Clemens Sedmak
Mensch bleiben
im Krankenhaus
ZWISCHEN ALLTAG UND
AUSNAHMESITUATION
Unter Mitarbeit von Gunter Graf
und Gottfried Schweiger
ISBN 9783990402320
© 2013 by Styria premium
in der Verlagsgruppe Styria GmbH & Co KG
Wien · Graz · Klagenfurt
Alle Rechte vorbehalten
Bücher aus der Verlagsgruppe Styria gibt es in jeder Buchhandlung und im Online-Shop
LEKTORAT: Elisabeth Wagner
UMSCHLAGGESTALTUNG: Bruno Wegscheider
BUCHGESTALTUNG: Maria Schuster
COVERFOTO: iStockphoto.com/Tina Lorien
1. DIGITALE AUFLAGE: Zeilenwert GmbH 2014
Cover
Titel
Impressum
Vorwort
EINLEITUNG: Ethik im Krankenhausalltag
I. „ETHIK FÜR MENSCHEN“: der Blick auf den Alltag
Ethik
Alltag
Eine Zwischenbemerkung: Gesundheit als Fähigkeitsfähigkeit
Ein kleines Wörterbuch
II. DAS KRANKENHAUS als menschliche Institution
„Anständige Institutionen“
Interaktion und Kommunikation: eine Gesprächskultur
Fehlerkultur: Transparenz und Lernen
Das Glück am Arbeitsplatz: „happy hospitals“
III. MENSCHEN: Rollen und Beziehungen
Gedankenlosigkeit und Gleichgültigkeit
Patient/in sein: dennoch Pflichten
Selbsttäuschung und Hierarchien: aus der Blase heraustreten
Starke Sorge: die Menschen lieben
Schlussbemerkung
Eine kleine Leseliste zum Thema
Anmerkungen
Wie fühlt es sich an, in einem Krankenhaus zu arbeiten oder sich als Patient/in dort aufzuhalten? Wie steht es um die Menschen in einem Krankenhaus? Was macht ein menschengerechtes, menschenfreundliches Krankenhaus aus? Dieser Frage sind wir am „Internationalen Forschungszentrum für soziale und ethische Fragen“ (ifz) in Salzburg nachgegangen. Diese Frage entspricht dem ifz, das „Wissenschaft für Menschen“ betreiben will, also forschen „as if people mattered“, „weil es um Menschen geht“. Mit diesem Anliegen, den Fragen der Menschen zu dienen, haben wir am ifz auch einen Gesundheitsschwerpunkt eingerichtet, der sich mit Fragen an der Schnittstelle von Gesundheitswissenschaft und Ethik beschäftigt.
Das vorliegende Buch ist unter Mitarbeit von Gunter Graf und Gottfried Schweiger entstanden, die Literatur gesichtet und Interviews geführt haben. Wir haben uns in der Methode darum bemüht, nicht nur am Schreibtisch zu sitzen, sondern auch mit Menschen zu reden. So sind in dieses Buch auch Anliegen und Einsichten von Teilnehmerinnen und Teilnehmern an Gesprächsrunden und Fachgesprächen des ifz eingeflossen.
Wir danken allen, die an der Entstehung des Buches mitgeholfen haben, den Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern, dem Team am ifz und dem Styria-Verlag, namentlich Elisabeth Wagner für das sorgsame Lektorat.
Salzburg, im Sommer 2013
In seinem berührenden Buch „Im Himmel warten Bäume auf dich“ schildert Michael Schophaus die Krankheit und das Sterben seines Sohnes Jakob, der im Alter von zwei Jahren an Krebs erkrankte. Die junge Familie lebte bis dahin in einer Welt, in der „nur die anderen“ Krebs haben. Und mit einem Mal wurde das Krankenhaus zum Alltag, der Krankenhausalltag zur Lebensaufgabe. Michael Schophaus schildert sich selbst als ungeduldigen Menschen, der angesichts seines schwer kranken Kindes wenig Verständnis für das Personal im Krankenhaus zeigen kann und will. Der Oberarzt, der sich ständig entschuldigen lässt, stellt ebenso eine nervliche Belastung dar wie Bettenmangel, Zeitnot, Raumnot oder eine unbedachte Bemerkung eines mitleidvollen Arztes bei der Chemotherapie: „Haben Sie noch andere Kinder?“ Zur notwendigen Belastung wird der Krankenhausalltag natürlich auch für den zweijährigen Patienten.
