Charles Dickens
Bleak House
Illustrierte Fassung
Charles Dickens
Bleak House
Illustrierte Fassung
Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
Übersetzung: Gustav Meyrink
1. Auflage, ISBN 978-3-954185-85-6
www.null-papier.de/294
null-papier.de/katalog
Inhaltsverzeichnis
Über dieses Buch
Über den Autor
Danke
Vorrede
1. Kapitel – Im Kanzleigericht
2. Kapitel – In der vornehmen Welt
3. Kapitel – Die Geschichte einer Jugend
4. Kapitel – Menschenliebe mit dem Fernrohr vor den Augen
5. Kapitel – Ein Morgenabenteuer
6. Kapitel – Ganz zu Hause
7. Kapitel – Der Geisterweg
8. Kapitel – deckt eine Menge Sünden zu.
9. Kapitel – Anzeichen
10. Kapitel – Der Advokatenschreiber
11. Kapitel – Unser geliebter Bruder
12. Kapitel – Auf der Lauer
13. Kapitel – Esthers Erzählung
14. Kapitel – Anstand
15. Kapitel – Bell Yard
16. Kapitel – »Toms Einöd«
17. Kapitel – Esthers Erzählung
18. Kapitel – Lady Dedlock
19. Kapitel – Marsch vorwärts
20. Kapitel – Ein neuer Mieter
21. Kapitel – Die Familie Smallweed
22. Kapitel – Mr. Bucket
23. Kapitel – Esthers Erzählung
24. Kapitel – Eine Gerichtsverhandlung
25. Kapitel – Mrs. Snagsby auf der Lauer
26. Kapitel – Scharfschützen
27. Kapitel – Schachzüge
28. Kapitel – Der Hüttenbesitzer
29. Kapitel – Der junge Mann
30. Kapitel – Esthers Erzählung
31. Kapitel – Wärterin und Kranke
32. Kapitel – Um die bestimmte Stunde
33. Kapitel – Mr. Smallweed mischt sich ein
34. Kapitel – Unter der Schraube
35. Kapitel – Esthers Erzählung
36. Kapitel – Chesney Wold
37. Kapitel – Jarndyce kontra Jarndyce
38. Kapitel – Ein Seelenkampf
39. Kapitel – Advokat und Klient
40. Kapitel – Häusliche und Staats-Angelegenheiten
41. Kapitel – In Mr. Tulkinghorns Zimmer
42. Kapitel – In Mr. Tulkinghorns Wohnung
43. Kapitel – Esthers Erzählung
44. Kapitel – Der Brief und die Antwort
45. Kapitel – Im Vertrauen
46. Kapitel – Aufhalten! Aufhalten!
47. Kapitel – Jos letzter Wille
48. Kapitel – Das Verhängnis nimmt seinen Lauf
49. Kapitel – Hie Pflicht, hie Freundschaft!
50. Kapitel – Esthers Erzählung
51. Kapitel – Mir geht plötzlich ein Licht auf
52. Kapitel – Halsstarrigkeit
53. Kapitel – Die Spur
54. Kapitel – Eine Mine fliegt auf
55. Kapitel – Flucht
56. Kapitel – Verfolgung
57. Kapitel – Esthers Erzählung
58. Kapitel – Ein Wintertag und eine Winternacht
59. Kapitel – Esthers Erzählung
60. Kapitel – Aussichten
61. Kapitel – Eine Entdeckung
62. Kapitel – Noch eine Entdeckung
63. Kapitel – Stahl und Eisen
64. Kapitel – Esthers Erzählung
65. Kapitel – Ein neues Leben
66. Kapitel – Unten in Lincolnshire
67. Kapitel – Der Schluss von Esthers Erzählung
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Ihr
Jürgen Schulze
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Bleak House ist der neunte Roman von Charles Dickens.
Ein viele Jahre anhaltender Erbschaftsstreit und eine verschleierte Herkunft stellen die Rahmenhandlung für diese Geschichte, die eher zu Dickens Unbekannten gezählt wird; aber umso mehr verdient, entdeckt zu werden.
Richard Carstone und Ada Clare –eigentlich Cousin und Cousine – heiraten heimlich. Beide müssen damit fertig werden, dass sich ihre Hoffnungen auf ein Erbe in endlosen Rechtsstreitigkeiten zu zerschlagen drohen. Gemeinsam mit ihnen im titelgebenden Bleak House lebt Esther Summerson. Um ihre Herkunft rankt sich ein düsteres Geheimnis. In den letzten Kapiteln schließlich entwickelt sich das Buch sogar zu einem Kriminalroman.
Dickens zeichnet in dieser bissigen Sozialkritik ein groß angelegtes Gesellschaftspanorama mit zeitlos liebenswürdigen, schrägen und finsteren Figuren. Zu ihnen gesellt sich der erste Detektiv der Romanliteratur: Inspector Bucket. Es ist ein Vergnügen, der Handlung zu folgen und die – zunächst noch breit gestreuten – Mosaikteilchen des Panoptikums zusammenzufügen.
Dickens, dessen Familie selbst durch Rechtsstreitigkeiten in die Armut getrieben wurde, rechnet mit der englischen Justiz ab, den endlosen Prozessereien und der Hoffnungslosigkeit der Armen, die sich keine Anwälte leisten können.
Dickens ist einer der meistgelesenen Schriftsteller der englischen Literatur. Der als Kind Mittellose hinterlässt bei seinem Tode ein stattliches Vermögen.
»Jarndyce kontra Jarndyce« ist zu einem Witzwort geworden. Das ist das einzig Gute, was jemals dabei herausgekommen ist. Der Fall hat vielen den Tod gebracht, aber den Juristen ist er ein Jux. Jeder Beisitzer des Kanzleigerichts hat darüber zu berichten gehabt. Jeder Kanzler hat, als er noch Anwalt war, darin plädiert. Blaunasige alte Advokaten mit plumpen dicksohligen Schuhen haben in auserlesenen Portweinsitzungen nach dem Essen in der Hall ihre Witze darüber gerissen. Anfänger auf der Juristenlaufbahn haben ihren Scharfsinn daran geübt. Als Mr. Blowers, der ausgezeichnete Advokat, einmal sagte: »Das oder jenes kann nur geschehen, wenn es Kartoffeln vom Himmel regnet«, hatte der letzte Lordkanzler verbessernd bemerkt: »Oder wenn wir mit ›Jarndyce kontra Jarndyce‹ fertig werden, Mr. Blowers!« – ein Scherz, über den besonders die Pedelle und Gerichtsdiener lachten.
Charles John Huffam Dickens (als Pseudonym auch Boz; geb. 7. Februar 1812 in Landport bei Portsmouth, England; gest. 9. Juni 1870 auf Gad’s Hill Place bei Rochester, England) ist ein englischer Schriftsteller und Journalist.
Er gilt als einer der herausragendsten Autoren seiner Zeit und als einer der Ersten, die in realistischen Schilderungen das Leid einer unterprivilegierten Bevölkerung aufzeichneten.
Zu seinen bekanntesten Werken gehören »Oliver Twist«, »David Copperfield«, »Eine Geschichte aus zwei Städten«, »Große Erwartungen« sowie »Eine Weihnachtsgeschichte«. Dickens verwendet einen blumigen und poetischen Stil, der viele humoristische Elemente besitzt. Besonders seine Seitenhiebe auf die Britische Aristokratie sind weit verbreitet und beliebt.
