Wolfgang Schreyer
Augen am Himmel – Eine Piratenchronik
978-3-86394-097-3 (E-Book)
Dem E-Book liegt die 4. überarbeitete und erweiterte Auflage zugrunde. Sie erschien 1968 im Deutschen Militärverlag, Berlin
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
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Als Dr. Jones vor dem Foto steht, ahnt er wieder die Gefahr, die seinem Lande droht. Seit ein paar Monaten wird er das Gefühl nicht los, auf der Gegenseite stünde eine verhängnisvolle Entwicklung kurz vorm Abschluss. Zahllose Gerüchte gibt es, widersprechende Informationen, Gefangenenaussagen und schwer überprüfbare Agentenmeldungen – wo ist ein einziger klarer Beweis? Wird er ihn hier bei den RAF-Auswertern finden? Er hofft es mit der Ungeduld eines Mannes, der nicht glauben will, dass er seit dreieinhalb Jahren einem Phantom nachjagt. Er ist an diesem Ostermorgen eigens nach Medmenham gekommen, damit sein Verdacht endlich bestätigt werde.
Das Foto, das man ihm vorlegt, ist ein Luftbild, geschossen von einer "Mosquito" in großer Höhe über dem Nordzipfel der Insel Usedom. Captain Kenny hat es so stark vergrößern lassen, dass es den ganzen Tisch bedeckt. Sonst begutachtet André Kenny Fabriken, Bahnhöfe, Kraftwerke – zerbombte und unzerstörte, um sie von der Liste zu streichen oder neu daraufzusetzen. Er ist Abteilungsleiter für Industrieauswertung in der Zentralauswertungseinheit der Königlichen Luftstreitkräfte in Medmenham. "Da oben steht nichts Besonderes mehr, Sir", sagt er und wischt über das Nordende des Peenemünder Hakens. "Anscheinend Landgewinnungsarbeiten..."
Dr. Jones tippt auf einen lang gestreckten, nach Nordwest weisenden Schatten dicht am Strand. "Und das hier, Captain?"
"Wir haben dieses Objekt als eine Pumpmaschine identifiziert", antwortet Kenny. "Offenbar zapfen die Deutschen damit Schlamm aus dem Meer und lassen ihn dort trocknen."
Dr. Jones schüttelt den Kopf, ihn überzeugt die Auskunft nicht. Die Deutschen haben andere Sorgen, Land entreißen sie lieber ihren Nachbarn als der See. Er lässt sich eine Lupe geben und starrt auf die vermeintliche Pumpe, bis sie ihm verschwimmt... Es ist Ostersonntag 1943. Trügerische Ruhe an den Fronten. In Tunesien rüstet General Alexander zum Schlag gegen den letzten Brückenkopf der Achsenmächte auf afrikanischem Boden. Im Osten erstickt jede Bewegung im Frühjahrsschlamm. Dennoch beginnen die Deutschen, einem Agentenbericht zufolge, rund um den Kursker Bogen vierhunderttausend Mann und dreitausend Panzer zusammenzuziehen. Vor fünf Tagen hat Hitler das Unternehmen "Zitadelle" befohlen, "als ersten der diesjährigen Angriffsschläge, der uns die Initiative für dieses Frühjahr und den Sommer bringen muss". Und tausend Kilometer hinter der Front zerstampft die SS das Warschauer Ghetto.
Deutschland ist, nach Stalingrad, ein verwundetes, zu allem fähiges Raubtier. Noch immer sind es hauptsächlich die sowjetischen Truppen, die es niederhalten und zurücktreiben. Amerika hat im Pazifik zu tun, Großbritannien führt seine Bomberoffensiven. Eben hat Winston Churchill an Stalin geschrieben: "In dieser Woche haben wir drei erfolgreiche Angriffe geflogen, nämlich auf Spezia, Stuttgart, und vergangene Nacht sowohl auf die Škoda-Werke in Plzeň wie auf Mannheim... Obgleich die Fotografien zeigen, dass ungefähr ein Drittel von Essen in Trümmern liegt, macht der Feind große Anstrengungen, um die Kruppwerke in Gang zu halten... Wir haben aus diesem Grunde den Kruppwerken noch mal 800 Tonnen verpasst. Außerdem haben wir vorige Woche Duisburg 1450 Tonnen zukommen lassen, die schwerste Bombenlast, die bisher bei einem einzigen Angriff abgeworfen wurde. Stettin bekam 782 Tonnen ab und Rostock 117..."(Briefwechsel Stalins mit Churchill, Attlee, Roosevelt und Truman 1941–1945, Berlin 1961, S. 148 u. 158.)
Dr. R. V. Jones weiß die Zahlen auswendig. Seit man ihn im September 1939 aus seinem Oxforder Universitätslabor geholt und zum Chef der "Wissenschaftlichen Abwehr" im britischen Luftfahrtministerium ernannt hat, ist er jeder Entwicklung, jeder Tendenz und Spielart des Luftkriegs nachgegangen. Dabei ist ihm unumstößlich klar geworden, dass die Deutschen Vergeltung üben wollen, dass es nicht leeres Gerede war, als Hitler neulich mit dem deutschen Erfindergenie drohte, das nicht müßig gewesen sei und neue Waffen geschmiedet habe. Die Ostfront beansprucht ihre Luftwaffe, ihr Kriegspotential, daher fehlt es ihnen an konventionellen Abwehrmitteln; ihre "Festung Europa" ist ein Haus ohne Dach. Doch sie arbeiten pausenlos an Geheimwaffen für einen Gegenschlag, und zwar, wie Dr. Jones weiß, seit langem.
Schon vor dreieinhalb Jahren nämlich, nach seinem Blitzsieg über Polen, hatte Hitler in Danzig eine neue Waffe erwähnt, mit der Deutschland nicht angegriffen werden könne. Damals war Großbritannien aufgewacht – über feindliche Waffenprojekte wusste man nichts. Schleunigst hatte der RAF-Generalstab seiner Abwehr eine naturwissenschaftliche und eine technische Unterabteilung angegliedert und Physiker wie ihn, Jones, in leitende Positionen eingesetzt. Er besann sich noch genau auf den schweren Anfang. Seine erste Maßnahme war, mit der ihm als Wissenschaftler eigenen Akribie alle Agentenberichte über Geheimwaffen zu sichten, die dem Secret Service seit 1934 zugegangen waren. Die meisten klangen höchst unklar, manche erschienen ihm einfach grotesk. Sein Unternehmen ähnelte dem Versuch, aus einem Gemisch verschmutzter Flüssigkeiten eine unbekannte Substanz herauszudestillieren.
Am 11. November 1939 legte er, wie David Irving in seinem 1965 in London erschienenen Buch "Operation Crossbow" berichtet, die Analyse vor. Die Zusammenfassung lautete: "Eine Anzahl von Waffen wird (in den Agentenberichten) mehrmals erwähnt, und einige müssen ernsthaft in Betracht gezogen werden. Dazu gehören: bakterielle Kriegführung; neue Kampfstoffe; Flammenwerfer; Gleitbomben, Lufttorpedos und unbemannte Flugzeuge; weittragende Geschütze und Raketen; neue Torpedos, Minen und Unterseeboote; Todesstrahlen, Strahlen, die Motoren ausschalten; magnetische Minen."
