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Josef Müller

Ziemlich bester Schurke

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Josef Müller

Ziemlich bester
Schurke

Wie ich immer reicher wurde

www.fontis-verlag.com

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© 2013 by `fontis - Brunnen Basel

Redaktion: Bernhard Meuser

Umschlag: Reinhold Banner, Grafik Designer, Augsburg
Foto Umschlag vorne und Foto Klappe: Daniel Biskup
Foto Umschlag hinten: Josef Müller
Fotos Innenteil: © Josef Müller, außer die letzten 5 Bildseiten: Daniel Biskup
E-Book: mbassador GmbH, Luzern

eISBN: 978-3-03848-588-9

Inhalt

Kein Vorwort

1.Es stimmt, ich war ein Schurke

2.Auf der Überholspur

3.Roll on!

4.Gnadenlos Geld machen!

5.Die Logik der Gier

6.Der Sündenfall

7.Gangstergeschichte am Bosporus

8.Das Millionenspiel I: Negerschecks und blaue Koffer

9.Das Millionenspiel II: Geld stinkt!

10.Das Millionenspiel III: Pleite unter Kunstfreunden

11.Das Millionenspiel IV: Die Wahrheit über Bruce

12.Nobel geht die Welt zugrunde

13.Liebe, Angst, Vergessen

14.Fliehen Sie!

15.Die Verschwörung der chinesischen Glückskekse

16.Gut geplant ist halb geflohen

17.Unterschlupf mit Meerespanorama

18.Wie ich von Familie Dean adoptiert wurde

19.Second Life in Reality

20.Das FBI auf meinen Fersen

21.Schaut her, ich bin’s!

22.Müller on the rocks

23.Der Traum

24.Die Change-Manager kommen an Bord

25.Luftnummer mit Taube

26.Blind Date – oder: Alles auf Anfang

27.Ostern für Sad Max

28.Mein neues Leben ist on track

Epilog

Danksagung

Anmerkungen

Anhang

Kein Vorwort

«Für alle, die Dich wirklich kennen,

die Du geschädigt, gedemütigt, belogen, betrogen

und mit einer Eiseskälte

skrupellos ausgenommen hast

– und das sind ja nicht wenige –,

ist Deine wundersame Wandlung

noch einmal ein Schlag ins Gesicht!

Der Heiligenschein steht Dir nicht, Josef Müller!»

Aus einer E-Mail an den Autor

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Es stimmt, ich war ein Schurke

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Zwischen mir und meinem Gesprächspartner am Telefon mochten gut und gern 3000 Seemeilen liegen. Aber die knappe, kalte Drohung, die der Mann aus sich herauszischte, schoss mir wie glühende Lava ins Ohr.

Am anderen Ende der Leitung befand sich einer, mit dem nicht zu spaßen war. Der Name des Mannes war Bruce. Es gab Zeiten, da hielt ich Bruce für einen «Good Guy», einen verrückten Hund, einen coolen Typen, einen Superkumpel, auch für einen Freund, oder was ich damals so «Freund» nannte.

Bruce war großzügig; er verbreitete internationales Flair um sich herum, und er sah nun wirklich nicht schlecht aus: jung, drahtig, erfolgreich. Man konnte prima mit ihm in Bars abhängen, die Weltpolitik kommentieren oder mit sündhaft teuren Motoryachten die küstennahe See durchpflügen. Zu den Ritualen gehörte auch, dass man permanent ein paar dieser parasitär herumhängenden Models startklar machte für die Nacht – und ab und an eine Nase Kokain miteinander teilte, wenn der Kick nachließ.

Jetzt drohte mir «mein Freund» mit einem Killer, den er mir ganz gewiss auf den Hals schicken würde, wenn ich nicht innerhalb kürzester Zeit eine hohe Summe seiner Millionen, die er mir anvertraut hatte, an seine Frau transferieren würde – Geld, das ich dummerweise gerade an der Börse verzockt hatte.

Die Illusion, dass es sich bei meinem Freund Bruce um einen soliden amerikanischen Geschäftspartner handelte, dem ich bei einer größeren interkontinentalen Geldtransaktion behilflich war, besaß ich schon lange nicht mehr. Bruce war einer der gesuchtesten amerikanischen Drogengangster. Und ich war sein Geldwäscher. Er war der Gangster, und ich war der …

Ja, was war ich bloß? Ich ließ es in der Grauzone, denn ich wollte nicht darüber nachdenken, wer ich war und welches Mäntelchen ich mir umhängen müsste. Mein Dasein bestand aus einem Mix aus Sein und Schein, mit dem es sich prächtig leben ließ: Josef Müller, der vitale «Dreadnought», der Fürchtenichts und Kraftprotz im Rollstuhl, der es allen, allen, allen gezeigt hatte. Josef Müller, der clevere, unorthodoxe Geschäftsmann, der aus dem Nichts kam, aber einen untrüglichen Riecher für Geld und Erfolg besaß. Josef Müller, der Selfmademan, der ökonomisch durch jede Wand ging. Josef Müller, der Grandseigneur – Botschafter von Zentralafrika, Konsul von Panamá, Mann von Welt –, der sich aus kleinen Verhältnissen in Fürstenfeldbruck bei München in den internationalen Jetset hochgebeamt hatte. Josef Müller, der Genussmensch und Frauenliebhaber …

So ungefähr sah mein Selbstbild aus. Identität konnte man das nicht nennen, denn ich war gar nicht bei mir. Ich lebte ein Puzzle von geliehenen Identitäten, in denen ich mich pausenlos spiegelte. «A Hund is er scho» – sagen die Bayern, wenn sie finden, dass jemand ganz besonders unangepasst, clever und stark ist. Ja, «a Hund» wollte er sein, der Müller! Den Daumen sollten sie heben, mit den Augen sollten sie zwinkern bei der Nennung seines Namens. Zwanzig Sekunden genügten, und der Hund kam auf den Hund.

Ich sackte in mich zusammen; ein Nervenbündel, dessen schweißnasse Hände einen Hörer umkrallten. Alles, was ich war und zu sein glaubte, wurde in einem Moment zerschossen. Zerschossen durch die zischende Stimme von Bruce, dem Drogenboss, zerschossen durch einen mysteriösen Anruf aus der Zelle des Hochsicherheitstraktes eines Gefängnisses in Florida.

«Bruce ist kein Killer … Bruce ist doch kein Killer, he!, er doch nicht», beschwor ich mich selbst. Aber eigentlich hatte ich genug gesehen. Bruce agierte in einem Umfeld, in dem ein Menschenleben nichts zählte. Die diskrete Bande von Kubanern und anderen Latinos, die ihn, seine Familie und seine Freunde umgab, ob man sich nun am Pool, auf Reisen oder an der Bar befand, trug Waffen unter den Sakkos. Die geschniegelten Herrschaften dienten offiziell der Personensicherung, waren aber lebensgefährlich für alle, die sich den Anweisungen des Clans nicht willenlos ergaben. Für 1000 Dollar plus Tickets einen, besser zwei Latinokiller zu engagieren, sie über den Teich zu schicken, um mich hinzurichten – das, so konnte ich mir ausmalen, musste für Bruce, sogar vom Knast in Florida aus, ein Kinderspiel sein.

