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Charles Dickens

Bleak House

Illustrierte Fassung

Charles Dickens

Bleak House

Illustrierte Fassung

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
Übersetzung: Gustav Meyrink
1. Auflage, ISBN 978-3-954185-85-6

www.null-papier.de/294

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Über die­ses Buch

Über den Au­tor

Dan­ke

Vor­re­de

1. Ka­pi­tel – Im Kanz­lei­ge­richt

2. Ka­pi­tel – In der vor­neh­men Welt

3. Ka­pi­tel – Die Ge­schich­te ei­ner Ju­gend

4. Ka­pi­tel – Men­schen­lie­be mit dem Fern­rohr vor den Au­gen

5. Ka­pi­tel – Ein Mor­ge­n­aben­teu­er

6. Ka­pi­tel – Ganz zu Hau­se

7. Ka­pi­tel – Der Geis­ter­weg

8. Ka­pi­tel – deckt eine Men­ge Sün­den zu.

9. Ka­pi­tel – An­zei­chen

10. Ka­pi­tel – Der Ad­vo­ka­ten­schrei­ber

11. Ka­pi­tel – Un­ser ge­lieb­ter Bru­der

12. Ka­pi­tel – Auf der Lau­er

13. Ka­pi­tel – Esthers Er­zäh­lung

14. Ka­pi­tel – An­stand

15. Ka­pi­tel – Bell Yard

16. Ka­pi­tel – »Toms Ein­öd«

17. Ka­pi­tel – Esthers Er­zäh­lung

18. Ka­pi­tel – Lady Ded­lock

19. Ka­pi­tel – Marsch vor­wärts

20. Ka­pi­tel – Ein neu­er Mie­ter

21. Ka­pi­tel – Die Fa­mi­lie Small­weed

22. Ka­pi­tel – Mr. Bucket

23. Ka­pi­tel – Esthers Er­zäh­lung

24. Ka­pi­tel – Eine Ge­richts­ver­hand­lung

25. Ka­pi­tel – Mrs. Snags­by auf der Lau­er

26. Ka­pi­tel – Scharf­schüt­zen

27. Ka­pi­tel – Schach­zü­ge

28. Ka­pi­tel – Der Hüt­ten­be­sit­zer

29. Ka­pi­tel – Der jun­ge Mann

30. Ka­pi­tel – Esthers Er­zäh­lung

31. Ka­pi­tel – Wär­te­rin und Kran­ke

32. Ka­pi­tel – Um die be­stimm­te Stun­de

33. Ka­pi­tel – Mr. Small­weed mischt sich ein

34. Ka­pi­tel – Un­ter der Schrau­be

35. Ka­pi­tel – Esthers Er­zäh­lung

36. Ka­pi­tel – Ches­ney Wold

37. Ka­pi­tel – Jarn­dy­ce kon­tra Jarn­dy­ce

38. Ka­pi­tel – Ein See­len­kampf

39. Ka­pi­tel – Ad­vo­kat und Kli­ent

40. Ka­pi­tel – Häus­li­che und Staats-An­ge­le­gen­hei­ten

41. Ka­pi­tel – In Mr. Tul­king­horns Zim­mer

42. Ka­pi­tel – In Mr. Tul­king­horns Woh­nung

43. Ka­pi­tel – Esthers Er­zäh­lung

44. Ka­pi­tel – Der Brief und die Ant­wort

45. Ka­pi­tel – Im Ver­trau­en

46. Ka­pi­tel – Auf­hal­ten! Auf­hal­ten!

47. Ka­pi­tel – Jos letz­ter Wil­le

48. Ka­pi­tel – Das Ver­häng­nis nimmt sei­nen Lauf

49. Ka­pi­tel – Hie Pf­licht, hie Freund­schaft!

50. Ka­pi­tel – Esthers Er­zäh­lung

51. Ka­pi­tel – Mir geht plötz­lich ein Licht auf

52. Ka­pi­tel – Hals­star­rig­keit

53. Ka­pi­tel – Die Spur

54. Ka­pi­tel – Eine Mine fliegt auf

55. Ka­pi­tel – Flucht

56. Ka­pi­tel – Ver­fol­gung

57. Ka­pi­tel – Esthers Er­zäh­lung

58. Ka­pi­tel – Ein Win­ter­tag und eine Win­ter­nacht

59. Ka­pi­tel – Esthers Er­zäh­lung

60. Ka­pi­tel – Aus­sich­ten

61. Ka­pi­tel – Eine Ent­de­ckung

62. Ka­pi­tel – Noch eine Ent­de­ckung

63. Ka­pi­tel – Stahl und Ei­sen

64. Ka­pi­tel – Esthers Er­zäh­lung

65. Ka­pi­tel – Ein neu­es Le­ben

66. Ka­pi­tel – Un­ten in Lin­colns­hi­re

67. Ka­pi­tel – Der Schluss von Esthers Er­zäh­lung

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Über dieses Buch

Bleak Hou­se ist der neun­te Ro­man von Charles Di­ckens.

Ein vie­le Jah­re an­hal­ten­der Erb­schaftss­treit und eine ver­schlei­er­te Her­kunft stel­len die Rah­men­hand­lung für die­se Ge­schich­te, die eher zu Di­ckens Un­be­kann­ten ge­zählt wird; aber umso mehr ver­dient, ent­deckt zu wer­den.

Richard Car­sto­ne und Ada Cla­re –ei­gent­lich Cou­sin und Cou­si­ne – hei­ra­ten heim­lich. Bei­de müs­sen da­mit fer­tig wer­den, dass sich ihre Hoff­nun­gen auf ein Erbe in end­lo­sen Rechtss­trei­tig­kei­ten zu zer­schla­gen dro­hen. Ge­mein­sam mit ih­nen im ti­tel­ge­ben­den Bleak Hou­se lebt Esther Sum­mer­son. Um ihre Her­kunft rankt sich ein düs­te­res Ge­heim­nis. In den letz­ten Ka­pi­teln schließ­lich ent­wi­ckelt sich das Buch so­gar zu ei­nem Kri­mi­nal­ro­man.

Di­ckens zeich­net in die­ser bis­si­gen So­zi­al­kri­tik ein groß an­ge­leg­tes Ge­sell­schaft­span­ora­ma mit zeit­los lie­bens­wür­di­gen, schrä­gen und fins­te­ren Fi­gu­ren. Zu ih­nen ge­sellt sich der ers­te De­tek­tiv der Ro­man­li­te­ra­tur: In­spec­tor Bucket. Es ist ein Ver­gnü­gen, der Hand­lung zu fol­gen und die – zu­nächst noch breit ge­streu­ten – Mo­sa­ik­teil­chen des Pan­op­ti­kums zu­sam­men­zu­fü­gen.

Di­ckens, des­sen Fa­mi­lie selbst durch Rechtss­trei­tig­kei­ten in die Ar­mut ge­trie­ben wur­de, rech­net mit der eng­li­schen Jus­tiz ab, den end­lo­sen Pro­zes­se­rei­en und der Hoff­nungs­lo­sig­keit der Ar­men, die sich kei­ne An­wäl­te leis­ten kön­nen.

Di­ckens ist ei­ner der meist­ge­le­se­nen Schrift­stel­ler der eng­li­schen Li­te­ra­tur. Der als Kind Mit­tel­lo­se hin­ter­lässt bei sei­nem Tode ein statt­li­ches Ver­mö­gen.

»Jarn­dy­ce kon­tra Jarn­dy­ce« ist zu ei­nem Witz­wort ge­wor­den. Das ist das ein­zig Gute, was je­mals da­bei her­aus­ge­kom­men ist. Der Fall hat vie­len den Tod ge­bracht, aber den Ju­ris­ten ist er ein Jux. Je­der Bei­sit­zer des Kanz­lei­ge­richts hat dar­über zu be­rich­ten ge­habt. Je­der Kanz­ler hat, als er noch An­walt war, dar­in plä­diert. Blau­n­a­si­ge alte Ad­vo­ka­ten mit plum­pen dick­soh­li­gen Schu­hen ha­ben in aus­er­le­se­nen Port­wein­sit­zun­gen nach dem Es­sen in der Hall ihre Wit­ze dar­über ge­ris­sen. An­fän­ger auf der Ju­ris­ten­lauf­bahn ha­ben ih­ren Scharf­sinn dar­an ge­übt. Als Mr. Blo­wers, der aus­ge­zeich­ne­te Ad­vo­kat, ein­mal sag­te: »Das oder je­nes kann nur ge­sche­hen, wenn es Kar­tof­feln vom Him­mel reg­net«, hat­te der letz­te Lord­kanz­ler ver­bes­sernd be­merkt: »Oder wenn wir mit ›Jarn­dy­ce kon­tra Jarn­dy­ce‹ fer­tig wer­den, Mr. Blo­wers!« – ein Scherz, über den be­son­ders die Pe­del­le und Ge­richts­die­ner lach­ten.

Über den Autor

Charles John Huf­fam Di­ckens (als Pseud­onym auch Boz; geb. 7. Fe­bru­ar 1812 in Land­port bei Ports­mouth, Eng­land; gest. 9. Juni 1870 auf Ga­d’s Hill Place bei Ro­che­s­ter, Eng­land) ist ein eng­li­scher Schrift­stel­ler und Jour­na­list.

Er gilt als ei­ner der her­aus­ra­gends­ten Au­to­ren sei­ner Zeit und als ei­ner der Ers­ten, die in rea­lis­ti­schen Schil­de­run­gen das Leid ei­ner un­ter­pri­vi­le­gier­ten Be­völ­ke­rung auf­zeich­ne­ten.

