Über dieses Buch:
Im Jahr 2005 wird der 7-jährige Tom in einem mysteriösen Brief gebeten, acht Jahre später im Hotel 13 eine rätselhafte Kiste zu suchen. Als er sich dann dorthin begibt, ahnt er noch nichts von den unglaublichen Abenteuern, die ihm und seinen Freundinnen Anna und Liv bevorstehen. Eines Tages verschwindet Anna, und der finstere Hotelbesitzer verhält sich mehr als merkwürdig. Für Tom und seine Freunde beginnt eine aufregende Zeit voller spannender Erlebnisse …
Der Roman zur TV-Serie – mehr Informationen im Internet: www.hotel-13.com
Bei dotbooks sind bereits die drei folgenden Romane zur TV-Serie HOTEL 13 erschienen:
HOTEL 13: Das Abenteuer beginnt
HOTEL 13: Das Rätsel der Zeitmaschine
HOTEL 13: Wettlauf gegen die Zeit
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Vollständige eBook-Ausgabe September 2013
Copyright © 2012 Studio 100 Media GmbH
TM Studio 100
Die Druckausgabe wurde herausgegeben von der Panini Verlags GmbH, Stuttgart. Text: Claudia Weber, basierend auf den Drehbüchern zur TV-Serie »Hotel 13« von Dennis Bots, Koen Tambuyzer, Jasper Beerthuis, Elke De Gezelle, Bjorn Van den Eynde, Catherine Baeyens, Hans Bourlon und Gert Verhulst.
www.studio100.de – www.hotel-13.com
Copyright © der eBook-Ausgabe 2013 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Lektorat: Ray Bookmiller
Titelbildgestaltung: Nicola Bernhart Feines Grafikdesign, München
Titelbildabbildung: © 2012 Studio 100 Media GmbH
ISBN 978-3-95520-404-4
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HOTEL 13
Das Abenteuer beginnt
Der Roman zur TV-Serie
dotbooks.
Tom saß auf dem Beifahrersitz und streckte die Hand aus dem Fenster. Nach der langen Autobahnfahrt tat die frische Seeluft gut. Er schloss die Augen und atmete tief durch.
»Ich glaube, ich kann das Meer schon riechen«, sagte seine Mutter und lächelte ihn an.
»Konzentriere dich auf die Straße!«, tönte es aus dem Navigationsgerät. Es war Toms Stimme. Er hatte das Navi selbst gebastelt – und allerhand »Sonderfunktionen« programmiert. Speziell für seine Mutter.
Marion Kepler verdrehte die Augen und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. An die »Erfindungen« ihres Sohnes war sie gewöhnt. Und sein technisches Know-how hatte sich schon oft als ungemein nützlich erwiesen. Nicht nur, wenn ein Nagel in die Wand geschlagen oder der DVD-Player angeschlossen werden musste – auch wenn der Rasenmäher muckte oder die Stehlampe im Wohnzimmer einen Wackelkontakt hatte. Da nahm sie es in Kauf, dass jedes Mal, wenn sie die Kühlschranktür zu lange aufließ, Toms Stimme aus dem Butterfach ertönte und sie ermahnte: »Tür zu! Oder willst du die Küche kühlen?«
Marion Kepler strich ihrem Sohn liebevoll durchs Haar. Nun sollte sie ihn also vier Wochen nicht sehen. So lange war sie noch nie von ihm getrennt gewesen. Aber Tom war kein kleines Kind mehr. Er war fünfzehn. Sie musste sich an den Gedanken gewöhnen, ihn loszulassen. Jeden Tag ein wenig mehr. Seufzend blickte sie in den Rückspiegel. Weit und breit waren keine anderen Autos in Sicht. Nur Bäume, Sträucher und Grasflächen. Es schien, als ob die schmale Straße direkt zum Ende der Welt führte.
»Links abbiegen!« Das Navigationsgerät holte Marion Kepler wieder in die Wirklichkeit zurück. Sie drosselte die Geschwindigkeit, setzte den Blinker und hielt nach der Abzweigung Ausschau. Doch sie konnte sie nicht entdecken.