Dickens ist das Zweite von acht Kindern von John Dickens (1786–1851), einem mittellosen Marineschreiber. 1823 kann der Vater die hungrige Familie nicht mehr ernähren und kommt ins Schuldgefängnis von London. Eine Tragödie, die den Jungen Charles Dickens fürs Leben prägt - nicht umsonst kritisiert er in seinen Schriften den ungerechten Umgang mit schuldlos Verschuldeten. Charles muss schon mit 12 Jahren als Lager- und Fabrikarbeiter seine Familie unterstützen; auch diese Erfahrung fließt in sein Werk um »David Copperfield« ein.
Als sein Vater 1824 aus dem Gefängnis entlassen wird, geht Charles bis 1826 zurück in die Schule und wird 1827 als Schreiber bei einem Rechtsanwalt angestellt. Er arbeitet sich bis zum Parlamentsstenografen hoch (1929).
1836 heiratet Dickens Catherine Hogarth (1816–1879), von der er sich 1858 trennt. Das Ehepaar hat zehn Kinder.
Ab 1831 verdient Dickens seinen Lebensunterhalt als Journalist für verschiedene Zeitungen. 1836–37 erscheinen in monatlichen Heften die »Pickwick Papers«, durch die Dickens rasch Bekanntheit als Schriftsteller erlangt. Ebenso seine folgenden Romane entstehen als Fortsetzungsgeschichten in Zeitungen. Oft schreibt er an mehreren gleichzeitig.
Aber Dickens will nicht nur literarischen Erfolg, sondern auch auf gesellschaftliche Missstände hinweisen und den Weg für soziale Reformen ebnen. 1838 erscheint »Oliver Twist« und Dickens wird Herausgeber der liberalen Tageszeitung »Daily News«.
Auf einer erfolgreichen Lesereise in die Vereinigten Staaten bringt Dickens, der unter nicht autorisierten Veröffentlichungen auf dem amerikanischen Kontinent leidet, die Idee eines weltweiten Urheberrechtes auf, aber erntet dafür keine Unterstützung.
1843 veröffentlicht Dickens seine bekannte »Weihnachtsgeschichte«, in der er eine fantastische Handlung mit der moralischen Idee von Solidarität und Nächstenliebe verknüpft.
1856 erlauben ihm seine Einkünfte, den Landsitz Gad‘s Hill Place in Rochester zu erwerben. Am 9. Juni 1865 überlebt Dickens den schweren Eisenbahnunfall von Staplehurst. Diesen übersteht er körperlich unversehrt, wird aber zeitlebens an den Erinnerungen leiden.
1869 macht er eine letzte Lesereise durch Großbritannien, auf der er während einer Lesung einen Schlaganfall erleidet. Am 9. Juni 1870 stirbt Charles Dickens auf seinem Landsitz an einem zweiten Schlaganfall. Er wird am 14. Juni in der Westminster Abbey beigesetzt.
Dickens ist einer der meistgelesenen Schriftsteller der englischen Literatur. Der als Kind Mittellose hinterlässt bei seinem Tode ein stattliches Vermögen.
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Charles Dickens bei Null Papier
null-papier.de/dickens
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Wenn es Sie interessieren sollte, wie ein E-Book erstellt wird, so können Sie hier eine kleine Geschichte aus meiner Werkstatt lesen: null-papier.de/story
Ich hoffe, Sie haben Freude mit dieser Geschichte.
Ihr
Jürgen Schulze, Verleger, js@null-papier.de
Neuss, 2015
Vor einigen Monaten war ein Kanzleigerichtsbeisitzer so liebenswürdig, bei einer öffentlichen Feier und in einer Gesellschaft von hundertfünfzig Damen und Herren, von denen man nicht gut annehmen kann, dass sie verrückt sind, die Behauptung aufzustellen, das Kanzleigericht sei eine fast fehlerlose Institution, wenn es auch das Lieblingsthema gewisser, in Vorurteilen befangener Leute bilde – bei welcher Äußerung besagter Richter mir einen Seitenblick zuzuwerfen geruhte –, sie herabzusetzen. Es habe vielleicht, gab er zu, kleine unbedeutende Mängel hinsichtlich Schnelligkeit, was Erledigungen beträfe, aber alles andere sei übertrieben und lediglich eine Folge der »Engherzigkeit und Knauserei des Publikums«. In Wirklichkeit hat nun aber das gerügte Publikum noch bis vor kurzem die allerentschiedenste Neigung an den Tag gelegt, die Zahl der Kanzleirichter zu vermehren, die anfänglich, wenn ich nicht irre, Richard II. – es kann geradesogut ein anderer gewesen sein – festgesetzt hat. Dieser Witz schien mir zu gut, um ihn in dieses Buch aufzunehmen, sonst hätte ich ihn Konversations-Kenge oder Mr. Vholes in den Mund gelegt. Ich hätte ihn recht passend mit einem Zitat aus Shakespeares Sonetten verbinden können:
Ich werde
dem Stoffe gleich, in dem ich arbeite,
wie eines Färbers Hand,
Beklag mich denn, und wünsche anders mich!
Da es immerhin von Belang ist, wenn das »engherzige und knauserige« Publikum erfährt, wie in dieser Hinsicht die Dinge standen und noch stehen, so stelle ich hier fest, dass alles, was in diesem Buch vom Kanzleigericht handelt, seinem Wesen nach wahr und keineswegs übertrieben ist. Der »Fall Grindley« unterscheidet sich in keinem wesentlichen Punkte von einem tatsächlichen Begebnis, das ein Unbeteiligter, der als Advokat das ganze unerhörte Unrecht von Anfang bis zu Ende kennenlernte, veröffentlicht hat.
Gegenwärtig liegt dem Gerichtshof ein Prozess vor, der vor fast zwanzig Jahren angefangen hat, in dem einmal dreißig bis vierzig Advokaten bei einer Tagfahrt erschienen und dessen Kosten sich jetzt auf siebzigtausend Pfund belaufen. Er ist ein »Proformaprozess« und, wie man mir versichert, seinem Schlusse nicht näher als zu Anfang. Noch ein anderer wohlbekannter Kanzleigerichtsprozess, der vor Beginn des vorigen Jahrhunderts anfing und in dem die Kosten mehr als doppelt so viel verschlungen haben, ist heute noch in Schwebe. Wenn ich noch mehr Belege für »Jarndyce kontra Jarndyce« und »die Knauserei des Publikums« brauchte, so könnte ich Bände damit füllen.
Noch über einen anderen Punkt möchte ich mir hier eine Bemerkung gestatten. Man hat seit dem Tode Mr. Krooks die Möglichkeit der sogenannten Selbstverbrennung geleugnet, und mein guter Freund Mr. Lewes (der irrtümlicherweise, wie er bald darauf entdeckte, in dem Glauben lebte, dass alle Autoritäten von Ruf die Sache hätten fallen lassen) schrieb seinerzeit einige geistreiche Briefe an mich, in denen er beweisen wollte, dass Selbstverbrennung ein Unding sei. Ich glaube nicht erst bemerken zu müssen, dass ich meine Leser nicht böswilliger- oder nachlässigerweise irreführe und, ehe ich jenen Todesfall beschrieb, Sorge trug, diesen Dingen nachzugehen. Man kennt ungefähr dreißig Fälle, deren berühmtesten, den der Gräfin Cornelia de Baudi, der Schriftsteller und Stiftsgeistliche in Verona, Signor Cesenate Guiseppe Bianchini, genau untersucht und beschrieben hat. Er veröffentlichte darüber im Jahr 1731 in Verona einen Bericht, den er später in Rom nochmals drucken ließ. Alle bei diesem Fall beobachteten Erscheinungen, die sich vernünftigerweise nicht bezweifeln lassen, sind dieselben wie die bei Mr. Krook geschilderten. Der nächst bekannteste Fall ereignete sich in Reims sechs Jahre früher und wurde von Le Cat, einem der berühmtesten Chirurgen Frankreichs, beschrieben. Es handelte sich dabei um eine Frau, deren Mann wegen angeblichen Mordes angeklagt und verurteilt wurde. Die nächsthöhere Instanz sprach ihn jedoch frei, da aus den Zeugenaussagen hervorging, dass die Frau an Selbstverbrennung gestorben war.