Zu sei­nen be­kann­tes­ten Wer­ken ge­hö­ren »Oli­ver Twist«, »Da­vid Cop­per­field«, »Eine Ge­schich­te aus zwei Städ­ten«, »Gro­ße Er­war­tun­gen« so­wie »Eine Weih­nachts­ge­schich­te«. Di­ckens ver­wen­det einen blu­mi­gen und poe­ti­schen Stil, der vie­le hu­mo­ris­ti­sche Ele­men­te be­sitzt. Be­son­ders sei­ne Sei­ten­hie­be auf die Bri­ti­sche Ari­sto­kra­tie sind weit ver­brei­tet und be­liebt.

Di­ckens ist das Zwei­te von acht Kin­dern von John Di­ckens (1786–1851), ei­nem mit­tel­lo­sen Ma­ri­ne­schrei­ber. 1823 kann der Va­ter die hung­ri­ge Fa­mi­lie nicht mehr er­näh­ren und kommt ins Schuld­ge­fäng­nis von Lon­don. Eine Tra­gö­die, die den Jun­gen Charles Di­ckens fürs Le­ben prägt - nicht um­sonst kri­ti­siert er in sei­nen Schrif­ten den un­ge­rech­ten Um­gang mit schuld­los Ver­schul­de­ten. Charles muss schon mit 12 Jah­ren als La­ger- und Fa­brik­ar­bei­ter sei­ne Fa­mi­lie un­ter­stüt­zen; auch die­se Er­fah­rung fließt in sein Werk um »Da­vid Cop­per­field« ein.

Als sein Va­ter 1824 aus dem Ge­fäng­nis ent­las­sen wird, geht Charles bis 1826 zu­rück in die Schu­le und wird 1827 als Schrei­ber bei ei­nem Rechts­an­walt an­ge­stellt. Er ar­bei­tet sich bis zum Par­la­ment­ss­te­no­gra­fen hoch (1929).

1836 hei­ra­tet Di­ckens Ca­the­ri­ne Ho­garth (1816–1879), von der er sich 1858 trennt. Das Ehe­paar hat zehn Kin­der.

Ab 1831 ver­dient Di­ckens sei­nen Le­bens­un­ter­halt als Jour­na­list für ver­schie­de­ne Zei­tun­gen. 1836–37 er­schei­nen in mo­nat­li­chen Hef­ten die »Pick­wick Pa­pers«, durch die Di­ckens rasch Be­kannt­heit als Schrift­stel­ler er­langt. Eben­so sei­ne fol­gen­den Ro­ma­ne ent­ste­hen als Fort­set­zungs­ge­schich­ten in Zei­tun­gen. Oft schreibt er an meh­re­ren gleich­zei­tig.

Aber Di­ckens will nicht nur li­te­ra­ri­schen Er­folg, son­dern auch auf ge­sell­schaft­li­che Miss­stän­de hin­wei­sen und den Weg für so­zia­le Re­for­men eb­nen. 1838 er­scheint »Oli­ver Twist« und Di­ckens wird Her­aus­ge­ber der li­be­ra­len Ta­ges­zei­tung »Dai­ly News«.

Auf ei­ner er­folg­rei­chen Le­se­rei­se in die Ve­rei­nig­ten Staa­ten bringt Di­ckens, der un­ter nicht au­to­ri­sier­ten Ver­öf­fent­li­chun­gen auf dem ame­ri­ka­ni­schen Kon­ti­nent lei­det, die Idee ei­nes welt­wei­ten Ur­he­ber­rech­tes auf, aber ern­tet da­für kei­ne Un­ter­stüt­zung.

1843 ver­öf­fent­licht Di­ckens sei­ne be­kann­te »Weih­nachts­ge­schich­te«, in der er eine fan­tas­ti­sche Hand­lung mit der mo­ra­li­schen Idee von So­li­da­ri­tät und Nächs­ten­lie­be ver­knüpft.

1856 er­lau­ben ihm sei­ne Ein­künf­te, den Land­sitz Ga­d‘s Hill Place in Ro­che­s­ter zu er­wer­ben. Am 9. Juni 1865 über­lebt Di­ckens den schwe­ren Ei­sen­bah­n­un­fall von Staple­hurst. Die­sen über­steht er kör­per­lich un­ver­sehrt, wird aber zeit­le­bens an den Erin­ne­run­gen lei­den.

1869 macht er eine letz­te Le­se­rei­se durch Groß­bri­tan­ni­en, auf der er wäh­rend ei­ner Le­sung einen Schlag­an­fall er­lei­det. Am 9. Juni 1870 stirbt Charles Di­ckens auf sei­nem Land­sitz an ei­nem zwei­ten Schlag­an­fall. Er wird am 14. Juni in der West­mins­ter Ab­bey bei­ge­setzt.

Di­ckens ist ei­ner der meist­ge­le­se­nen Schrift­stel­ler der eng­li­schen Li­te­ra­tur. Der als Kind Mit­tel­lo­se hin­ter­lässt bei sei­nem Tode ein statt­li­ches Ver­mö­gen.

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Charles Di­ckens bei Null Pa­pier

null-pa­pier.de/di­ckens

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Bild: 294_Bleak_House_001.jpg

Danke

Wenn es Sie in­ter­es­sie­ren soll­te, wie ein E-Book er­stellt wird, so kön­nen Sie hier eine klei­ne Ge­schich­te aus mei­ner Werk­statt le­sen: null-pa­pier.de/sto­ry

Ich hof­fe, Sie ha­ben Freu­de mit die­ser Ge­schich­te.

Ihr

Jür­gen Schul­ze, Ver­le­ger, js@­null-pa­pier.de

Neuss, 2015

Bild: 294_Bleak_House_002.jpg

Vorrede

Vor ei­ni­gen Mo­na­ten war ein Kanz­lei­ge­richts­bei­sit­zer so lie­bens­wür­dig, bei ei­ner öf­fent­li­chen Fei­er und in ei­ner Ge­sell­schaft von hun­dert­fünf­zig Da­men und Her­ren, von de­nen man nicht gut an­neh­men kann, dass sie ver­rückt sind, die Be­haup­tung auf­zu­stel­len, das Kanz­lei­ge­richt sei eine fast feh­ler­lo­se In­sti­tu­ti­on, wenn es auch das Lieb­lings­the­ma ge­wis­ser, in Vor­ur­tei­len be­fan­ge­ner Leu­te bil­de – bei wel­cher Äu­ße­rung be­sag­ter Rich­ter mir einen Sei­ten­blick zu­zu­wer­fen ge­ruh­te –, sie her­ab­zu­set­zen. Es habe viel­leicht, gab er zu, klei­ne un­be­deu­ten­de Män­gel hin­sicht­lich Schnel­lig­keit, was Er­le­di­gun­gen be­trä­fe, aber al­les an­de­re sei über­trie­ben und le­dig­lich eine Fol­ge der »Eng­her­zig­keit und Knau­se­rei des Pub­li­kums«. In Wirk­lich­keit hat nun aber das ge­rüg­te Pub­li­kum noch bis vor kur­z­em die al­le­rent­schie­dens­te Nei­gung an den Tag ge­legt, die Zahl der Kanz­lei­rich­ter zu ver­meh­ren, die an­fäng­lich, wenn ich nicht irre, Richard II. – es kann ge­ra­de­so­gut ein an­de­rer ge­we­sen sein – fest­ge­setzt hat. Die­ser Witz schi­en mir zu gut, um ihn in die­ses Buch auf­zu­neh­men, sonst hät­te ich ihn Kon­ver­sa­ti­ons-Ken­ge oder Mr. Vho­les in den Mund ge­legt. Ich hät­te ihn recht pas­send mit ei­nem Zi­tat aus Sha­ke­s­pea­res So­net­ten ver­bin­den kön­nen:


Ich wer­de
dem Stof­fe gleich, in dem ich ar­bei­te,
wie ei­nes Fär­bers Hand,
Be­klag mich denn, und wün­sche an­ders mich!

Da es im­mer­hin von Be­lang ist, wenn das »eng­her­zi­ge und knau­se­ri­ge« Pub­li­kum er­fährt, wie in die­ser Hin­sicht die Din­ge stan­den und noch ste­hen, so stel­le ich hier fest, dass al­les, was in die­sem Buch vom Kanz­lei­ge­richt han­delt, sei­nem We­sen nach wahr und kei­nes­wegs über­trie­ben ist. Der »Fall Grind­ley« un­ter­schei­det sich in kei­nem we­sent­li­chen Punk­te von ei­nem tat­säch­li­chen Be­geb­nis, das ein Un­be­tei­lig­ter, der als Ad­vo­kat das gan­ze un­er­hör­te Un­recht von An­fang bis zu Ende ken­nen­lern­te, ver­öf­fent­licht hat.

Ge­gen­wär­tig liegt dem Ge­richts­hof ein Pro­zess vor, der vor fast zwan­zig Jah­ren an­ge­fan­gen hat, in dem ein­mal drei­ßig bis vier­zig Ad­vo­ka­ten bei ei­ner Tag­fahrt er­schie­nen und des­sen Kos­ten sich jetzt auf sieb­zig­tau­send Pfund be­lau­fen. Er ist ein »Pro­for­mapro­zess« und, wie man mir ver­si­chert, sei­nem Schlus­se nicht nä­her als zu An­fang. Noch ein an­de­rer wohl­be­kann­ter Kanz­lei­ge­richtspro­zess, der vor Be­ginn des vo­ri­gen Jahr­hun­derts an­fing und in dem die Kos­ten mehr als dop­pelt so viel ver­schlun­gen ha­ben, ist heu­te noch in Schwe­be. Wenn ich noch mehr Be­le­ge für »Jarn­dy­ce kon­tra Jarn­dy­ce« und »die Knau­se­rei des Pub­li­kums« brauch­te, so könn­te ich Bän­de da­mit fül­len.