»Links abbiegen, Mama«, wiederholte Toms Stimme im Navi. »Aber erst in zweihundert Metern – hahaha!«
»Du Chaot!«, rief Marion Kepler und verpasste ihrem Sohn einen liebevollen Klaps. Dann strich sie ihm über die Wange und sagte in wehmütigem Ton: »Du wirst mir fehlen, Schatz!«
Tom versuchte, der Streicheleinheit zu entkommen, was im Auto gar nicht so leicht war. Er liebte seine Mutter über alles, nur, dieses Betütern musste nicht sein. Schließlich war er kein Krabbelkind mehr. Und auch kein Schoßhund, der es genießt, wenn man ihm das Fell krault.
»Zeit ist relativ!«, meinte Tom und versuchte, seine Mutter ein wenig aufzumuntern. »Das sage nicht ich, sondern Einstein. Ich bin schneller wieder da, als dir lieb ist.«
Sie erreichten die Abzweigung und bogen links ab.
»Noch zwölf Kilometer«, schnarrte das Navi, während das Auto durch die Dünenlandschaft auf die Küste zufuhr. Der Wind strich über die Gräser, und ab und zu war zwischen den Sandhügeln das Meer zu sehen.
Jetzt müssten wir eigentlich bald da sein, dachte Tom und rutschte ungeduldig auf seinem Sitz herum. Was mich wohl erwartet? Er ließ seinen Blick über die Küste schweifen. In der Ferne entdeckte er ein paar Möwen. Irgendwie ist es doch verrückt, dass ich tatsächlich hier gelandet bin.
Tom streckte den Kopf aus dem Fenster und ließ den Wind durch seine dunklen Haare wirbeln. Er schloss die Augen und dachte daran, wie alles begonnen hatte. Es war nun acht Jahre her …
Edison war gerade gestorben, und der kleine Tom war untröstlich. Edison war ein Goldfisch. Nicht irgendein Goldfisch, sondern der schönste Goldfisch der Welt! Tom hatte ihn geschenkt bekommen, nachdem er seine erste Glühbirne ausgewechselt hatte. Und zur Erinnerung an Thomas Alva Edison, den Erfinder der Glühlampe, hatte Tom seinem Goldfisch den Namen Edison gegeben.
Tagsüber stand das Goldfischglas im Wohnbereich, damit Edison nicht allein war, und nachts stellte Tom es auf den Nachttisch neben seinem Bett. Er fütterte seinen Goldfisch regelmäßig, wechselte das Wasser, wenn es notwendig war, und nahm ihn sogar mit in den Urlaub. Edison war bestimmt der glücklichste Goldfisch der Welt – bis er eines Morgens nicht mehr fröhlich durchs Wasser schwamm.
»Er hat es gut bei dir gehabt, Schatz«, sagte seine Mutter, als Tom ihr schluchzend erzählte, dass Edison gestorben war.
Dann überlegte Tom, wo er seinen Liebling begraben könnte. Er ging auf die Terrasse und ließ seinen Blick über den Garten wandern.
»Unter dem Sommerflieder vielleicht?«, schlug Frau Kepler vor. »Da fliegen im Sommer immer ganz viele Schmetterlinge herum.«
Tom schüttelte den Kopf. »Dort«, murmelte er und zeigte auf einen knorrigen alten Baum in einer abgelegenen Ecke des Gartens.
»Das ist ein guter Platz«, stimmte seine Mutter ihm zu. »Dort ist es ruhig und schön schattig.«
Tom legte seinen Goldfisch in eine kleine rote Schachtel, die er vorher liebevoll mit Blättern und Blüten gefüllt hatte. Auf den Deckel schrieb er »Edison« und »R. I. P.« – das hatte er auf Grabsteinen gesehen, und seine Mutter hatte ihm erklärt, dass es »Ruhe in Frieden!« bedeutete. Genau das wünschte sich der kleine Tom für seinen Goldfisch. Und unter dem alten Baum war der ideale Platz dafür.
Tom setzte die Schachtel vorsichtig im Gras ab. Tränen rollten ihm über die Wangen, und er schob seine Brille ein wenig nach oben, um seine Augen trocken zu wischen. Dann holte er den kleinen Klappspaten von der Campingausrüstung und begann, im Schatten des alten Baums ein Loch zu graben, in das er die Schachtel legen wollte. Beim vierten oder fünften Spatenstich hörte Tom dann ein dumpfes Geräusch. Wie wenn Metall auf Holz stößt.
