aus Metall« (»Winterdämmerung«) und als »tödliche Waffen« (»Grodek«). Das bedeutet jedoch nicht, Trakl habe in seiner sozialen Umwelt kein poetisches Material gesehen. Sie hat in seine Dichtungen Eingang gefunden, wie aufmerksame Lektüren längst gezeigt haben.7
Georg Trakl – bei diesem Namen steigen Bilder in uns auf, zeitgenössische Fotografien, poetische Sprachbilder vor allem, und doch passt er irgendwie nicht ins Bild der Zeit: ein verspäteter poète maudit vom Stamme Baudelaires, Rimbauds und Verlaines, mit denen er verwandter erscheint als mit seiner Familie. Doch ergeben auch diese Fotografien kein wirkliches Bild von Trakl. Sie zeigen einen aufsässig wirkenden, aber auch versonnen dreinblickenden Schüler, halb trotzig, halb verwundert in den Apparat schauend, keinesfalls kamerascheu, sondern sich diesem Medium stellend; der Blick wird entschlossener, das Profil hat etwas Eindrucksvolles, dann auch wieder Abweisendes; zuweilen treten geradezu brutale Züge hervor, die zu einem Gesicht zu gehören scheinen, das man eher auf einem Fahndungsblatt vermuten würde. Dann kennen wir Fotos von Trakl in Uniform – ob als Einjährig-Freiwilliger oder als Medikamentenakzessist. Zur Überraschung des Betrachters steht ihm die Uniform. Wir haben aber auch Aufnahmen vom entspannt wirkenden Trakl bei den Buschbecks mit dem Anflug eines Lächelns, das sich auf einem Foto mit Paula von Ficker sogar noch verstärkt, wobei er sich bei ihr einhakt und nicht umgekehrt.8 Zeigen diese Bilder wirklich ein und denselben Georg Trakl? Blickt ein vermeintlicher Autist so konzentriert, ja herausfordernd in die Kamera? Oder waren diese Porträtfotos Masken, hinter denen sich der Alkohol- und Drogenabhängige erfolgreich zu verbergen wusste?
Trakls letzte Lektüre bestand aus Gedichten des schlesischen Barockdichters Johann Christian Günther, der gleichfalls mit siebenundzwanzig Jahren gestorben war. Überliefert ist, dass er Ludwig von Ficker bei dessen Besuch im Lazarett Günthers »Bußgedanken« vorgelesen hat: »Mein Gott! Wo ist denn schon der Lenz von meinen Jahren / So still, so unvermerkt, so zeitig hingefahren?« Das Gedicht schließt mit dem Vers: »Oft ist ein guter Tod der beste Lebenslauf.«9
Ein »guter Tod« war Trakl nicht beschieden. Und der »Lebenslauf«? Verstehen wir ihn als einen Getriebenen, der wahllos seinem Schicksal ausgeliefert war? Oder halten wir es mit Jean-Paul Sartre, der in seiner Baudelaire-Studie (1946) die radikale Verantwortlichkeit des Einzelnen für sein Leben betonte und behauptete, dieser Dichter habe sein Leiden gewählt.10 Traf dies auch für Trakl zu? Oder war sein Lebens- und Werkrätsel ein im Sinne Hölderlins »reinentsprungnes«?