Noch über einen an­de­ren Punkt möch­te ich mir hier eine Be­mer­kung ge­stat­ten. Man hat seit dem Tode Mr. Krooks die Mög­lich­keit der so­ge­nann­ten Selbst­ver­bren­nung ge­leug­net, und mein gu­ter Freund Mr. Le­wes (der irr­tüm­li­cher­wei­se, wie er bald dar­auf ent­deck­te, in dem Glau­ben leb­te, dass alle Au­to­ri­tä­ten von Ruf die Sa­che hät­ten fal­len las­sen) schrieb sei­ner­zeit ei­ni­ge geist­rei­che Brie­fe an mich, in de­nen er be­wei­sen woll­te, dass Selbst­ver­bren­nung ein Un­ding sei. Ich glau­be nicht erst be­mer­ken zu müs­sen, dass ich mei­ne Le­ser nicht bös­wil­li­ger- oder nach­läs­si­ger­wei­se ir­re­füh­re und, ehe ich je­nen To­des­fall be­schrieb, Sor­ge trug, die­sen Din­gen nach­zu­ge­hen. Man kennt un­ge­fähr drei­ßig Fäl­le, de­ren be­rühm­tes­ten, den der Grä­fin Cor­ne­lia de Bau­di, der Schrift­stel­ler und Stifts­geist­li­che in Ve­ro­na, Si­gnor Ce­se­na­te Gui­sep­pe Bian­chi­ni, ge­nau un­ter­sucht und be­schrie­ben hat. Er ver­öf­fent­lich­te dar­über im Jahr 1731 in Ve­ro­na einen Be­richt, den er spä­ter in Rom noch­mals dru­cken ließ. Alle bei die­sem Fall be­ob­ach­te­ten Er­schei­nun­gen, die sich ver­nünf­ti­ger­wei­se nicht be­zwei­feln las­sen, sind die­sel­ben wie die bei Mr. Krook ge­schil­der­ten. Der nächst be­kann­tes­te Fall er­eig­ne­te sich in Reims sechs Jah­re frü­her und wur­de von Le Cat, ei­nem der be­rühm­tes­ten Chir­ur­gen Frank­reichs, be­schrie­ben. Es han­del­te sich da­bei um eine Frau, de­ren Mann we­gen an­geb­li­chen Mor­des an­ge­klagt und ver­ur­teilt wur­de. Die nächst­hö­he­re In­stanz sprach ihn je­doch frei, da aus den Zeu­gen­aus­sa­gen her­vor­ging, dass die Frau an Selbst­ver­bren­nung ge­stor­ben war.

Ich hal­te es nicht für not­wen­dig, die­sen wohl­be­kann­ten Tat­sa­chen und den Be­rich­ten der be­tref­fen­den Au­to­ri­tä­ten noch die in ver­schie­de­nen Wer­ken nie­der­ge­leg­ten An­sich­ten und Be­rich­te aus­ge­zeich­ne­ter fran­zö­si­scher, eng­li­scher und schot­ti­scher Ge­lehr­ter aus neue­rer Zeit hin­zu­zu­fü­gen, und be­gnü­ge mich mit der Be­mer­kung, dass ich an der Rich­tig­keit der Tat­sa­chen nicht eher zwei­feln wer­de, als bis nicht auch hin­sicht­lich al­ler der Be­wei­se, die Vor­fäl­le im mensch­li­chen Le­ben als glaub­wür­dig re­gis­trie­ren, eine um­fas­sen­de Selbst­ver­bren­nung statt­ge­fun­den hat.

In Bleak Hou­se habe ich ab­sicht­lich die ro­man­ti­sche Sei­te des all­täg­li­chen Le­bens her­vor­ge­ho­ben. Ich glau­be, ich habe noch nie­mals so vie­le Le­ser wie bei die­sem Bu­che ge­habt. Auf Wie­der­se­hen.

Lon­don, im Au­gust 1853

1. Kapitel – Im Kanzleigericht

Lon­don. Der Mi­chae­li­ter­min ist vor­über, und der Lord­kanz­ler sitzt in der Lin­coln’s-Inn-Hall. Ab­scheu­li­ches No­vem­ber­wet­ter. So viel Schmutz in den Stra­ßen, als ob die Was­ser des Him­mels sich eben erst von der neu­ge­schaf­fe­nen Erde ver­lau­fen hät­ten und es gar nichts Wun­der­ba­res wäre, wenn man ei­nem vier­zig Fuß lan­gen Me­ga­lo­sau­rus be­geg­ne­te, wie er ge­ra­de – ein Ele­fant un­ter den Ei­dech­sen – Hol­born-Hill hin­auf­wat­schelt.

Der Rauch senkt sich von den Schorn­stei­nen nie­der, ein dich­ter schwar­zer Re­gen von Ruß­bat­zen, so groß wie aus­ge­wach­se­ne Schnee­flo­cken, die in schwar­zen Klei­dern den Tod der Son­ne be­trau­ern wol­len. Hun­de, un­kennt­lich vor Schmutz, Pfer­de, nicht viel bes­ser dran, bis an die Scheu­klap­pen mit Kot be­spritzt. Fuß­gän­ger drän­gen sich, von der all­ge­mei­nen Seu­che üb­ler Lau­ne an­ge­steckt, mit Re­gen­schir­men an­ein­an­der vor­bei und glit­schen an den Stra­ßen­e­cken aus, wo be­reits Zehn­tau­sen­de vor ih­nen den trü­ben Tag über aus­ge­rutscht sind und neue Schich­ten zu den Schmutz­krus­ten hin­zu­ge­fügt ha­ben, die an die­sen Stel­len zäh am Pflas­ter kle­ben und sich an­häu­fen mit Zin­ses­zin­sen.

Bild: 294_Bleak_House_003.jpg

Ne­bel über­all, Ne­bel strom­auf, wo der Fluss zwi­schen Busch­werk und Wie­sen da­hin­fließt; Ne­bel stromab, wo er sich schmut­zig zwi­schen Rei­hen von Schif­fen und dem Ufe­run­rat der großen, un­sau­be­ren Stadt durch­wälzt. Ne­bel auf den Sümp­fen von Es­sex und Ne­bel auf den Hö­hen von Kent. Ne­bel kriecht in die Ka­bu­sen der Koh­len­schif­fe; Ne­bel liegt drau­ßen auf den Ra­hen und klimmt durch das Tau­werk; Ne­bel senkt sich auf die Deck­ver­klei­dung der Bar­ken und Boo­te. Ne­bel dringt in die Au­gen und Keh­len der al­ten Green­wi­chin­va­li­den, die am Ka­min in ih­ren Käm­mer­chen hus­ten und keu­chen, dringt in das Rohr und den Kopf der Shag­pfei­fe des grim­mi­gen Schiffs­eig­ners un­ten in sei­ner en­gen Ka­jü­te und beißt grau­sam in Ze­hen und Fin­ger des frös­teln­den klei­nen Schiffs­jun­gen auf Deck. Passan­ten schau­en von den Brücken her­ab über die Ge­län­der in einen Ne­bel­him­mel und sind rings von Ne­bel um­ge­ben, als ob sie in ei­nem Luft­bal­lon mit­ten in grau­en Wol­ken hin­gen.

Gas­lam­pen stie­ren in den Stra­ßen trü­b­äu­gig durch den Ne­bel wie drau­ßen die Son­ne wohl auf den durch­weich­ten Fel­dern. Die meis­ten Lä­den ha­ben zwei Stun­den vor der Zeit an­ge­zün­det, und das Gas­licht scheint es zu wis­sen, denn es sieht schmal und mür­risch aus.

Am raues­ten ist der Nach­mit­tag; da ist der Ne­bel am dicks­ten, die Stra­ße am schmut­zigs­ten in der Nähe je­nes dick­schäd­li­gen stei­ner­nen Hin­der­nis­ses, das so recht eine pas­sen­de Zier für die Schwel­le der dick­schäd­li­gen al­ten Kor­po­ra­ti­on – des »Tem­pels« – ist. Und dicht beim »Tem­pel« in der Lin­coln’s-Inn-Hall, mit­ten im Her­zen des Ne­bels sitzt der Lord-Ober­kanz­ler in sei­nem ho­hen Kanz­lei­ge­richts­hof.

Nie kann der Ne­bel zu dick, nie der Schmutz und Kot zu tief sein, um dem ver­sumpf­ten und ver­schlamm­ten Zu­stand zu ent­spre­chen, in dem sich die­ser hohe Kanz­lei­ge­richts­hof, die­ser schlimms­te al­ler er­grau­ten Sün­der, an ei­nem sol­chen Tage dem Him­mel und der Erde prä­sen­tiert.

An ei­nem sol­chen Nach­mit­tag sitzt der Lord-Ober­kanz­ler da mit ei­ner Ne­bel­glo­rie um das Haupt, ein­gehüllt und um­ge­ben von Schar­lach­tuch und Vor­hän­gen und vor sich einen di­cken Ad­vo­ka­ten mit star­kem Ba­cken­bart, ei­ner dün­nen Stim­me und end­lo­sen Pro­zess­ak­ten, der sei­ne Bli­cke auf die La­ter­ne an der De­cke rich­tet, wo er nichts als Ne­bel sieht.