Ich halte es nicht für notwendig, diesen wohlbekannten Tatsachen und den Berichten der betreffenden Autoritäten noch die in verschiedenen Werken niedergelegten Ansichten und Berichte ausgezeichneter französischer, englischer und schottischer Gelehrter aus neuerer Zeit hinzuzufügen, und begnüge mich mit der Bemerkung, dass ich an der Richtigkeit der Tatsachen nicht eher zweifeln werde, als bis nicht auch hinsichtlich aller der Beweise, die Vorfälle im menschlichen Leben als glaubwürdig registrieren, eine umfassende Selbstverbrennung stattgefunden hat.
In Bleak House habe ich absichtlich die romantische Seite des alltäglichen Lebens hervorgehoben. Ich glaube, ich habe noch niemals so viele Leser wie bei diesem Buche gehabt. Auf Wiedersehen.
London, im August 1853
London. Der Michaelitermin ist vorüber, und der Lordkanzler sitzt in der Lincoln’s-Inn-Hall. Abscheuliches Novemberwetter. So viel Schmutz in den Straßen, als ob die Wasser des Himmels sich eben erst von der neugeschaffenen Erde verlaufen hätten und es gar nichts Wunderbares wäre, wenn man einem vierzig Fuß langen Megalosaurus begegnete, wie er gerade – ein Elefant unter den Eidechsen – Holborn-Hill hinaufwatschelt.
Der Rauch senkt sich von den Schornsteinen nieder, ein dichter schwarzer Regen von Rußbatzen, so groß wie ausgewachsene Schneeflocken, die in schwarzen Kleidern den Tod der Sonne betrauern wollen. Hunde, unkenntlich vor Schmutz, Pferde, nicht viel besser dran, bis an die Scheuklappen mit Kot bespritzt. Fußgänger drängen sich, von der allgemeinen Seuche übler Laune angesteckt, mit Regenschirmen aneinander vorbei und glitschen an den Straßenecken aus, wo bereits Zehntausende vor ihnen den trüben Tag über ausgerutscht sind und neue Schichten zu den Schmutzkrusten hinzugefügt haben, die an diesen Stellen zäh am Pflaster kleben und sich anhäufen mit Zinseszinsen.
Nebel überall, Nebel stromauf, wo der Fluss zwischen Buschwerk und Wiesen dahinfließt; Nebel stromab, wo er sich schmutzig zwischen Reihen von Schiffen und dem Uferunrat der großen, unsauberen Stadt durchwälzt. Nebel auf den Sümpfen von Essex und Nebel auf den Höhen von Kent. Nebel kriecht in die Kabusen der Kohlenschiffe; Nebel liegt draußen auf den Rahen und klimmt durch das Tauwerk; Nebel senkt sich auf die Deckverkleidung der Barken und Boote. Nebel dringt in die Augen und Kehlen der alten Greenwichinvaliden, die am Kamin in ihren Kämmerchen husten und keuchen, dringt in das Rohr und den Kopf der Shagpfeife des grimmigen Schiffseigners unten in seiner engen Kajüte und beißt grausam in Zehen und Finger des fröstelnden kleinen Schiffsjungen auf Deck. Passanten schauen von den Brücken herab über die Geländer in einen Nebelhimmel und sind rings von Nebel umgeben, als ob sie in einem Luftballon mitten in grauen Wolken hingen.
Gaslampen stieren in den Straßen trübäugig durch den Nebel wie draußen die Sonne wohl auf den durchweichten Feldern. Die meisten Läden haben zwei Stunden vor der Zeit angezündet, und das Gaslicht scheint es zu wissen, denn es sieht schmal und mürrisch aus.
Am rauesten ist der Nachmittag; da ist der Nebel am dicksten, die Straße am schmutzigsten in der Nähe jenes dickschädligen steinernen Hindernisses, das so recht eine passende Zier für die Schwelle der dickschädligen alten Korporation – des »Tempels« – ist. Und dicht beim »Tempel« in der Lincoln’s-Inn-Hall, mitten im Herzen des Nebels sitzt der Lord-Oberkanzler in seinem hohen Kanzleigerichtshof.
Nie kann der Nebel zu dick, nie der Schmutz und Kot zu tief sein, um dem versumpften und verschlammten Zustand zu entsprechen, in dem sich dieser hohe Kanzleigerichtshof, dieser schlimmste aller ergrauten Sünder, an einem solchen Tage dem Himmel und der Erde präsentiert.
An einem solchen Nachmittag sitzt der Lord-Oberkanzler da mit einer Nebelglorie um das Haupt, eingehüllt und umgeben von Scharlachtuch und Vorhängen und vor sich einen dicken Advokaten mit starkem Backenbart, einer dünnen Stimme und endlosen Prozessakten, der seine Blicke auf die Laterne an der Decke richtet, wo er nichts als Nebel sieht.
An einem solchen Nachmittag sitzen ein paar Dutzend Mitglieder des Barreaus, des hohen Kanzleigerichts, hier, beschäftigt mit einem der zehntausend Stadien eines endlosen Prozesses. Sie legen einander Schlingen mit schlüpfrigen Präzedenzien; knietief in technischen Ausdrücken watend rennen sie ihre mit Ziegen- und Pferdehaar geschützten Köpfe gegen Wälle von Worten und führen ein Schauspiel von Gerechtigkeit auf; Komödianten mit ernsthaften Gesichtern.
An einem solchen Nachmittag müssen die verschiedenen Solizitoren in einer Rechtssache, die zwei oder drei von ihren dabei reich gewordenen Vätern geerbt haben, in einer Reihe sitzen in einem mit Strohmatten ausgelegten Brunnen, auf dessen Grund man vergebens nach der Wahrheit suchen würde – zwischen dem roten Tisch des Registrators und den seidenen Talaren –, Repliken, Dupliken, Schlussworte, Dekrete, Eingaben, Informationen und Berge geldverschlingenden Unsinns vor sich aufgehäuft. Kein Wunder, dass der Saal trübe ist, nur hie und da von schmelzenden Kerzen spärlich erhellt, wenn Nebel schwer darin hängt, die bunten Glasfenster die Farbe verloren haben und kein Tageslicht hereinlassen; kein Wunder, wenn die Uneingeweihten auf der Straße, die durch die Glasscheiben in den Türen hereinblicken, sich von dem Eintritt abschrecken lassen durch den lichtscheuen, eulenhaften Anblick und das schläfrige Gesumm, das matt zur Decke hinauftönt von dem gepolsterten Baldachin, von wo der Lord-Oberkanzler zu der Laterne aufblickt, in der kein Licht ist, und wo die Perücken der beisitzenden Richter in Nebeldunst verschwimmen.