Was ist das?, schoss es ihm durch den Kopf. Eine Kiste? Ein Schatz womöglich?
Tom kniete sich hin und grub mit den Händen weiter. Erst vorsichtig, dann immer schneller. Irgendwann kam eine kleine, alte Holzkiste zum Vorschein. Schwarz, mit Metallbeschlägen, über und über mit Erde bedeckt. Sie musste schon ewig an der Stelle vergraben sein. Tom suchte das Schloss und stellte erleichtert fest, dass die Kiste nicht abgeschlossen war. Gespannt hob er den Deckel. Innen war sie in erstaunlich gutem Zustand. Sie war mit schwerem schwarzem Samt ausgeschlagen, auf dem eine vergilbte Postkarte lag. Vorsichtig nahm Tom sie heraus. Sie hatte einen gezackten Rand und zeigte auf der Vorderseite die letzten Reste einer alten Schwarz-Weiß-Fotografie – so verblichen, dass man kaum noch etwas erkennen konnte. Auf der Rückseite war sie in einer schwungvollen Handschrift beschrieben.
»Lieber Tom, das mit Edison tut mir leid«, stand darauf. Tom schob verdutzt seine Brille auf dem Nasenrücken nach oben. »Diese Nachricht ist meine letzte Hoffnung. Nur eine Person auf der Welt kann mir noch helfen – du!«
Tom blickte auf und schaute sich um. Wollte ihm da jemand einen Streich spielen? Falls ja, war es der denkbar schlechteste Zeitpunkt. Wenn man seinen Goldfisch begraben muss, ist einem nicht nach Scherzen zumute. Aber außer ihm war niemand im Garten.
Tom wandte sich wieder der Postkarte zu und las weiter. »Sprich mit niemandem darüber. Schon gar nicht mit Richard. Es geht um Leben und Tod! Mach dich in acht Jahren auf den Weg zum Hotel 13. Suche die Kiste. Finde Zimmer 13.« Statt einer Unterschrift stand nur ein Buchstabe da: »M«
Tom schaute sich erneut um. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass ihn jemand beobachtete. Doch es war niemand zu sehen.
Während er seinen Goldfisch unter dem alten Baum begrub, überlegte Tom, wer ihm diese mysteriöse Nachricht geschrieben haben könnte – eine Nachricht, die ihn die nächsten acht Jahre nicht mehr loslassen sollte …
Tom öffnete die Augen und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Sie schmeckten salzig. Das Meer musste zum Greifen nah sein. Und nicht nur das Meer, auch das ominöse Hotel 13. Sicherheitshalber tastete Tom über die Tasche seines Kapuzensweaters.
Sie ist noch da, stellte er erleichtert fest.
Die Postkarte steckte in einem Umschlag, der leise knisterte, als Tom über den orangefarbenen Stoff des Sweaters strich.
Bis heute wusste Tom nicht, was es mit der Karte auf sich hatte – geschweige denn, wer »M« war. Zuerst hatte er vermutet, dass seine Mutter die Karte in die Kiste gelegt und vergraben hatte. M wie Mama, M wie Marion. Doch diesen Gedanken verwarf er bald wieder. Erstens war es nicht ihre Handschrift, zweitens kannte sie keinen Richard, und drittens hätte sie es keine fünf Minuten ausgehalten, ohne eine Anspielung auf die Postkarte zu machen. Schon gar nicht acht Jahre lang.
Nein, seine Mutter hatte die Nachricht nicht geschrieben. Aber wer dann? Es musste jemand gewesen sein, der Tom kannte. Und zwar so gut, dass er gewusst hatte, wo Tom seinen geliebten Goldfisch begraben wollte.
Wer auch immer dieser Jemand war – er war Tom nicht mehr aus dem Kopf gegangen. In all den Jahren, die seither vergangen waren, hatte Tom sich immer wieder gefragt, wer ihm die geheimnisvolle Botschaft geschrieben hatte. Ihretwegen hatte er das Hotel 13 ausfindig gemacht – ein in den Dünen, direkt an der Atlantikküste gelegenes Strandhotel, in dem schon seit über hundert Jahren Badegäste ihre Ferien am Meer verbrachten.