An ei­nem sol­chen Nach­mit­tag sit­zen ein paar Dut­zend Mit­glie­der des Bar­re­aus, des ho­hen Kanz­lei­ge­richts, hier, be­schäf­tigt mit ei­nem der zehn­tau­send Sta­di­en ei­nes end­lo­sen Pro­zes­ses. Sie le­gen ein­an­der Sch­lin­gen mit schlüpf­ri­gen Prä­ze­den­zi­en; knie­tief in tech­ni­schen Aus­drücken wa­tend ren­nen sie ihre mit Zie­gen- und Pfer­de­haar ge­schütz­ten Köp­fe ge­gen Wäl­le von Wor­ten und füh­ren ein Schau­spiel von Ge­rech­tig­keit auf; Ko­mö­di­an­ten mit ernst­haf­ten Ge­sich­tern.

An ei­nem sol­chen Nach­mit­tag müs­sen die ver­schie­de­nen So­li­zi­to­ren in ei­ner Rechtssa­che, die zwei oder drei von ih­ren da­bei reich ge­wor­de­nen Vä­tern ge­erbt ha­ben, in ei­ner Rei­he sit­zen in ei­nem mit Stroh­mat­ten aus­ge­leg­ten Brun­nen, auf des­sen Grund man ver­ge­bens nach der Wahr­heit su­chen wür­de – zwi­schen dem ro­ten Tisch des Re­gis­tra­tors und den sei­de­nen Tala­ren –, Re­pli­ken, Du­pli­ken, Schluss­wor­te, De­kre­te, Ein­ga­ben, In­for­ma­tio­nen und Ber­ge geld­ver­schlin­gen­den Un­sinns vor sich auf­ge­häuft. Kein Wun­der, dass der Saal trü­be ist, nur hie und da von schmel­zen­den Ker­zen spär­lich er­hellt, wenn Ne­bel schwer dar­in hängt, die bun­ten Glas­fens­ter die Far­be ver­lo­ren ha­ben und kein Ta­ges­licht her­ein­las­sen; kein Wun­der, wenn die Un­ein­ge­weih­ten auf der Stra­ße, die durch die Glas­schei­ben in den Tü­ren her­ein­bli­cken, sich von dem Ein­tritt ab­schre­cken las­sen durch den licht­scheu­en, eu­len­haf­ten An­blick und das schläf­ri­ge Ge­summ, das matt zur De­cke hin­auf­tönt von dem ge­pols­ter­ten Bal­da­chin, von wo der Lord-Ober­kanz­ler zu der La­ter­ne auf­blickt, in der kein Licht ist, und wo die Perücken der bei­sit­zen­den Rich­ter in Ne­bel­dunst ver­schwim­men.

Das ist das Kanz­lei­ge­richt, das Häu­ser hat ver­fal­len ma­chen und Äcker ver­wüs­tet in je­der Graf­schaft, sei­ne le­bens­mü­den Wahn­sin­ni­gen hat in je­dem Ir­ren­haus und sei­ne To­ten auf je­dem Kirch­hof, das sei­ne Pro­zes­sie­ren­den aus­saugt, bis sie mit nie­der­ge­tre­te­nen Ab­sät­zen und ab­ge­schab­tem Rock bei al­len, de­ren Be­kannt­schaft sie ma­chen, reihum bor­gen und bet­teln ge­hen; das Kanz­lei­ge­richt, das dem Rei­chen Mit­tel an die Hand gibt, das Recht müde zu het­zen. Das Geld, Ge­duld, Mut, Hoff­nung so er­schöpft, Köp­fe ver­wirrt und Her­zen bricht, dass kein Ad­vo­kat, so er eh­ren­wert ist, an­ste­hen wird zu war­nen: »Lie­ber je­des Un­recht lei­den als hier­her­kom­men.«

Wer ist zu­fäl­lig an die­sem trü­ben Nach­mit­tag in des Lord­kanz­lers Ge­richt au­ßer dem Lord­kanz­ler selbst, dem Ad­vo­ka­ten in der zu ver­han­deln­den Sa­che, zwei oder drei Rechts­an­wäl­ten, die nie­mals et­was zu tun ha­ben, und dem eben er­wähn­ten Brun­nen voll So­li­zi­to­ren? Der Re­gis­tra­tor, im Ran­ge un­ter dem Rich­ter, in Perücke und Talar, und die Pe­del­le und Sä­ckel­meis­ter in ih­rer Amt­stracht. Sie gäh­nen alle, denn kein Trop­fen Witz ist von dem Rechts­fall Jarn­dy­ce kon­tra Jarn­dy­ce, der schon seit vie­len, vie­len Jah­ren tro­cken aus­ge­quetscht ist, zu er­war­ten. Die Ste­no­gra­fen, die Ge­richts­schrei­ber und Zei­tungs­be­richt­er­stat­ter ent­flie­hen re­gel­mä­ßig mit dem üb­ri­gen Per­so­nal, wenn »Jarn­dy­ce kon­tra Jarn­dy­ce« an die Rei­he kommt. Ihre Plät­ze sind leer.

Auf ei­ner Bank an der Sei­ten­wand steht, um bes­ser in das mit Vor­hän­gen um­schlos­se­ne Hei­lig­tum bli­cken zu kön­nen, eine klei­ne ver­rück­te alte Frau in ei­nem zer­drück­ten Hut, die je­der Ver­hand­lung von An­fang bis Ende bei­wohnt und be­stän­dig ir­gend­ein un­be­greif­li­ches Ur­teil zu ih­ren Guns­ten er­war­tet.

Ei­ni­ge sa­gen, sie sei wirk­lich Par­tei in ei­ner Rechtssa­che oder sei es ge­we­sen; aber nie­mand weiß es ge­nau, weil sich nie­mand dar­um küm­mert. Sie trägt in ih­rem Strick­beu­tel ein klei­nes Pa­ket mit sich her­um, das sie ihre Do­ku­men­te nennt und das größ­ten­teils aus Pa­pier­fi­di­bus­sen und ge­trock­ne­tem La­ven­del be­steht.

Ein blas­ser Ge­fan­ge­ner un­ter Ob­hut ei­nes Ge­richts­die­ners er­scheint zum halb­dut­zends­ten Male vor den Schran­ken, um sich per­sön­lich ge­gen die An­schul­di­gung der Un­ter­schla­gung zu ver­tei­di­gen, was ihm schwer­lich je­mals ge­lin­gen wird, da er als letzt­über­le­ben­der Te­sta­ments­voll­stre­cker mit Rech­nun­gen in Ver­wick­lung ge­ra­ten ist, von de­nen er wahr­schein­lich nie et­was ge­wusst oder ver­stan­den hat.

Un­ter­des­sen sind sei­ne Aus­sich­ten im Le­ben ver­nich­tet wor­den.

Ein an­de­rer zu­grun­de ge­rich­te­ter Pro­zes­sie­ren­der trifft pe­ri­odisch von Shrops­hi­re ein und macht am Ende je­der Ver­hand­lung krampf­haf­te An­stren­gun­gen, den Kanz­ler an­zu­re­den; man kann ihn in kei­ner Wei­se über­zeu­gen, dass der Kanz­ler, ob­gleich er ihm seit ei­nem Vier­tel­jahr­hun­dert das Le­ben schwer ge­macht hat, ge­richt­lich nichts von sei­ner Exis­tenz weiß. Er hat sich einen gu­ten Platz aus­ge­sucht und wen­det kein Auge von dem Rich­ter, be­reit, je­den Au­gen­blick, wenn sich die Ge­le­gen­heit er­ge­ben soll­te, in kla­gen­dem Bass: »Myl­ord!« zu­ru­fen. Ein paar Ad­vo­ka­ten­schrei­ber und an­de­re, die den Mann von An­se­hen ken­nen, blei­ben da in der Hoff­nung, er wer­de viel­leicht An­lass zu ei­nem Spaß ge­ben und die Trüb­se­lig­keit des ab­scheu­li­chen Wet­ters ein we­nig un­ter­bre­chen.

»Jarn­dy­ce kon­tra Jarn­dy­ce« geht sei­nen schlep­pen­den Gang. Die­ses Un­ge­heu­er von Pro­zess ist im Ver­lauf der Zeit so ver­wi­ckelt ge­wor­den, dass sich kein Mensch auf Er­den mehr dar­in zu­recht­fin­den kann. Die Par­tei­en ver­ste­hen ihn am we­nigs­ten, und nicht ein­mal zwei Kanz­lei­ge­richts­ad­vo­ka­ten kön­nen fünf Mi­nu­ten da­von spre­chen, ohne nicht schon über die Vor­fra­gen gänz­lich un­ei­nig zu wer­den. Zahl­lo­se Kin­der sind in den Pro­zess hin­ein­ge­bo­ren wor­den, zahl­lo­se jun­ge Paa­re ha­ben hin­ein­ge­hei­ra­tet, zahl­lo­se alte Leu­te sind her­aus­ge­stor­ben. Dut­zen­de von Per­so­nen sind zu ih­rem Schre­cken auf ein­mal Par­tei in Sa­chen »Jarn­dy­ce kon­tra Jarn­dy­ce« ge­wor­den, ohne zu wis­sen, wie und warum; gan­ze Fa­mi­li­en ha­ben sa­gen­haf­te Stam­mes­feind­schaft mit dem Pro­zess ge­erbt.