Über deutsche Raketenprogramme lagen zu diesem Zeitpunkt nur zwei Auskünfte vor, ein "Gerüchtebericht" und eine anonyme Nachricht. Sie war im letzten Moment vom britischen Marineattaché in Oslo übermittelt worden und sprach von einer Versuchsanstalt irgendwo an der deutschen Ostseeküste. So nebulos sie auch waren, ohne eine der beiden Auskünfte wäre das Stichwort "Raketen" nicht in die Zusammenfassung hineingelangt. Doch Jones hatte sich außerstande gesehen, den Wert dieser Meldung zu beurteilen. Überhaupt war es sein Problem, echte Nachrichten aus dem Informationsstrom, der seinen Schreibtisch überschwemmte, herauszufischen und sie von den üblichen Verunreinigungen zu befreien. Das weitaus meiste, was seine Dienststelle erreichte, war ein wunderliches Gemisch aus Daherfabuliertem, Missverstandenem und jenen gesteuerten Falschmeldungen, die der deutsche Geheimdienst – wie jeder andere – massenhaft ausstreute, um wirkliche Entwicklungen zu verschleiern und verlustreiche Reaktionen zu provozieren. So genanntes Spielmaterial, glaubwürdig zubereitete Fehlinformationen, machten Jones viel zu schaffen.
So hatte er drei Jahre hindurch im Dunkeln getappt, bis das Geraune um eine deutsche Raketenentwicklung plötzlich schwoll. Der erste Hinweis kam von einem dänischen Chemiker, den Jones für zuverlässig hielt. In einem Berliner Weinlokal hatte der Däne eine Unterhaltung belauscht, aus der hervorging, dass Ende November 1942 "bei Swinemünde" mit einer "großen Rakete" experimentiert worden sei. Ein weiterer Agentenbericht umriss den Versuchsort genauer: Peenemünde am Nordzipfel von Usedom. Diese Angabe machte es erstmals möglich, die Luftstreitkräfte einzuschalten: Am 9. Februar wurde Bildaufklärung über Peenemünde befohlen. Die Kameraaugen der "Mosquitos" sollten erspähen, das Negativ sollte festhalten, was die Agenten so ungenau beschrieben, weil keiner von ihnen es je erblickt hatte.
Aber, wie es scheint, sieht auch dieses Auge nicht eben scharf. Enttäuscht legt Dr. Jones die Lupe hin. Schon oft hat er auf Luftbildern rätselhafte Dinge entdeckt – Einzelheiten, die einfach nicht zu bestimmen sind. Faktoren wie Luftunruhe, Staub, Dunst, Kontrastarmut, Vibrationen, Schwankungen des Beobachtungsinstruments gegenüber dem Objekt schränken die Vergrößerungsfähigkeit ein. Er kennt die Faustregel der Bildauswerter, nach der das Identifizieren eines Ziels eine fünfmal höhere Auflösung verlangt als die bloße Ortung. Und das Auflösungsvermögen der Filme bleibt noch immer hinter dem der Kameraoptik zurück. Daher kann er jetzt beim besten Willen dem Captain Kenny nicht widersprechen, der den Schatten am Strand für eine Schlammpumpe hält.
"Bitte verständigen Sie mich, sobald neues Material vorliegt", sagt er. "Wir vermuten, dass die Deutschen eine Art Schleuder haben, irgendeine Form von weittragenden Werfern, die in der Lage sind, von der französischen Küste bis nach London zu feuern. Der Werfer könnte einem Stück Eisenbahngleis ähneln. Ich wäre Ihnen deshalb dankbar, wenn Sie sorgfältig auf alle verdächtigen Montagen von Schienen oder Gerüsten achten wollten."
"Sehr wohl, Sir", antwortet Kenny.
Dr. Jones verabschiedet sich. "Wir sollten auch nach anderen Indizien suchen", bemerkt er an der Tür. "Sie treiben ihre Raketen mit festem Brennstoff an, vielleicht mit Cordit. Ein Sprengstoffwerk müsste also in der Nähe sein... Hoffentlich höre ich bald von Ihnen."
Neben der Bentley-Limousine, die den Abwehrchef in sein Londoner Büro zurückbringen soll, steht ein flüchtiger Bekannter: Major Cummings von der Geschichtsabteilung des RAF-Stabs. Er hat auf eine Fahrgelegenheit gewartet, offenbar steht ihm kein eigener Wagen zu. "Was halten Sie eigentlich von unserer Luftaufklärung?", fragt Jones ihn, als der Bentley losrollt.
"Sie ist der nützlichste Teil der Royal Air Force", antwortet Cummings ohne Zögern. "Sie könnte es jedenfalls sein, wenn man mehr für sie tun würde. Aber sie wird unterschätzt. Wichtig sind uns einzig Harris' Bomber, allenfalls noch die Jagdflieger, die von ihrem Ruhm aus dem Herbst 1940 zehren. Der Aufklärer bringt ja keine Resultate, die so ins Auge fallen wie verbrannte Städte." Er lacht – ein kurzes Lachen, das bitter und trocken und ein wenig verächtlich klingt.
"Mir scheint manchmal, die Luftaufklärung findet gar nichts mehr, das kleiner ist als Berlin."
"Weil man nichts anderes von ihr verlangt! Wir haben vergessen, was sie leisten kann und dass die Geschichte des Luftkriegs mit ihr angefangen hat."
Dr. Jones lehnt sich in das Fondpolster zurück. Draußen flitzt eine Reihe blühender Apfelbäume vorbei. Soll er mit Cummings lieber über das Wetter sprechen? Er kennt dessen ketzerische Einstellung zur Bomberoffensive, seine Kritik an RAF-Stabschef Sir Charles Portal. "Übertreiben Sie nicht etwas?", fragt er schließlich.
"Gewiss nicht", sagt Cummings. "Seit es organisierte Heere gibt, gilt die ständige Sorge aller Befehlshaber dem, was der Feind heimlich tut. Nichts gegen Ihre Dienststelle, Doktor – aber in alten Zeiten hatten Kundschafter nicht dieselbe Bedeutung wie heutzutage. Wenn es ernst wurde, kamen sie oft zu spät. Die Feldherrn verließen sich weniger auf Spione, vielmehr schickten sie Beobachter auf Bergkuppen oder Baumkronen, um ihren Blick zu weiten, und setzten sie in Sättel, damit die Nachrichtenübermittlung rascher vonstatten ging. Von der Antike bis zur Neuzeit war die Kavalleriepatrouille das beste Informationsmittel. Bis man den Ballon erfand und eine Etage höher stieg."
Dr. Jones schweigt, ihm gefällt an Cummings immer wieder der wissenschaftliche Stil, die souveräne Betrachtungsweise. Er hat sich schon manchmal gefragt, ob diese Art, gelassen auf Jahrtausende zu blicken, der Karriere des Majors dienlich ist, dessen Kenntnisse in erheblichem Gegensatz zu der Geringschätzung stehen, die man ihm im Stab entgegenbringt. "Damals", hört er ihn sagen, "beschloss der französische Wohlfahrtsausschuss, seine Streitkräfte mit gasgefüllten Fesselballons auszurüsten, damit, wie es wörtlich hieß, 'Vorposten aus der Luft die Bewegungen des Feindes verfolgen könnten'. Während des ersten Koalitionskriegs der europäischen Majestäten gegen das bürgerliche Frankreich entstand also eine Ballonfahrerkompanie. Ihr verdankte General Jourdan am 26. Juni 1794 seinen Sieg über die Österreicher bei Fleurus."("Interavia", Genf, Nr. 2/1964.)