Die nächsten Wochen waren Horror pur. Ich wagte kaum, das Haus zu verlassen, schreckte zusammen, wenn es nur klingelte, wollte partout nicht zur Tür gehen. Verließ ich trotz meiner panischen Ängste das Haus, sah ich hinter jeder Ecke einen Pistolero lauern. Ich fixierte jede Gestalt, die in meine Nähe kam. Hatte der Mann da nicht dunkle Haare? Dieser Typ da, mit der Sonnenbrille! Sah er nicht aus wie ein Latino? Wie viel hatte ihm Bruce versprochen? In Parkhäusern meinte ich das dumpfe Ploppen einer schallgedämpften Waffe zu hören. Wenn ich mit dem Auto durch die Stadt fuhr, schreckte ich schon zusammen, wenn jemand neben mir an der Ampel hielt. Aus den Augenwinkeln heraus beobachtete ich den Fahrer. He!, sah er nicht wie ein gedungener Mörder aus? Ganz sicher würde er gleich das Seitenfenster herunterlassen, blitzschnell die Waffe auf dem Beifahrersitz ergreifen, das Mündungsrohr auf mich anlegen, abdrücken und mit Vollgas durchstarten.

Mit der Zeit stieg in mir die Hoffnung, dass sie mich nicht gleich umlegen würden. Bruce wollte ganz bestimmt wissen, wo seine Millionen sind. Denn dass er mir die Geschichte mit dem Pech meiner Börsenspekulation nicht glaubte, war mir klar. Er musste annehmen, dass ich ihn übers Ohr gehauen hatte.

So bekam ich über Nächte hinweg Albträume, in denen ich mich immer wieder von zwei seiner düsteren Jungs gefoltert sah, und zwar drehbuchmäßig, brutal, blutig. Ganze Thriller, von denen ich wohl in meinem Leben zu viele gesehen hatte, liefen in meinem Hirn ab. Mein inneres Filmzentrum erfand physische Qualen, mit denen mich meine Peiniger zwingen wollten, den Aufenthaltsort des Geldes preiszugeben.

Wie sollte ich ihnen aber klarmachen, dass es das schöne Geld von Bruce, all die vielen Millionen, die ich auf so abenteuerliche Weise nach München geschmuggelt hatte, gar nicht mehr gab? Es hatte sich in nichts aufgelöst. Weggeschmolzen, wie Schnee in der Sonne. Hier, Jungs, die Auszüge! Seht doch selbst. Keine Dollar mehr. Null, absolut null – Zero. Bitte glaubt mir doch!

Nacht für Nacht wachte ich auf, schweißgebadet, und hatte schreckliche Angst vor der Rache von Bruce, Angst sogar vorm Wiedereinschlafen, denn mich erwartete nur die Hölle neuer, schlimmer Träume.

In Wahrheit existierte die Gefahr nicht. Aus irgendeinem rätselhaften Grund musste Bruce entschieden haben, (jetzt) nicht gegen mich vorzugehen. Es genügte, dass die Angst da war. Dass sie da war und zur großen, bedrohlichen Macht in meinem Alltag wurde.

Im Feuer dieser Angst verstand ich langsam, wer ich wirklich war: ein Mitspieler des Bösen. Das Böse war keine Fiktion in schlechten Kriminalromanen; es existierte, quoll aus allen Ritzen, brach in meine sauber kontierte Welt ein, entwickelte eine unsichtbare, aber tödliche Omnipräsenz. Ich stand in aktiver Geschäftsverbindung mit dem Bösen, war Teil des bösen Systems, das sich jetzt gegen mich richtete und mich zu vernichten drohte. Morgen Früh vielleicht – auf dem Parkplatz von Edeka. Oder im Wald. Oder an einem Sommertag im Biergarten. Kopfschuss. Ende.

Als ich noch ein Kind war, hatte meine Mutter immer den alten Spruch zur Hand gehabt: «Sag mir, mit wem du umgehst – und ich sage dir, wer du bist.» Wie alle Kinder mochte ich den Spruch nicht. Ich wusste schon selbst besser, wer zu mir passte und wer nicht. Das musste ich mir nicht von den Eltern sagen lassen. Jetzt aber – im Feuer der Angst – kam mir zu Bewusstsein, dass ich einen Gangster meinen «Freund» genannt hatte. Wie weit war ich denn heruntergekommen? War ich selbst zum Gangster geworden? Ich habe das ehrlich erwogen. Damals zum ersten Mal, später immer wieder. In Morgenstunden, in denen mir der Suff und die Drogen des Vortages noch in den Kleidern hingen, in einsamen Nächten auf der Flucht, im Gefängnis.

Ich habe es hundertmal durchgekaut, und ich kann sagen, ein Gangster – nein, das war ich nicht. Die Mädels hatten es immer gut bei mir. Ich war nie kalt, bin nie über Leichen gegangen. Ja, ich bin sicher, es gab Gesetze, gegen die ich nicht verstoßen habe. Trotzdem hätte mir mit ein wenig Fantasie aufgehen können, dass all das schöne Geld, das mir zufloss wie der Mississippi dem Ozean, mit Blut und Tränen bezahlt wurde, mit Hunger, Elend, Ausbeutung, Suchtverfall, Menschenhandel und eben mit Mord. Trotzdem – ein Gangster war ich nicht.

Aber damit ist meine mühsame Ehrenrettung auch schon zu Ende. Es stimmt, ich war ein Schurke. Ich war Teil des Systems, habe schief in einer schiefen Welt gelebt, habe fünfe grad sein lassen, habe gelogen, betrogen und getrickst, Bilanzen geschönt und Schönheiten bilanziert. Ich war, wenn man so will, sogar ein ziemlich bester Schurke – ein weitgehend prinzipienloses, durchtriebenes, geldgieriges Wesen, etwas zwischen Biedermann und Spitzbub, Steuerarrondierer und Halbganove.

Ja, ich habe Menschen geschädigt und gedemütigt, bin leichtfertig mit fremdem Eigentum umgegangen, habe einige Dumme ausgenommen und Freunden etwas zugeschustert, habe um mein Leben geprasst, geschlemmt, gekokst, gesoffen und gehurt. Dass es jenseits meiner Champagner-, Kaviar- und Luxusfrauen-Welt Massenelend und Hungertod, Aids-Tragödien und Kindersoldaten gab, geschah außerhalb meines Horizonts. Ich hatte damit nichts zu tun. Ich war eben ein Egozentriker und Schurke. So war es. Punkt.