Trakl fällt aus nahezu allen Rahmen; es ist schwer, ihn einzuordnen. War er unzeitgemäßer Barockdichter oder impressionistischer Expressionist? Bewegte er sich auf das Surreale, Absurde zu? Oder bedarf es einer neuen Bezeichnung, um diese Dichtung zu charakterisieren, etwa magischen Lyrismus, der etwas von jenem suggestiven Zauber in sich hatte, den Baudelaire von der modernen Kunst verlangte, da sie zugleich Objekt und Subjekt, die Welt außerhalb des Künstlers und den Künstler selbst enthalten müsse?11
Von den Expressionisten unterschied sich Trakl vor allem in einer programmatischen Hinsicht: Er verfügte über kein Programm, schon gar nicht über eines für den »neuen Menschen«, was ihn auch vom Urgestein der österreichischen Moderne, Hermann Bahr, trennte. So ist es auch folgerichtig, dass Gottfried Benn in seiner Retrospektive auf die Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts, die er ein Jahr vor seinem Tod herausgab, Trakl zwar prominent platzierte, nämlich genau in der Mitte seiner Anthologie, aber in seiner poetologischen Einleitung nicht ausführlich würdigte.12
Sein Geburtsjahr teilte Trakl unter anderem mit Hans Arp, Georg Heym und Kurt Schwitters. Von Hugo Ball, Gottfried Benn, Albert Ehrenstein, Max Herrmann-Neisse und Armin T. Wegner trennte Trakl nur ein Lebensjahr. Das bedeutet, Trakl gehörte einer Generation an, die eine der radikalsten literarischen Avantgarden bilden sollte, die es in der deutschen Sprache gegeben hat. Nicht minder symbolisch bedeutsam ist, dass in Trakls Geburtsjahr 1887 Nietzsches Streitschrift Genealogie der Moral erschien; sie wurde gerade für diese Generation zu einer philosophischen Legitimierung der Subversion, des Untergrabens von bürgerlichen Normen und einer radikalen Infragestellung moralischer Kategorien. Im Namen Nietzsches betrieben sie die Umwertung aller dichtungssprachlichen Werte und arbeiteten der Revolte gegen den Konformismus zu.
Traf dies jedoch auf Trakl zu? Hatte er etwa »die Form« aufgegeben? Hatte er sich einem Sprachverständnis genähert, das selbst die Dada-Bewegung möglich machte? Oder war seine »Revolte« nicht eher ein verdecktes Phänomen gewesen? Verstehen wir ihn heute als Bürgerschreck von Salzburg, als enfant terrible der Wiener und vor allem Innsbrucker Literatenszene oder als Sprachmagier, der einer ganzen Generation, ja einer ganzen Kultur den Grabgesang dichtete?
Benn raunte: »Trakl wurde ein freiwilliges Opfer des Krieges, andere starben früh.«13 An diese Bemerkung knüpft er eine Spekulation, die einen jeden bewegt, der mit Frühverstorbenen Umgang pflegt: »Und wenn sie alt geworden wären? […] Ich bin sicher […], daß alle die echten Expressionisten, die jetzt also etwa meines Alters sind, dasselbe erlebt haben wie ich: daß gerade sie aus ihrer chaotischen Anlage und Vergangenheit heraus einer nicht jeder Generation erlebbaren Entwicklung von stärkstem innerem Zwang erlegen sind zu einer neuen Bindung und zu einem neuen geschichtlichen Sinn.«14 Liegt aber nicht gerade darin ein Hauptunterschied zu Trakl, eben weil er kein »echter Expressionist« war, dass man sich in seinem Fall alles vorstellen kann, nur nicht eine »neue Bindung« und einen »neuen geschichtlichen Sinn«, dem er sich hätte verpflichtet fühlen können? Benn spricht vom »triebhaften, gewalttätigen und rauschhaften Sein«, das in dieser Generation gelegen habe. Und gerade weil sie die »zersprengteste« war, habe sie doch »handwerkliches Ethos« gezeigt und die »Moral der Form«. Der Dionysos in ihnen habe sich schließlich »zu Füßen des klaren delphischen Gottes« zur Ruhe gelegt.15
Das »Triebhafte« und »Rauschhafte« bestimmte auch Trakl, gewiss, das »Gewalttätige« nur latent. »Zersprengt« war er im Gedicht freilich nicht, sondern äußerst konzentriert, Erfahrungen und Bilder kondensierend; der »Moral der Form« huldigte er durchaus und erarbeitete sich das Ethos des Poeten, des Wortkunsthandwerkers. Aber das Dionysische in ihm – hätte es sich je zur Ruhe gelegt und dann noch dem delphischen Gott Apollon zu Füßen? Das Weiterleben Trakls nach jenem 3. November 1914 besorgten andere für ihn. Das am Rande des Todes lebende Dichten ebenso wie das Dichten am sinnlich aufgeladenen, rauschhaften, dann wieder sterbensmüden Leben – das will sich in dieser kritischen Betrachtung vorrangig zur Sprache bringen.