Der klei­ne Klä­ger oder Be­klag­te, dem man ein neu­es Schau­kel­pferd ver­spro­chen, wenn »Jarn­dy­ce kon­tra Jarn­dy­ce« ge­schlich­tet sein wür­de, ist dar­über groß ge­wor­den, hat sich ein le­ben­des Pferd ge­kauft und ist in die an­de­re Welt ge­trabt. Ju­gend­fri­sche Mün­del sind zu Müt­tern und Groß­müt­tern ver­welkt; eine lan­ge Pro­zes­si­on von Kanz­lern ist ge­kom­men und ge­gan­gen; das Ver­zeich­nis der Par­tei­en in dem Pro­zess ist zu ei­nem lan­gen Lei­chen­zet­tel ge­wor­den; viel­leicht le­ben nicht mehr drei Jarn­dy­ce auf der Erde, seit­dem sich der alte Tom Jarn­dy­ce in ei­nem Kaf­fee­haus in der Kanz­lei­ge­richts­gas­se aus Verzweif­lung eine Ku­gel durch den Kopf ge­schos­sen – aber »Jarn­dy­ce kon­tra Jarn­dy­ce« schleppt sich im­mer noch in un­ab­seh­ba­rer Län­ge vor dem Ge­richts­hof hin, und auf ein Ende ist nicht zu hof­fen.

»Jarn­dy­ce kon­tra Jarn­dy­ce« ist zu ei­nem Witz­wort ge­wor­den. Das ist das ein­zig Gute, was je­mals da­bei her­aus­ge­kom­men ist. Der Fall hat vie­len den Tod ge­bracht, aber den Ju­ris­ten ist er ein Jux. Je­der Bei­sit­zer des Kanz­lei­ge­richts hat dar­über zu be­rich­ten ge­habt. Je­der Kanz­ler hat, als er noch An­walt war, dar­in plä­diert. Blau­n­a­si­ge alte Ad­vo­ka­ten mit plum­pen dick­soh­li­gen Schu­hen ha­ben in aus­er­le­se­nen Port­wein­sit­zun­gen nach dem Es­sen in der Hall ihre Wit­ze dar­über ge­ris­sen. An­fän­ger auf der Ju­ris­ten­lauf­bahn ha­ben ih­ren Scharf­sinn dar­an ge­übt. Als Mr. Blo­wers, der aus­ge­zeich­ne­te Ad­vo­kat, ein­mal sag­te: »Das oder je­nes kann nur ge­sche­hen, wenn es Kar­tof­feln vom Him­mel reg­net«, hat­te der letz­te Lord­kanz­ler ver­bes­sernd be­merkt: »Oder wenn wir mit ›Jarn­dy­ce kon­tra Jarn­dy­ce‹ fer­tig wer­den, Mr. Blo­wers!« – ein Scherz, über den be­son­ders die Pe­del­le1 und Ge­richts­die­ner lach­ten.

Wie vie­le mag nicht schon die an­ste­cken­de Berüh­rung des Fal­les Jarn­dy­ce kon­tra Jarn­dy­ce kor­rum­piert ha­ben! Von dem Bei­sit­zer, auf des­sen Ak­ten­schrank gan­ze Stö­ße von Er­las­sen in Sa­chen Jarn­dy­ce kon­tra Jarn­dy­ce in form­lo­sen Hau­fen ver­staub­ten, bis hin­ab zu dem Ab­schrei­ber in dem Büro der »Sechs­schrei­ber«, der Zehn­tau­sen­de von Kanz­lei­fo­lio­sei­ten mit die­ser ewi­gen Über­schrift ko­piert hat, ist kei­nes Men­schen Herz da­durch bes­ser ge­wor­den.

Aus Über­lis­tung, Aus­flüch­ten, Ver­schlep­pung, Aus­beu­tung und Ver­wir­rung al­ler Art ent­sprin­gen Ein­flüs­se, die nie zu ir­gen­det­was Gu­tem füh­ren kön­nen.

Selbst die Lauf­bur­schen der So­li­zi­to­ren, die den un­glück­li­chen Pro­zessan­ten seit un­vor­denk­li­chen Zei­ten den Trost vor­spie­gel­ten, dass Mr. Chizz­le, Mizz­le oder sonst wer vor­mit­tags drin­gend be­schäf­tigt wä­ren, ha­ben viel­leicht durch den Fall Jarn­dy­ce kon­tra Jarn­dy­ce einen krum­men Weg mehr ge­hen ge­lernt.

Der Se­que­stra­tor in der Sa­che hat ein schö­nes Stück Geld da­bei ver­dient, aber sei­ner eig­nen Mut­ter miss­trau­en und das gan­ze Men­schen­ge­schlecht ver­ach­ten ge­lernt. Chizz­le, Mizz­le und wer sonst noch ha­ben sich all­mäh­lich an­ge­wöhnt, ihr Ge­wis­sen mit dem un­be­stimm­ten Vor­satz ein­zu­lul­len, die­se oder jene Klei­nig­keit zu re­geln oder dies oder das für Drizz­le, der un­ver­ant­wort­lich ver­nach­läs­sigt wor­den, nach­zu­ho­len, bis die Sa­che »Jarn­dy­ce kon­tra Jarn­dy­ce« er­le­digt sei. Hin­aus­schie­ben und Ver­tu­schen in ih­ren man­nig­fal­tig wech­seln­den Ge­stal­ten hat der un­glück­se­li­ge Rechtss­treit in zahl­lo­sen Fäl­len auf dem Ge­wis­sen, und selbst die­je­ni­gen, die un­be­rührt von die­sem Übel sei­ne Ge­schich­te ver­folgt ha­ben, sind un­merk­lich in Ver­su­chung ge­ra­ten, nie ein­zu­grei­fen, das Schlech­te sei­nen schlech­ten Weg ge­hen zu las­sen und zu der An­sicht zu nei­gen, al­les müs­se in der Welt schief ge­hen, weil sie wahr­schein­lich schlam­pi­ger­wei­se dazu be­stimmt sei.

So tagt in­mit­ten die­ser Ver­rot­tung und im Her­zen des Ne­bels der Lord-Ober­kanz­ler in sei­nem ho­hen Kanz­lei­ge­richts­hof.

»Mr. Tan­gle«, sagt der Lord-Ober­kanz­ler. – Der Re­de­schwall die­ses ge­lehr­ten Herrn hat ihn ein we­nig un­ru­hig ge­macht.

»Ml­ord!« sagt Mr. Tan­gle.

Er weiß mehr von »Jarn­dy­ce kon­tra Jarn­dy­ce« als ir­gend­je­mand sonst. Er ist des­halb be­rühmt, und es heißt, er habe nichts an­de­res ge­le­sen, seit­dem er aus der Schu­le ist.

»Sind Sie mit Ihrem Ar­gu­ment bald fer­tig?«

»Ml­ord, nein, – noch mas­sen­haft Punk­te –, hal­te es je­doch für mei­ne Pf­licht, mich Ew. Lord­schaft Spruch zu un­ter­wer­fen«, flüs­tert Mr. Tan­gle ehr­er­bie­tig.

»Meh­re­re der Her­ren Rechts­an­wäl­te wol­len heu­te noch plä­die­ren, glau­be ich?« sagt der Kanz­ler mit ei­nem kaum merk­li­chen Lä­cheln.

Acht­zehn von Mr. Tangles ge­lehr­ten Freun­den, je­der mit ei­nem klei­nen Ak­ten­aus­zug von acht­zehn­hun­dert Bo­gen be­waff­net, tau­chen wie acht­zehn Häm­mer in ei­nem Pia­no­for­te em­por, ma­chen acht­zehn Ver­beu­gun­gen und tau­chen wie­der in die Dun­kel­heit auf ih­ren acht­zehn Plät­zen un­ter.

»Wir wol­len die Sa­che Mitt­woch über vier­zehn Tage wei­ter hö­ren«, sagt der Kanz­ler.

Es han­delt sich näm­lich heu­te nur um einen Kos­ten­punkt. Um eine blo­ße Knos­pe an dem zu ei­nem gan­zen Wald ge­wor­de­nen Baum des ur­sprüng­li­chen Pro­zes­ses.

Der Kanz­ler er­hebt sich; das Bar­reau er­hebt sich; der Ge­fan­ge­ne wird ei­lig an die Schran­ken ge­bracht; der Mann aus Shrops­hi­re ruft: »Myl­ord!« Pe­del­le und Ge­richts­die­ner ru­fen ent­rüs­tet: »Still!« und mes­sen den Mann aus Shrops­hi­re mit er­zürn­ten Bli­cken.

»Was das jun­ge Mäd­chen –« fährt der Kanz­ler, im­mer noch in Sa­chen Jarn­dy­ce kon­tra Jarn­dy­ce, fort, »be­trifft –«

»Bit­te Ew. Lord­schaft um Ver­zei­hung – den Kna­ben«, un­ter­bricht Mr. Tan­gle vor­ei­lig.

»Was das Mäd­chen«, be­ginnt der Kanz­ler mit grö­ßerm Nach­druck von Neu­em, »und den Kna­ben – die bei­den jun­gen Leu­te – be­trifft –«

Mr. Tan­gle ist ver­nich­tet.

»– die ich heu­te vor­ge­la­den habe und die sich jetzt in mei­nem Pri­vat­zim­mer be­fin­den, so wer­de ich selbst mit ih­nen spre­chen und mich über­zeu­gen, ob es an­ge­mes­sen er­scheint, ih­nen die Er­laub­nis, bei ih­rem On­kel zu woh­nen, zu er­tei­len.«

Mr. Tan­gle er­hebt sich wie­der.