„Hier eine Spritze und dort ein Verband … Nur selten gab es Antworten, wenn ihn die Ärzte etwas fragten, denn sein Misstrauen wuchs mit dem Tumor … und wenn es ihm bei der Visite zu viel wurde, wenn die weißen Kittel wichtig und dicht gedrängt ums Bettchen standen, legte er sich einfach auf die andere Seite und schloss die Augen. Stellte sich tot, bis es wieder ruhiger wurde, bis er sich sicher wähnte in seiner kleinen Welt.“1
Eine kleine vertraute Welt mit Regeln, Regelmäßigkeit und Rhythmus schafft Geborgenheit – das ist eine Funktion wiederkehrenden Alltags. Auch im Krankenhaus gibt es solche Regelmäßigkeiten: Alltag inmitten des Ungeheuerlichen einer schweren Krankheit. Und auf diesen Alltag kann man sich auf verschiedene Weisen einlassen. Michael Schophaus schreibt davon, wie er mit seinem Sohn die Ärzte eingeteilt hat „in gute und schlechte, in nette und blöde, in arrogante und nahbare Gesellen“.2 Im Laufe des Berichts stellen sich zwei Eigenschaften als Schlüssel heraus: Fürsorglichkeit und Ernsthaftigkeit. Nicht kumpelhafte, das Leiden bagatellisierende und geschwätzige Ärzte, nicht überambitionierte Ärzte, die den Eindruck vermitteln, dass ihre Forschungstätigkeit wichtiger als alles andere sei, nicht die Eitlen und die Arroganten bestanden die Prüfung durch Michael und Jakob Schophaus, sondern die guten Zuhörer, die selbstverständlich Fürsorglichen, die Ernsthaftigkeit und Sicherheit ausstrahlten. Das ist eine Frage der Charakterbildung, eine Frage der Werte, eine Frage der strukturellen Rahmenbedingungen. Man könnte sich an John Hatties Forschungen aus der Bildungswissenschaft erinnert fühlen: Die mit Abstand wichtigste Variable im Unterricht ist die Person der Lehrerin oder des Lehrers mit den Fähigkeiten, ein gutes Klima zu schaffen, den Schüler/inne/n Respekt entgegenzubringen und persönliches, spezifisches Feedback zu geben. Ist es im medizinischen Bereich grundsätzlich anders?
Auch Kleinigkeiten spielen eine Rolle, „details matter“. Der japanische Schriftsteller Haruki Murakami hat nach dem Nervengasanschlag auf die U-Bahn in Tokio im März 1995 Interviews mit Opfern geführt. In einem Gespräch mit Toshiaki Toyoda, einem Angestellten der U-Bahn, sagte ihm dieser, dass Terrorismus von einem gesellschaftlichen Klima der Achtlosigkeit, wie er es täglich beobachten könne, genährt werde:
„Wenn man wie ich täglich mit so vielen Fahrgästen zu tun hat, erkennt man das. Es ist eine Frage der Moral. Wenn man auf dem Bahnhof arbeitet, bekommt man die Menschen von ihrer negativsten Seite zu Gesicht. Zum Beispiel: Es gibt Leute, die, wenn wir gerade den Abfall zusammengefegt haben, eine Kippe oder ein Stück Papier genau auf die Stelle werfen. Es gibt zu viele, die, statt Verantwortung zu übernehmen, nur an sich selbst denken.“3
Kleinigkeiten können einen entscheidenden Unterschied machen, man denke etwa an das Vorhandensein einer Uhr im Krankenzimmer. Es macht für manche Patient/inn/en, die viel an Kontrolle verloren haben, einen Unterschied, sich wenigstens in der Frage nach der Uhrzeit noch in Kontrolle zu wissen.4 „Unbehagen oder Verärgerung vieler Patienten bei Klinikaufenthalten entstehen bei den meisten nicht wegen der ärztlichen Behandlung, sondern aus der Summierung einer Fülle im Grunde unnötiger Unzuträglichkeiten“, beobachtet Klaus Dietrich Bock.
„Lärm, Unruhe, Hektik, ständige Störungen durch das Personal (oder aber es kommt kein Helfer, wenn er dringend gebraucht wird), mangelhafte Organisation der Diagnostik mit stundenlangen Wartezeiten auf Fluren, womöglich nüchtern bis zur Untersuchung um 14.00 Uhr, kurz angebundene Ärzte, keine Erklärung, was und warum es geschieht, langes quälendes Warten auf Ergebnisse mit der Folge überflüssig langer Liegezeiten (kostenträchtig für Versicherung und Kranke, aber von den Krankenhausträgern wegen besserer Auslastung der Bettenkapazität und der Kostenersparnis durch Pflegetage, an denen sonst nichts geschieht, sehr geschätzt!); nicht funktionierende Warmwasserversorgung, verschmutzte Toiletten, Waschtische und Bäder, Telefonanschluss erst nach drei Tagen, Verwechslung von Diäten, undichte Fenster, klemmende Sonnenrollos etc.“5
Das sind keineswegs Aspekte, die nur mit großem finanziellem Engagement in den Griff zu bekommen sind. Bei vielen Dingen geht es um Sorgfalt, Geistesgegenwart, Empathie und Kreativität. Es mag wie eine Kleinigkeit erscheinen, wenn eine Spüle in einem Behandlungszimmer nicht einwandfrei funktioniert und ständig Probleme bereitet – aber damit wird eine Quelle regelmäßiger Ärgernisse erhalten.6 Es sind Kleinigkeiten, die über die moralische Atmosphäre in einem Krankenhaus entscheiden: Treffe ich an der Rezeption oder auf dem Gang, wenn ich jemanden nach dem Weg frage, auf gelangweilte, unfreundliche, gestresste Menschen? Wie laufen auch solche „small encounters“, solche kleinen Begegnungen, ab? Tim Benit und Anna Delegra, die ihre Erfahrungen als Krankenpflegekräfte beschrieben haben, freuen sich, wenn die Kollegen vom Nachtdienst „hoffentlich so nett“ waren, „schon mal Kaffee für die übermüdeten Frühdienstler“ zu kochen.7 Das sind Kleinigkeiten, die aber im Alltag einen großen Unterschied machen können. Details sind auch kleine „Zeitnischen“, etwa der kurze Augenblick mit einer Tasse oder einem Becher Kaffee; gleichsam „Inseln der Integrität“ in einem mitunter hektischen Alltag.