Trakls spärliche Lebensspuren summieren sich zu einem Zeugnis verschiedener Intensitäten, die selbst dann als solche in Erscheinung treten, wenn er Unentschlossenheit an den Tag legte, scheinbar dröge dahinlebte oder an einem Wechselbad von Nervosität und Langeweile litt. Alles erlebte er intensiv, den Überdruss und Ekel (oft genug über sich selbst), die Erfahrung des Schönen im Hässlichen und des Widerwärtigen im Schönen, die religiöse Inbrunst und das blasphemische Experiment. Sinnlichkeit, Lust, Rausch und der Wille zur Askese, zum »Büßen« zwangen ihn wieder und wieder zu inneren Zerreißproben. Jäh umschlagende Launen im zwischenmenschlichen Verkehr sind von Freunden belegt16; schwieriger dagegen lässt sich zeigen, wie sich Launen in poetische Stimmungen verwandeln oder in diesen aufgehoben werden.
Trakl schien auf der Suche nach einem Ort, an dem er, der mit allen Sensorien des Schaffens überreich ausgestattete Mensch, existenzfähig sein konnte. Und er fand immer wieder zum Gedicht. Karl Heinz Bohrer spricht von der »franziskanischen Demut« Trakls vor den »Dingen, den Tieren, den Blumen des Herbstes«.17 Er plädierte für ein Überdenken des Prinzips Metapher am Beispiel seiner Verwendung durch Trakl, nämlich im Sinne einer »permanenten Verstellbarkeit der Metapher, die aufgehört hat, Metapher zu sein«.18 Wir tun weiterhin gut daran, die viel bemühten und untersuchten »Farben« Trakls als Verfärbungen zu deuten, die eines akzentuieren wollen: die Intensität der Ding-Erfahrung, die sich gleichsam unter der Hand und den Augen verändern und steigern kann. Mit Bohrer verstehen wir Trakl als den ersten modernen unter den deutschsprachigen Poeten aus der »Schule« Arthur Rimbauds. Bohrers an Reinhold Grimms Untersuchungen angelehnter Befund anlässlich des fünfzigsten Todestages des Dichters (1964) bleibt bis heute unwidersprochen: »Diese radikale Neuerung der Metaphorik, das heißt ihre Verabsolutierung, ihre reine, alogische Bildlichkeit, irreale Farbgebung, diese zum artistischen Prinzip erhobene Alchimie des Worts ist Trakls Berührungsstelle mit Rimbaud« und dem französischen Symbolismus.19
Trotz stupender Französischkenntnisse dürfte Trakl vor allem über die 1907 im Insel Verlag erschienenen Übertragungen von Rimbauds Dichtungen durch K.L. Ammer20 wichtige Anregungen für sein eigenes Schaffen bezogen haben, auch durch Stefan Zweigs Essay über Verlaine (1905) und sein Vorwort zu den Rimbaud-Übertragungen. Trakl entdeckte damit einen Dichter für sich, der nach eigenem Bekunden in den Délires die »Farben der Vokale« erfand und der sich seine »magischen Sophismen« mit der »Halluzination der Worte« erklären konnte (»Puis j’expliquai mes sophismes magiques avec l’hallucination des mots!«).21 Er traf auf Rimbaud als einen Dichter, der die »Höllennächte« der Rauschgifte kannte, sie verfluchte und als Kritik (an) der Moderne verstand: »Warum eine moderne Welt, wenn solche Gifte erfunden werden?