"Das blieb ein Einzelerfolg, nicht wahr?"
"Zunächst ja. Aber nachdem sechzig Jahre später der Pariser Félix Nadar – ein Zeichner, Schriftsteller und Ballonfahrer – die Luftfotografie erfunden hatte, nahm sich ein amerikanischer Professor namens Thaddeus Lowe der Sache an. Er machte daraus ein Instrument der militärischen Aufklärung. Denn der missionarische Geist Amerikas war schon in jenen Tagen nicht ausschließlich friedlich. Ohne auch nur guten Tag zu sagen, hatten die Yankees Indianer, Holländer, Spanier, Franzosen und Engländer vertrieben, waren über Mexiko hergefallen, hatten sich Texas und Kalifornien genommen und stürzten sich nun wie besessen in ihren Bürgerkrieg. Dabei ernannten sie Lowe zum Chefaeronautiker der Potomac-Armee. Im Juni 1861 stieg er über Virginia auf und erstattete dem Nordstaaten-General McDonald einen völlig zutreffenden Bericht über die Stellungen der Rebellentruppen. Dieser Lowe war ein ziemlich heller Kopf. Er benutzte ein auf dem Potomac operierendes Schiff als Ballonträger, nahm eine Kamera in den Ballonkorb mit und bediente sich zur Nachrichtenübermittlung des eben erfundenen Telegrafen... Langweilt es Sie?"
"Keineswegs", sagte Jones.
"Einer seiner Ballonführer, ein gewisser John LaMountain, startete sogar nachts, um die Zeltlichter der Südstaatler zu zählen. Aber das wurde deren Befehlshaber, General Beauregard, hinterbracht, er ergriff recht moderne Gegenmaßnahmen. Beauregard ließ sämtliche Zelte im dichten Unterholz verstecken und befahl, die Lampen zu löschen. Verdunkelung, Doktor! Außerdem ordnete er an, in beträchtlicher Entfernung viele Täuschungslichter aufzustellen. Anstelle seiner schwachen Kräfte sollte der Feind eine überlegene Truppenmacht vermuten... Bis zum Marokko-Konflikt 1907 ist der Fesselballon das einzige Instrument der Luftaufklärung geblieben. Dann erwuchs ihm im Militärflugzeug nicht nur ein Rivale, sondern auch ein gefährlicher Gegner."
"Waren Ballonaufnahmen nicht qualitativ besser?", Dr. Jones denkt an die Schlammpumpe.
"Es gab ganz ausgezeichnete", antwortet Cummings. "Wenn Sie einmal Zeit finden, mich zu besuchen, zeige ich Ihnen gern unser historisches Archiv. Wir haben darin auch das erste Buch über Militärflugzeuge, natürlich verfasst von einem Franzosen. Darin rangiert der Aufklärer an erster Stelle. 'Wir beginnen mit den Aufklärern, denn es leuchtet ein, dass man sie im Kriege als erste brauchen wird', heißt es da. 'Sie werden entsprechend ihren Aufgaben zu gestalten sein. Vor allen anderen Eigenschaften wird man der Geschwindigkeit und der Eignung zu langen Flügen den Vorzug geben.' Als das von Clément Ader in seinem 1911 in Paris erschienenen Buch "L'Aviation Militaire" geschrieben wurde, hielt man Beobachtungshöhen von tausend Metern für astronomisch und bestaunte Maschinen, die eine Geschwindigkeit von fünfundsiebzig Kilometern in der Stunde erreichten."
Der Major macht eine Pause, wie um sich zu vergewissern, dass Dr. Jones ihm noch zuhört. Offenbar ist er daran gewöhnt, nicht ernst genommen zu werden. "Als der erste Weltkrieg ausbrach, setzten die Armeen aller Beteiligten zunächst unbewaffnete Flugzeuge ein zur Artilleriebeobachtung und Gefechtsaufklärung", fährt er fort. "Das MG-bestückte Jagdflugzeug entstand erst daraufhin, und zwar eigens zu dem Zweck, die lästigen Späher des Gegners zu vertreiben, ob sie nun im Fesselballon saßen oder im Flugzeug. Die ersten Luftkämpfe der Kriegsgeschichte wurden um der Aufklärung willen geführt."
"Deren Ergebnisse waren doch anfangs ziemlich mager?", fragt Jones. "Wie ich hörte, hielten die Beobachter dunkle Asphaltstreifen auf den Straßen für marschierende Kolonnen und verwechselten Friedhöfe mit Zeltlagern."
"Das ist richtig, Doktor. Andererseits erzielten sie verblüffende Erfolge. Die Deutschen gewannen ihre erste große Schlacht durch einen Blick aus der Vogelschau. Dank abgeworfener Meldungen ihrer 14. Fliegerabteilung erkannten sie einen russischen Entsatzversuch, wehrten ihn ab und schlugen die bei Tannenberg eingekreiste Narew-Armee des Zaren. Wir waren aber auch nicht müßig. Unser Royal Flying Corps fotografierte im März 1915 das gesamte deutsche Grabensystem vor der 1. britischen Armee; es bereitete damit die siegreiche alliierte Offensive von Neuve Chapelle vor. Bordsender verbesserten die Nachrichtenübermittlung, auch das Tempo der Bildherstellung und -auswertung nahm sprunghaft zu. Piloten des amerikanischen Expeditionskorps lieferten während der Argonnenoffensive binnen vier Tagen sechsundfünfzigtausend Luftaufnahmen ab! Gegen Kriegsende hatten die Deutschen zweitausend Kameras für Luftbildaufnahmen und hundert automatische Luftbildkameras für Reihenaufnahmen in Gebrauch. An normalen Tagen schossen sie viertausend Fotos. Wir brachten es etwa auf tausend."
"Sie sind ein wandelndes Lexikon", spottet Jones gutmütig. "Es wundert mich gar nicht, dass man Ihnen keinen Wagen bewilligt, wenn Sie weiter nichts tun als in der Vergangenheit zu graben. So also sieht der Beitrag Ihrer Abteilung zu 'Blut, Schweiß und Tränen' aus."
"Nun, Tränen kommen einem schon, wenn man erleben muss, dass nur noch das Bomberkommando zählt. So war es vor drei Jahren bei den Deutschen auch, und sie haben die Schwächen ihrer Luftaufklärung teuer genug bezahlt... Wir schließen eben eine Untersuchung ab über die Ursachen ihrer damaligen Niederlage. Der Hauptgrund ist, glaube ich, aufgedeckt. Wir stochern keineswegs nur im Schutt vergangener Kriege."
"Sie machen mich neugierig."
"Das Resultat dürfte Sie erschrecken, Sir. Göring hätte die Luftschlacht über England gewinnen können, wenn seine Aufklärung intakt gewesen wäre. Als er am 1. August 1940 losschlug, rechnete er nur noch mit dreihundert einsatzfähigen britischen Jagdflugzeugen, während wir tatsächlich siebenhundert hatten. Er selbst besaß allerdings etwa tausend, dazu tausend Bomber und dreihundert Stukas. Aber wie verfuhr man in seinem Stab? Man buchte einfach jede RAF-Staffel ab, deren Horst erfolgreich bombardiert worden war. Nach einem Schlag auf Biggin Hill etwa galten die dort stationierten drei Jagdflugzeugstaffeln als vernichtet. Keine Luftaufklärung verriet ihm, dass die Staffeln noch immer teils von Biggin Hill, teils von Ausweichplätzen aufstiegen. Wie die Vernehmungsprotokolle einiger seiner Offiziere bezeugen, die wir in Afrika gefasst haben, griff er uns praktisch mit verbundenen Augen an."