Das ist das Kanzleigericht, das Häuser hat verfallen machen und Äcker verwüstet in jeder Grafschaft, seine lebensmüden Wahnsinnigen hat in jedem Irrenhaus und seine Toten auf jedem Kirchhof, das seine Prozessierenden aussaugt, bis sie mit niedergetretenen Absätzen und abgeschabtem Rock bei allen, deren Bekanntschaft sie machen, reihum borgen und betteln gehen; das Kanzleigericht, das dem Reichen Mittel an die Hand gibt, das Recht müde zu hetzen. Das Geld, Geduld, Mut, Hoffnung so erschöpft, Köpfe verwirrt und Herzen bricht, dass kein Advokat, so er ehrenwert ist, anstehen wird zu warnen: »Lieber jedes Unrecht leiden als hierherkommen.«
Wer ist zufällig an diesem trüben Nachmittag in des Lordkanzlers Gericht außer dem Lordkanzler selbst, dem Advokaten in der zu verhandelnden Sache, zwei oder drei Rechtsanwälten, die niemals etwas zu tun haben, und dem eben erwähnten Brunnen voll Solizitoren? Der Registrator, im Range unter dem Richter, in Perücke und Talar, und die Pedelle und Säckelmeister in ihrer Amtstracht. Sie gähnen alle, denn kein Tropfen Witz ist von dem Rechtsfall Jarndyce kontra Jarndyce, der schon seit vielen, vielen Jahren trocken ausgequetscht ist, zu erwarten. Die Stenografen, die Gerichtsschreiber und Zeitungsberichterstatter entfliehen regelmäßig mit dem übrigen Personal, wenn »Jarndyce kontra Jarndyce« an die Reihe kommt. Ihre Plätze sind leer.
Auf einer Bank an der Seitenwand steht, um besser in das mit Vorhängen umschlossene Heiligtum blicken zu können, eine kleine verrückte alte Frau in einem zerdrückten Hut, die jeder Verhandlung von Anfang bis Ende beiwohnt und beständig irgendein unbegreifliches Urteil zu ihren Gunsten erwartet.
Einige sagen, sie sei wirklich Partei in einer Rechtssache oder sei es gewesen; aber niemand weiß es genau, weil sich niemand darum kümmert. Sie trägt in ihrem Strickbeutel ein kleines Paket mit sich herum, das sie ihre Dokumente nennt und das größtenteils aus Papierfidibussen und getrocknetem Lavendel besteht.
Ein blasser Gefangener unter Obhut eines Gerichtsdieners erscheint zum halbdutzendsten Male vor den Schranken, um sich persönlich gegen die Anschuldigung der Unterschlagung zu verteidigen, was ihm schwerlich jemals gelingen wird, da er als letztüberlebender Testamentsvollstrecker mit Rechnungen in Verwicklung geraten ist, von denen er wahrscheinlich nie etwas gewusst oder verstanden hat.
Unterdessen sind seine Aussichten im Leben vernichtet worden.
Ein anderer zugrunde gerichteter Prozessierender trifft periodisch von Shropshire ein und macht am Ende jeder Verhandlung krampfhafte Anstrengungen, den Kanzler anzureden; man kann ihn in keiner Weise überzeugen, dass der Kanzler, obgleich er ihm seit einem Vierteljahrhundert das Leben schwer gemacht hat, gerichtlich nichts von seiner Existenz weiß. Er hat sich einen guten Platz ausgesucht und wendet kein Auge von dem Richter, bereit, jeden Augenblick, wenn sich die Gelegenheit ergeben sollte, in klagendem Bass: »Mylord!« zurufen. Ein paar Advokatenschreiber und andere, die den Mann von Ansehen kennen, bleiben da in der Hoffnung, er werde vielleicht Anlass zu einem Spaß geben und die Trübseligkeit des abscheulichen Wetters ein wenig unterbrechen.
»Jarndyce kontra Jarndyce« geht seinen schleppenden Gang. Dieses Ungeheuer von Prozess ist im Verlauf der Zeit so verwickelt geworden, dass sich kein Mensch auf Erden mehr darin zurechtfinden kann. Die Parteien verstehen ihn am wenigsten, und nicht einmal zwei Kanzleigerichtsadvokaten können fünf Minuten davon sprechen, ohne nicht schon über die Vorfragen gänzlich uneinig zu werden. Zahllose Kinder sind in den Prozess hineingeboren worden, zahllose junge Paare haben hineingeheiratet, zahllose alte Leute sind herausgestorben. Dutzende von Personen sind zu ihrem Schrecken auf einmal Partei in Sachen »Jarndyce kontra Jarndyce« geworden, ohne zu wissen, wie und warum; ganze Familien haben sagenhafte Stammesfeindschaft mit dem Prozess geerbt.
Der kleine Kläger oder Beklagte, dem man ein neues Schaukelpferd versprochen, wenn »Jarndyce kontra Jarndyce« geschlichtet sein würde, ist darüber groß geworden, hat sich ein lebendes Pferd gekauft und ist in die andere Welt getrabt. Jugendfrische Mündel sind zu Müttern und Großmüttern verwelkt; eine lange Prozession von Kanzlern ist gekommen und gegangen; das Verzeichnis der Parteien in dem Prozess ist zu einem langen Leichenzettel geworden; vielleicht leben nicht mehr drei Jarndyce auf der Erde, seitdem sich der alte Tom Jarndyce in einem Kaffeehaus in der Kanzleigerichtsgasse aus Verzweiflung eine Kugel durch den Kopf geschossen – aber »Jarndyce kontra Jarndyce« schleppt sich immer noch in unabsehbarer Länge vor dem Gerichtshof hin, und auf ein Ende ist nicht zu hoffen.
»Jarndyce kontra Jarndyce« ist zu einem Witzwort geworden. Das ist das einzig Gute, was jemals dabei herausgekommen ist. Der Fall hat vielen den Tod gebracht, aber den Juristen ist er ein Jux. Jeder Beisitzer des Kanzleigerichts hat darüber zu berichten gehabt. Jeder Kanzler hat, als er noch Anwalt war, darin plädiert. Blaunasige alte Advokaten mit plumpen dicksohligen Schuhen haben in auserlesenen Portweinsitzungen nach dem Essen in der Hall ihre Witze darüber gerissen. Anfänger auf der Juristenlaufbahn haben ihren Scharfsinn daran geübt. Als Mr. Blowers, der ausgezeichnete Advokat, einmal sagte: »Das oder jenes kann nur geschehen, wenn es Kartoffeln vom Himmel regnet«, hatte der letzte Lordkanzler verbessernd bemerkt: »Oder wenn wir mit ›Jarndyce kontra Jarndyce‹ fertig werden, Mr. Blowers!« – ein Scherz, über den besonders die Pedelle1 und Gerichtsdiener lachten.
Wie viele mag nicht schon die ansteckende Berührung des Falles Jarndyce kontra Jarndyce korrumpiert haben! Von dem Beisitzer, auf dessen Aktenschrank ganze Stöße von Erlassen in Sachen Jarndyce kontra Jarndyce in formlosen Haufen verstaubten, bis hinab zu dem Abschreiber in dem Büro der »Sechsschreiber«, der Zehntausende von Kanzleifolioseiten mit dieser ewigen Überschrift kopiert hat, ist keines Menschen Herz dadurch besser geworden.