«22 Wenn es sie aber gibt, diese »Halluzination der Worte«, dann könnte sie im Falle Rimbauds und Trakls viel erklären23, etwa auch das, was Rimbaud in der Vorbemerkung zu seiner Prosadichtung Les Déserts de l’Amour über seinen lyrischen Protagonisten, einen »jeune homme«, berichtet: »Da er […] keine Frauen geliebt hatte, geschah es, daß seine Seele und sein Herz, all seine Kraft sich zu seltsamen und traurigen Irrtümern aufschwangen. Aus den folgenden Träumen – seinen Liebeserfahrungen –, die ihm in seinen Betten oder auf den Straßen kamen, […] lösen sich vielleicht einige sanfte religiöse Betrachtungen.«24 Wäre das nicht auf Trakl übertragbar? Staute sich in ihm der Mangel an Liebeserfahrungen und führte kompensatorisch zu imaginiertem Liebesvollzug in Gestalt der toxisch angereicherten und ausgelösten »Halluzinationen« seiner Wörter?25 Es ist eben im Falle Trakls so verführerisch, ihn auf die eine Aussage hin festzulegen, das eine Erlebnis oder Motiv, die eine Szene: das Sterben und der Tod in seinen Gedichten, der vermeintliche Inzest mit seiner Schwester Grete, das Wort: »[…] kein Gedicht kann Sühne sein für eine Schuld«.26
Dieser letzte Satz war ein Zusatz; er gehört zu der Abschiedsszene im Leben Georg Trakls schlechthin. Sie spielte am 24. August 1914. Mondhell war die Nacht, als der Medikamentenakzessist Georg Trakl ins Feld rückte, eine wippende rote Nelke an der Mütze, einen Viehwaggon auf dem Innsbrucker Hauptbahnhof besteigend. Seinem Freund und Förderer Ludwig von Ficker, dem Herausgeber der Innsbrucker Zeitschrift Der Brenner, Trakls wichtigstem Publikationsorgan in seinen beiden letzten Lebensjahren, gab er einen Zettel, auf dem zu lesen stand27: »Gefühl in den Augenblicken totenähnlichen Seins: Alle Menschen sind der Liebe wert: Erwachend fühlst du die Bitternis der Welt; darin ist alle deine ungelöste Schuld; dein Gedicht eine unvollkommene Sühne.« (HKA I, 463) These und Widerruf – das Gedicht als »unvollkommene Sühne« für (persönliche) Schuld, aber: Kein Gedicht kann Schuld zureichend sühnen.
Seither rätselt die Nachwelt, welche »Schuld« Trakl bedrückte: Die Dankesschuld gegenüber Ludwig von Ficker? Die Schuld, die Trakl gegenüber seiner Schwester empfand – dafür dass er sie zu Drogen verführte und vielleicht zu mehr? Die Schuld, die mit allem Dasein verbunden ist, also eine christlich konnotierte Vorstellung von Schuld? Gar die Schuld oder Mitschuld, in die er an der Front unweigerlich verstrickt sein würde?
Schuld und Sühne, für den Dostojewski-Bewunderer Trakl war dieses Begriffspaar stets auch eine literarische Qualität, auch wenn der Ausdruck »Gefühl in den Augenblicken totenähnlichen Seins« schwer wiegt auf der Waage der Bedeutungen. Es spricht sich darin ein de profundis von kaum erträglicher Intensität aus: Das Sein und das Nichts begegnen einander als »ähnliche«, also vergleichbare Größen. Das Sein kann dem Tod gleichen und der Tod dem Sein. Daraus entsteht aber etwas, ein augenblickhaftes Empfinden, eine Gefühlseinsicht in das Vorhandensein universeller Liebe am Rande der Weltkatastrophe und der Massentötung. Sie stößt einem auf als »Bitternis«-Konzentrat, das wiederum in die intensivste Form des sprachkünstlerischen Ausdrucks umschlägt, in das Gedicht. Dessen »Sühne« erweist sich vor allem deswegen als »unvollkommen«, weil es mit notwendig unzulänglichen Wörtern operieren muss.