Auf der Internetseite des Hotels hatte Tom dann entdeckt, dass eine Urlaubsaushilfe gesucht wurde. Das war die Gelegenheit! Prompt hatte er sich auf die Stellenanzeige beworben und auch eine Zusage erhalten. Und jetzt – ein halbes Jahr danach – saß er im Auto neben seiner Mutter, die nicht nur ihre Zustimmung zu seinem Ferienjob gegeben hatte, sondern ihn auch persönlich zum Hotel 13 bringen wollte.
Tom konnte es kaum erwarten, seinen ersten Ferienjob anzutreten. Und herauszufinden, wer dieser geheimnisvolle M war und warum er Toms Hilfe brauchte. Tom hatte es sich in den Kopf gesetzt, diesem Jemand zu helfen, dessen letzte Hoffnung die alte Postkarte gewesen war. Und wenn Tom sich einmal etwas in den Kopf setzte, dann zog er es auch durch.
»Noch fünf Kilometer«, verkündete Toms Stimme aus dem Navi.
»Kann man diese Stimme auch mal irgendwie abstellen?«, fragte Marion Kepler gespielt genervt.
»Hey, bald ist es das Einzige, was du von mir hast«, konterte Tom, verschränkte die Arme vor der Brust und tat so, als ob er total beleidigt wäre.
»Die dummen Sprüche?«, meinte seine Mutter, beugte sich vor und gab vor, das Navi ausschalten zu wollen. Doch selbst wenn sie es tatsächlich vorgehabt hätte – sie hätte nicht einmal geahnt, welchen der vielen Schalter und Knöpfe sie hätte drücken müssen. Toms Navigationsgerät, Marke »Eigenbau«, sah fast schon gefährlich aus mit seinen Drähten und Kabeln. Um dem technischen Unikum eine persönliche Note zu verleihen, hatte er am linken Rand eine Bilderleiste mit Schnappschüssen von sich angebracht. Marion Kepler musste jedes Mal lachen, wenn sie die Grimassen sah.
»Pass auf!«, rief Tom plötzlich.
Marion Kepler wusste sofort, dass er dieses Mal nicht scherzte. Instinktiv trat sie auf die Bremse und sah gerade noch, wie etwas Grünes über die Straße huschte, bevor sie mit quietschenden Reifen zum Stehen kam. Ohne nachzudenken, löste sie den Sicherheitsgurt, riss die Tür auf und lief nach vorn, um zu sehen, was ihnen da in die Quere gekommen war. Ein Frosch konnte es nicht sein – es hatte eher die Größe eines Hundes gehabt. Aber die Farbe …
Erstaunt stellte sie fest, dass es ein laubfroschgrüner Koffer war, der sich offensichtlich selbstständig gemacht hatte und auf seinen Rollen in den Straßengraben gefahren war. Tom war ebenfalls aus dem Wagen gesprungen und kniete sich hin, um besser sehen zu können, was da unter dem Auto lag.
»Oh mein Gott«, keuchte Marion Kepler, als Tom vorsichtig etwas Braunes hervorzog. Sie hoffte inständig, dass das Tier noch lebte und nicht schwer verletzt war.
In diesem Moment hörte sie Schritte auf das Auto zurennen und drehte sich um. Es war ein Mädchen, etwa in Toms Alter, das mit mehreren Taschen, einer Isomatte und einer Hängematte unter dem Arm vor ihr stehen blieb und vor Schreck gar nichts sagen konnte.
»Das tut mir leid!«, entschuldigte sich Marion Kepler und wollte das Mädchen instinktiv in den Arm nehmen. »Alles in Ordnung?«
»Ja … äh … nein«, stammelte das Mädchen. »Ich muss mich entschuldigen! Mein Koffer … Es tut mir leid!«
Erleichtert atmete Marion Kepler auf. Doch ihr Magen krampfte sich gleich wieder zusammen, als sie Toms Stimme hinter sich hörte.
»Ich glaube, wir haben einen Verletzten!«, sagte er.