An Kleinigkeiten und Details kann man so etwas wie eine sorgfältige Grundhaltung ablesen; diese grundlegende Sorgfalt ist das Gegenteil von „carelessness“, wie sie sich auch in kleinen Alltagsschlampereien niederschlägt, wie etwa dem unvollständigen oder unleserlichen Ausfüllen von Formularen. Diese Sorgfalt zeigt sich auch in der Bereitschaft, auf Details zu achten. Der polnische Kinderarzt Janusz Korczak, der sich sehr viel Zeit genommen hat, über kleine Reaktionen von Kindern nachzudenken, hat die Beobachtungsgabe als entscheidend in der Begleitung von Menschen angesehen. Dabei war ihm der Insektenforscher Fabre, der über eine einzigartige Beobachtungsgabe verfügte und Insekten nicht sezierte, Vorbild.8 Ähnlich ist es einem Krankenhaus anzuraten, sich mitunter die Zeit zu nehmen, genau hinzuschauen, auch auf Kleinigkeiten zu achten. Der Blick auf Details kann Zeit und Energie sparen. Ein Beispiel aus dem Pflegebereich: Ein dementer Patient wollte sich das Gesicht nicht mit einem Waschlappen waschen lassen. Die Prozedur war stets ein Kampf. Ein Pfleger kam schließlich auf die Idee, die Ehefrau zu fragen, ob denn der Waschlappen in der persönlichen Hygiene ihres Mannes eine Rolle gespielt hatte. Die Antwort: Ja, aber nur für den Unterleib, das Gesicht habe er sich stets im Waschbecken gewaschen. Das sind Kleinigkeiten, die sich aus einem kurzen Gespräch ergeben können. Die kluge Investition in ein Gespräch kann viel Ärger ersparen. Kleinigkeiten können einen entscheidenden Unterschied machen.
Um Kleinigkeiten geht es auch in diesem Buch: In der Theologie gibt es den Begriff „local theologies“ – „lokale Theologien“, die etwa in einer bestimmten Pfarre oder für einen ganz bestimmten Kontext entstehen. Manchmal spricht man auch von „little theologies“, von „kleinen Theologien“. Leonardo Boff hatte seinerzeit mit seinem bis heute berühmten Buch „Kleine Sakramentenlehre“ Bekanntheit erreicht und darin Alltagsgegenstände als sichtbare Zeichen für eine unsichtbare Wirklichkeit angesehen. „Kleine Theologien“ entstehen vor allem aufgrund von Gelegenheiten, sind also anlassbezogen und erheben nicht den Anspruch, allgemeingültig zu sein. Sie beschränken sich in ihrer Geltung auf bestimmte, lokale Zusammenhänge, die sie ernst nehmen und kennen.
Um ein Beispiel zu nennen: Reinhold Stecher, der jüngst verstorbene frühere Bischof von Innsbruck, hatte einmal in einer Predigt anlässlich einer Priesterweihe den Priester mit einem Busfahrer verglichen – er solle dafür sorgen, dass er mit guter Vorbereitung und Konzentration unfallfrei fahren könne, den Fahrgästen, die Gäste seien, mit Höflichkeit begegne, das Ziel klar vor Augen habe und gut mit dem Kommen und Gehen der Fahrgäste, die zusteigen und aussteigen, umzugehen lerne … Das ist eine „kleine Theologie des Priestertums“. Ganz ähnlich kann man an kleine Ethiken für Alltagszwecke denken. Ein Krankenhaus in einem alpinen Tourismusgebiet wird anders über Kranksein und Gesundsein nachdenken als eine Universitätsklinik. Eine Krankenhausabteilung, die viele verunfallte Schifahrer, deren Urlaub unterbrochen wurde, zu verarzten hat, wird eine andere kleine Ethik entwickeln (Ethik des Unerwarteten und der durchkreuzten Pläne) als eine Palliativstation (Ethik der Langsamkeit, Ethik der guten letzten Schritte, Ethik des Daseins).