Dass ich freilich, wie mir jemand schrieb, der mich sonst treffend charakterisiert hat, andere mit «Eiseskälte skrupellos ausgenommen» hätte, bestreite ich, wo ich sonst alles bekenne. Es ist nicht wahr. Der berühmte Freiherr Knigge hat in seinem Buch Über den Umgang mit Menschen auch ein Kapitel geschrieben, in dem etwas vom richtigen Umgang mit meinesgleichen zu lesen ist. Darin befindet Knigge, Schurken seien «Leute, die von Grund aus schlecht sind … obgleich ich dafürhalte, dass – ein bisschen Erbsünde abgerechnet – eigentlich kein Mensch von Grund aus ganz schlecht, wohl aber durch fehlerhafte Erziehung, Nachgiebigkeit gegen seine Leidenschaften oder durch Schicksale, Lebenslagen und Verhältnisse, so verwildert sein könne, dass von seinen natürlichen guten Anlagen fast keine Spur mehr zu sehen ist».

Knigge hilft mir etwas: Ja, ich war ein schlimmer Hund. Andererseits befand ich mich doch auch in bester Gesellschaft. Business und Moral sind in den letzten Jahrzehnten eine neue Beziehung miteinander eingegangen. Der einst berühmte «ehrbare Kaufmann» bringt es zu nichts mehr – allenfalls uns zum Schmunzeln. Im Geschäftsleben sind so viele geistig verwildert; durch die Verhältnisse sind ihnen die guten Anlagen, die Ahnungen von Anstand, die Restbestände von Erziehung, die Zehn Gebote, alle irgendwie feststehenden Maßstäbe, abhanden gekommen. Cleverness rules. Wie oft habe ich den Satz gehört: «Das nehm’ ich auf meine Kappe!»? Wahrscheinlich hat ihn «Mister Lehman» auch zu seinen «Brothers» gesagt. Es kommt schon nicht raus! Fragt doch keiner danach!

Das Wichtigste scheint zu sein, dass mir keiner auf die Schliche kommt: nicht die Steuerbehörde, nicht meine Frau, nicht die Polizei, nicht der Allmächtige. Solange keiner von meinen Schweizer Konten weiß, bin ich Moralist. Der Mega-GAU ist die Entdeckung, nicht das Vergehen selbst. Die Entdeckung erst macht dich a-sozial; sie macht dich zum Schurken. Das ist übrigens jederzeit vergleichbar mit den aktuellen Fällen, die zurzeit durch Deutschlands Medienlandschaft gepeitscht und bis zum Geht-nicht-mehr ausgeschlachtet werden.

Bei mir war es einfach so, dass ich bis über beide Ohren fixiert war auf Geld und Erfolg. Ich diente diesen beiden Götzen mit Hingabe und Vollendung, ein Sklave, der sich selbst ausbeutet und wirklich alles gibt. Und weil meine Herren so hart waren, belohnte ich mich mit königlichen Genüssen. Zwischen exotischen Limousinen, Luxussuiten, Edelklamotten, Trüffel, Kaviar, Drogen und Frauen bestand nur ein gradueller Unterschied. Das Gute war nicht das Gute an sich. Es gab nichts objektiv Gutes. Gut war, was sich mir zum Genuss darbot, was ich mir einverleiben konnte. Der Rest war Dreck. Ich kannte keine andere Ethik. Zumindest fühlte ich sie nicht.

Es kam vielleicht hinzu, dass ich mit siebzehn Jahren durch einen grausamen Unfall in den Rollstuhl gezwungen wurde; ein Geschick, das für einen Vitalitätsbolzen und geborenen Unternehmer wie mich einfach nicht passte. Ich akzeptierte von da an keine Limitationen, auch nicht solche vom Schicksal, vom Himmel oder von weiß Gott woher. Ich wollte nicht nur das gleiche volle, satte, runde Leben wie alle anderen. Ich wollte mehr davon, deutlich mehr!

Pure Lust am Leben trieb mich immer hin zum größeren Spiel, zu starken Erfahrungen, riskanten Einsätzen. Ich gründete nicht eine Firma; es mussten gleich deren fünf und mehr sein. Mir genügte nicht ein Rolls Royce. Es musste gleich eine ganze Kollektion der teuersten Automobile der Welt her – von Maybach bis Ferrari. Mir genügte nicht eine erotische Eroberung; es mussten immer neue Betttrophäen her. Und wenn ich mit meinem rollenden Charme an eine Grenze kam, kaufte ich mir Liebe. Das horizontale Gewerbe hat gut von mir gelebt, wobei ich mich in bester Münchner Gesellschaft befand: Sänger, Journalisten, Politiker, Firmenbosse, Theaterleute.

Das Buch, das Sie, liebe Leserin, lieber Leser, in der Hand haben, gibt zu manchen Missverständnissen Anlass. Erstens ist es kein weiteres Schurkenstück. Von bestens eingeführten Schurken (wie mir) nimmt man nämlich an, dass sie fortlaufend neue Schurkereien produzieren, wie Bäcker fortlaufend Backwaren produzieren, solange sie nicht die Profession wechseln. Ich, Josef Müller, bin immer noch derselbe Mensch, aber ich bin kein Schurke mehr – und dieses Buch ist kein Schurkenstück.

Ein Schurkenstück wäre es, wenn ich nun zum Ende hin, wo ich «11-Millionen-Euro-Betrüger» (so jedenfalls nannte mich anfangs die Boulevardpresse) mit nichts anderem mehr Reibach machen kann, mein filmreifes Leben selbst zu Markte trage – und dabei all die Geschädigten, Geprellten, Betrogenen («Josef Müller, wo ist mein Geld!?») zu unfreiwilligen Komparsen einer geilen Story mache.

Absahnen ist nicht mehr; das Geld bleibt mir ja nicht. Der frühere Hartz-IV-Empfänger Josef Müller hat so immense Schulden, dass sich seine vielen Gläubiger auch bei einer Steven-Spielberg-Verfilmung seiner Vita keine allzu kühnen Hoffnungen machen sollten. Trotzdem: Sollte ich den entstandenen Schaden gegenüber meinen Gläubigern je wenigstens teilweise wiedergutmachen können, so möchte ich das gerne tun.

Zweitens habe ich das Buch nicht geschrieben, um meine Person mit Glanz und Gloria zu versehen, meine gesellschaftliche Reputation final noch etwas anzuheben, meine Untaten literarisch zu verklären, einen Bestseller zu landen, um endlich wieder reich und glücklich zu werden. Reich werde ich nie wieder. Glücklich bin ich.

Drittens habe ich die Ereignisse dieses Buches nicht zu Papier gebracht, um vorab zu meiner Heiligsprechung beizutragen. Es geht durch die Bank um eine fatale Reise in die völlig falsche Richtung. Es geht um höchst fragwürdiges, nicht zur Nachahmung empfohlenes Handeln. Es geht um brutale ethische Aussetzer, meinen sukzessiven Wirklichkeits- und Werteverlust. Es geht um meine chronische Nichtdistanz zum Unsinn, den ich seinerzeit verbrochen habe, schließlich auch um die realen Gefühle, die ich dabei empfand. Ich hab geprasst und hab es genossen. Ich habe gehurt und hatte jede Menge Spaß dabei. Ich war ein ziemliches Arschloch – und werde meine Katastrophen weder mit Goldglanz versehen noch meine horrenden Blackouts im Nachhinein in die Sauce des Erbaulichen tunken.