»Bit­te Ew. Lord­schaft – Ver­zei­hung – ist tot.«

»Mit ih­rem –«, der Kanz­ler buch­sta­biert mit sei­nem zu­sam­men­ge­leg­ten Au­gen­glas in den Pa­pie­ren auf sei­nem Pult – »Groß­va­ter.«

»Bit­te Ew. Lord­schaft – Ver­zei­hung – Op­fer ei­ner über­eil­ten Tat. Kopf ge­schos­sen.«

Plötz­lich er­hebt sich ein ganz klei­ner Ad­vo­kat mit ei­ner furcht­ba­ren Bass­s­tim­me in den rück­wär­ti­gen Re­gio­nen des Ne­bels mit großer Wich­tig­keit und sagt:

»Will Ew. Lord­schaft mir ge­stat­ten? Ich ver­tre­te den Mann. Er ist ein Vet­ter ent­fern­ten Gra­des. Ich bin in die­sem Au­gen­blick nicht vor­be­rei­tet, dem Ge­richts­hof Aus­kunft zu ge­ben, in wel­chem Ver­wandt­schafts­grad er steht, aber er ist ein Vet­ter.«

Der sehr klei­ne Ad­vo­kat lässt die­se mit Gra­bes­s­tim­me ge­spro­che­ne An­re­de an dem Ge­bälk der De­cke ver­klin­gen, taucht un­ter im Ne­bel, und weg ist er. Alle su­chen ihn mit den Au­gen. Nie­mand kann ihn mehr ent­de­cken.

»Ich will mit den bei­den jun­gen Leu­ten spre­chen«, sagt der Lord­kanz­ler aber­mals, »und mich in­for­mie­ren, wie sich das mit dem Woh­nen bei ih­rem Vet­ter ver­hält. Ich wer­de die Sa­che mor­gen früh bei Er­öff­nung der Sit­zung wie­der zur Spra­che brin­gen.«

Der Kanz­ler will sich ge­gen das Bar­reau ver­nei­gen, da wird der Ge­fan­ge­ne vor­ge­führt.

Die Sa­che mit dem An­ge­klag­ten kann na­tür­lich kei­ne an­de­re Fol­ge ha­ben, als dass der Mann wie­der ins Ge­fäng­nis zu­rück­ge­schickt wird, was auch sehr rasch ge­schieht. Der Pro­zes­sie­ren­de aus Shrops­hi­re wagt noch ein bit­ten­des: »Myl­ord!« aber der Kanz­ler hat die Ge­fahr er­späht und ist ge­schickt ver­schwun­den. Alle üb­ri­gen An­we­sen­den ver­schwin­den eben­falls rasch. Eine Bat­te­rie von blau­en Ak­ten­beu­teln wird mit Pa­pier ge­la­den und von Schrei­bern fort­ge­schleppt. Die ver­rück­te Alte trip­pelt mit ih­ren Do­ku­men­ten hin­aus, und das Ge­richts­lo­kal wird zu­ge­schlos­sen.

Wenn alle Un­ge­rech­tig­keit, die schon hier be­gan­gen wur­de, und al­les da­durch ver­ur­sach­te Elend mit hin­ein­ge­schlos­sen und zu Asche ver­brannt wer­den kön­nen, umso bes­ser wäre es für alle Par­tei­en, nicht nur für die im Fal­le Jarn­dy­ce kon­tra Jarn­dy­ce.


  1. Haus­meis­ter in öf­fent­li­chen In­sti­tu­tio­nen  <<<

2. Kapitel – In der vornehmen Welt

Nur ein flüch­ti­ger Blick in die fei­ne Welt an die­sem schmut­zi­gen Nach­mit­tag.

Sie ist dem Kanz­lei­ge­richts­hof nicht so un­ähn­lich, wie es viel­leicht schei­nen mag. Die vor­neh­me Welt und das Kanz­lei­ge­richt sind bei­de Kin­der des Her­ge­brach­ten und ei­nes hei­lig ge­wor­de­nen Brauchs, ver­schla­fe­ne Rip van Winkles, die selt­sa­me Spie­le wäh­rend lan­ger Ge­wit­ter­zeit ge­spielt ha­ben, schlum­mern­de Dorn­rös­chen, die der Rit­ter ei­nes Ta­ges er­we­cken wird, wenn alle still­ste­hen­den Brat­spie­ße in der Kü­che sich mit wun­der­ba­rer Em­sig­keit zu dre­hen an­fan­gen wer­den.

Die vor­neh­me Welt ist kei­ne große Welt. Selbst im Ver­hält­nis zu un­se­rer, die auch ihre Gren­zen hat, wie selbst Sei­ne Lord­schaft fin­den wür­den, wenn sie rund um die­sel­be her­um­zu­rei­sen und an dem Ran­de, wo sie zu Ende geht, ste­hen zu blei­ben ge­ruh­ten, ist sie nur ein klei­nes Stück­chen. Es ist viel Gu­tes dar­in; es le­ben bra­ve und ehr­li­che Leu­te in ihr; sie füllt ih­ren be­stimm­ten Platz aus, aber das Schlim­me an ihr ist, dass sie zu sehr in fei­ne Baum­wol­le ein­ge­wi­ckelt ist und die brau­sen­den Wo­gen der grö­ße­ren Welt nicht hö­ren kann und nicht se­hen, wie sie um die Son­ne kreist. Es ist eine ver­dor­ren­de Welt, und ihr Wachs­tum ist zu­wei­len be­hin­dert durch den Man­gel an Luft.

Lady Ded­lock ist auf ei­ni­ge Tage in ihre Stadt­woh­nung zu­rück­ge­kehrt, ehe sie nach Pa­ris reist, wo sie sich ei­ni­ge Wo­chen auf­hal­ten wird. Wo­hin sie sich spä­ter zu be­ge­ben ge­denkt, ist noch un­ge­wiss. Die »fa­shio­na­blen Nach­rich­ten« ver­kün­den es zum Tros­te der Pa­ri­ser, und sie wis­sen al­les, was in der vor­neh­men Welt ge­schieht. Et­was an­de­res zu wis­sen wäre un­chic.

Myla­dy Ded­lock kommt von ih­rem Land­sitz in Lin­colns­hi­re. Die Was­ser sind über die Ufer ge­tre­ten in Lin­colns­hi­re. Ein Brücken­bo­gen im Park ist un­ter­wa­schen und ein­ge­sun­ken. Die nahe Nie­de­rung, eine hal­be eng­li­sche Mei­le breit, ist ein Sumpf ge­wor­den. Mit me­lan­cho­li­schen Bäu­men als In­seln dar­in und ei­ner Ober­flä­che, die den gan­zen Tag lang bei dem fal­len­den Re­gen wie punk­tiert aus­sieht.

Lady Ded­locks Land­sitz ist sehr un­ge­müt­lich ge­wor­den. Das Wet­ter ist seit vie­len Ta­gen und Näch­ten so nass ge­we­sen, dass die Bäu­me bis un­ter die Rin­de durch­weicht sind und die feuch­ten Spä­ne, wenn sie der Holz­fäl­ler ab­haut, sich ge­räusch­los vom Stam­me tren­nen und ohne Laut zu Bo­den fal­len. Das Wild trieft und lässt Pfüt­zen zu­rück, wo­hin es tritt. Der Schuss aus der Büch­se ver­liert sei­nen schar­fen Knall in der feuch­ten Luft, und der Rauch schwebt lang­sam in ei­ner klei­nen Wol­ke der grü­nen, busch­ge­krön­ten Höhe zu, die einen Hin­ter­grund für den fal­len­den Re­gen bil­det. Die Aus­sicht aus den Fens­tern Lady Ded­locks ist eine Land­schaft, ab­wech­selnd in Blei­zeich­nung und in Tu­sche. Die Va­sen auf der Ter­ras­sen­mau­er im Vor­der­grund fan­gen den Re­gen auf den gan­zen Tag, und die schwe­ren Trop­fen fal­len trip, trip, trip auf die brei­ten Sand­stein­plat­ten des Gan­ges, der schon seit al­ter Zeit der »Geis­ter­weg« heißt. Sonn­tags riecht die klei­ne Kir­che im Park mod­rig; die Ei­chen­kan­zel bricht in kal­ten Schweiß aus, und ein Ge­ruch und Ge­schmack liegt in der Luft, der an die Grä­ber der al­ten Ded­locks er­in­nert.

Lady Ded­lock, die kin­der­los ist, hat im frü­hen Zwie­licht aus ih­rem Bou­doir einen Blick auf das Häu­schen des Park­wäch­ters ge­wor­fen; der Schein ei­nes Feu­ers schim­mer­te durch die Ja­lou­si­en, Rauch stieg aus dem Schorn­stein, und ein Kind, ver­folgt von ei­ner Frau, lief hin­aus in den Re­gen, ei­nem in eine Ka­pu­ze gehüll­ten Mann beim Parktor ent­ge­gen. Der An­blick hat die Gnä­di­ge in üble Lau­ne ver­setzt. Sie sagt, sie habe sich töd­lich ge­lang­weilt.

Des­halb hat Lady Ded­lock von ih­rem Land­sitz in Lin­colns­hi­re Ab­schied ge­nom­men und über­lässt ihn dem Re­gen, den Krä­hen, den Ka­nin­chen, dem Rot­wild, den Reb­hüh­nern und Fa­sa­nen. Die Bil­der der Ded­locks ent­schwun­de­ner Zei­ten sind aus pu­rer Nie­der­ge­schla­gen­heit in den feuch­ten Wän­den ver­schwun­den, als der Kas­tel­lan durch die al­ten Ge­mä­cher ging und die Lä­den zu­mach­te. Wann sie wie­der er­schei­nen wer­den, kann der Be­richt­er­stat­ter der fa­shio­na­beln Nach­rich­ten, der gleich dem bö­sen Feind die Ver­gan­gen­heit wohl weiß und die Ge­gen­wart, aber die Zu­kunft nicht, jetzt noch nicht sa­gen.