Um kleine Aspekte soll es in diesem Buch gehen. Es geht um den Versuch, Anhaltspunkte einer Ethik im Krankenhausalltag zusammenzutragen. Jedes Krankenhaus, jede Abteilung in einem Krankenhaus, ist eingeladen, über eine eigene „kleine Ethik“ nachzudenken. Ein Ordensspital wird sich beispielsweise in manchem anders verstehen als ein Krankenhaus, das nicht in kirchlicher Trägerschaft ist. Die Trägerschaft wird Auswirkungen auf Leitbild und Wertvorstellungen, auf die Grenzen zwischen „Pflicht“ und „Werken der Übergebühr“, die über die Pflicht hinausgehen, haben, auf die Gestaltung von Raum und Zeit. Die ethischen Fragen auf einer Intensivstation sind andere als auf der Gynäkologie, wieder andere als in einem Kinderspital. „Kleine Ethiken“ werden sich ohne große Fachbegriffe und große Thesen um den guten Umgang mit den Fragen des Alltags bemühen. Das hat auch etwas mit der Architektur eines Hauses zu tun. Eine „kleine Ethik“ in einer Krankenhausabteilung, die über einen Personalaufenthaltsraum verfügt, den sich ärztliches und nicht ärztliches Personal teilen, wird anders aussehen als ethisches Nachdenken über den Alltag in einem räumlich ganz anders strukturierten Gebilde. Diese äußeren Dinge wirken sich auch auf die Krankenhauskultur aus. Diese wiederum hat mit Aspekten wie Grüßen und Anrede (Duzen, Siezen, Umgang mit Titeln) zu tun, mit Formen der Höflichkeit und Rücksichtnahme und mit Strukturen eines Gemeinschaftslebens (Geburtstagsfeiern, Weihnachtsfeiern, Betriebsausflug, gemeinsame Fortbildungen). Es ist ethisch nicht unerheblich, welche Kultur sich herausbildet und wie Kultur weitergegeben und gepflegt wird.
Das Buch widmet sich drei großen Aspekten einer Krankenhausethik für den Alltag: erstens einer „Ethik für Menschen“ – einer Alltagsethik mit besonderem Blick auf die Bedürfnisse und die Eigenart eines Krankenhauses; zweitens der Institution Krankenhaus mit ihren ethischen Herausforderungen als menschlichem Krankenhaus und der Frage nach „happy hospitals“; drittens explizit den Menschen, die in einem Krankenhaus arbeiten, mit ihren Rollen und Beziehungen.
Es will also zum Nachdenken über eine kleine Ethik des Krankenhausalltags einladen. Nur diese Einladung, verbunden mit Hinweisen auf wichtige Fragen und Aspekte sowie einem Angebot an Begriffen und sprachlichen Unterscheidungen, kann dieses Buch unterbreiten.
„Schwieriger zu ertragen sind die Nächte. Während der Untersuchungen gelingt es mir ganz gut, eine gewisse Distanz zur Krankheit und meinen Problemen zu halten. Die nüchternsachliche Atmosphäre, in der sich die Untersuchungen abwickeln, und das rein klinische Interesse, mit dem ‚mein Fall‘ betrachtet wird, tötet jede weitere Gefühlsregung sofort ab. Des ungeachtet ist die Schutzhaut, die mich davor bewahrt, in wilde Panik auszubrechen, papierdünn und äußerst verletzlich, und es gibt Stunden, während ich im Zimmer liege und auf den nächsten Test warte, da erfüllt mich schwärzeste Hoffnungslosigkeit, und ich fühle mich hundeelend und wirklich sehr einsam. Nachts wird es dann noch schlimmer. Dann denke ich an all die vielen anderen, denke an all das Elend, das dieser riesige Betonklotz in sich birgt, und dann kann ich mit einem Mal beten. […] Ich habe Zeit, an mir zu arbeiten und meine Erkenntnisse so zu formulieren, dass ich sie [meine Freundin Annuska, Anmerkung], die aus der Hetze des Alltags heraus an mein Bett eilt, nicht mit Klagen zu empfangen brauche, sondern ihr tragen helfe.“9
Die Nacht in einem Krankenhaus – andere Geräusche, andere Gerüche, andere Erwartungen; eine eigene Welt.10 Es ist nicht nur die Welt des Sachlichen und des Professionellen, die Welt der Expertise und der kundigen Handgriffe, die Welt der Technologie und der chemischen Prozesse, die durch Medikamente gesteuert werden. Es ist nicht nur die Welt von Heilung und Sorge, Behandlung und Pflege. Es ist auch eine Welt von Angst und Unsicherheit, eine Welt von Verletzlichkeit und Gefühlen, eine Welt von Einsamkeit und neu erwachter Gottessehnsucht, eine Welt von Schmerz und einer neuen Kultur von Freundschaft. Die Nacht ist eine besondere Zeit; in der Nacht verschieben sich die Proportionen, manche Probleme werden ungemein groß. In der Nacht zeigt sich ein anderer Rhythmus, ein anderes Regelwerk. Tiziano Terzani nutzte die Nacht nach der Krebsdiagnose in der Klinik, um nachzudenken:
„Noch eine weitere Nacht verbrachte ich allein in der Klinik und hatte so viel Zeit nachzudenken. Ich überlegte, wie viele andere Menschen wohl vor mir in diesen Räumlichkeiten mit ähnlichen Mitteilungen konfrontiert worden waren, und empfand diese Gesellschaft irgendwie als Ermutigung.“11
Die Nacht als Raum des Denkens und Nachdenkens, die Nacht als Zeit der Kontemplation. Erving Goffman hat sich in seinen Studien über Institutionen immer auch gerade für deren „Unterseite“ interessiert, für das, was hinter der Bühne des Geschehens, abseits des grellen Tageslichts geschieht. So sind denn auch die Nächte in einem Krankenhaus einen besonderen Blick wert. Jerome Lowenstein beschreibt in einem Band über seine Erfahrungen als Arzt die Mitternachtsmahlzeit, die die in einem Krankenhaus im Zuge ihrer Ausbildung tätigen Ärzte gemeinsam einnahmen.12 Diese mitternächtlichen Begegnungen dienten nicht nur dem Verzehr von Überresten aus der Cafeteria, sondern vor allem auch dem Austausch, der gegenseitigen Unterstützung, der Bildung eines Gemeinschaftsgefühls. Auch in diesem Sinne kann sich ein Blick auf die Nacht in einem Krankenhaus lohnen; dieser Blick könnte zu einer „kleinen Ethik der Krankenhausnacht“ führen.