Viertens habe ich das Buch nicht geschrieben, um mich über andere zu erheben oder andere Menschen zu beurteilen. Ich selbst hielt mich lange Zeit für Mister Oberwichtig, einen Großen unter manchen anderen Größen, mit denen ich mich umgab oder deren Gesellschaft ich suchte; ich war aber nur ein Kleiner, ein Seelenkrüppel, Geldjunkie und jämmerlicher Spielball meiner Lüste.

Von den «Größen», auf die ich einst baute, hat sich keiner gemeldet, als ich im Gefängnis saß. Aber ein bildhübsches 28-jähriges Mädchen, damals noch eine Prostituierte, kümmerte sich rührend um mich. Sie brachte mir ständig Geld, schrieb mir Briefe und sandte mir schöne Hemden und Hosen ins Gefängnis. Sie wusste, ich liebe schöne Hemden und schicke Klamotten. Das habe ich ihr bis heute nicht vergessen. «Wenn du die Menschen verurteilst», sagte Mutter Teresa einmal, «hast du keine Zeit, sie zu lieben.»

Fünftens sollte ich endlich sagen, was Sache ist: Ich habe im Gefängnis eine starke Erfahrung gemacht, habe eine bis heute anhaltende Umwertung meiner Werte erfahren. Kurz gesagt, habe ich erkannt, dass der Dienst am Geld eine zu anspruchsvolle Religion ist. Sie fordert immer deine ganze Seele. Gnadenlos. Du musst das Geld zu deinem Gott machen, musst sein Sklave sein, musst es anbeten, wenn du es haben willst. Diese Religion – sie ist recht verbreitet – kostet dich dein Leben.

Nun, ich habe sie gewechselt. Ich sitze nicht mehr in eurer Kirchenbank. Okay, ich weiß, was meine Gläubiger jetzt denken: Typisch Josef, keinen Cent in der Tasche, ein Pleitier und Habenichts, und gleich spielt er den heiligen Franz. Sauber! Er hat immer schon aus allem was gemacht, und sei es auch aus Dreck Gold.

Meine Antwort: Nein, es ist nicht typisch Josef. Wenn ich noch ein bisschen der Alte wäre, würde ich schon wieder an tausend Geldschrauben drehen. Ich bin in bester körperlicher und geistiger Verfassung. Ich wüsste noch immer, wie man zack, zack, zack ein bisschen – oder auch ein bisschen mehr – Geld macht. Aber es interessiert mich nicht. «Was nützt es dir, wenn du die ganze Welt gewinnst, aber deine Seele verlierst», hat jemand vor 2000 Jahren notiert. So denke ich nun auch. Ich habe meinen ursprünglichen Glauben wiedergefunden, halte ihn für die bessere Religion. Wesentlich besser als die, die meine Seele und mein Leben so brutal und gnadenlos forderte und sie beinahe für immer bekommen hätte. Knapp war das – unheimlich knapp.

Nun kriechen ja viele zu Kreuze, wenn ihnen der Schotter ausgeht, die biologische Uhr tickt oder die Leber zwickt. C.G. Jung, der Schweizer Seelenforscher, meinte schon 1932, jeder Mensch kranke «in letzter Linie daran, dass er das verloren hat, was lebendige Religionen ihren Gläubigen zu allen Zeiten gegeben haben, und keiner ist wirklich geheilt, der seine religiöse Einstellung nicht wieder erreicht hat, was mit Konfession und Zugehörigkeit zu einer Kirche natürlich nichts zu tun hat».

Aber genau das meine ich nicht. Ich bin das denkbar ungeeignetste Objekt für Seelenklempner. Diesem Herrn Jung hätte ich eine todsichere, steuerunschädliche Anlageempfehlung verkauft. Auf die Couch hätte er mich für Geld und gute Worte nicht gebracht. Ich bin von Beruf Steuerberater – und vom Charakter her auch: so nüchtern, penibel und pragmatisch, als hätten mich meine Eltern auf einem ostpreußischen Katasteramt gezeugt. Ich hasse Psychofritzen, Schwarmgeister, Prediger, Gurus und Visionäre … Ups, das gerade war ein Rückfall. Hass bringt nichts. Also lassen Sie sich überraschen, wie das mit mir gelaufen ist.

Ich kann dieses Buch nicht beginnen, ohne mich bei allen Menschen von Herzen zu entschuldigen, die ich in meinem Leben geschädigt, belogen oder gedemütigt habe. Sie werden dieses Buch vielleicht nicht ohne eine gewisse Verbitterung zur Hand nehmen. Ich kann nicht mehr sagen als: Ich bereue meine Handlungen und Taten aufrichtig. Ich wollte, ich könnte sie ungeschehen machen. Leider kann ich die Uhr nicht zurückdrehen, materiellen Schaden nicht wiedergutmachen, seelische Wunden nicht schließen. Ich hoffe, dass wenigstens einige meine ehrliche Entschuldigung annehmen können.

Den anderen, die es nicht können, will ich sagen: Denken Sie über Vergebung nach. Vielleicht gibt es in Ihrem Umfeld Menschen, die Ihnen vergeben müssten, um einen neuen Anfang und eine zweite (dritte, vierte) Chance zu haben. Dieses Buch hat damit zu tun, dass ich genau dieses glaube: Vergebung ist möglich. Rechnungen, die nicht beglichen werden können, müssen nicht auf Teufel komm raus beglichen werden. Wir müssen uns nicht permanent gegenseitig richten.

Dostojewskij hat in seinem Roman Die Brüder Karamasow ein paar bedenkenswerte Sätze über die Aufteilung der Welt in Gute und Böse gesagt: «Denke vor allem daran, dass du niemandes Richter zu sein vermagst. Denn es kann auf Erden niemand Richter sein über einen Verbrecher, bevor nicht der Richter selber erkannt hat, dass er genauso ein Verbrecher ist wie der, der vor ihm steht, und dass gerade er an dem Verbrechen des vor ihm Stehenden vielleicht mehr als alle anderen auch die Schuld trägt. Wenn er aber das erkannt hat, dann kann er auch Richter sein.»

Die Lektion, dass wir uns gegenseitig mit gerechteren und gnädigeren Augen betrachten sollten, lernte Dostojewskij übrigens im Gefängnis.

Und noch etwas: Gerechtigkeit ist nicht alles, wenn es die Liebe gibt.

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Auf der Überholspur

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Es war in der Zeit, als die schärfsten denkbaren Frauen noch «Brigitte» hießen.

Aufgeschlossene Nachkriegseltern konnten ihre hoffnungsvollen Töchter nur «Brigitte» nennen. Das lag an einer französischen Stilikone namens Brigitte Bardot. Ein sexy Mädel konnte höchstens noch «Helga» heißen. «Helga» war der Titel des Aufklärungsschockers von 1967. Unter Brigitte und Helga stellt man sich heute Damen vor, die sich mit dem Rollator zur Dauerwelle bewegen. Coole Typen hießen «Dieter» oder «Karl-Heinz», nicht unbedingt mehr «Josef»; das war katholisch und von gestern. Was in meinem Fall auch stimmte; ich kam aus einer katholischen Familie in Fürstenfeldbruck, aber ich war an Brigitte dran – und Brigitte war der Hammer. Brigitte war die Traumfrau der Region. Und ich war siebzehn und rechnete mir gute Chancen aus, ihr Herz zu erobern.