Doch auch das ist Spekulation. Denn über eines klagte Trakl nie oder allenfalls verdeckt: über das Unzureichende der Sprache. Sprachkritik, wie sie im Gefolge von Hofmannsthals Chandos-Brief in der Wiener Moderne Mode wurde, findet in Trakls Werk nicht statt. Dieser Befund ist so grundlegend für das Besondere des Trakl’schen Gedichts, dass er gesondert zu berücksichtigen sein wird. Gleiches gilt für den sparsamen Umgang des Dichters mit dem Ich in Gedichten, der vor dem Hintergrund einer seit Nietzsche zu beobachtenden Dissoziierung des Subjekts in der Moderne zu deuten wäre.
Theodor W. Adornos bekanntes Diktum über den Wahrheitsgehalt der Kunst abwandelnd ließe sich mit Blick auf Trakls Werk sagen, es habe eine bewusstlose Daseinsbeschreibung in Traumbildern geleistet, voll abstrahierender Konkretionen, aber auch poetischer Verkleidungen der sozialen Nacktheit dieses Daseins. Trakls Dichten exponierte die Metapher, setzte sie frei, beließ sie jedoch in unaufdringlichen, aber eingängigen Sprachformen. Wie dies geschah und unter welchen lebensgeschichtlichen Voraussetzungen, von denen sich Trakl zunehmend verzweifelt abzustoßen bemühte, davon versucht dieses Buch Zeugnis abzulegen.
Zu einem de profundis gehört auch ein Rechenschaftsbericht, womit hier kein sogenannter Forschungsüberblick gemeint sein kann.28 Doch wäre es unredlich, sich mit der Formulierung »die Literatur über Trakl ist inzwischen unüberschaubar« zu begnügen, was sie einerseits fraglos ist, andererseits aber fehlt es an wirklich akzentsetzenden Arbeiten jüngeren Datums.
Hier kann es gleichfalls nicht darum gehen, die Editionsgeschichte der Werke Trakls noch einmal zu erzählen; sie reicht von der ersten Gesamtausgabe, die Karl Röck bereits 1919 vorgelegt hatte und die bis zur Neuauflage ihrer 1938 erschienenen Neuausgabe im Jahre 1948 in der Publizistik schlichtweg ignoriert wurde29, über die Gesammelten Werke, die Wolfgang Schneditz 1948 bis 1951 herausbrachte, zur historisch-kritischen Ausgabe, die Walther Killy und Hans Szklenar 1969 vorgelegt hatten (HKA), bis zum Abschluss der von Eberhard Sauermann und Hermann Zwerschina betreuten Innsbrucker Trakl-Ausgabe30, die das Prozessuale im Entstehen der Dichtungen Trakls erstmals umfassend erschließen und dokumentieren konnte.31
Neben den bedeutenden, weil persönlichen Erinnerungszeugnissen (quasi) poetischer, essayistischer oder diaristischer Art, namentlich von Erhard Buschbeck, Ludwig von Ficker und Karl Röck, steht Franz Fühmanns grosser Essay Vor Feuerschlünden – Erfahrung mit Georg Trakls Gedicht.32 Der autobiografische Kern dieses Meisterstücks besteht in dem Umstand, dass Fühmanns Vater, ein Apotheker, im Frühherbst 1914 im Bereich der Festung Przemyśl in derselben Sanitätskolonne gedient hatte, der auch Georg Trakl angehörte, den sie »Schorschl« nannten und zu foppen pflegten. Denn man nahm ihn unter Kameraden als einen mit »Spinnerei und einem Sparren« Geschlagenen wahr. Eben diese Einlassung des Vaters nährte und steigerte das Interesse des jungen Franz Fühmann an diesem Dichter, dem er von seinem eigenen poetischen Ansatz her vergleichsweise fernstand. Fühmann ließ größte Vorsicht walten, wenn es um die biografische Lesart der Gedichte ging – gewöhnlich die verhängnisvollste Neigung der Trakl-Deutungen –, und kann gerade deswegen Vorbildlichkeit beanspruchen. Doch überzieht Fühmann zuweilen die autobiografischen Begründungen für seine Trakl-Lektüre.