Im Folgenden soll also über Konturen einer „kleinen Ethik“ für ein Krankenhaus nachgedacht werden. Dabei wollen wir uns zuerst über den Begriff „Ethik“ Gedanken machen, dann über die Begriffe „Alltag“ und „Gesundheit“, um zuletzt ein kleines Wörterbuch vorzustellen, das Begriffe enthält, die für ein Nachdenken über ethische Fragen im Krankenhausalltag von Bedeutung sind.
Wir haben es hier nicht mit „sauberen Idealsituationen“ zu tun, wie sie am Schreibtisch oder im Lehnstuhl (als sogenannte „armchair ethics“) entworfen werden, sondern mit echten Lebenssituationen, die entsprechend „unaufgeräumt“ sind. Der amerikanische Medizinanthropologe Arthur Kleinman hat den professionellen Ethiker/inne/n nicht ganz zu Unrecht vorgeworfen, immer wieder Ethik für eine ideale Welt zu betreiben. Das Leben ernst zu nehmen bedeute, es zu sehen, wie es ist – „messy“.13 Oder in den Worten des protestantischen Theologen Reiner Anselm: „Ethik entsteht nicht in der dünnen Luft der Theorie, sondern ihr Ort ist die stickige Atmosphäre konkreter Konflikte. Sie ist gebunden an konkrete Orte der Entscheidung.“14 In diesem Bereich stickiger Atmosphäre und moralischer Luftverschmutzung bewegt sich die ethische Reflexion für den Alltag. Orte von Verletzlichkeit und Krankheit, wie sie Krankenhäuser darstellen, sind denn auch Orte, die für die Ethik besonders wichtig sind. Orte des Krankseins sind Orte der Ethik.15
In Gesprächen mit Müttern, die mit ihren Kindern Krankenhausaufenthalte absolvierten, hörten wir Sätze wie: „Äußerlichkeiten sind wichtig, wie du dich kleidest, ob du dich schminkst. Das hat einen Einfluss darauf, wie man dich im Krankenhaus behandelt“, oder: „Es macht einen Unterschied, ob der Titel auf der E-Card eingetragen ist oder nicht, man geht mit dir anders um, wenn du einen akademischen Titel hast“, oder: „Manche Eltern haben ganz unverschämte Ansprüche, gerade auch, wenn es um die Kinder geht. Da tut mir manchmal das Personal leid“, oder: „Das Wichtigste sind wohl Wertschätzung und Höflichkeit. Wie man behandelt wird. Wenn du deinerseits dem Personal höflich begegnest und Wertschätzung entgegenbringst, wirst du auch eher höflich behandelt werden.“
Bleiben wir beim Stichwort „Höflichkeit“: Der deutsche Sprachwissenschaftler Harald Weinrich hat die Höflichkeit als die entscheidende Tugend des öffentlichen Lebens beschrieben, als Grundpfeiler von Gesprächskultur und Demokratie. Dabei ist Höflichkeit eine Form der Gesprächsführung, die das Gebot der maximal effizienten Informationsübertragung bremst, mit Konjunktiven, Adjektiven und indirekten Formulierungen arbeitet, sich dem Gegenüber behutsam nähern lässt und nicht allein am „Was“ des Inhalts, sondern auch am „Wie“ des Stils interessiert ist. Höflichkeit im Krankenhaus ist eine ethische Frage, die auch mit den angesprochenen Details zu tun hat. Höflichkeit ist dabei eine Sache des einzelnen Menschen, aber auch eine Frage der Arbeitskultur. Hier kann eine Person das Klima nachträglich beeinflussen. Studien zur Arbeitsplatzzufriedenheit betonen immer wieder die Bedeutung des Betriebsklimas, das nicht zuletzt mit Aspekten des höflichen Umgangstons zu tun hat.