Aus Überlistung, Ausflüchten, Verschleppung, Ausbeutung und Verwirrung aller Art entspringen Einflüsse, die nie zu irgendetwas Gutem führen können.
Selbst die Laufburschen der Solizitoren, die den unglücklichen Prozessanten seit unvordenklichen Zeiten den Trost vorspiegelten, dass Mr. Chizzle, Mizzle oder sonst wer vormittags dringend beschäftigt wären, haben vielleicht durch den Fall Jarndyce kontra Jarndyce einen krummen Weg mehr gehen gelernt.
Der Sequestrator in der Sache hat ein schönes Stück Geld dabei verdient, aber seiner eignen Mutter misstrauen und das ganze Menschengeschlecht verachten gelernt. Chizzle, Mizzle und wer sonst noch haben sich allmählich angewöhnt, ihr Gewissen mit dem unbestimmten Vorsatz einzulullen, diese oder jene Kleinigkeit zu regeln oder dies oder das für Drizzle, der unverantwortlich vernachlässigt worden, nachzuholen, bis die Sache »Jarndyce kontra Jarndyce« erledigt sei. Hinausschieben und Vertuschen in ihren mannigfaltig wechselnden Gestalten hat der unglückselige Rechtsstreit in zahllosen Fällen auf dem Gewissen, und selbst diejenigen, die unberührt von diesem Übel seine Geschichte verfolgt haben, sind unmerklich in Versuchung geraten, nie einzugreifen, das Schlechte seinen schlechten Weg gehen zu lassen und zu der Ansicht zu neigen, alles müsse in der Welt schief gehen, weil sie wahrscheinlich schlampigerweise dazu bestimmt sei.
So tagt inmitten dieser Verrottung und im Herzen des Nebels der Lord-Oberkanzler in seinem hohen Kanzleigerichtshof.
»Mr. Tangle«, sagt der Lord-Oberkanzler. – Der Redeschwall dieses gelehrten Herrn hat ihn ein wenig unruhig gemacht.
»Mlord!« sagt Mr. Tangle.
Er weiß mehr von »Jarndyce kontra Jarndyce« als irgendjemand sonst. Er ist deshalb berühmt, und es heißt, er habe nichts anderes gelesen, seitdem er aus der Schule ist.
»Sind Sie mit Ihrem Argument bald fertig?«
»Mlord, nein, – noch massenhaft Punkte –, halte es jedoch für meine Pflicht, mich Ew. Lordschaft Spruch zu unterwerfen«, flüstert Mr. Tangle ehrerbietig.
»Mehrere der Herren Rechtsanwälte wollen heute noch plädieren, glaube ich?« sagt der Kanzler mit einem kaum merklichen Lächeln.
Achtzehn von Mr. Tangles gelehrten Freunden, jeder mit einem kleinen Aktenauszug von achtzehnhundert Bogen bewaffnet, tauchen wie achtzehn Hämmer in einem Pianoforte empor, machen achtzehn Verbeugungen und tauchen wieder in die Dunkelheit auf ihren achtzehn Plätzen unter.
»Wir wollen die Sache Mittwoch über vierzehn Tage weiter hören«, sagt der Kanzler.
Es handelt sich nämlich heute nur um einen Kostenpunkt. Um eine bloße Knospe an dem zu einem ganzen Wald gewordenen Baum des ursprünglichen Prozesses.
Der Kanzler erhebt sich; das Barreau erhebt sich; der Gefangene wird eilig an die Schranken gebracht; der Mann aus Shropshire ruft: »Mylord!« Pedelle und Gerichtsdiener rufen entrüstet: »Still!« und messen den Mann aus Shropshire mit erzürnten Blicken.
»Was das junge Mädchen –« fährt der Kanzler, immer noch in Sachen Jarndyce kontra Jarndyce, fort, »betrifft –«
»Bitte Ew. Lordschaft um Verzeihung – den Knaben«, unterbricht Mr. Tangle voreilig.
»Was das Mädchen«, beginnt der Kanzler mit größerm Nachdruck von Neuem, »und den Knaben – die beiden jungen Leute – betrifft –«
Mr. Tangle ist vernichtet.
»– die ich heute vorgeladen habe und die sich jetzt in meinem Privatzimmer befinden, so werde ich selbst mit ihnen sprechen und mich überzeugen, ob es angemessen erscheint, ihnen die Erlaubnis, bei ihrem Onkel zu wohnen, zu erteilen.«
Mr. Tangle erhebt sich wieder.
»Bitte Ew. Lordschaft – Verzeihung – ist tot.«
»Mit ihrem –«, der Kanzler buchstabiert mit seinem zusammengelegten Augenglas in den Papieren auf seinem Pult – »Großvater.«
»Bitte Ew. Lordschaft – Verzeihung – Opfer einer übereilten Tat. Kopf geschossen.«
Plötzlich erhebt sich ein ganz kleiner Advokat mit einer furchtbaren Bassstimme in den rückwärtigen Regionen des Nebels mit großer Wichtigkeit und sagt:
»Will Ew. Lordschaft mir gestatten? Ich vertrete den Mann. Er ist ein Vetter entfernten Grades. Ich bin in diesem Augenblick nicht vorbereitet, dem Gerichtshof Auskunft zu geben, in welchem Verwandtschaftsgrad er steht, aber er ist ein Vetter.«
Der sehr kleine Advokat lässt diese mit Grabesstimme gesprochene Anrede an dem Gebälk der Decke verklingen, taucht unter im Nebel, und weg ist er. Alle suchen ihn mit den Augen. Niemand kann ihn mehr entdecken.
»Ich will mit den beiden jungen Leuten sprechen«, sagt der Lordkanzler abermals, »und mich informieren, wie sich das mit dem Wohnen bei ihrem Vetter verhält. Ich werde die Sache morgen früh bei Eröffnung der Sitzung wieder zur Sprache bringen.«
Der Kanzler will sich gegen das Barreau verneigen, da wird der Gefangene vorgeführt.
Die Sache mit dem Angeklagten kann natürlich keine andere Folge haben, als dass der Mann wieder ins Gefängnis zurückgeschickt wird, was auch sehr rasch geschieht. Der Prozessierende aus Shropshire wagt noch ein bittendes: »Mylord!« aber der Kanzler hat die Gefahr erspäht und ist geschickt verschwunden. Alle übrigen Anwesenden verschwinden ebenfalls rasch. Eine Batterie von blauen Aktenbeuteln wird mit Papier geladen und von Schreibern fortgeschleppt. Die verrückte Alte trippelt mit ihren Dokumenten hinaus, und das Gerichtslokal wird zugeschlossen.
Wenn alle Ungerechtigkeit, die schon hier begangen wurde, und alles dadurch verursachte Elend mit hineingeschlossen und zu Asche verbrannt werden können, umso besser wäre es für alle Parteien, nicht nur für die im Falle Jarndyce kontra Jarndyce.
Hausmeister in öffentlichen Institutionen <<<
Nur ein flüchtiger Blick in die feine Welt an diesem schmutzigen Nachmittag.