"Ich würde meinen, Major, er ist an unserem Radar gescheitert."
"Das Radarnetz war unsere Stärke und Schwäche zugleich. Die Geräte signalisierten jeden hoch anfliegenden Gegner auf zweihundert Kilometer Entfernung, aber sie spüren noch heute keine Tiefflieger auf. Dieser Art des Angriffs war das Land nackt ausgeliefert – Göring hat es nicht genutzt. Hätte er den Kanal in hundert Meter Höhe überfliegen lassen, von kleinen Rudeln, die alle fünfzig Kilometer ihre Flugrichtung geändert hätten, um unser Beobachterkorps zu täuschen, dann hätte seine Luftwaffe mit Sicherheit die zweiunddreißig Ziele zerstören können, um die es damals ging: die neunzehn Radarstationen zwischen der Wash und Portland, die elf Jägerflugplätze an der Südküste und bei London, dazu die Hauptquartiere der 11. Jägergruppe in Uxbridge und des RAF-Jägerkommandos. Nach vierzehn Tagen wären unsere Radaraugen erblindet, unsere Jagdflugzeuge vernichtet gewesen.(Siehe J. E. Johnson, Full Circle, London 1964, S. 51.) Aber er sah seine Chance nicht, weil seine Feindaufklärung versagte. Andernfalls wäre der Weg für die drei deutschen Landungsarmeen frei gewesen, und die Luftwaffe hätte zur nächsten Phase übergehen können – der Isolierung des Schlachtfelds durch Zerstörung unserer Häfen und Bahnhöfe, der südenglischen Städte, Straßen und Brücken."
Die Darstellung beeindruckt Dr. Jones. Er schweigt, während der Wagen jetzt die Außenbezirke Londons durchquert. Das Kriegsglück ist unbeständig wie der Sonnenschein im April, denkt er. Wenn Cummings recht hat, verdankt England seine Rettung feindlichen Fehlern. Vielleicht jedoch muss es demnächst für eigenes Versagen viel schwerer büßen! Ihn fröstelt es plötzlich, er hat eine Vision. Er sieht Raketen in das Häusermeer Großlondons stürzen, meint den Doppelknall platzender Schallmauern zu hören, gefolgt von Detonationen; über den Dächern erheben sich Rauchpilze und strudelnde Wolken aus Ziegelstaub. Was wird die Spitze der Raketen bergen, ein paar Tonnen gewöhnlichen Sprengstoffs oder eine Atomladung? Auf alliierter Seite weiß niemand, wo die deutsche Kernforschung steht. Churchill und Eisenhower befürchten, Hitler könne versuchen, die geplante Frankreich-Invasion zumindest mit atomarem Abfall zu bremsen.(Siehe Michel Bar-Zohar, La chasse aux savants allemands, Paris 1965.) Was aber droht London?... Er beschließt in diesem Moment, nicht zu ruhen, bis er Gewissheit hat.
"Am 29. April 1943 verbreitete die Zentralauswertungseinheit Medmenham den ersten Bildaufklärerbericht über Peenemünde", schreibt der britische Luftkriegshistoriker David Irving 22 Jahre später. "Er stützte sich auf die letzten vier Aufklärungsflüge. Darin waren fünf der Gebäudegruppen und Anlagen auf dem Peenemünder Haken beschrieben, nicht jedoch der Flugplatz, auf dem – den Briten unbekannt – Entwicklung und Erprobung von Flügelgeschossen (der späteren V 1) stattfanden. Und wieder war Kennys Industrieabteilung, die bereits die Schleuder der Flügelgeschosse als Schlammpumpe identifiziert hatte, zu Fehlschlüssen gelangt: Zwei hohe Fabrikgebäude bezeichnete sie als 'möglicherweise Nitrierhäuser' – tatsächlich stellten sie aber das Versuchswerk für Fertigung und Montage der A 4-Raketen dar (der späteren V 2).
Als Kennys Gruppe ihre Aufmerksamkeit auf das Kraftwerk richtete, wurde sie abermals vom Pech verfolgt: 'Das Kraftwerk weist zur Zeit der Luftaufnahme keinerlei Zeichen einer Tätigkeit auf, abgesehen von den Brennstoffvorräten auf dem Kohlenhof. Nicht einer der sechs Schornsteine auf dem Kesselhaus raucht.' Tatsächlich arbeiteten die Generatoren aber auf Hochtouren; die Deutschen hatten allerdings elektrostatische Staub- und Rauchfänger in die Schornsteine eingebaut, um den Rauchausstoß auf ein Minimum zu reduzieren.
Der folgenschwerste Irrtum unterlief der Kenny-Gruppe jedoch, als sie ein Objekt lediglich als 'ein großes Gebäude von 65 m mal 45 m' abtat. Denn dieses Gebäude war die empfindlichste Anlage im ganzen Peenemünder Gebiet – sie stellte flüssigen Sauerstoff her. Hätte Duncan Sandys (Churchills Schwiegersohn und von diesem mit der Bekämpfung feindlicher Geheimwaffen beauftragt) zu dieser Zeit gewusst, dass die Peenemünder Anstalt mit einer sehr großen Anlage zur Herstellung von flüssigem Sauerstoff ausgerüstet war, hätte er nicht übersehen können, dass dies wahrscheinlich ein wesentlicher Bestandteil des Raketentreibstoffs war.
Doch die Bildauswerter in Medmenham waren angewiesen worden, sorgfältig nach Beweisen für die Herstellung von Raketen mit konventionellem Brennstoffantrieb, möglicherweise Cordit, zu suchen – und so fanden sie diese Beweise: 'Der allgemeine Eindruck der Fabrik, die auf einer Lichtung im Walde liegt, deutet darauf hin, dass sie zur Herstellung von Explosivstoffen benutzt werden könnte.'
Auf die geheimnisvolle elliptische Erdanlage mit Gruppen hoher Gebäude, Laufkränen, Gruben, Kleinstbunkern und unerklärlichen Fetzen weißen Dampfes konzentrierten die Kenny-Leute ihre größte Aufmerksamkeit. Hier übertrafen sie sich selbst an Genauigkeit. Keiner von ihnen wagte eine offizielle Vermutung über den Zweck dieser großzügig angelegten Erdanlage, doch jeder war wohl davon überzeugt, dass dies der Startplatz einer Rakete sein müsse: 'Man sieht eine große Wolke von weißem Rauch oder Dampf... Auf dem Foto 5010 erkennt man ein etwa siebeneinhalb Meter langes Objekt... Als Foto 5011 vier Sekunden später aufgenommen wurde, war dieses Objekt verschwunden.'