Die Suggestivität der Dichtungen Trakls verführt zu poetischen Reaktionen. Das belegt bereits Erhard Buschbecks Prosadichtung Georg Trakl. Ein Requiem (1917) und setzte sich bei Albert Ehrensteins Trakl-Gedicht und Selbstkommentar fort33, worauf später noch näher einzugehen sein wird, und blieb noch in Werner Riemerschmids poetischem Versuch Trakl (1947) präsent. Den herausragenden biografischen Arbeiten von Otto Basil und Hans Weichselbaum sind Studien über Trakl an die Seite zu stellen, die unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzen und mit Egon Viettas Essay über Trakl einen geradezu furiosen Auftakt erlebten. Vietta betonte die existenzielle Disposition dieser Lyrik und wartete mit einer fundamentalen, damals durchaus grundstürzenden Einsicht über diesen Dichter auf: »[…] wir haben es mit einem Dichter zu tun, der mit der Bibel wesenseins lebt, der die Welt erleidet und nicht verändern will.«34 Damit warnte Vietta vor einer voreiligen Einverleibung in den Weltenumsturz-Pathos des Expressionismus und betonte die Eigenwertigkeit dieser Dichtung, die den Tod als eine »existentielle Kraft« in ihr Zentrum genommen hatte.35 Der nächste wichtige Impuls für den Diskurs über Trakl kam von Martin Heideggers Aufsatz »Die Sprache im Gedicht. Eine Erörterung von Georg Trakls Gedicht« (1953). Diese sprachpoetische Erörterung fragt nach dem »Ort« von Trakls Gedicht, wobei auffällt, dass sowohl Heidegger wie später Fühmann den Kollektivplural »Gedicht«, Trakls Gesamtwerk meinend, bevorzugen. Das Gedicht wird zur Sprachexistenzialie; sein Leitmotiv ist bei Heidegger (wie im eingangs erwähnten Film von Christoph Stark) die Zeile »Es ist die Seele ein Fremdes auf Erden«. Aufschlussreich, wie Heidegger auf den »Ort« dieses Gedichts hinweist: »Eine der Dichtungen sagt […].«36 Genaueres bietet er bewusst nicht. Heidegger legt nahe, eine einzelne Zeile könne für das ganze Werk stehen. Wichtig ist jedoch vor allem der »Ort« der Erstpublikation: eine Publikumszeitschrift – zwar gehobenen Ranges – aber eben kein Fachorgan, nämlich die Zeitschrift für europäisches Denken, Hans Paeschkes Merkur, damals noch entschieden der Lyrik zugetan und Gottfried Benn bis zuletzt ergeben.37 Den in seiner Breitenwirkung nicht zu überschätzenden Vorstoß in Richtung Trakl hatte Heidegger jedoch bereits 1950 unternommen, und zwar in Gestalt seines ursprünglich als Vortrag konzipierten Textes »Die Sprache«, einer minutiösen, von Hamanns religiös motiviertem Sprachdenken sich herleitenden philosophischen Paraphrase von Trakls motivisch vielschichtigem, aber moralisch unverfänglichem Gedicht »Ein Winterabend«. Es handelt sich um jenen Text Heideggers, in dem er die folgenreichen Thesen aufstellt: »Im Gesprochenen des Gedichtes west das Sprechen […] Die Sprache spricht als das Geläut der Stille […] Der Mensch entspricht nur, indem er der Sprache entspricht.«38 Heideggers philosophisches Interpretieren entwickelt am Beispiel dieses Trakl-Gedichts eine Art Transhermeneutik, die er mit einer schlichten Lesung des Gedichts umrahmt; sie steht am Anfang und am Ende des Textes, als habe er Robert Schumanns Prinzip umsetzen wollen, der, gefragt, was eines seiner Musikstücke bedeute, es als Antwort einfach noch einmal gespielt hat.