Marion Kepler fuhr herum – und sah zu ihrer Erleichterung, dass das braune Etwas in Toms Hand kein angefahrenes Tier war – jedenfalls kein Tier aus Fleisch und Blut, sondern ein Stoffaffe.
»Aber«, fuhr Tom fort, »er kann immer noch lachen.«
Tom hielt das Stofftier in die Höhe, sodass das Grinsegesicht des Affen zu sehen war, und reichte ihn seiner Besitzerin.
»Danke.« Das Mädchen musste ebenfalls lachen. Es nahm das Kuscheltier und drückte es an sich.
Unterdessen hatte Marion Kepler den Koffer aus dem Straßengraben gehievt. »Ob der noch rollt?«, fragte sie skeptisch, während sie das grüne Ding über den Asphalt zog. Der Koffer schaukelte und schepperte.
»Offensichtlich nicht«, stellte Tom fest.
»So ein Mist«, murmelte das Mädchen und nahm den Koffer entgegen. »Wie komme ich jetzt nur zum Hotel 13?«
»Hotel 13?«, wiederholte Tom. Dann zwinkerte er seiner Mutter zu. »Das ist aber ein Zufall …«
»Anscheinend haben wir den gleichen Weg –wenn Sie möchten, nehmen wir Sie gerne mit«, schlug Marion Kepler vor.
»Ach bitte, sagen Sie doch du zu mir. So alt fühle ich mich noch nicht«, lachte das Mädchen. »Ich bin fünfzehn.«
»Ah, genau wie Tom«, meinte Marion Kepler mit einem Seitenblick auf ihren Sohn, der auf einmal ungewohnt still war.
»Hallo, Tom«, sagte das Mädchen und streckte ihm lächelnd die Hand entgegen. »Ich bin Anna.«
»Hallo, Anna«, antwortete Tom und grinste verlegen, während er ihre Hand schüttelte.
»Na, dann packt mal mit an«, rief Toms Mutter. »Wir müssen Annas Sachen verstauen.«
»Hmmm«, machte Tom und kratzte sich am Kopf, »ich fürchte, da brauchen wir einen größeren Wagen.«
Marion Kepler lachte und fand es erstaunlich, wie viel Gepäck die zart und zerbrechlich wirkende Fünfzehnjährige mit sich herumschleppte: eine graue Umhängetasche über der einen Schulter, eine bunte Reisetasche, aus der eine Isomatte ragte, auf der anderen, eine grün-weiß gestreifte Hängematte unter dem Arm, eine schwarze Ledertasche, in der eine Spiegelreflexkamera untergebracht war, der Plüschaffe und der laubfroschgrüne Rollkoffer – nicht zu vergessen ein Mobiltelefon in der rechten Hand.
Anna hob entschuldigend die Schultern und beugte sich nach unten, um ihren Koffer zu nehmen. Doch Tom bückte sich im gleichen Augenblick – und prompt stießen die beiden mit den Köpfen zusammen.
»Sorry«, murmelte Tom und rieb sich die Stirn.
»Tut mir leid«, lachte Anna und merkte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg.
»Lass nur, ich mach das«, meinte Tom und versuchte, den Koffer in den Kofferraum des Wagens zu hieven. Aber der Koffer war zu sperrig. Tom überlegte. »Ich glaube, wir müssen den Frachtraum umorganisieren«, scherzte er. Dann lud er das grüne Monstrum kurzerhand auf den Beifahrersitz. »Meinst du, ich passe noch zu euch beiden auf den Rücksitz?«, fragte er Anna.
»Zu uns beiden?«, wiederholte Anna und schaute irritiert auf Toms Mutter.
»Na ja, zu dir und deinem Affen«, meinte Tom.
Anna grinste.
»Steig schon mal ein«, schlug Marion Kepler vor. »Tom und ich verstauen die restlichen Sachen.«
Im Kofferraum war nur noch Platz für die Umhängetasche. Der Rest von Annas Gepäck musste auf die Rückbank. Als Tom sich schließlich neben sie auf den Sitz zwängte, war es so eng, dass ihre Schultern sich berührten.
»Dein Affe ist eindeutig zu groß«, scherzte er, um seine Unsicherheit zu überspielen.