Sir Lei­ces­ter Ded­lock ist nur Baro­net, aber es gibt kei­nen mäch­ti­ge­ren Baro­net als ihn. Sei­ne Fa­mi­lie ist so alt wie die Hü­gel von Lin­colns­hi­re, nur un­end­lich vor­neh­mer. Er ist der Über­zeu­gung, dass die Welt ganz gut ohne Hü­gel und Ber­ge be­ste­hen könn­te, ohne Ded­locks je­doch zu­grun­de ge­hen müss­te. Er gibt im All­ge­mei­nen zu, dass die Na­tur eine gute Ein­rich­tung ist – ein we­nig rup­pig zwar, wenn sie nicht von ei­nem Park­zaun um­schlos­sen wird –, aber eine Ein­rich­tung, die in ih­rer Ge­stal­tung ganz von den großen Fa­mi­li­en der Graf­schaft ab­hängt. Er ist ein Gent­le­man von strengs­ter Ge­wis­sen­haf­tig­keit, ver­ach­tet alle Klein­lich­keit und Nied­rig­keit und ist be­reit, bei der ge­rings­ten Ver­an­las­sung eher je­den be­lie­bi­gen Tod zu ster­ben als den kleins­ten Fle­cken auf sei­nem Ruf zu dul­den. Er ist ein eh­ren­wer­ter, hals­star­ri­ger, wahr­heits­lie­ben­der, stol­zer Mann voll kras­ser Vor­ur­tei­le, und voll­kom­men un­ver­nünf­tig.

Sir Lei­ces­ter ist vol­le zwan­zig Jah­re äl­ter als Myla­dy. Fün­fund­sech­zig er­lebt er nicht noch ein­mal, viel­leicht auch nicht sechs- oder sie­ben­und­sech­zig. Er hat von Zeit zu Zeit einen Gicht­an­fall, und sein Gang ist ein we­nig steif. Er ist eine vor­neh­me Er­schei­nung mit sei­nem grau­en Haar und Ba­cken­bart, dem fei­nen Spit­zen­hemd, der ta­del­los wei­ßen Wes­te und dem hoch­ge­schlos­se­nen blau­en Frack mit den glän­zen­den Knöp­fen. Er ist sehr förm­lich, zu al­len Zei­ten ge­gen Myla­dy aus­neh­mend höf­lich und zollt ih­ren per­sön­li­chen Rei­zen die höchs­te Aner­ken­nung. Sei­ne Galan­te­rie ge­gen die Gnä­di­ge ist sich seit dem Braut­stan­de un­ver­än­dert gleich­ge­blie­ben und bil­det die ein­zi­ge klei­ne Stel­le Ro­man­tik und Poe­sie in ihm.

Er hat sie aus Lie­be ge­hei­ra­tet. Man flüs­tert sich so­gar zu, dass sie nicht ein­mal von »Fa­mi­lie« sei, aber Sir Lei­ces­ter hat­te für bei­de »Fa­mi­lie« ge­nug, und sie be­saß Schön­heit, Stolz, Ehr­geiz, Ar­ro­ganz und Ver­stand ge­nug, um es mit ei­ner gan­zen Le­gi­on vor­neh­mer Da­men auf­zu­neh­men. Reich­tum und Rang mit die­sen Ga­ben ver­eint setz­ten sie bald an die Spit­ze, und seit Jah­ren hat Lady Ded­lock den Mit­tel­punkt der vor­neh­men Welt ge­bil­det und in der Mode die Füh­rung an sich ge­ris­sen.

Dass Alex­an­der der Gro­ße Trä­nen ver­goss, als er kei­ne Wel­ten mehr zu er­obern hat­te, weiß je­der­mann oder soll­te es we­nigs­tens wis­sen, denn der Um­stand wird häu­fig ge­nug er­wähnt. Als Lady Ded­lock ihre Welt er­ober­te, ver­riet ihre Tem­pe­ra­tur mehr den Ge­fri­er- als den Schmelz­punkt. Eine er­schöpf­te Ge­las­sen­heit, eine müde Ruhe, ein ge­lang­weil­ter Gleich­mut, die sich we­der durch In­ter­es­se noch durch Be­frie­di­gung stö­ren lie­ßen, wa­ren ihre Sie­ge­stro­phä­en. Sie ist durch und durch vor­nehm. Wenn sie mor­gen in den Him­mel ver­setzt wer­den soll­te, wür­de sie frag­los ohne die min­des­te Ver­zückung em­por­schwe­ben.

Sie ist im­mer noch schön, und wenn auch nicht mehr in der Blü­te, so doch nicht in ih­rem Herbst. Sie hat ein fei­nes Ge­sicht; der Na­tu­r­an­la­ge nach sind ihre Züge eher sehr hübsch als schön zu nen­nen, aber der an­ge­lern­te Aus­druck der vor­neh­men Welt­da­me ver­leiht ih­nen et­was Klas­si­sches. Ihre Fi­gur ist ele­gant und macht den Ein­druck von Schlank­heit. Nicht, dass sie wirk­lich so ist, aber alle ihre Vor­zü­ge sind gut her­aus­ge­ar­bei­tet, wie Bob Sta­bles hoch­wohl­ge­bo­ren wie­der­holt auf Eid ver­si­chert hat. Der­sel­be Ge­währs­mann be­merkt, dass sie ta­del­los auf­ge­zäumt sei, und sagt lo­bend von ih­rem Haar, sie sei die best­ge­strie­gel­te Frau im gan­zen Ge­stüt.

Mit al­len ih­ren Rei­zen ist Lady Ded­lock von ih­rem Land­sitz in Lin­colns­hi­re, Schritt für Schritt von den Fa­shio­na­beln der Mo­de­zei­tung ver­folgt, ein­ge­trof­fen, um ei­ni­ge Tage in ih­rer Stadt­woh­nung zu ver­wei­len, be­vor sie nach Pa­ris reist, wo sie ei­ni­ge Wo­chen zu blei­ben ge­denkt.

In ih­rer Stadt­woh­nung stellt sich an die­sem trü­ben Nach­mit­tag ein alt­mo­di­scher al­ter Gent­le­man ein, At­tor­ney und So­li­zi­tor beim ho­hen Kanz­lei­ge­richt, der die Ehre hat, Rechts­an­walt der Ded­locks zu sein, und vie­le ei­ser­ne Käs­ten mit die­sem Na­men dar­auf in sei­ner Kanz­lei auf­zu­wei­sen hat. Durch die Vor­hal­le die Trep­pen hin­auf, die Kor­ri­do­re ent­lang und durch die Zim­mer, die in der Sai­son sehr glän­zen und au­ßer der Zeit sehr un­wirt­lich sind – ein Feen­land für den Be­su­cher und eine Wüs­te für den Be­woh­ner –, führt den al­ten Herrn ein Mer­kur mit ge­pu­der­tem Kopf zu der Gnä­di­gen.

Der alte Herr sieht ein we­nig ver­ros­tet aus, steht aber in dem Rufe, durch Hei­rats­ver­trä­ge und Te­sta­men­te für den Adel viel Geld er­wor­ben zu ha­ben und sehr reich zu sein. Ein un­durch­dring­li­cher Ne­bel von Fa­mi­li­en­ge­heim­nis­sen, als de­ren stum­men Be­wah­rer man ihn kennt, um­gibt ihn. Es gibt ad­li­ge Mau­so­leen, die seit Jahr­hun­der­ten in ab­ge­le­ge­nen Par­kal­leen un­ter ur­al­ten Bäu­men und wu­chern­dem Farn­kraut ste­hen und viel­leicht we­ni­ger Fa­mi­li­en­ge­heim­nis­se be­wah­ren, als in Mr. Tul­king­horns un­ter Men­schen wan­deln­der Brust ver­bor­gen sind.

Er ge­hört der al­ten Schu­le an, das heißt, der Schu­le, die nie­mals jung ge­we­sen ist, und trägt kur­ze Ho­sen, die an den Kni­en mit Bän­dern be­fes­tigt sind, und Ga­ma­schen oder St­rümp­fe. Die Ei­gen­tüm­lich­keit sei­ner schwar­zen Klei­der und St­rümp­fe, mö­gen sie von Sei­de oder Wol­le sein, ist, dass sie nie glän­zen. Stumm, ver­schlos­sen, ohne Ant­wort für ein neu­gie­ri­ges Licht, ist sein An­zug wie er selbst. Er un­ter­hält sich nie, wenn man ihn nicht in Be­rufs­sa­chen zu Rate zieht. Man fin­det ihn zu­wei­len stumm, aber zwang­los und ganz zu Hau­se am Eck der Gast­ta­feln in vor­neh­men Land­sch­lös­sern oder nicht weit von Sa­lons sit­zen, von de­nen die Mo­de­zei­tung so viel zu re­den hat. Je­der­mann kennt ihn dort, und der hal­be Hochadel bleibt mit den Wor­ten ste­hen: »Wie geht’s Ih­nen, Mr. Tul­king­horn?« Er nimmt die Be­grü­ßung mit Ernst ent­ge­gen und be­gräbt sie ne­ben all dem üb­ri­gen, was er weiß.