Sie ist dem Kanzleigerichtshof nicht so unähnlich, wie es vielleicht scheinen mag. Die vornehme Welt und das Kanzleigericht sind beide Kinder des Hergebrachten und eines heilig gewordenen Brauchs, verschlafene Rip van Winkles, die seltsame Spiele während langer Gewitterzeit gespielt haben, schlummernde Dornröschen, die der Ritter eines Tages erwecken wird, wenn alle stillstehenden Bratspieße in der Küche sich mit wunderbarer Emsigkeit zu drehen anfangen werden.
Die vornehme Welt ist keine große Welt. Selbst im Verhältnis zu unserer, die auch ihre Grenzen hat, wie selbst Seine Lordschaft finden würden, wenn sie rund um dieselbe herumzureisen und an dem Rande, wo sie zu Ende geht, stehen zu bleiben geruhten, ist sie nur ein kleines Stückchen. Es ist viel Gutes darin; es leben brave und ehrliche Leute in ihr; sie füllt ihren bestimmten Platz aus, aber das Schlimme an ihr ist, dass sie zu sehr in feine Baumwolle eingewickelt ist und die brausenden Wogen der größeren Welt nicht hören kann und nicht sehen, wie sie um die Sonne kreist. Es ist eine verdorrende Welt, und ihr Wachstum ist zuweilen behindert durch den Mangel an Luft.
Lady Dedlock ist auf einige Tage in ihre Stadtwohnung zurückgekehrt, ehe sie nach Paris reist, wo sie sich einige Wochen aufhalten wird. Wohin sie sich später zu begeben gedenkt, ist noch ungewiss. Die »fashionablen Nachrichten« verkünden es zum Troste der Pariser, und sie wissen alles, was in der vornehmen Welt geschieht. Etwas anderes zu wissen wäre unchic.
Mylady Dedlock kommt von ihrem Landsitz in Lincolnshire. Die Wasser sind über die Ufer getreten in Lincolnshire. Ein Brückenbogen im Park ist unterwaschen und eingesunken. Die nahe Niederung, eine halbe englische Meile breit, ist ein Sumpf geworden. Mit melancholischen Bäumen als Inseln darin und einer Oberfläche, die den ganzen Tag lang bei dem fallenden Regen wie punktiert aussieht.
Lady Dedlocks Landsitz ist sehr ungemütlich geworden. Das Wetter ist seit vielen Tagen und Nächten so nass gewesen, dass die Bäume bis unter die Rinde durchweicht sind und die feuchten Späne, wenn sie der Holzfäller abhaut, sich geräuschlos vom Stamme trennen und ohne Laut zu Boden fallen. Das Wild trieft und lässt Pfützen zurück, wohin es tritt. Der Schuss aus der Büchse verliert seinen scharfen Knall in der feuchten Luft, und der Rauch schwebt langsam in einer kleinen Wolke der grünen, buschgekrönten Höhe zu, die einen Hintergrund für den fallenden Regen bildet. Die Aussicht aus den Fenstern Lady Dedlocks ist eine Landschaft, abwechselnd in Bleizeichnung und in Tusche. Die Vasen auf der Terrassenmauer im Vordergrund fangen den Regen auf den ganzen Tag, und die schweren Tropfen fallen trip, trip, trip auf die breiten Sandsteinplatten des Ganges, der schon seit alter Zeit der »Geisterweg« heißt. Sonntags riecht die kleine Kirche im Park modrig; die Eichenkanzel bricht in kalten Schweiß aus, und ein Geruch und Geschmack liegt in der Luft, der an die Gräber der alten Dedlocks erinnert.
Lady Dedlock, die kinderlos ist, hat im frühen Zwielicht aus ihrem Boudoir einen Blick auf das Häuschen des Parkwächters geworfen; der Schein eines Feuers schimmerte durch die Jalousien, Rauch stieg aus dem Schornstein, und ein Kind, verfolgt von einer Frau, lief hinaus in den Regen, einem in eine Kapuze gehüllten Mann beim Parktor entgegen. Der Anblick hat die Gnädige in üble Laune versetzt. Sie sagt, sie habe sich tödlich gelangweilt.
Deshalb hat Lady Dedlock von ihrem Landsitz in Lincolnshire Abschied genommen und überlässt ihn dem Regen, den Krähen, den Kaninchen, dem Rotwild, den Rebhühnern und Fasanen. Die Bilder der Dedlocks entschwundener Zeiten sind aus purer Niedergeschlagenheit in den feuchten Wänden verschwunden, als der Kastellan durch die alten Gemächer ging und die Läden zumachte. Wann sie wieder erscheinen werden, kann der Berichterstatter der fashionabeln Nachrichten, der gleich dem bösen Feind die Vergangenheit wohl weiß und die Gegenwart, aber die Zukunft nicht, jetzt noch nicht sagen.
Sir Leicester Dedlock ist nur Baronet, aber es gibt keinen mächtigeren Baronet als ihn. Seine Familie ist so alt wie die Hügel von Lincolnshire, nur unendlich vornehmer. Er ist der Überzeugung, dass die Welt ganz gut ohne Hügel und Berge bestehen könnte, ohne Dedlocks jedoch zugrunde gehen müsste. Er gibt im Allgemeinen zu, dass die Natur eine gute Einrichtung ist – ein wenig ruppig zwar, wenn sie nicht von einem Parkzaun umschlossen wird –, aber eine Einrichtung, die in ihrer Gestaltung ganz von den großen Familien der Grafschaft abhängt. Er ist ein Gentleman von strengster Gewissenhaftigkeit, verachtet alle Kleinlichkeit und Niedrigkeit und ist bereit, bei der geringsten Veranlassung eher jeden beliebigen Tod zu sterben als den kleinsten Flecken auf seinem Ruf zu dulden. Er ist ein ehrenwerter, halsstarriger, wahrheitsliebender, stolzer Mann voll krasser Vorurteile, und vollkommen unvernünftig.
Sir Leicester ist volle zwanzig Jahre älter als Mylady. Fünfundsechzig erlebt er nicht noch einmal, vielleicht auch nicht sechs- oder siebenundsechzig. Er hat von Zeit zu Zeit einen Gichtanfall, und sein Gang ist ein wenig steif. Er ist eine vornehme Erscheinung mit seinem grauen Haar und Backenbart, dem feinen Spitzenhemd, der tadellos weißen Weste und dem hochgeschlossenen blauen Frack mit den glänzenden Knöpfen. Er ist sehr förmlich, zu allen Zeiten gegen Mylady ausnehmend höflich und zollt ihren persönlichen Reizen die höchste Anerkennung. Seine Galanterie gegen die Gnädige ist sich seit dem Brautstande unverändert gleichgeblieben und bildet die einzige kleine Stelle Romantik und Poesie in ihm.
Er hat sie aus Liebe geheiratet. Man flüstert sich sogar zu, dass sie nicht einmal von »Familie« sei, aber Sir Leicester hatte für beide »Familie« genug, und sie besaß Schönheit, Stolz, Ehrgeiz, Arroganz und Verstand genug, um es mit einer ganzen Legion vornehmer Damen aufzunehmen. Reichtum und Rang mit diesen Gaben vereint setzten sie bald an die Spitze, und seit Jahren hat Lady Dedlock den Mittelpunkt der vornehmen Welt gebildet und in der Mode die Führung an sich gerissen.