Die Berichte der Heeresanstalt Peenemünde geben einen Hinweis darauf, was geschah, als diese Fotos aufgenommen wurden: Am 22. April, dem Tag dieses Aufklärungsfluges, stand das einundzwanzigste Fertigungsmuster der Rakete 'A 4' auf Prüfstand VII der elliptischen Erdanlage. Kennys 'Wolke' war die Kondenswolke, als flüssiger Sauerstoff in die Tanks der Rakete gepumpt wurde. Um 15.25 Uhr, kurz nachdem die Aufklärer-Mosquito über Peenemünde hinweggeflogen war, hatte von Braun mit dem Countdown für den Abschuss begonnen, der einer der erfolgreichsten aller frühen Peenemünder Raketenstarts werden sollte: Das 'A 4' flog 260 Kilometer weit die Ostsee-Schussbahn entlang."(Zitiert nach: "Der Spiegel", Hamburg, Nr. 44/1965.)
Duncan Sandys unterrichtet das britische Kabinett am 17. Mai 1943. Ebenso wie Dr. Jones sieht er in London das Ziel eines möglichen Raketenangriffs. Er fordert Bombenschläge auf Usedom und auf verdächtige Baustellen jenseits des Kanals. Die RAF soll alle Fotos, die seit dem Jahresbeginn bis zu 200 Kilometer Entfernung von London aufgenommen worden sind, auf ungewöhnliche Strukturen hin prüfen und eventuelle Lücken durch Bildflüge schließen. Doch sein Vorschlag, Peenemünde zu attackieren, wird zurückgestellt. Die RAF lässt sich nicht drängen. Bei einem Präzisionsschlag aus geringer Höhe fürchtet sie schwere Verluste; die Nächte sind kurz, der Anflug ist weit, das Angriffsziel schwierig. Und Lord Cherwell, die graue Eminenz des Kabinetts, opponiert gleichfalls. Für ihn, den Churchill-Günstling, ist der fünfunddreißigjährige Sandys ein frecher Rivale. In seiner Eifersucht geht er so weit, den Deutschen die Fähigkeit abzusprechen, eine brauchbare Fernrakete zu bauen.
Da erbringt die Bildaufklärung neue Beweise. Auf einem der Peenemünde-Fotos entdeckt Captain Kenny zylindrische Objekte – weiße Striche von anderthalb Millimeter Länge auf grauem Grund. Es ist der Aufklärungsflug N/853, der dieses Resultat liefert. Mitte Juni beschreibt Kenny die rätselhaften Striche vorsichtig als "etwa zwölf Meter hohe und 1,2 Meter dicke Säulen". Dr. Jones hält sie mit Sicherheit für Raketen, er verständigt Lord Cherwell und Duncan Sandys. Zwei Wochen später beschließt der Verteidigungsausschuss des britischen Kabinetts, "die aufmerksamste und strengste Erkundung des nordfranzösischen Gebiets innerhalb eines Radius von 240 Kilometern von London aufzubauen und aufrechtzuerhalten". Pläne für eine Teilevakuierung der Hauptstadt werden ausgearbeitet, 30 000 stählerne Unterstände – nach dem britischen Innenminister "Morrison-Bunker" genannt – unauffällig herbeigeschafft. Man streicht den Bau von zwei Schlachtschiffen, um Stahl für den Luftschutz zu haben. Der Angriff auf die Versuchsstation Peenemünde soll mit Vorrang als "schwerstmöglicher Nachtangriff des Bomberkommandos" geflogen werden. Er soll in erster Linie den deutschen Wissenschaftlern gelten, ohne die die Raketen nicht bis zur Serienreife vervollkommnet werden können.
Zu diesem Zeitpunkt ahnt in Großbritannien niemand etwas von dem V-1-Flügelgeschoss, jenem unbemannten Düsenflugkörper, den die Luftwaffe am Weststrand des Peenemünder Hakens erprobt. Ein Jahr später wird er sich als Hauptgefahr erweisen, doch jetzt denkt man nur an Peenemünde-Ost, will den Punkt treffen, an dem das Heer die spätere V-2-Rakete zusammensetzt und testet.
Am 17. August 1943 rollt die Operation "Hydra" an. Vormittags hat die 8. amerikanische Luftflotte bei dem Versuch, die Schweinfurter Kugellagerwerke zu vernichten, hohe Verluste erlitten. Um zehn Uhr abends steigen 500 viermotorige RAF-Bombenflugzeuge, 65 Pfadfindermaschinen und acht "Mosquitos" von ihren Horsten auf. Während die "Mosquitos" große Mengen Metallfolien und Leuchtzeichen über Berlin abwerfen und mit ihrem Scheinangriff 200 deutsche Nachtjäger binden, schlägt die Bomberarmada auf Peenemünde los. Es ist eine Vollmondnacht, doch künstlicher Nebel verwischt die Küstenlinie im Zielgebiet. Ein Teil der funk- und radargesteuerten Pfadfinder setzt die Markierungen drei Kilometer zu weit südlich, ein Fehler, der sechshundert ausländischen Zwangsarbeitern im Lager Trassenheide das Leben kostet. Auch schießen 30 verspätet über Usedom eintreffende deutsche Nachtjagdflugzeuge 42 der angreifenden Bomber ab. Immerhin haben die 1814 Tonnen abgeworfener Bomben die deutsche Geheimwaffenentwicklung um zwei Monate zurückgeworfen.
Am nächsten Morgen fotografiert eine "Mosquito" die Versuchsanstalt. In Medmenham beugt man sich über die Bilder. Kein Zweifel, das Entwicklungswerk hat schwer gelitten; von 80 Gebäuden liegen 50 in Trümmern. Gründlich zerstampft ist die Wohnsiedlung; hier sind, wie man später erfährt, 178 Deutsche umgekommen. Doch dann erschrickt Dr. Jones – er findet von den 30 Baracken des Zwangsarbeiterlagers nur noch zwölf! Jäh erinnert er sich der zwei Gewährsmänner, luxemburgische Arbeiter, denen seine Dienststelle viel verdankt... Er wird nach dem Angriff nie mehr etwas von diesen tapferen Männern hören.
Während die V-2-Fertigung verlagert werden muss – Testraketen steigen bald nahe dem südpolnischen Debice auf –, ist das Flügelgeschoss dem Schlag entgangen. Erst als am 22. August ein Irrläufer auf Bornholm einschlägt, erfährt Großbritannien durch einen dänischen Agenten von seiner Existenz. Im Verteidigungsausschuss kursieren die Skizzen dieses Dänen. Innenminister Morrison erschreckt das Kabinett mit einer Schätzung, nach der monatlich 108 000 Londoner getötet würden, wenn stündlich ein Ferngeschoss auf die Hauptstadt niederfalle. Ein neuer Evakuierungsplan wird beschlossen.
Lord Cherwell widerspricht hartnäckig. Noch am 8. November erklärt er die Raketengeschichte für ein Täuschungsmanöver: Die Deutschen wollten von etwas anderem ablenken. Tatsächlich legen Kennys Leute auf dieser Sitzung, die im Kriegskabinettsgebäude am Parlamentsplatz stattfindet, unerwartet neue Dokumente vor. Sie haben zwischen Cherbourg und Calais 19 Baustellen aufgespürt – immer sieht man auf den Fotos zwischen gleichartigen Gebäuden eine Betonbahn, deren Mittelachse auf London gerichtet ist! Eines steht fest, dies sind keine Startplätze für senkrecht abhebende Raketen. Will der Feind von hier aus düsengetriebene Flügelgeschosse à la Bornholm starten lassen? Hinter der neuen Gefahr verblasst die Raketendrohung; entgegen Jones' Rat reißt man das Steuer nun völlig herum.