Ludwig von Ficker scheint Heideggers existenzial-etymologisches Verfahren auch dadurch sanktioniert zu haben, dass er ein Jahr nach Erscheinen von Unterwegs zur Sprache mit den einleitenden Aufsätzen zu Trakl ihm die Handschrift der zweiten (vom Dichter freilich verworfenen, heute aber bevorzugten) Fassung des Gedichts »Abendspiegel« mit der Überschrift »Afra« zum Geschenk gemacht hat.39 Es ist das Sakral-Profane, das dieses Sonett ins Sprachbild hebt (»Gebet und Amen / Verdunkeln still die abendliche Kühle […]«, WEB, 71), und einmal jenen »Schmerz«, den Heidegger als den »Unter-Schied selber« bezeichnet hatte, den »Riß« und seine Verfugung im Dasein.40
Für den Durchbruch zu einer Trakls Sprache und Zeit wirkungsvoll kontextualisierenden Deutung dieses Werks steht Walter Muschgs grundlegende Studie »Von Trakl zu Brecht« (1961).41 Er sah Trakl als eine Art Franz Marc der Dichter, der an deutlichen Farben und nicht zersprengten Formen festgehalten habe, die Explosion der Syntax im Expressionismus genauso wenig sich zu eigen machend wie die Manifest-Manie. Muschg untersucht Trakls Sprache als ein Etwas, das getragen gewesen sei von einer »Melodie, die dort anklingt, wo etwas vollkommen Schönes zerbricht und der Schmerz darüber zur Musik wird«. Wichtig jedoch auch seine Einschränkung: »Die Grenze zwischen traumhafter Entrückung und bewußter ›Wortalchimie‹ (Rimbaud) ist aber auch bei ihm schwer zu ziehen.«42
In der Folgezeit interessierte die Forschung zum einen vor allem eine systematische Analyse der Wortfarben, die Trakl gebrauchte, ihre metaphorische oder allegorische Bedeutung sowie das sich daraus ergebende Wechselverhältnis zwischen Trakls Dichtungen und der bildenden Kunst seiner Zeit43; zum andern beanspruchte die sexuelle Motivik in seinen Dichtungen die dabei auch psychopoetologisch operierende Forschung.44 Ein weiteres Forschungsproblem und Deutungsphänomen ist die Frage (gewesen), inwiefern sich Trakls Dichtungen entwickelt oder entfaltet haben. Lag die Betonung zunächst auf der Entfaltung, so hat sich – vor allem durch die Existenz der Innsbrucker Ausgabe – das Motiv der Entwicklung unwiderlegbar durchgesetzt.45 Und doch bleibt das Charakteristikum motivischer Wiederholungen bei Trakl wesentlich, das sich bloßer chronologischer Zuschreibungen entzieht, beziehungsweise diese relativiert. Das Braun, der Sterbende, das Herbstgold, das Grauen – sie sind von einer unbedingten Gegenwärtigkeit in diesem Werk, sodass sich die Frage der Entwicklung dieser Motive auf die Untersuchung ihrer syntaktischen oder metaphorischen Realisierung sowie die semantischen Varianten verlagert. Was dazu nachfolgend gesagt werden kann, geschieht eingedenk einer Bemerkung von Max Picard, der Trakls Sprache zu Recht vom bloßen »Wortgeräusch« einer Sprache der Unwesentlichkeiten abgegrenzt hatte. Für Trakls Sprache gilt, dass sie Worte zu gewichten verstand; ihre »Seinshaftigkeit« und Wesentlichkeit stellt ein Drittes dar zwischen »Mensch und Ding«.46
Dieser Gewichtung wurden in der Art des Umgangs mit Trakls Werk in der zeitgenössischen Moderne neue Akzente zuteil. Sie reichen von der Trakl-begeisterten, subversiv sich verstehenden Wiener »informellen Gruppe«47 (das »subkulturelle Wien« habe Henry Miller mit Rum kombiniert, dafür aber Georg Trakl mit »Jasmintee«48), der leidenschaftlichen Auseinandersetzung des frühen Thomas Bernhard mit Trakl bis zur elegisch nachtonalen »Passion nach Texten von Georg Trakl für Sopran, Chor und Kammerensemble« Verfall (DWV 3) von Johanna Doderer, eine der staunenswertesten Trakl-Kompositionen der letzten Zeit. Doderers Kompositionsweise könnte man geradezu als auf Trakl abgestimmt bezeichnen, hält doch auch die an nachtonalen musikalischen Gestaltungsprinzipien fest, also an überkommenen Klangstrukturen, wie Trakl an nachklassisch-symbolistischen Sprachformen wie Reim und Wortklang.