Außer der Hoffnung auf Liebeswonnen mit Brigitte besaß ich noch ein besonderes Auto, nämlich einen Ford Mustang. Die Karre war mein ganzer Stolz. Dass ich, Josef, kaum dem Stimmbruch entwachsen, einen solch brettlharten Untersatz mein Eigen nennen durfte, verdankte ich einem besonderen Umstand.

Mit einer Sondergenehmigung hatte ich bereits im Alter von sechzehn Jahren meinen Führerschein gemacht. Der Grund war der schlechte Gesundheitszustand meines Vaters, der im Rahmen seiner Handelsvertretung Waren ausliefern musste. Ich half ihm dabei. Zum Trost aller Menschen mit einem schlechten Gesundheitszustand sei es gesagt: Mein Vater lebte daraufhin noch vierzig Jahre. Nun, ich brauchte ganze sechs Fahrstunden, bestand einen unglaublich bekloppten medizinisch-psychologischen Eignungstest mit der Note 1 und absolvierte die Prüfung. Dann hatte ich ihn – den berühmten «Lappen», der meinen heimischen Kosmos sprengte und mir die Tore zur Welt aufmachte.

Ein paar Tage später kaufte ich mir zunächst einmal für 700 Mark einen türkisfarbenen Ford Taunus P2 – das Teil besaß Heckflossen! – und ließ mich gönnerisch an den angesagten Orten im Weichbild1 von München blicken. Kleine Spritztour gefällig?

Das Auto, das ich mir mit dem Austragen von Werbeprospekten erspart hatte, erhöhte meinen Status beträchtlich. Bis dahin konnte ich nur Auftritte als Gitarrist in einer lokalen Beatgruppe vorweisen. Ich war kein Ritchie Blackmore und kein Jimi Hendrix. Ich hatte zwar lange Haare, aber nicht mehr als zehn, zwanzig Griffe im Repertoire. Mit dreizehn Jahren hatte ich vor den Augen meiner Eltern die Konzertgitarre zertrümmert, um klarzumachen, dass ich kein Zupfhansl, sondern Popstar auf der E-Gitarre werden würde.

Meine seriösen, etwas steifen Mitspieler hatten musikalisch mehr drauf, aber ihnen fehlten der Hüftschwung und die Gummibeine, überhaupt das Elvis-Feeling, mit dem ich reichlich gesegnet war. So reichlich jedenfalls, dass es genügte, um als Sechzehnjähriger den Frontmann zu machen, die Mädels im Beatschuppen zu beeindrucken und sie zum Tanzen zu animieren. Ich hatte in der «BRAVO» von kreischenden, zu allem bereiten Groupies gelesen, aber dazu mussten wir alle wahrscheinlich noch etwas besser werden.

Ja, man tanzte noch wirklich in diesen Tagen, auch wenn die Tanzschulen ums Überleben kämpften. Man bewegte sich im Stil der neuen Zeit, frei und kreativ – in ekstatischen Zuckungen zum Beat oder in einer elastischen Nahkampfübung namens Blues. Bei «A Whiter Shade of Pale» oder spätestens beim verruchten «Je t’aime … moi non plus» lernten wir, dass Erotik so ziemlich das Größte sein musste. Warum warnte das Establishment nur davor?

An dem Abend, an dem ich mit Brigitte zum Tanzen in die Landsberger Disco «Upperside» fuhr, war der Heckflossen-Ford schon Vergangenheit. Ich hatte ihn durch einen ebenso waschechten wie auch etwas durchgerosteten Ford Mustang ersetzt. Was das ist, muss man jüngeren Leuten vielleicht erklären. James Bond himself war dieses Gerät gerade in «Diamantenfieber» gefahren. Was heißt gefahren? Er hat es donnernd durch die Szenerie geritten. In den Händen eines Siebzehnjährigen, der einer Freundin in spe imponieren musste, konnte daraus eine Waffe werden.

Der Samstag im Juli 1973, an dem ich meinen Ford Mustang aus dem Stall holte, um endlich, endlich mit der Frau meiner Träume ins Paradies zu reiten, war verregnet. Es war der Tag der großen Gefühle. Ins Upperside! Nicht mit irgendeinem Mädchen. Nein, mit Brigitte!

He!, sie machte das wirklich; sie stieg zu mir ins Auto! Es gab zu dieser Zeit in zwanzig Kilometer Umkreis keinen Jungen, der nicht von Brigitte fasziniert war. Sie war die Überbraut, das Objekt aller keuschen wie schwülen Träume.

Nach wochenlangen charmanten bis dreisten Versuchen meinerseits hatte mich Brigitte endlich ein bisschen erhört. Wow, sie gewährte mir wirklich ein Date! Mir, dem coolen Josef, siebzehn, aus Fürstenfeldbruck. Was war ich stolz, es geschafft zu haben! Sie hatte aber kein Hehl daraus gemacht, dass es ihr (noch) nicht so ganz ernst mit mir war.

«Nur das eine Mal gehe ich mit dir aus, Josef. Bilde dir nur ja nichts darauf ein!», flötete sie bestimmt.

Sie hatte so eine samtene, weiche Stimme, die dem Schnurren einer schmusenden Katze ähnelte. Oh, ich hörte schon ein paar interessante Untertöne heraus. Es war mir, als wollte sie zu mir sagen: «Bin mal gespannt, was du so draufhast. Vielleicht wird es ja doch etwas mit uns beiden!»

Darauf antwortete ich ihr: «Du wirst schon sehen, es wird ein unvergesslicher Abend für dich, Brigitte!»

Wir beide ahnten nicht, dass es wirklich «einmalig» für uns werden würde.

Ich wollte an diesem Abend mein Bestes geben, damit sie vielleicht doch auf mich stand und sie ihre große Liebe zu mir entdecken würde. Mein Balzverhalten war echt peinlich. Aber verliebte Jungs sind nun mal verrückt, tun ungewöhnliche Dinge und denken sich nicht mal was dabei. Brigitte tat, was alle großen Bräute tun. Sie zeigen dir zunächst einmal die kalte Schulter. Und dann lassen sie so ein klitzekleines bisschen was von möglichem Einverständnis durchblitzen: Freundchen, es könnte ja doch was gehen, aber ich warne dich (!), es kostet dich dein Leben!

Jetzt aber war die bange Wartezeit, das ewige Hinhalten vorbei. Ich fuhr vor und lachte ihr aus dem Wageninnern entgegen: «Steig ein, Brigitte!» Sie stieg ein. Ihr Charme, ihr Duft erfüllten das Auto. Ich wusste, sie war endlich «schwach» geworden, und sie würde noch schwächer werden.