Durch ein Loch in der Wolkendecke fotografierte eine "Mosquito" zwanzig Tage später den Nordwestzipfel von Usedom. Die Aufnahmen sind unscharf, zeigen jedoch drei Rampen, die denen längs der Kanalküste aufs Haar gleichen. Und eine davon ist auf die Südspitze von Bornholm gerichtet, wo im August das Flügelgeschoss niederging. Eine RAF-Fotointerpretin namens Constance Babington-Smith erkennt sogar ein kleines, offenbar unbemanntes Flugzeug. Damit ist die Beweiskette geschlossen.
Am 15. Dezember ersucht der RAF-Stab die 8. amerikanische Luftflotte, sich an den Vernichtungsangriffen auf die Abschuss-Stellen jenseits des Kanals zu beteiligen. Rund 23 000 Tonnen Bomben fallen bis zum 12. Juni 1944 auf Startplätze, die schon seit Januar aufgegeben worden sind. Denn die faschistische Luftwaffe hat inzwischen einfachere, vorfabrizierte Katapulte in Stellung gebracht; Ende April erst werden sie von jenen Bildaufklärern ausgemacht, die Nordfrankreich zum vierten Mal fotografieren.
Eine Woche nach der Normandie-Invasion, in der Nacht zum 13. Juni, schlagen vier Flügelgeschosse in Großlondon ein – Fehlschüsse, wie Dr. Jones vermutet. Wirklich ist der übereilt befohlene Eröffnungsschlag missglückt, wie so vieles an Hitlers Vergeltungswaffen. Lord Cherwell triumphiert; Jones beschwört ihn, dies nicht mit einem Lachen abzutun. Captain André Kenny, inzwischen von Medmenham zur Abwehr versetzt, springt am Fallschirm über Frankreich ab. Er soll den Einsatzkommandeur der Flügelgeschosse, Oberst Wachtel (Max Wachtel, der, wie "Der Spiegel" in seiner Nr. 49/1965 zu berichten weiß, später Flughafendirektor von Hamburg-Fuhlsbüttel war.), ausschalten.
Am 15. Juni 1944, kurz vor Mitternacht, setzt reguläres V-1-Feuer auf "Ziel Nr. 42" – die britische Hauptstadt – ein. Der PK-Mann Dr. Holzamer, heute Fernsehintendant in Mainz, spricht seinen ersten "Ohrenzeugenbericht von der Kanalfront" ins Mikrofon: "Donnernd zieht, während der Kriegsberichter das Erlebnis für die Heimat, für die Ohren der Welt festhält, V 1 seine Bahn..."
Im Morgengrauen meldet ein deutsches Aufklärungsflugzeug starken Feuerschein überm Zielgebiet. Erwartungsvoll fliegt Hitler nach Soissons; er hofft, die Westalliierten zu einer zweiten Landung im schwer befestigten Abschnitt Calais zu provozieren. Als ein V-1-Irrläufer in der Nähe des Konferenzortes einschlägt, macht er sich davon. Am nächsten Tag wird das fünfhundertste Flügelgeschoss gestartet; es tötet nahe dem Buckinghampalast 121 Menschen. Doch der alliierte Invasionsplan bleibt unverändert. Churchill versichert Eisenhower, London werde die Prüfung ertragen. Er fühlt sich von dem Flügelgeschoss "wieder in die Frontlinie gestellt", wirkt plötzlich zehn Jahre jünger. Acht Jägerstaffeln und 480 Sperrballons setzt er gegen die V 1 ein, deren Abschuss-Stellen das Bomberkommando neuerdings mit fünfeinhalb Tonnen schweren Erdbebenbomben ("Tallboy") belegt.
Am 28. Juni stürzt ein Flügelgeschoss auf das Luftfahrtministerium und bringt 198 Menschen um. Das Kabinett erwägt, Giftgas gegen die V-1-Startplätze einzusetzen. Den Stabschefs ist dieser Gedanke schon früher gekommen; man könnte den Gaskrieg mit überlegener Luftmacht tief ins feindliche Hinterland tragen. Doch die Abwehr warnt vor der fortgeschrittenen Kampfstofftechnik der Deutschen. Auch die Amerikaner protestieren: Der Gaskrieg lasse sich nicht auf die V-1-Basen beschränken, er werde zur weiteren Verzettelung der alliierten Luftstreitkräfte führen.
Insgesamt steigen 10 452 Flügelgeschosse auf; knapp ein Viertel erreicht London und tötet 6000 Menschen. Ihr Zielpunkt ist Tower Bridge, die Einschläge streuen in weitem Umkreis. Churchill nennt sie "eine Waffe, die buchstäblich keinen Unterschied macht". Sein Kabinett beschließt, wie David Irving in N. 48/1965 des Hamburger Nachrichtenmagazins "Der Spiegel" sagt, aus moralischen Gründen, dass zwar versucht werden darf, den Feind zu verwirren, nicht aber, das Feuer auf andere Stadtteile zu lenken. Eben das tut die britische Abwehr. Mit einem von Dr. Jones erdachten speziellen Trick lanciert sie Agentenmeldungen über angebliche Einschlagstellen, und auf Lord Cherwells Rat hin fälscht sie Todesanzeigen in der Londoner Presse. Am 2. August – der Zielpunkt Tower Bridge ist gerade erstmals getroffen, die Brücke stark beschädigt worden – bittet Duncan Sandys den Premier, die Kabinettsentscheidung aufzuheben. Dem der Labour Party angehörenden Innenminister kommen Skrupel. Erregt ruft er: "Wer sind wir, dass wir handeln dürfen wie Gott?" Das Kabinett stimmt Morrison zu, die Abwehr aber setzt ihr Täuschungsmanöver heimlich fort. Mehr als drei Viertel der Flügelgeschosse fallen nun auf die Industrie- und Arbeiterviertel südlich der Themse.
Anfang September überrennt das alliierte Invasionsheer die Abschuss-Stellen am Pas de Calais. Die Gefahr scheint vorüber; man macht die Räumung der Hauptstadt rückgängig und greift deutsche Raketenziele nicht mehr vorrangig an. Da fällt am 8. September das erste von 517 V-2-Geschossen auf London. An verschiedenen Punkten der City hören Jones und Sandys den Doppelknall und rufen gleichzeitig erschrocken: "Eine Rakete!" Sie wissen, man kann Raketen zurzeit weder abschießen noch ihren Steuermechanismus stören. Es gibt gegen sie überhaupt keine Abwehr; ihre Startrampen in Holland sind beweglich und schwer zu treffen. Churchill fährt Jones an: "Wir sind beim Schlafen erwischt worden!"
Dabei hat Dr. Jones ständig vor der Rakete gewarnt – ja, er hat sie beträchtlich überschätzt. Ein V-2-Irrläufer ist schon am 13. Juni nach 320 Flugkilometern in Südwestschweden niedergegangen. Eine "Mosquito" hat daraufhin zwei britische Fliegerhauptleute heimlich nach Schweden gebracht. Stockholm hat die Trümmer freigegeben, sie sind von einem USA-Lastflugzeug zur RAF-Erprobungsstelle Farnborough geschafft worden. Seit Mitte Juli 1944 weiß der Abwehrchef: Flüssige Brennstoffe treiben die Rakete an, Alkohol und Sauerstoff. Auf sein Drängen hin haben Fernaufklärungsflugzeuge das Testgelände nordöstlich von Debice fotografiert; die polnische Untergrundarmee ist von ihm angehalten worden, Berichte zu liefern.