Anna wurde rot. Sie mochte den Jungen mit der schwarzen Brille und dem verwuschelten braunen Haar. Aber mussten sie gleich so nah nebeneinandersitzen? Sie saß ja praktisch auf seinem Schoß …
»Seid ihr angeschnallt?«, erkundigte sich Marion Kepler und schaute in den Rückspiegel. Als Anna und Tom nickten, fügte sie hinzu: »Dann kann's weitergehen. Endspurt!«
Anna wagte kaum, sich zu bewegen. Bei jeder Kurve wurde sie an Tom gedrückt. Und auch Tom saß ganz verkrampft da und hielt sich so fest am Griff über dem Fenster fest, dass seine Knöchel weiß unter der Haut hervortraten.
»Macht ihr Urlaub im Hotel 13?«, fragte Anna, um von ihrer Verlegenheit abzulenken.
»Schön wär's«, meinte Tom. »Nein, ich habe einen Ferienjob dort.«
»Echt?« Anna sah ihn erstaunt an.
Was für schöne Augen sie hat, dachte Tom. Als er merkte, dass er rot wurde, schaute er schnell aus dem Fenster.
Einen Moment lang herrschte angespanntes Schweigen, dann nahm Anna den Faden wieder auf. »Hast du schon mal dort gejobbt?«
»Nee«, antwortete Tom und wandte sich Anna wieder zu. »Aber die Homepage kenne ich auswendig.«
»Ich war hier früher jeden Sommer in den Ferien«, meinte Anna und lächelte.
Tom überlegte verzweifelt, was er als Nächstes sagen könnte. Was ist nur mit mir los?, dachte er. Sonst rede ich doch auch, bis die anderen geschwollene Ohren haben. Warum fällt mir jetzt nichts ein? Er atmete tief durch und sah wieder aus dem Fenster.
Anna schaute aus dem anderen Fenster und drückte ihren Stoffaffen an sich. Man muss zwar nicht immer reden, ging es ihr durch den Kopf, aber dieses Schweigen ist irgendwie ungemütlich …
In diesem Moment unterbrach das Navi die Stille. »Viel zu schnell, Mama! Du bist ein schlechtes Vorbild für deinen Sohn!« Marion Kepler lachte und schüttelte den Kopf.
»Das bist ja du«, stellte Anna erstaunt fest und sah erst auf das Navi, dann zu Tom.
Tom lächelte verlegen. Bevor er allerdings etwas sagen konnte, ertönte seine Stimme erneut aus dem kleinen Gerät: »Zwischenstand: vierhundertundelf Kilometer gefahren, noch zwei Kilometer bis Hotel 13.«
»Was, so weit?«, fragte Anna. »Gibt's bei euch keine Ferienjobs?«
»Natürlich«, antwortete Marion Kepler und blickte kurz in den Rückspiegel. »Nur, mein Herr Sohn will ja unbedingt ins Hotel 13!«
»Warum?«, wollte Anna wissen und schaute Tom an.
Aber der blickte wieder aus dem Fenster. Diesmal jedoch nicht aus Verlegenheit, sondern weil er an die geheimnisvolle Nachricht dachte. Er kannte sie in- und auswendig. Und er hatte acht Jahre darauf gewartet, das Rätsel der Postkarte zu lösen.
Mach dich in acht Jahren auf den Weg zum Hotel 13, ging es ihm durch den Kopf. Suche die Kiste. Finde Zimmer 13.
»Hallo?« Annas Stimme riss Tom aus seinen Gedanken. »Warum gerade Hotel 13?«
»Äh, na ja«, stammelte Tom. »Sonne, Strand, Meer – wie geht das noch zu toppen?«
Bevor Anna etwas sagen konnte, plärrte ein schräger Gesang aus dem Navi. Tom versuchte hastig, es auszuschalten, doch von seinem Platz auf dem Rücksitz war das Gerät unerreichbar. Marion Kepler und Anna lachten Tränen, als sie den blechernen Singsang hörten. Tom schaute wieder verlegen aus dem Autofenster. Da entdeckte er plötzlich ein pompös wirkendes Gebäude in den Dünen.