Deutlich anders, aber nicht minder »subversiv« oder avantgardistisch arbeitete Thomas Kling mit Trakl, etwa in seinem Gedicht »Das Bildbeil« aus dem Zyklus »Der Erste Weltkrieg«. Kling erklärt Trakl zum »heiligen Georg« der Avantgarde, wagt in mehreren Anläufen Identifikationsversuche seines lyrischen Ichs mit Trakl, und das unter folgender Voraussetzung: Es gelte, »das angegriffene ohr« das Hören – also auch das auf Trakls Gedichte – erst noch »erschreiben« zu lassen.49 Trakl ist in diesem Gedicht »der bruder«, wobei die Bejahung dieses brüderlichen Verhältnisses einen notwendig negativen Ausgang nimmt: »ich sacke durch, Georg, wie du.«50 Im Schnee der Zeit werden das Ich und sein Vorbild haltlos. Auf Trakl und Rilkes »Erste Duineser Elegie« anspielend befindet das Gedicht Klings: »es ist ein gerangel / in den engelordnungen, ein frostverschärftes rangeln.« Darauf die Anspielung auf die schwesterliche Schneebraut: »kälte fährt ins zahnfleisch, / macht die zungengeschwister taub. zwei mundbarren, weiß. schsch, es ist unser!« Poetisch diskreter ist selten über Trakls Verhältnis zu seiner Schwester Grete gehandelt worden.
Und wieder bleibt das bei Trakl besonders beklemmende Gefühl durch solcherlei Bemerkungen, die einerseits Informationen liefern, um die Art seiner Wirkung zu verstehen, andererseits nur ausschnitthaft sein können, am eigentlichen Ziel, dem möglichst umgreifenden Erfassen dieses Werks und einiger Konturen seines Lebens, vorbeizugehen. Denn eines kennzeichnet diese Dichtungen besonders: Ihre oft überwältigende, suggestive Präsenz entzieht sich einer rein hermeneutischen, geschweige verbindlichen Deutung. Gerade darin aber liegt ihr Reichtum begründet. Das Besondere an der Suggestivität dieser poetischen Präsenz ist eigentlicher Gegenstand dieses Buches, mittelbar aber auch das Problem des angemessenen Sprechens über Poesie. Denn das bloße Herbuchstabieren von Reimschemata und rhythmischen Strukturen erfasst ein Gedicht ebenso wenig wie eine musikwissenschaftliche Strukturanalyse die Wanderersonate Schuberts. Womit wir Trakls Werk näherkommen? Wenn wir seine Dichtungen als genau komponierte Gefühlsräume begehen, das Gespür dieser Gedichte für den Zustand der Welt aufspüren und uns selbst neu orten in der sensorischen Aura dieser Gedichte.51
Und das Biografische? Es ist zumindest denkbar, dass über das Verhältnis der vermeintlich inzestuösen Geschwister mit einer Wendung in Klings »Bildbeil«-Gedicht mehr gesagt ist als mit einem Dutzend weiterer Spekulationen: »unser durch den schneesturm waten flockenstemmen, schneeschulter meiner / schwester«.52