Die zwanzig Kilometer bis nach Landsberg am Lech, wo das Upperside auf uns wartete, taten meinem männlichen Selbstbewusstsein gut. Die Schöne war mir anvertraut, musste sich meinen Impulsen und Handlungen fügen. Ich ließ den Motor röhren, gab Gas, und sie wurde sanft in den Sitz gedrückt. Ich ging etwas scharf in die Kurve, und sie wurde von der Zentrifugalkraft so ein bisschen zu mir herübergezogen. Tolles Gefühl!

Es wurde dann in der Tat ein wundervoller Abend. Wir ließen kaum einen Tanz aus, sie tanzte wie eine Prinzessin, nein – sie schwebte in der Art einer Königin über die Tanzfläche. Und ich? Ich war der stolzeste Tänzer auf dem ganzen Parkett. Die eifersüchtigen Blicke der anderen Jungs und Männer versprühten eine Mischung aus heimlicher Bewunderung und purem Neid.

Aber das war nicht alles. Während einer Tanzpause kamen wir uns körperlich näher, und ich küsste sie zuerst sehr zaghaft und züchtig, wie es gut erzogene Jungs in diesem Alter tun.

Und …?

Ich glaubte es kaum. Es schien ihr gut zu gefallen! Ihre Lippen öffneten sich zu einem Zungenkuss. Ich schmolz dahin und vergaß die Welt um mich herum. Ich hörte Geigen spielen und Vögel zwitschern gleich dazu. Ich dachte an Heirat und eine gemeinsame Familie und alles, was dazugehörte.

Wir hatten den ganzen Abend geschwoft, gelacht, getanzt, getrunken, geschmust. Dieser Abend durfte einfach nicht enden. So blieben wir bis weit nach Mitternacht, bis wir einfach nicht mehr konnten.

«Bitte nach Hause! Bitte fahr mich!», flötete sie.

Der Fahrer eines Ford Mustang lässt sich das nicht zweimal sagen. Im Grunde genommen war auch ich vom Tanzen und Flirten vollkommen übermüdet und wollte nur noch eins: schlafen, unter den obwaltenden Verhältnissen wohl eher allein.

Hatte ich etwas getrunken? Ich glaube nicht. Ich erinnere mich noch daran, wie ich auf dem Parkplatz mit dem Schlüssel spielte, wie sie sich an mich schmiegte, wie wir in die Polster fielen, wie ich den Motor röhren ließ; auch daran noch, dass die Straße regennass war und es gegen die zufallenden Augenlider half, Pfützen in Fontänen zu verwandeln. Danach hatte ich einen Blackout. Den brutalen ersten Wendepunkt meines Lebens, den großen Crash, habe ich nicht mitbekommen.

Laut Protokoll der Landpolizei Fürstenfeldbruck nickte der Fahrer des Ford Mustang auf der Staatsstraße 2054, zwischen Fürstenfeldbruck und der Ortschaft Maisach, in Höhe des Gewerbegebietes Hasenheide, für eine Sekunde lang ein und verlor dadurch die Herrschaft über das Fahrzeug. Der Wagen streifte in voller Fahrt einen Begrenzungspfosten auf der rechten Seite der Fahrbahn. Durch den Aufprall erwachte der Fahrer aus seinem Sekundenschlaf und überzog, mangels Fahrpraxis, die Gegenlenkbewegung, um das Fahrzeug wieder auf die Straße zu dirigieren. Auf regennasser Fahrbahn kam daraufhin das schwere Fahrzeug ins Schleudern, drehte sich zuerst zweimal um die eigene Achse, überschlug sich dann mehrmals, geriet unkontrolliert von der Straße ab, schoss in ein Waldstück und prallte mit voller Wucht gegen einen mächtigen Eichenbaum.

Ab diesem Zeitpunkt bin ich wieder im Film. Ich fühle die Wucht, mit der ich gegen das Gestänge geschlagen werde; fühle, wie sich kantiges Blech in meine Rippen bohrt, fühle die Splitter im ganzen Gesicht und das Blut, das mir aus dem Mund quillt. Ich höre den ohrenbetäubenden Lärm von berstendem Glas und Metall; höre, wie der Motor mit voller Drehzahl aufheult, höre, wie Brigitte aus Leibeskräften schreit … höre dann, wie es plötzlich nichts mehr zu hören gibt. Ein Rad dreht sich noch, lautlos.

Alles ist so still. Okay, Brigitte scheint zu leben, wenigstens das! Aber ich kann ihr genauso wenig helfen wie sie mir. Wir beide liegen eingeklemmt in den Blechtrümmern meines Mustangs: keuchend, fluchend, wimmernd, phasenweise auch bewusstlos. Dampf steigt aus dem demolierten Wrack in den regenkalten Nachthimmel auf. Der Lichtkegel des rechten Scheinwerfers strahlt noch kurz in das Waldstück hinein, aber nach einem Kurzschluss erlischt auch er, und die Dunkelheit der Nacht umhüllt den Schauplatz des Unfalls wie ein schwarzes Tuch.

Keiner sah es.

Keiner hörte den Unfall.

Niemand kam zu Hilfe, um uns zu retten.

Endlos lange, endlos bange Stunden vergingen. Nur dem aufmerksamen Autofahrer, der am Morgen des 29. Juli 1973, um 8.15 Uhr, an der Unfallstelle vorüberkam, haben wir es zu verdanken, dass das zerbeulte Autowrack entdeckt wurde. Eine halbe Stunde später befreiten uns die Rettungskräfte von Feuerwehr und Sanitätern mittels einer Rettungsschere aus dem zertrümmerten Schrott und lieferten uns mit Martinshorn und Blaulicht in die Notaufnahme des Kreiskrankenhauses Fürstenfeldbruck ein.

Brigitte trug von der Geschichte laut den Ärzten eine komplizierte Unterschenkelfraktur davon. Und vielleicht die Einsicht, dass man besser nicht zu jedem siebzehnjährigen Blech-Casanova ins Auto steigt.

Aber mich sollte der dramatische nächtliche Zwischenfall auf elementare Weise aus der Bahn hauen. Bei mir ging es buchstäblich um Leben oder Tod. Die Ärzte diagnostizierten zunächst eine Schädelfraktur, dazu den Bruch des Schlüsselbeins, überhaupt Prellungen und Knochenbrüche die Menge, eine verhängnisvolle Rückenmarkverletzung (von der noch die Rede sein wird), dazu Hautabschürfungen und vielfältige innere Verletzungen.

Ich war sozusagen eine einzige Baustelle aus Fleisch und Knochen; es gab wirklich nichts, was nicht geflickt werden musste. Tagelang hatte mich der Tod auf der Schippe. Bis sich der junge Körper dann doch für das Weiterleben entschieden hatte, blieb ich auf der Intensivstation. Später hörte ich, man habe damals viel für mich gebetet. An all dies kann ich mich heute nicht mehr erinnern. Wenn ich auf diese Tage zurückblicke, denke ich nur, wie schön sie war – diese zauberhafte blonde Tänzerin, meine Brigitte.