Ethik: das Nachdenken über das Gute
Hier zeichnen sich Aspekte ab, bei denen man an einer kleinen Ethik für ein Krankenhaus bauen könnte. Immer wieder geht es bei solchen Überlegungen um den richtigen Umgang. In einem Interview erzählte eine Krankenschwester, die auf der Intensivstation arbeitet:
„Ein heikles Thema sind auch Alkoholiker und Drogenkranke. Da muss ich mich auch zusammennehmen. Ich sage mir immer vor, jeder Alkoholiker habe einfach auch eine Vorgeschichte und es ist jetzt nicht dem sein Ermessen, dass er das jetzt wollte. Sondern der wird auch anders reingeschlittert sein, aber man tut sich bei Alkoholikern sehr schwer in der Betreuung, weil die teilweise extrem ungehalten sind, und die sind meisten auch im Entzug, aber das ist mehr lindernd als bessermachend. Und wir bekommen recht viele Alkoholiker, auf der internen Seite. Da haben wir schon einigen ein paar Wochen aus dem Leben rausgeholt. Aber du weißt ganz genau, du hackelst da voll rein, und der geht heim oder geht nur von der Intensivstation raus, auf der Station kannst du den auch nicht überwachen, und geht und holt sich sein nächstes Bier. Aber du hast da gearbeitet und die kosten dich viel Kraft. Weil diese Menschen sind multiorgankrank … Da fällt es mir schwer, dass ich da so tu’ wie bei jedem anderen.“
Auf diese Weise ergibt sich eine Reihe von ethischen Fragen, etwa: Wo und wie kann man „delikate Angelegenheiten“ besprechen? Wie kann man einem Patienten, einer Patientin, die stets eine bestimmte und unverwechselbare und mitunter tragische Vorgeschichte haben, gerecht werden? Woher nehmen Menschen mit Verantwortung für die Betreuung, Pflege und Begleitung von Patient/inn/en die Kraft, ihren Dienst zu tun? Wie ist mit schwierigen Patient/inn/en umzugehen, also mit Patientinnen und Patienten, die wenig Geduld, Kommunikationsfähigkeit und Kooperationsbereitschaft zeigen? Welche Rechte haben Patient/inn/en? Welche Rechte hat das Personal in einem Krankenhaus? Gibt es auch so etwas wie „Patient/inn/en-Pflichten“? Gibt es hoffnungslose Fälle? Soll die Verweigerung von „Compliance“ Konsequenzen haben? Wie ist mit Menschen umzugehen, deren Lebenssituation so komplex ist, dass die gesundheitlichen Probleme nur die Spitze des Eisbergs an Lasten und Lebensherausforderungen sind? Wann kann ein Mensch guten Gewissens aus einem Krankenhaus entlassen werden?
Ethik ist das Bemühen, systematisch über solche Fragen nachzudenken. Ethik ist das Nachdenken über das Gute; das kann sich auf das gute Leben beziehen, auf den guten Charakter und die gute Person, oder auch auf die gute Handlung, die gute Institution oder die gute Entscheidung. Während wir in der Regel unter Moral „gelebte Normen und Wertüberzeugungen“ verstehen (sodass jede wie auch immer geartete Gesellschaft so etwas wie Moral aufweist), kann man Ethik als systematische Reflexion auf Moral ansehen. Während die deskriptive Ethik Moral beschreibt, denkt die normative Ethik darüber nach, was wir tun sollen oder nicht tun dürfen. Das kann auf „materiale“ Weise (besondere Empfehlungen und Entscheidungen) oder auf „formale“ Weise (Arbeit mit allgemeinen Prinzipien) geschehen.
Bekannte Beispiele für solche allgemeinen Prinzipien, wie sie auch in der medizinischen Ethik zum Einsatz kommen, sind das Nichtschadensprinzip (Vermeidung von unnötigem Leid und Bewahrung vor Schaden), das Autonomieprinzip (Respekt vor der freien Entscheidung, in so vielen Lebensbereichen so umfangreich und so lange wie möglich), Prinzipien der Gerechtigkeit (in seiner ursprünglichsten Form: gleiche Fälle gleich, ungleiche ungleich behandeln) oder Prinzipien der sozialen Zuträglichkeit (Vermeidung unverhältnismäßigen Aufwandes). Selbstbestimmung, Gerechtigkeit und Leidvermeidung sind wichtige Orientierungspunkte im ethischen Nachdenken.
Ethische Handlungen und der Handlungsspielraum
Der Handlungsspielraum wird ethisch neben Prinzipien auch durch Unterscheidungen strukturiert. Es wird etwa mit Blick auf die Pflichten zwischen „starken Pflichten“ (dürfen nicht verletzt werden) und „schwachen“ oder „relativen“ Pflichten (können gegebenenfalls zugunsten höherrangiger Pflichten aufgegeben werden) unterschieden. Unterschieden wird auch zwischen Prinzipien und kasuistischen Regeln, die das Besondere in den Blick nehmen; etwa mit Anhaltspunkten wie: „Je unnötiger ein Eingriff, desto genauere ärztliche Aufklärung ist nötig.“ Das ist nun nicht besonders aufregend, aber als erste Klärung wichtig und möglicherweise hilfreich. Ethisch relevant sind vor allem jene Bereiche, die wir handelnd beeinflussen können. Ethisch relevant ist vor allem das, was wir durch Entscheidungen und handelndes Gestalten prägen können. Ein Beispiel:
„Die Nachtschwester, die etwas nach dreiundzwanzig Uhr auf ihrer Runde hereinschaut, schüttelt den Kopf, als sie mich mit einem Buch in der Hand antrifft. ‚Sie schlafen ja schon wieder nicht‘, sagt sie vorwurfsvoll., Das geht doch einfach nicht. Warum weigern Sie sich denn, ein Schlafmittel zu nehmen?‘ Ich blicke in ihr noch junges Gesicht, in ihre Augen, in denen deutlich die Missbilligung darüber zu lesen ist, dass ich mich nicht, wie jeder andere Patient, in die Krankenhausroutine einordne.“16
Hier haben wir es mit Spielräumen zu tun, die handelnd beeinflusst werden können. Ein Buch zu lesen ist eine Handlung; eine Schlaftablette zu nehmen ist eine Handlung; eine Frage zu stellen ist eine Handlung. Unter „Handlungen“ versteht man gemeinhin durch den Menschen herbeigeführte Ereignisse. Handlungen sind Verhaltensweisen, die der willentlichen Kontrolle unterliegen: Man kann sie setzen und man kann sie unterlassen. Auch durch ein Unterlassen kann gehandelt werden. Anders gesagt: Eine Handlung ist eine Form des Verhaltens, über die man sich beraten kann, eine Form des Verhaltens, zu der man aufgefordert werden kann. Von Handlungen sprechen wir in der Regel im Zusammenhang mit dem Verfolgen von Zwecken. Ein Mensch handelt, wenn er damit einen bestimmten Zweck verfolgt, aber auch einen anderen Zweck verfolgen könnte. Diese Wahlmöglichkeit kann man „Handlungsoptionen“ nennen. Es ist ethisch von Interesse, den Blick auf die verfügbaren Handlungsoptionen zu richten. Handle so, dass du immer auch Alternativen hast, zwischen denen du dich entscheiden kannst.