Und schon am 13. Juli hat Churchill seine Botschaft Nr. 295 an Stalin gerichtet: "Es gibt bestimmte Beweise, wonach die Deutschen eine beträchtliche Zeit lang ihre Versuche... von Debice in Polen aus durchgeführt haben. Entsprechend unseren Informationen hat dieses Raketengeschoss eine Sprengladung von 12 000 Pfund (= fünfeinhalb Tonnen; tatsächlich wog sie knapp eine Tonne – W. Sch.), und die Wirksamkeit unserer Gegenmaßnahmen hängt sehr davon ab, wie viel wir über diese Waffe in Erfahrung bringen können. Debice liegt auf dem Weg Ihrer siegreich vordringenden Armeen... Ich wäre Ihnen, Marschall Stalin, deshalb dankbar, wenn Sie entsprechende Anweisungen zum Schutz solcher Apparaturen und Einrichtungen bei Debice geben würden,... und wenn Sie es uns ermöglichten, diese Versuchsstation durch unsere Spezialisten untersuchen zu lassen."
Stalin verspricht das; sogleich teilt ihm Churchill die geographischen Koordinaten der Versuchsstation mit (Siehe Briefwechsel Stalins..., a. a. O., S. 297.). Via Teheran entsendet er eine Expertengruppe und schickt am 27. Juli sogar Fernaufklärer in den Raum Debice, der längst Operationsgebiet der sowjetischen Luftstreitkräfte ist. Die RAF meldet ihm, die Versuchsstation auf dem rechten Ufer der Wisloka sei aufgegeben worden; Moskau hingegen erklärt, Debice befinde sich noch in deutscher Hand. Tatsächlich stoßen Sowjettruppen erst am Ende der ersten Augustwoche zur Wisloka vor, an die sich nun für fünf Monate die Deutschen klammern. Churchill ist verstimmt, weil seine Experten erst am 2. September ins Frontgebiet reisen dürfen. Immerhin bergen sie bei Debice anderthalb Tonnen V-2-Material und lassen sich von polnischen Augenzeugen berichten. Ihren glücklichsten Fund fischen sie aus den Latrinen der Versuchsanstalt: Schnitzel eines Raketenprüfberichts, der das Fassungsvermögen der Treibstofftanks verrät. Diese Erkenntnis erlaubt entscheidende Rückschlüsse.
Nachdem Ende März 1945 die letzten Ferngeschosse London heimgesucht haben, zieht Dr. Jones Bilanz. Bei einem Stückpreis von nur 3500 Mark hat Hitlers Flügelgeschoss sich als relativ wirksam erwiesen. Bis zu 20 000 Häuser täglich sind in der Hauptstadt beschädigt oder zerstört worden, ein Sechstel der kriegswichtigen Produktionskapazität Londons ist ausgefallen. Die alliierten Gesamtverluste durch die V 1 betragen 570 Millionen Mark; für ihre Entwicklung, Herstellung und den Einsatz hat der Feind nur 150 Millionen aufgewendet. Es ist also eine "rentable Waffe", wenn auch nicht die Waffe gewesen, von der sich die deutschen Faschisten eine kriegsentscheidende Wirkung versprochen hatten.
Nicht so die V 2. Sie hat – obschon eine beachtliche technische Leistung – rund das Vierzigfache der V 1 gekostet. Weshalb haben die Deutschen ein Jahrzehnt intensiver Forschung, eine Milliarde Mark und Mengen kostbaren Materials darauf verwandt, eine Sprengladung ins Ziel zu bringen, nicht schwerer als die der preiswerten Flügelgeschosse? Jones ist die Antwort klar, er sieht sie fälschlicherweise im "deutschen Volkscharakter": Keine andere Waffe hat Naziführer und Militärs so fasziniert wie diese himmelstürmende Rakete. Denn sachliche Gründe, so scheint es ihm, rechtfertigen das V-2-Programm nicht. Sie ist letztlich gebaut worden, um den "deutschen Durst nach Romantik zu stillen".
Um diese Zeit forschen amerikanische Geheimdienstler noch fieberhaft nach einer dritten faschistischen Vergeltungswaffe, die sie am meisten fürchten. Seit 1944 sind sie überzeugt, Hitler lasse an einer Atombombe arbeiten und werde sie womöglich eher haben als Amerika. Vor der Normandie-Landung fordert Eisenhower einen Posten Geigerzähler an; seine Sanitätsoffiziere lässt er auf "seltsame Symptome einer unbekannten Krankheit" hinweisen, also auf die Möglichkeit radioaktiver Verseuchungen. Beim Einmarsch in Paris verhören die Geheimdienstler Prof. Joliot-Curie, der sie zu beruhigen sucht. Vergebens! Sie stellen fest, die Deutschen haben Thorium aus Frankreich abtransportiert, ein Element, das erst im Endstadium des Bombenbaus benötigt wird.
Ihre Suche nimmt groteske Formen an. Einer Agentenmeldung zufolge entwickelt der Feind im schwäbischen Hechingen einen Explosivstoff von 1000facher TNT-Sprengkraft. Hastig angeforderte Luftbilder ergeben eine rätselhafte Bautätigkeit auf der Schwäbischen Alb. Als die 1. amerikanische Armee im März den Rhein erreicht, ziehen die Abwehrleute Flusswasser auf Flaschen; die Washingtoner Zentrale prüft es auf Radioaktivität. Dann aber zerbröckelt ihr Verdacht. Sie finden das Thorium in einer Nazifirma, die sich schon auf Nachkriegskosmetika umstellt ("Blendend weiße Zähne mit Thorium-Zahnpasta"). Und neue Luftaufnahmen zeigen, dass bei Hechingen eine Erdölraffinerie entsteht (Siehe Michel Bar-Zohar, a. a. O.).
In Straßburger Krankenhäusern jedoch fallen den Amerikanern vier als Ärzte verkleidete Atomforscher in die Hand. Sie bestätigen ihnen, was Joliot-Curie gesagt hat: Eine faschistische Atombombe ist keineswegs in Sicht. Gegenüber den Vereinigten Staaten, die ihr "Projekt Manhattan" mit zwei Millionen Dollar vorantreiben, sind die Deutschen um fünf Jahre zurück.
Von seinem schlimmsten Alpdruck befreit, macht der USA-Geheimdienst nun Jagd auf Wissenschaftler wie von Weizsäcker, von Laue und Heisenberg. Er sammelt, meist ohne Wissen der Alliierten, alles spaltbare Material ein. Deutschlands größter Vorrat, 1100 Tonnen Uranerz, wird in einem Staßfurter Kalibergwerk entdeckt. Vor Ankunft der Sowjetarmee füllt man das Uran in 20 000 Kleinfässer und schafft es, so wie die Wissenschaftler, nach Amerika (Siehe Tatsachenbericht Gefährlich wie am ersten Tag von Dieter Wolf. In: "Neues Deutschland", Berlin, vom 28. Juni bis 9. Juli 1966.).