»Mama, halt mal an«, rief er.
Frau Kepler fuhr an den Straßenrand, von dem aus man einen guten Blick auf das Anwesen hatte.
»Das ist es«, meinte Anna. »Das berühmte Hotel 13.«
Tom betrachtete den prächtigen alten Bau voller Ehrfurcht. Das Hotel hatte eine eindrucksvolle Fassade mit Säulen und Pfeilern, die Seitenfronten öffneten sich in Erker, und über dem mittleren Gebäudetrakt erhob sich eine mächtige Kuppel. Zu Kugeln geschnittene Buchsbäumchen säumten das Gelände und die Straße, die zum Haupteingang führte.
»Wow, ihr beide seid ja richtig zu beneiden«, sagte Marion Kepler, als sie in die Auffahrt einbog und dem Schild zum Besucherparkplatz folgte. »So, da wären wir«, fügte sie hinzu, machte den Motor aus und zog die Handbremse an. »Alles aussteigen, bitte!«
Tom und Anna schnallten sich los und kletterten aus dem Wagen.
»Das ist echt der Hammer«, rief Tom begeistert. Er hatte zwar die Bilder auf der Homepage des Hotels gesehen, aber so bombastisch hatte er es sich nicht vorgestellt.
»Na komm, pack mal mit an, Tom«, meinte Marion Kepler, die bereits anfing, mit Anna zusammen das Gepäck aus dem Auto zu laden.
»Zu Diensten«, grinste Tom und nahm seiner Mutter den Rucksack ab, den sie gerade aus dem Kofferraum holte.
Als alle Gepäckstücke auf dem Pflaster des Parkplatzes standen, ging Frau Kepler auf ihren Sohn zu. »Du wirst mir fehlen, mein Junge«, erklärte sie und umarmte ihn.
»Mach's gut, Mama«, antwortete Tom. »Pass auf dich auf!«
Und mach jetzt bitte kein Drama in drei Akten draus, fügte er in Gedanken hinzu. Es war ihm ein bisschen peinlich, sich vor Anna von seiner Mutter zu verabschieden.
Doch Marion Kepler hatte kein Mitleid mit ihrem Sohn. »Tom?«, sagte sie gedehnt und legte den Zeigefinger an ihre Wange.
»Deshalb will ich so weit weg, verstehst du?«, witzelte Tom und schaute Anna entschuldigend an.
Er war hin- und hergerissen. Einerseits wollte er seine Mutter nicht enttäuschen, andererseits wollte er vor Anna nicht wie Mamas kleiner Liebling dastehen. Dann hatte er eine Idee.
»Wie Ihr wünscht, Madame«, meinte er mit gekünstelt freundlicher Stimme, drückte seiner Mutter einen Kuss auf die Wange und machte anschließend eine Verbeugung. »Bei uns im Hotel 13 ist der Kunde König!«
Anna musste lachen. »Wenn schon, dann ist der Gast hier König«, verbesserte sie ihn.
»Meinetwegen«, brummte Tom und war erleichtert, dass die Abschiedsszene nicht so peinlich geworden war, wie er befürchtet hatte.
»Vielen Dank, dass Sie mich mitgenommen haben«, sagte Anna und gab Toms Mutter zum Abschied die Hand.
»Ich bitte dich, das war doch selbstverständlich«, lachte Frau Kepler, stieg in ihren Wagen und kurbelte die Scheibe hinunter. »Passt auf euch auf«, rief sie, bevor sie die Auffahrt hinunterfuhr und das Hotel hinter sich ließ.
Anna und Tom winkten ihr nach, bis das Auto hinter den Dünen verschwunden war. Dann packten sie ihre Sachen und gingen zur Freitreppe, die zum Haupteingang führte. Vor der hölzernen Drehtür, die mit bunten Glasfenstern durchbrochen war, machten sie halt. Anna setzte ihren Stoffaffen auf den Rollkoffer und zwängte die beiden durch die Tür. Mit ihren vielen Taschen wäre sie beinahe stecken geblieben.
»Das kommt davon, wenn man ein Segelboot in den Koffer packt«, scherzte Tom, der zwar weniger Gepäck, aber auch seine Mühe mit der Drehtür hatte.