Der Blick auf „Alternativen“ ist von entscheidender Bedeutung, die Schärfung dessen, was der österreichische Dichter Robert Musil den „Möglichkeitssinn“ genannt hat, den Sinn für das, was möglich wäre und anders sein könnte. Wenn wir die Frage stellen: „Was könnte man besser machen?“, zielt das auf den Möglichkeitssinn ab. Es verwundert nicht, dass der englische Dirigent Benjamin Zander ein bekanntes Buch über Führungsethik (geschrieben von ihm und der Psychotherapeutin Rosamund Zander) „Die Kunst der Möglichkeit“ genannt hat.17 Es verlangt die Kunst der Möglichkeit, wenn ein Solist vor der Aufführung von Schuberts „Winterreise“ seinen Auftritt wegen Liebeskummers absagen möchte – der Dirigent sah dabei die einmalige Chance, ein gefühlstiefes Konzert mit einem Solisten in der rechten Stimmung zur Aufführung zu bringen! Denn schließlich geht es in Schuberts „Winterreise“ um existenziellen Schmerz und enttäuschte Liebe. Führen bedeutet Möglichkeiten zu sehen, das gilt auch für das Führen eines Krankenhauses. Der Blick auf Handlungsspielräume, Handlungsalternativen und Handlungsoptionen ist ethisch relevant. Ein Arzt nannte in einem von uns geführten Interview Beispiele für verbesserungsfähige Aspekte:
„Es gibt gewisse Dinge, wo Verbesserungsbedarf wäre, denke ich z. B. an XY [ein kleineres Gemeindespital], wo man in einer Notfallaufnahme sitzt und vielleicht 20 wartende Patienten da sind und manche schon seit zwei Stunden warten … dass da eine Drucksituation auf den jeweiligen Arzt kommt und die Erwartung von den Patienten ist, dass sie gleich drangenommen werden … da gibt es Patienten, die sehr ungeduldig werden und an der Türe klopfen, obwohl es klar eine Reihung gibt … je nachdem, wie schwerwiegend das Problem ist … und dass ältere Patienten kommen, die langsamer sind, schlechter hören … da ist es zu Problemen mit den Ärzten gekommen, da war ein junger Arzt, der sich aufgeregt hat über das Kommen der Patientin, obwohl sie nichts hat … und größere Probleme entstehen auch im Nachtdienst, wo einfach der Stresslevel relativ hoch ist und der Arzt an seine Grenzen kommt von seinen Dienstzeiten, dass es zu Überforderungen kommt, die eventuell auf den Patienten übertragen werden … was nicht sein soll, sich aber nicht vermeiden lässt teilweise … [wenn] ein Patient sehr wehleidig tut … und es kommt nichts raus, da ist die Geduld des Arztes … da kann es schon zu einem gespannten Verhältnis kommen, auch in der Untersuchungsmodalität. Oder auf der Chirurgie … man muss untersuchen und die Patienten kommen nicht entgegen beziehungsweise in Nachtdiensten, was immer ein großes Thema ist, wenn jemand betrunken ist oder unter Drogeneinfluss da ist und sich gar nicht behandeln lassen will … der Arzt ist auch unter Stress, will den behandeln und es ist nicht möglich …“
Hier wird man sich fragen: Welche Handlungsmöglichkeiten gibt es? Wie können die Rahmenbedingungen für das Handeln verändert werden? Offensichtlich findet das Handeln in einem Krankenhaus im Rahmen von Strukturen statt, die die Menschlichkeit im Handeln fördern oder erschweren können. „Druck“ in Form von Zeit-, Leistungs- oder Kostendruck erschwert das freie Atmen und schränkt die Handlungsspielräume empfindlich ein.
Im Zweifelsfall für die Freiheit!
Hier gilt es, Oasen der Freiheit zu sichern. Der bekannte amerikanische Philosoph John Rawls hat in seiner 1971 erschienenen „Theorie der Gerechtigkeit“ die berühmte Frage gestellt: Wenn alle Mitglieder einer Gesellschaft unter einem Schleier des Nichtwissens zusammenkommen würden, auf welche Gesellschaft würde man sich einigen? „Schleier des Nichtwissens“ („veil of ignorance“) bedeutet, dass man nichts über die eigenen physischen und psychischen Eigenschaften weiß, dass man nicht weiß, in welche Familie, Kultur und Epoche man hineingeboren wird. Wenn dies so ist – nach welchen Prinzipien würden wir unsere Gesellschaft aufbauen? Rawls gibt interessanterweise den Hinweis, dass wir uns zuerst darauf einigen würden, jedem Mitglied der Gesellschaft ein größtmögliches Bündel an Freiheiten zu geben. Hier geht es also auch um Handlungsspielräume!