Colonel John H. Amen, beigeordneter Ankläger für die Vereinigten Staaten, hatte sich erhoben und zum Gerichtsvorsitzenden gesagt: "Eure Lordschaft! Ich möchte als Zeugen für die Anklagevertretung Herrn Erwin von Lahousen vernehmen." Und ein hochgewachsener Mann in deutscher Offiziersuniform ohne Schulterstücke und Abzeichen war, gebeugt schreitend, in den großen Saal des Nürnberger Gerichtsgebäudes getreten und hatte im Zeugenstuhl Platz genommen. Auf der Anklagebank entstand eine Bewegung. Jodl und Keitel begannen zu flüstern. Göring starrte den Zeugen an. Es war der 30. November 1945.
In jenen Wochen rechnete die Weltöffentlichkeit stündlich mit neuen Enthüllungen. Das Nürnberger Militärtribunal riss dem deutschen Faschismus die letzte Maske herunter. Seite um Seite der Geheimgeschichte des "Dritten Reiches" blätterten die amerikanischen, sowjetischen, britischen und französischen Ankläger auf. Im Zuge ihrer Beweisaufnahme kamen immer neue Verbrechen ans Tageslicht.
An diesem Novembertag war die Pressetribüne bis auf den letzten Platz besetzt. Dreihundert Korrespondenten großer internationaler Zeitungen und Nachrichtenagenturen richteten sich gespannt auf, als der Name Lahousen fiel. Von der Wandtäfelung unterhalb der Decke glitten einige Holzscheiben beiseite; sie gaben Mikrofone frei. Ein zwei Meter langes Stahlrohr schob sich herein, es richtete seine fotografischen Linsen von der Seite her auf die Anklagebank. Die Glasaugen der Kameras und die Radioohren des ganzen Erdballs öffneten sich im Gerichtssaal, bereit, zu sehen und zu hören.
Die Vernehmung dauerte stundenlang. Nazigeneral von Lahousen beantwortete die Fragen langsam, oft erst nach reiflicher Überlegung. Sein Gesicht verriet Ergebenheit und gesammelte Ruhe. Die Dolmetscher, die jedes im Prozess gesprochene Wort sofort ins Englische, Russische, Französische und Deutsche übertrugen, hatten mit ihm keine Mühe. Und Lahousen hatte viel zu berichten. Er war eine Schlüsselfigur des deutschen Geheimdienstes gewesen, ein As der Militärspionage. Fünf Jahre hindurch hatte er als Leiter der "Abwehr II" jede Art von Zersetzungsarbeit geleistet.
Seine Agenten hatten lange vor Kriegsausbruch – als Spezialisten getarnt – heimlich Rumäniens Ölfelder besetzt, später irische Rebellen im Kampf gegen England unterstützt, die Ukraine terrorisiert, in neutralen Häfen britische Schiffe beschädigt, auf portugiesischem Boden Sprengladungen in US-Passagierflugzeuge gelegt und in der Uniform des Gegners alliierte Posten lautlos getötet; einige waren sogar im U-Boot an der amerikanischen Ostküste gelandet, um in den USA Öltanks und Flugzeugwerke zu zerstören. Lahousen war der ranghöchste Wehrmachtsfachmann für Sabotage.
Es war gegen Ende des Verhörs, niemand erwartete mehr Sensationen, als Colonel Amen fragte: "War ihnen Oberst Rowehl bekannt?" – Lahousen bejahte. "Rowehl war Oberst der Luftwaffe", sagte er und griff nach dem Wasserglas. "Rowehl hatte eine Sonderstaffel für Höhenflug, die mit dem Amt Ausland/Abwehr in der Aufklärung gewisser Gebiete beziehungsweise Staaten zusammenarbeitete."
"Waren Sie je zugegen", fragte Amen, "wenn er Canaris berichtete?" – "Ja, ich war ab und zu anwesend", antwortete Lahousen leise, in seinem weichen österreichischen Tonfall. Und während er Rowehls Flüge beschrieb, auch von dem Bildmaterial sprach, das sie erbrachten und das die "Abwehr I, Gruppe Luft" auszuwerten pflegte, dachte er an seinen Vorgesetzten Admiral Canaris, den Spionagechef Hitlerdeutschlands. Im Jahre 1937 war er ihm zum ersten Mal begegnet: einem kleingewachsenen, weißhaarigen Zivilisten mit rosigen Wangen und schwerer Nase, der ihm die Hand geschüttelt und ihn "mein lieber Major" genannt hatte.
Canaris kam damals nach Wien, um im Rahmen seines Dienstbereichs – der Militärspionage – Österreichs Annexion vorzubereiten: Er drang auf enge Zusammenarbeit seines Geheimdienstes mit dem österreichischen Verteidigungsministerium. In der Nachrichtenabteilung dieses Ministeriums war Lahousen, der im k.-u.-k.-Heer der Habsburger Monarchie gedient und später die Wiener Kriegsakademie absolviert hatte, Sachbearbeiter für die Tschechoslowakei.
In puncto Tschechoslowakei bestand seit 1934 ein reger Informationsaustausch zwischen der deutschen "Abwehr", Österreichs Militärspionage und dem so genannten 2. Büro des ungarischen Generalstabs. Die drei Staaten versorgten einander mit Spionageresultaten; in Lahousens Hand liefen einige Fäden zusammen. Er half Hitlers Generalen, den Aufmarschplan gegen die ČSR zu entwerfen, noch bevor sein eigenes Vaterland verschluckt worden war. Danach wurde er Canaris' Vertrauter und durfte von April 1938 an zunächst die gesamten Wühl- und Spähaktionen gegen Deutschlands östliche und südöstliche Nachbarn leiten.
Welch Aufstieg, was für ein Wirkungsfeld! Damals hatte ihn seine Karriere steil emporgetragen auf einsame Kommandohöhen. Und während nun die Stimme des Anklägers wie von weither an sein Ohr drang, vergegenwärtigte sich der General für einen Augenblick den Glanz vergangener Tage...
Aber diese Zeiten kehrten nicht wieder, das war ihm nie so klar geworden wie vorhin, als ihn zwei weißbehelmte Militärpolizisten aus seiner Zelle im Zeugenflügel geholt und über viele Treppen geführt hatten. Die Amerikaner hatten das ganze weitläufige Gebäude, das einst Justizpalast und Haftanstalt gewesen war, mit Posten umstellt. Die meisten Zimmer waren laut Aufschrift für Deutsche gesperrt. Hinter den Türen roch es nach Kaffee und Spiegeleiern mit Speck... Lahousen schluckte Speichel hinunter. Aus Radios und Plattenspielern schallten amerikanische Schlager durch die Korridore: "Smoke gets in your eyes" und "Sentimental journey". Die Sieger saßen hier, für lange Zeit, sie saßen zu Gericht. Zwecklos, zu leugnen! Man musste reden und auf ihr Verständnis hoffen.
Lahousen reißt sich zusammen. Er hört den amerikanischen Ankläger fragen: "Wussten Sie, über welchen Gebieten die Aufklärungsflüge unternommen wurden?" – "Sie wurden unternommen über Polen, dann England und im Südostraum", antwortet er müde, von der endlosen Befragung erschöpft. "Näher kann ich das nicht bezeichnen. Ich weiß nur, dass diese Staffel in Budapest eingesetzt war für Erkundungszwecke, Aufklärungszwecke." Das Wort Spionage umgeht er.