Dass Alexander der Große Tränen vergoss, als er keine Welten mehr zu erobern hatte, weiß jedermann oder sollte es wenigstens wissen, denn der Umstand wird häufig genug erwähnt. Als Lady Dedlock ihre Welt eroberte, verriet ihre Temperatur mehr den Gefrier- als den Schmelzpunkt. Eine erschöpfte Gelassenheit, eine müde Ruhe, ein gelangweilter Gleichmut, die sich weder durch Interesse noch durch Befriedigung stören ließen, waren ihre Siegestrophäen. Sie ist durch und durch vornehm. Wenn sie morgen in den Himmel versetzt werden sollte, würde sie fraglos ohne die mindeste Verzückung emporschweben.
Sie ist immer noch schön, und wenn auch nicht mehr in der Blüte, so doch nicht in ihrem Herbst. Sie hat ein feines Gesicht; der Naturanlage nach sind ihre Züge eher sehr hübsch als schön zu nennen, aber der angelernte Ausdruck der vornehmen Weltdame verleiht ihnen etwas Klassisches. Ihre Figur ist elegant und macht den Eindruck von Schlankheit. Nicht, dass sie wirklich so ist, aber alle ihre Vorzüge sind gut herausgearbeitet, wie Bob Stables hochwohlgeboren wiederholt auf Eid versichert hat. Derselbe Gewährsmann bemerkt, dass sie tadellos aufgezäumt sei, und sagt lobend von ihrem Haar, sie sei die bestgestriegelte Frau im ganzen Gestüt.
Mit allen ihren Reizen ist Lady Dedlock von ihrem Landsitz in Lincolnshire, Schritt für Schritt von den Fashionabeln der Modezeitung verfolgt, eingetroffen, um einige Tage in ihrer Stadtwohnung zu verweilen, bevor sie nach Paris reist, wo sie einige Wochen zu bleiben gedenkt.
In ihrer Stadtwohnung stellt sich an diesem trüben Nachmittag ein altmodischer alter Gentleman ein, Attorney und Solizitor beim hohen Kanzleigericht, der die Ehre hat, Rechtsanwalt der Dedlocks zu sein, und viele eiserne Kästen mit diesem Namen darauf in seiner Kanzlei aufzuweisen hat. Durch die Vorhalle die Treppen hinauf, die Korridore entlang und durch die Zimmer, die in der Saison sehr glänzen und außer der Zeit sehr unwirtlich sind – ein Feenland für den Besucher und eine Wüste für den Bewohner –, führt den alten Herrn ein Merkur mit gepudertem Kopf zu der Gnädigen.
Der alte Herr sieht ein wenig verrostet aus, steht aber in dem Rufe, durch Heiratsverträge und Testamente für den Adel viel Geld erworben zu haben und sehr reich zu sein. Ein undurchdringlicher Nebel von Familiengeheimnissen, als deren stummen Bewahrer man ihn kennt, umgibt ihn. Es gibt adlige Mausoleen, die seit Jahrhunderten in abgelegenen Parkalleen unter uralten Bäumen und wucherndem Farnkraut stehen und vielleicht weniger Familiengeheimnisse bewahren, als in Mr. Tulkinghorns unter Menschen wandelnder Brust verborgen sind.
Er gehört der alten Schule an, das heißt, der Schule, die niemals jung gewesen ist, und trägt kurze Hosen, die an den Knien mit Bändern befestigt sind, und Gamaschen oder Strümpfe. Die Eigentümlichkeit seiner schwarzen Kleider und Strümpfe, mögen sie von Seide oder Wolle sein, ist, dass sie nie glänzen. Stumm, verschlossen, ohne Antwort für ein neugieriges Licht, ist sein Anzug wie er selbst. Er unterhält sich nie, wenn man ihn nicht in Berufssachen zu Rate zieht. Man findet ihn zuweilen stumm, aber zwanglos und ganz zu Hause am Eck der Gasttafeln in vornehmen Landschlössern oder nicht weit von Salons sitzen, von denen die Modezeitung so viel zu reden hat. Jedermann kennt ihn dort, und der halbe Hochadel bleibt mit den Worten stehen: »Wie geht’s Ihnen, Mr. Tulkinghorn?« Er nimmt die Begrüßung mit Ernst entgegen und begräbt sie neben all dem übrigen, was er weiß.
Sir Leicester Dedlock ist in Gesellschaft der Gnädigen und schätzt sich glücklich, Mr. Tulkinghorn zu empfangen. Es liegt etwas Vorschriftsmäßiges in Mr. Tulkinghorns Benehmen, das Sir Leicester immer sehr angenehm berührt und ihn wie eine Art Tribut anmutet. Er findet auch an Mr. Tulkinghorns Anzug Gefallen und sieht auch darin eine Art Huldigung. Er ist ungemein respektabel geschnitten und hat etwas Sachwalterhaftes. Er ist fast wie die Livree eines Aufsehers der Rechtsmysterien oder eines juristischen Kellermeisters.
Ist sich Mr. Tulkinghorn selbst darüber klar? Es kann sein, kann aber auch nicht sein. Und doch ist diese Frage bei allem, was mit Lady Dedlock als der Führerin und dem Glanzstern der vornehmen Welt in Berührung kommt, von großer Bedeutung. Sie hält sich für ein unerforschliches Wesen, das weit über der Beurteilungssphäre gewöhnlicher Sterblicher steht. So kommt sie sich im Spiegel vor, in dem sie auch wirklich so aussieht. Dennoch kennt jeder kleine Stern, der sich um sie dreht, von der Kammerzofe an bis zum Direktor der italienischen Oper, ihre Schwächen und Vorurteile, ihren Hochmut, ihre Torheiten und Launen und richtet sich in seinem Verkehr mit ihr nach ihren Charakterzügen, wie die Putzmacherin nach ihren Körperproportionen. Je nachdem es gilt, eine neue Mode, einen neuen Kleidungsschnitt, eine neue Sitte, einen neuen Sänger, eine neue Tänzerin, einen neuen Schmuck, einen Zwerg, einen Riesen, eine Kapelle oder sonst etwas in Mode zu bringen.
Es gibt ehrerbietige Leute in Dutzenden von Berufen, von denen allen Lady Dedlock glaubt, sie lägen beständig auf den Knien vor ihr, und die dabei genau wissen, dass sie wie ein Kind zu leiten ist; – Leute, die ein ganzes Leben lang an nichts denken als wie man ihr schmeicheln kann und die sich stellen, als seien sie demütig und unbedingt gehorsam, dabei aber sie und ihr ganzes Gefolge im Schlepptau haben, mit ihr wie mit einem Köder angeln und sie führen, wohin sie wollen, wie Lemuel Gulliver die stattliche Flotte des Reichs Liliput nach Belieben dirigierte.
»Wenn man bei dieser Sorte reüssieren will«, sagen Blaze & Sparkle, die Juweliere – und sie verstehen unter »dieser Sorte« Lady Dedlock und ihren Anhang –, »so darf man nicht vergessen, dass man es nicht mit dem großen Publikum zu tun hat; man muss ›diese Sorte‹ an ihrer schwächsten Seite fassen, und ihre schwächste Seite ist diese und diese.«
»Um Ihre Artikel abzusetzen, meine Herren«, raten Sheen & Gloss, die Tuchhändler, ihren Freunden, den Fabrikanten, »so müssen Sie zu uns kommen, weil wir die Leute der feinen Gesellschaft zu behandeln wissen und dadurch die Mode bestimmen können.«
»Wenn Sie diesen Kupferstich bei meiner hochgestellten Kundschaft anbringen wollen, Sir«, sagt Mr. Sladdery, der Kunsthändler, »oder wenn Sie diesen Zwerg oder Riesen zu deichseln wünschen oder für diese Unternehmung der Unterstützung meiner hohen Kunden bedürfen, so müssen Sie mir das überlassen, denn ich kenne die führenden Personen in diesen Kreisen, Sir, und kann Ihnen, ohne zu übertreiben, sagen, dass ich sie um den Finger wickeln kann«, – worin Mr. Sladdery, der ein ehrenwerter Mann ist, durchaus nicht übertreibt.