Wir könnten diese Frage auch für ein Krankenhaus stellen: Auf welche Art von Krankenhaus würden wir uns einigen, wenn alle, die mit einem und in einem Krankenhaus zu tun haben, unter einem Schleier des Nichtwissens zusammenkämen? Ich weiß also nicht, ob ich Chefärztin oder Vater eines kranken Kindes, Reinigungskraft oder Verwaltungsangestellte, Pfleger oder Krankenschwester, Patient/inn/en-Anwalt oder Versicherungsvertreter, Koch oder Turnusärztin bin. Was wäre mir wichtig? Die Frage ist fruchtbar, gerade wenn man sie mit Blick auf eine konkrete Abteilung oder ein konkretes Krankenhaus stellt. Allein die Frage kann schon etwas bewirken.
Was die Antwort angeht, gibt es sicherlich gute Gründe, in eine ähnliche Richtung zu gehen wie Rawls: ein größtmögliches Bündel an Freiheiten für jede einzelne Person. Anders gesagt: im Zweifelsfall für die Freiheit. Wieder anders gesagt: Achte bei der Rollengestaltung und der Gestaltung der Rahmenbedingungen darauf, dass die betreffende Person über Spielräume und Wahlmöglichkeiten verfügt, soweit das mit Blick auf das Gemeinwohl und die Ordnung des Ganzen möglich ist. Hier wird man sich also fragen können: Was bedeutet Spielraum im Reinigungsdienst? Etwa Mitbestimmung bei der Wahl der Reinigungsgeräte, Chemikalien, Arbeitszeiten, Prioritäten und Abfolgen? Was bedeutet Spielraum für Eltern, deren Kind stationär aufgenommen wird? Etwa die Freiheit, auch über Nacht beim Kind zu bleiben? All diese Fragen haben mit dem Handeln zu tun.
Klassischerweise werden Handlungen in ethischer Absicht eingeteilt in solche, die geboten sind, in verbotene, in ethisch indifferente Handlungen und in Werke der Übergebühr. Ethisch indifferente Handlungen sind solche, bei denen es keinen ethischen Unterschied macht, ob sie gesetzt oder unterlassen werden; „Werke der Übergebühr“ (manchmal „supererogatorische Akte“ genannt) sind lobenswerte Handlungen, die man aber nicht verlangen kann. Ein klassisches Beispiel wäre etwa das Spenden, zum Beispiel für die Klinikclowns: eine schöne Handlung, aber man kann Menschen schwerlich dazu verpflichten.
Es gibt nun, wenn man eine „kleine Ethik“ für ein bestimmtes Krankenhaus entwickeln kann, eine wichtige Frage: Wo verläuft die Grenze zwischen „Pflichten“ und „Werken der Übergebühr“? Wenn diese Grenze nicht klar ist, kann es zu Missverständnissen und empfindlichen Abstimmungsschwierigkeiten kommen. Haben Patient/inn/en das Recht darauf, dass die Nachtschwester mit ihnen plaudert? Ist es ein Werk der Übergebühr, wenn das Krankenhaus auf der Kinderchirurgie den Kindern Spielzeug anbietet? Ist es supererogatorisch, dass die Kinderkrankenschwester sich auch bei wichtigen Dingen der Kinderwelt (Harry Potter, Fluch der Karibik, Bob der Baumeister, Caillou, Thomas Lokomotive …) auskennt? Es ist lohnenswert, sich auch über solche Fragen Gedanken zu machen und sich auszutauschen, weil sich hier die Wahrnehmung innerhalb einer Abteilung oder auch die Wahrnehmung von Patient/inn/en und deren Angehörigen auf der einen Seite und die Wahrnehmung des Personals auf der anderen Seite deutlich unterscheiden können.
Der Umgang mit dem Schicksalhaften
Neben dem Handeln gibt es freilich auch einen Bereich, der gerade im Umgang mit Krankheit und Leid eine wichtige Rolle spielt: der Umgang mit dem Schicksalhaften; das Annehmen von Einschränkungen, die Akzeptanz des Unverfügbaren und Nichtmanipulierbaren. Ethik wird sich auch um einen guten Umgang mit dem Schicksalhaften bemühen müssen. Ethische Fragen hängen stets mit Fragen des guten Lebens im Allgemeinen zusammen. Dass es hier einen Bedarf gibt, über Endlichkeit und Grenzen nachzudenken, liegt auf der Hand. Der Umgang mit Schicksalhaftem hat auch mit der Weise, wie wir sprechen, zu tun. Einstellungen können sich auch in der verwendeten Sprache ausdrücken. Der bereits zitierte krebskranke Journalist Tiziano Terzani, der sein Leben lang mit Sprache gearbeitet hat, denkt über diesen Aspekt mit Blick auf die Krebserkrankung nach: 18