Ein Rettungs-Helikopter der Bundeswehr war schuld daran, dass ich für längere Zeit aus Brigittes Umfeld verschwand. Man brachte mich, als ich halbwegs wieder zu Kräften gekommen war, in eine Spezialklinik nach Heidelberg-Schlierbach. Das war mein Riesen-Glück. Die wenigen Patientenplätze in solchen Spezialzentren für Rückenmarkverletzte – es gab sie in Heidelberg, Frankfurt und Hamburg – waren um das Jahr 1973 sehr begehrt. Dementsprechend waren sie permanent überbucht. Und sie wurden handverlesen vergeben.

Wahrscheinlich hatten es achtzig Prozent der Rückenmarkverletzten nicht so gut wie ich; sie blieben aus Mangel an freien Plätzen in unzureichend ausgestatteten Kreis- oder Stadtkrankenhäusern. Dort starben sie an Nierenversagen oder an nicht fachgemäß behandelten Druckgeschwüren in den ersten Monaten nach ihrem Unfall. Warum ausgerechnet ich, der kleine Rowdy aus Fürstenfeldbruck, einen Platz in Heidelberg bekam, ist mir bis heute ein Rätsel.

In der Heidelberger Uniklinik hat man wirklich in alles investiert, bloß nicht in sensible psychologische Begleitung. Kaum angekommen, trat der behandelnde Arzt, Prof. Dr. Volkmar Paeslack, an mein Bett, um mir mit seiner gutturalen, nicht einmal unfreundlichen Stimme mein Todesurteil zu verkünden:

«Herr Müller, Sie sind querschnittgelähmt und sitzen für den Rest Ihres Lebens im Rollstuhl! Finden Sie sich damit ab, dass es keine Heilungschancen gibt!»

Kein verbales Herantasten, kein barmherziges «Möglicherweise» oder «Vielleicht», nicht einmal eine notgelogene prozentuale Einschätzung von x oder y Prozent Heilungschancen. Das Urteil sauste auf mich herab wie das Fallbeil einer Guillotine: «Müllerquerschnittgelähmt!Rollstuhl …» Müller, ab zum Erschießen!

Wie? Wo? Was?

He!, ihr verdammten Weißkittel, was soll das? Frechheit!

Ich war wirklich in keiner Weise auf mein zukünftiges Leben als Behinderter vorbereitet. Das Wort «Rollstuhl» traf mich einen halben Meter tiefer als das Wort «querschnittgelähmt», war ich doch christlichabendländisch bestens konditioniert, eine jegliche Oma über die Straße zu schieben, ob sie will oder nicht. Mit dem Begriff «Querschnitt» konnte ich damals und kann ich bis heute nicht viel anfangen, es sei denn, ich denke an Niederquerschnittreifen, ein wissenschaftliches TVMagazin oder die mathematische Mengenlehre. Rollstuhl also, aha!

Rollstuhl!

Ja, und Brigitte, die Gute, würde mich, den zusammengesunkenen Krüppel Josef, mit wehendem Blondhaar über den Zebrastreifen schieben? Grrr, ging ja gar nicht! Brigitte schiebt nicht. Brigitte tanzt. Neue Vorstellung in meinem Hirn: Ich mit dem Rolli an der Tanzfläche, ihr zuprostend, während sie mit einer seriellen Schmalzlocke abhottet. Mir wurde schlecht.

Tagelang kaute ich – wutfinsterdunkelgrübel – am Zipfel der Bettdecke. Ich, Josef Müller, durch die Weltgeschichte geschoben? Sie Armer, kann man Ihnen irgendwie helfen? Mir doch nicht. Alles in mir rebellierte gegen die dreiste oberärztliche Roll-Roll-Verordnung. Ich fühlte mich gar nicht «gelähmt». Dieser blöde Paeslack musste sich in der Person geirrt haben. Ich war das einfach nicht.

Langsam kam ich aus der Phase der Rebellion und Nichtakzeptanz heraus. Ich fühlte in und über mir eine Kraft, die mich am Leben erhielt. Und mit dieser «Kraft» – wow! – gab es keine Absprache, von nun an als Krüppel zu vegetieren. Es wundert mich noch heute, aber es passierte innerhalb relativ kurzer Zeit etwas sehr Heilsames in mir. Ich nahm meine neuen Umstände an, nicht als Fluch und bitteres Schicksal, sondern nüchtern, realistisch, voller positiver Spannung, was mir dieses Leben noch bringen würde. Okay, es gab gerade ein paar üble Handicaps, aber die würde ich wegkriegen wie den Trainingsrückstand beim Fußball. Leute, wo ist der Ball?!

Eines Tages beschloss ich, nicht behindert zu sein.

Jetzt nicht.

Morgen nicht.

Übermorgen auch nicht.

Nie.

Dabei ist es geblieben. Ich bin nicht behindert.

Nur vielleicht am Gehen «verhindert», das ist ganz was anderes.

Ja, ich kann sogar sagen: Durch den Rollstuhl mutierte ich erst richtig zu dem Energiebündel, das ich heute bin. Für meine Umwelt war und ist das manchmal nur schwer auszuhalten.

Ich begegne immer wieder Leuten, die auf zwei Beinen durch die Welt sprinten könnten. Aber sie jammern: «Bei mir ist nichts los! Ich erlebe nie was Aufregendes, kann mich zu nichts aufraffen.» Ich hör mir das an, im Rollstuhl, und bin erschüttert. Bis auf den heutigen Tag verlief mein Rolli-Leben in einer so rasanten, abenteuerlichen, spannenden Weise, dass mir schon das Nachdenken darüber ein sanftes Schaudern bereitet. Manchmal denke ich, die haben mir damals in Heidelberg eine Starkstrom-Energiezelle implantiert: genug Power für den Rest meines Lebens.

Ich kann mich noch genau an den Tag erinnern, an dem ich nach sechsmonatiger Rehabilitationszeit wieder in das (mittlerweile rollstuhlgerecht umgebaute) Haus meiner Eltern entlassen wurde. Einen Tag später sprach ich beim Oberarzt im Krankenhaus in Fürstenfeldbruck vor, der die Erstversorgung nach meinem Unfall vorgenommen hatte. Als ich dem Doc entgegenrollte, um mich zu bedanken, begrüßte der mich mit den Worten:

«Ja hallo, Herr Müller! Sie hätten ja damals beinahe das Handtuch geworfen. Gut, dass wir sie am Leben erhielten!»

Damit wollte er zum Ausdruck bringen, dass mein Leben die ersten Tage nach dem Unfall wohl am berühmten seidenen Faden gehangen hatte. Der überaus verständnisvolle Oberarzt wollte es mir nicht glauben, als ich ihm frank und frei ins Gesicht sagte, ich hätte keine grundsätzlichen Probleme mit meiner neuen Situation im Rollstuhl. Es war aber so.

Und so ist es bis heute. Anfangs war ich ja selbst neugierig: Wann würde der große Frust kommen? Ich wartete zehn Jahre lang darauf. Als er nicht kam, gab ich das Warten auf.

Von dem Amerikaner Reinhold Niebuhr stammt der Weisheitsspruch: «God, grant me the serenity to accept the things I cannot change, courage to change the things I can, and wisdom to know the difference.» – «Gott, schenke mir die Gelassenheit, Dinge zu akzeptieren, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.»