Wenn daher Mr. Tulkinghorn wirklich nicht wissen sollte, was gegenwärtig in der Seele der Gnädigen vorgeht, so ist doch auch das Gegenteil sehr leicht möglich.
»Myladys Angelegenheit ist also wieder vor dem Kanzler verhandelt worden, Mr. Tulkinghorn?« fragt Sir Leicester und reicht dem Anwalt die Hand.
»Ja, sie kam heute zur Verhandlung«, entgegnet Mr. Tulkinghorn und macht der Gnädigen, die auf einem Sofa am Kamm sitzt und das Gesicht mit einem Handschirm schützt, eine seiner stummen Verbeugungen.
»Es ist wohl nutzlos zu fragen, ob irgendetwas geschehen ist«, sagt Mylady, noch immer von der trüben Stimmung, die ihr der Landsitz in Lincolnshire verursacht hat, bedrückt.
»Es ist nichts geschehen, was Gnädigste erwähnenswert nennen würden.«
»Es wird nie etwas geschehen«, meint Mylady.
Sir Leicester hat gegen den endlosen Gang der Kanzleigerichtsprozesse nichts einzuwenden. Es ist eine langsame, kostspielige, echt britische, konstitutionelle Sache. Allerdings handelt es sich für ihn in dem fraglichen Prozess nicht um Sein oder Nichtsein, sondern bloß um die geringfügige Mitgift, die ihm Mylady zubrachte, und er hat eine dunkle Ahnung, dass es ein höchst lächerlicher Zufall ist, wenn der Name Dedlock in einem Prozess als Partei vorkommt. Er sieht in dem Kanzleigericht etwas, das im Verein mit anderen Institutionen von der vollendetsten menschlichen Weisheit ersonnen wurde und in Beziehungen zur ewigen gesetzmäßigen Ordnung steht, wenn auch hie und da die Gerechtigkeit ein wenig nachhinkt und zuweilen Verwirrung zur Folge hat. Beschwerden darüber beizustimmen, hieße vielleicht irgendjemand der niedereren Klassen ermutigen, sich aufzulehnen – wie etwa Wat Tyler bösen Angedenkens.
»Da einige neue Zeugenaussagen zu den Akten gekommen«, sagt Mr. Tulkinghorn, »und überdies kurz gefasst sind und ich nach dem etwas weitschweifigen Prinzip verfahre, meine Klienten um Erlaubnis zu bitten, ihnen alle neuen Schritte in Prozessen vorlegen zu dürfen«, – Mr. Tulkinghorn ist ein vorsichtiger Mann und übernimmt nie mehr Verantwortlichkeit, als unbedingt nötig ist – »und da die Herrschaften außerdem nach Paris reisen, so habe ich alles mitgebracht.«
Sir Leicester geht nämlich ebenfalls nach Paris, wenn auch der Glanzpunkt der Fashionablen die Gnädige ist.
Mr. Tulkinghorn zieht seine Akten aus der Tasche, bittet um Erlaubnis, sie auf ein goldenes Spielzeug von Tischchen neben der Gnädigen legen zu dürfen, setzt die Brille auf und fängt an, bei dem Schimmer einer Schirmlampe vorzulesen:
»Kanzleigerichtshof. In Sachen John Jarndyce kontra –«
Die Gnädige unterbricht ihn mit der Bitte, so viel wie möglich von dem technischen Formwuste wegzulassen.
Mr. Tulkinghorn blickt über die Brille und fängt tiefer unten von Neuem an. Mylady findet es nicht der Mühe wert, ihm ihre Aufmerksamkeit zu schenken. Sir Leicester in seinem Lehnstuhl blickt ins Feuer und scheint ein stolzes Wohlgefallen an den juristischen Wiederholungen und Weitschweifigkeiten, die ihm wie nationale Bollwerke erscheinen, zu finden. Die Hitze ist zufällig groß, wo Mylady sitzt, und der Handschirm ist weniger nützlich als schön; er ist unschätzbar, aber klein. Mylady setzt sich anders und erblickt dabei die Papiere auf dem Tisch, – besieht sie näher, besieht sie noch näher und fragt impulsiv: »Wer hat denn das geschrieben?«
Mr. Tulkinghorn hält, verwundert über die Lebhaftigkeit und den ungewohnten Ton der Gnädigen, inne.
»Es ist das, was Sie eine Kanzlistenhandschrift nennen?« fragt sie, blickt ihn wieder in ihrer teilnahmslosen Weise an und spielt mit dem Schirm.
»Nicht so ganz. Wahrscheinlich hat sie den Kanzleicharakter erst angenommen, als sie schon ausgebildet war. Warum fragen Gnädigste?«
»Um eine Abwechslung in diese abscheuliche Einförmigkeit zu bringen. Bitte, fahren Sie fort.«
Mr. Tulkinghorn liest weiter.
Die Hitze wird größer. Die Gnädige bedeckt das Gesicht mit dem Schirm. Sir Leicester nickt ein, fährt plötzlich auf und ruft:
»He? Was sagten Sie?«
»Ich fürchte«, flüstert Mr. Tulkinghorn, der hastig aufgestanden ist, »Lady Dedlock befindet sich nicht wohl.«
»Ich fühle mich nur schwach«, lispelt Mylady mit weißen Lippen. »Weiter nichts; aber es ist wie die Schwäche des Todes. Sprechen Sie nicht mit mir. Klingeln Sie und lassen Sie mich in mein Zimmer bringen!«
Mr. Tulkinghorn zieht sich in ein anderes Zimmer zurück. Klingeln schellen, Schritte kommen und gehen, und Stille tritt wieder ein. Endlich bittet der gepuderte Merkur Mr. Tulkinghorn, wieder hereinzukommen.
»Es geht Mylady jetzt bereits besser«, sagt Sir Leicester und winkt dem Advokaten, Platz zu nehmen, um sich allein vorlesen zu lassen. »Ich bin sehr erschrocken. Ich kann mich nicht erinnern, dass Mylady jemals ohnmächtig geworden wäre. Aber das Wetter ist abscheulich, und sie hat sich auf unserm Gut in Lincolnshire wirklich tödlich gelangweilt.«
Es wird mir sehr schwer, den Anfang zu finden, um meinen Teil der Geschichte niederzuschreiben, denn ich weiß, dass ich nicht besonders gescheit bin. Ich wusste das immer. Schon als ganz kleines Mädchen pflegte ich zu meiner Puppe zu sagen, wenn wir allein beisammen waren: Liebe Puppe, ich bin nicht klug, du weißt es selbst und musst mit mir Geduld haben, Herzchen. Und dann saß sie in einen großen Armstuhl gelehnt mit dem rot und weißen Gesicht und den rosigen Lippen da und starrte mich an – oder vielmehr ins Leere –, während ich emsig nähte und ihr alle meine Geheimnisse erzählte.
Meine liebe alte Puppe!
Ich war als Kind so in mich ge