Eine tolle Maxime! Ohne sie zu kennen, durfte ich sie mir früh zu eigen machen. In meiner existenziellen Notsituation habe ich gelernt, Dinge, die unveränderbar sind, als gegeben hinzunehmen. Vor allem aber habe ich mich darauf konzentriert, mit meiner Einschränkung alle, aber auch wirklich alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um das Unwahrscheinliche, aber vielleicht doch Mögliche zu erreichen und meine Grenzen zu erweitern.

Bevor man mit Gelassenheit das Unabänderliche hinnimmt, muss man kritisch die Realitäten abklopfen, ob sie wirklich nicht zu verändern sind. Das habe ich getan. Ich habe dem Defätismus meiner Ärzte so lange nicht geglaubt, bis ich zu hundert Prozent davon überzeugt war, dass sie recht hatten. Ich habe mich umfassend über alle Heilungsmöglichkeiten informiert und gründlich nachgeforscht. Das Ergebnis war: Bis heute gibt es keine Möglichkeit, einmal durchtrennte Nervenbahnen im Rückenmark wieder miteinander zu verbinden – und es wird sie vielleicht nie geben. Solange die Wissenschaft, etwa aus dem Bereich der Stammzellenforschung, hier nicht den Quantensprung schafft, hat die Medizin nichts zu heilen. Punkt.

Aber ich möchte noch etwas sagen: Ich bin mit dem, was meine Umwelt «Handicap» nennt, bisher sehr gut zurechtgekommen. Und zwar so gut, dass ich nicht einmal weiß, ob es für mich erstrebenswert wäre, dass ich wieder normal gehen und laufen könnte. Heute sehe ich meinen Unfall vor vierzig Jahren als Bestimmung, ja, als Fügung für mich und mein Umfeld an. Gut, der Welt, dem FBI und der Münchner Schickeria wäre manches erspart geblieben. Andererseits: Was hätte man von dem kleinen Vorstadtcasanova mit seinem Ford Mustang noch erwarten dürfen, hätte es im Juli 1973 nicht jene schicksalhafte Vollbremsung gegeben?

Sicher gibt es hin und wieder Tage, an denen es mir mal schlechter geht. Aber wer kennt solche Phasen nicht? Seit August 1973, seit den Tagen auf der Intensivstation, lautet der Grundtenor meines Lebens: Danke, dass mir das Leben noch einmal geschenkt wurde! Die veränderten Rahmenbedingungen gehören mit zum großen Spiel. Ich darf ein volles, reiches, schönes und glückliches Leben haben. Super! Seitdem ich das weiß, lebe ich auf der Überholspur – im Rollstuhl!

Als ich, Jahrzehnte später, meine Frau Sandra, die fast zwanzig Jahre jünger war als ich, vor den Traualtar führte, musste ich sie ernsthaft warnen: «Sandra, wenn du dein Leben mit mir teilen willst, dann mache dich auf eins gefasst!», erklärte ich ihr vorsorglich. «Es wird rundgehen! Und die einzige Empfehlung, die ich dir geben kann, lautet: ‹Halt dich fest, Baby!›»

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Roll on!

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In jeder Lebensgeschichte gibt es Schlüsselszenen, kurze, magische Augenblicke, in denen sich das Schicksal verdichtet. Eine solche Szene spielte sich noch während meines Heidelberger Klinikaufenthaltes ab. Es war ein grauer Nachmittag, an dem ich mit grauen Augen am Fenster hing und in eine ebenso graue Landschaft hinausstierte – apathisch, depressiv, ohne Hoffnung. Plötzlich – was war das? Es knurrte, brummte, surrte ein Gefährt die Straße herauf, das sofort ein paar Lebensgeister in mir weckte. Dem Geräusch entnahm ich, dass es sich um schweres Gerät handeln musste.

Und da glitt die Karre auch schon in mein Blickfeld: ein knallroter Mercedes 300 SL Cabrio Gullwing (215 PS, 3 Liter, Höchstgeschwindigkeit 260 km/h, bis 1963 wurden ganze 1900 Stück weltweit gebaut). Wow! Der Fahrer stellte den Motor ab, und wie von Geisterhand geführt, gingen die eleganten Türflügel nach oben: ein Reiher, der die Flügel ausbreitet und zum Flug ansetzt! Ich musste würgen, kämpfte mit den Tränen. Diesen Traum konnte ich mir ja wohl abschminken.

«Aus is. Des kannst’ nie wieder!», brummelte ich in meinen nicht vorhandenen Bart. Doch was war das? Aus dem offenen Wagen flog plötzlich ein Falt-Rolli raus. Der Mann auf dem Vordersitz beugte sich mit dem Oberkörper heraus und verwandelte das Faltteil in Windeseile in ein fahrbares Gerät, in das er sportlich und fix hineinjumpte. Die Flügeltüren gingen runter, und der Typ wieselte in Richtung Klinikportal. Weg war er. Das Auto stand vor meinen Augen, rotglänzend wie ein funkelnder Stern in der Morgensonne, und faszinierte mich.

Mir blieb die Spucke weg. Aber nicht lange. Dann schwor ich mir: «Wenn der das kann, dann kann ich das auch! Du wirst genau so ein Ding haben wie dieser Typ – einen 300 SL Gullwing! Und den Mädels wird der Unterkiefer runterklappen!»

Es klingt verrückt. Aber eines Tages hatte ich ihn, und noch ein paar andere Autos dazu. Das wird später zu erzählen sein.

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Ich glaube, es ist wichtig, dass ich von meiner Herkunft, meiner Kindheit, meinem Elternhaus, meinen Eltern spreche. Von Schurken möchte man ja wissen, ob das vielleicht genetisch bedingt ist; dann wäre das ja unheilbar.

Aufgewachsen bin ich in recht normalen Verhältnissen in Fürstenfeldbruck, 25 Kilometer vor den Toren der Landeshauptstadt München. Meine Eltern galten als normale Bürger und «gute Katholiken», nannten ein mit Eigenhilfe erstelltes Einfamilienhäuschen ihr Eigen und ließen sich nie etwas zuschulden kommen. Aber hinter der Fassade verbargen sich einige Unebenheiten, von denen ich zunächst wenig mitbekam.

Meine Mutter hatte zwei andere Kinder früh verloren, so dass ich alleine übrig blieb und sich ein Übermaß mütterlicher Liebe über mich ergoss – Prinz und Götterliebling. Kam ich zu Mittag von der Schule nach Hause, hatte mir die Mutter ein tolles Mittagessen gekocht. Ach, sie hatte sich schon so auf mich gefreut, ich spürte das. «Eine Runde Tischtennis?», zwinkerte sie mir zu, wenn der Teller geleert war. Natürlich ließ ich mich nicht zweimal bitten. Wir sprangen beide fröhlich in die große Garage neben dem Wohnhaus, in der die Tischtennisplatte dauerhaft aufgebaut war. Und oft legten wir die Schläger erst zur Seite, wenn wir uns vollkommen verausgabt hatten.