Sir Lei­ces­ter Ded­lock ist in Ge­sell­schaft der Gnä­di­gen und schätzt sich glück­lich, Mr. Tul­king­horn zu emp­fan­gen. Es liegt et­was Vor­schrifts­mä­ßi­ges in Mr. Tul­king­horns Be­neh­men, das Sir Lei­ces­ter im­mer sehr an­ge­nehm be­rührt und ihn wie eine Art Tri­but an­mu­tet. Er fin­det auch an Mr. Tul­king­horns An­zug Ge­fal­len und sieht auch dar­in eine Art Hul­di­gung. Er ist un­ge­mein re­spek­ta­bel ge­schnit­ten und hat et­was Sach­wal­ter­haf­tes. Er ist fast wie die Li­vree ei­nes Auf­se­hers der Rechts­mys­te­ri­en oder ei­nes ju­ris­ti­schen Kel­ler­meis­ters.

Ist sich Mr. Tul­king­horn selbst dar­über klar? Es kann sein, kann aber auch nicht sein. Und doch ist die­se Fra­ge bei al­lem, was mit Lady Ded­lock als der Füh­re­rin und dem Glanz­stern der vor­neh­men Welt in Berüh­rung kommt, von großer Be­deu­tung. Sie hält sich für ein un­er­forsch­li­ches We­sen, das weit über der Be­ur­tei­lungs­sphä­re ge­wöhn­li­cher Sterb­li­cher steht. So kommt sie sich im Spie­gel vor, in dem sie auch wirk­lich so aus­sieht. Den­noch kennt je­der klei­ne Stern, der sich um sie dreht, von der Kam­mer­zo­fe an bis zum Di­rek­tor der ita­lie­ni­schen Oper, ihre Schwä­chen und Vor­ur­tei­le, ih­ren Hoch­mut, ihre Tor­hei­ten und Lau­nen und rich­tet sich in sei­nem Ver­kehr mit ihr nach ih­ren Cha­rak­ter­zü­gen, wie die Putz­ma­che­rin nach ih­ren Kör­per­pro­por­tio­nen. Je nach­dem es gilt, eine neue Mode, einen neu­en Klei­dungs­schnitt, eine neue Sit­te, einen neu­en Sän­ger, eine neue Tän­ze­rin, einen neu­en Schmuck, einen Zwerg, einen Rie­sen, eine Ka­pel­le oder sonst et­was in Mode zu brin­gen.

Es gibt ehr­er­bie­ti­ge Leu­te in Dut­zen­den von Be­ru­fen, von de­nen al­len Lady Ded­lock glaubt, sie lä­gen be­stän­dig auf den Kni­en vor ihr, und die da­bei ge­nau wis­sen, dass sie wie ein Kind zu lei­ten ist; – Leu­te, die ein gan­zes Le­ben lang an nichts den­ken als wie man ihr schmei­cheln kann und die sich stel­len, als sei­en sie de­mü­tig und un­be­dingt ge­hor­sam, da­bei aber sie und ihr gan­zes Ge­fol­ge im Schlepp­tau ha­ben, mit ihr wie mit ei­nem Kö­der an­geln und sie füh­ren, wo­hin sie wol­len, wie Le­mu­el Gul­li­ver die statt­li­che Flot­te des Reichs Li­li­put nach Be­lie­ben di­ri­gier­te.

»Wenn man bei die­ser Sor­te re­üs­sie­ren will«, sa­gen Bla­ze & Sparkle, die Ju­we­lie­re – und sie ver­ste­hen un­ter »die­ser Sor­te« Lady Ded­lock und ih­ren An­hang –, »so darf man nicht ver­ges­sen, dass man es nicht mit dem großen Pub­li­kum zu tun hat; man muss ›die­se Sor­te‹ an ih­rer schwächs­ten Sei­te fas­sen, und ihre schwächs­te Sei­te ist die­se und die­se.«

»Um Ihre Ar­ti­kel ab­zu­set­zen, mei­ne Her­ren«, ra­ten Sheen & Gloss, die Tuch­händ­ler, ih­ren Freun­den, den Fa­bri­kan­ten, »so müs­sen Sie zu uns kom­men, weil wir die Leu­te der fei­nen Ge­sell­schaft zu be­han­deln wis­sen und da­durch die Mode be­stim­men kön­nen.«

»Wenn Sie die­sen Kup­fer­stich bei mei­ner hoch­ge­stell­ten Kund­schaft an­brin­gen wol­len, Sir«, sagt Mr. Slad­de­ry, der Kunst­händ­ler, »oder wenn Sie die­sen Zwerg oder Rie­sen zu deich­seln wün­schen oder für die­se Un­ter­neh­mung der Un­ter­stüt­zung mei­ner ho­hen Kun­den be­dür­fen, so müs­sen Sie mir das über­las­sen, denn ich ken­ne die füh­ren­den Per­so­nen in die­sen Krei­sen, Sir, und kann Ih­nen, ohne zu über­trei­ben, sa­gen, dass ich sie um den Fin­ger wi­ckeln kann«, – worin Mr. Slad­de­ry, der ein eh­ren­wer­ter Mann ist, durch­aus nicht über­treibt.

Wenn da­her Mr. Tul­king­horn wirk­lich nicht wis­sen soll­te, was ge­gen­wär­tig in der See­le der Gnä­di­gen vor­geht, so ist doch auch das Ge­gen­teil sehr leicht mög­lich.

»Myla­dys An­ge­le­gen­heit ist also wie­der vor dem Kanz­ler ver­han­delt wor­den, Mr. Tul­king­horn?« fragt Sir Lei­ces­ter und reicht dem An­walt die Hand.

»Ja, sie kam heu­te zur Ver­hand­lung«, ent­geg­net Mr. Tul­king­horn und macht der Gnä­di­gen, die auf ei­nem Sofa am Kamm sitzt und das Ge­sicht mit ei­nem Hand­schirm schützt, eine sei­ner stum­men Ver­beu­gun­gen.

»Es ist wohl nutz­los zu fra­gen, ob ir­gen­det­was ge­sche­hen ist«, sagt Myla­dy, noch im­mer von der trü­ben Stim­mung, die ihr der Land­sitz in Lin­colns­hi­re ver­ur­sacht hat, be­drückt.

»Es ist nichts ge­sche­hen, was Gnä­digs­te er­wäh­nens­wert nen­nen wür­den.«

»Es wird nie et­was ge­sche­hen«, meint Myla­dy.

Sir Lei­ces­ter hat ge­gen den end­lo­sen Gang der Kanz­lei­ge­richtspro­zes­se nichts ein­zu­wen­den. Es ist eine lang­sa­me, kost­spie­li­ge, echt bri­ti­sche, kon­sti­tu­tio­nel­le Sa­che. Al­ler­dings han­delt es sich für ihn in dem frag­li­chen Pro­zess nicht um Sein oder Nicht­sein, son­dern bloß um die ge­ring­fü­gi­ge Mit­gift, die ihm Myla­dy zu­brach­te, und er hat eine dunkle Ah­nung, dass es ein höchst lä­cher­li­cher Zu­fall ist, wenn der Name Ded­lock in ei­nem Pro­zess als Par­tei vor­kommt. Er sieht in dem Kanz­lei­ge­richt et­was, das im Ve­rein mit an­de­ren In­sti­tu­tio­nen von der vollen­dets­ten mensch­li­chen Weis­heit er­son­nen wur­de und in Be­zie­hun­gen zur ewi­gen ge­setz­mä­ßi­gen Ord­nung steht, wenn auch hie und da die Ge­rech­tig­keit ein we­nig nach­hinkt und zu­wei­len Ver­wir­rung zur Fol­ge hat. Be­schwer­den dar­über bei­zu­stim­men, hie­ße viel­leicht ir­gend­je­mand der nie­de­re­ren Klas­sen er­mu­ti­gen, sich auf­zu­leh­nen – wie etwa Wat Ty­ler bö­sen An­ge­den­kens.

»Da ei­ni­ge neue Zeu­gen­aus­sa­gen zu den Ak­ten ge­kom­men«, sagt Mr. Tul­king­horn, »und über­dies kurz ge­fasst sind und ich nach dem et­was weit­schwei­fi­gen Prin­zip ver­fah­re, mei­ne Kli­en­ten um Er­laub­nis zu bit­ten, ih­nen alle neu­en Schrit­te in Pro­zes­sen vor­le­gen zu dür­fen«, – Mr. Tul­king­horn ist ein vor­sich­ti­ger Mann und über­nimmt nie mehr Verant­wort­lich­keit, als un­be­dingt nö­tig ist – »und da die Herr­schaf­ten au­ßer­dem nach Pa­ris rei­sen, so habe ich al­les mit­ge­bracht.«

Sir Lei­ces­ter geht näm­lich eben­falls nach Pa­ris, wenn auch der Glanz­punkt der Fa­shio­na­blen die Gnä­di­ge ist.

Mr. Tul­king­horn zieht sei­ne Ak­ten aus der Ta­sche, bit­tet um Er­laub­nis, sie auf ein gol­de­nes Spiel­zeug von Tisch­chen ne­ben der Gnä­di­gen le­gen zu dür­fen, setzt die Bril­le auf und fängt an, bei dem Schim­mer ei­ner Schirm­lam­pe vor­zu­le­sen:

»Kanz­lei­ge­richts­hof. In Sa­chen John Jarn­dy­ce kon­tra –«

Die Gnä­di­ge un­ter­bricht ihn mit der Bit­te, so viel wie mög­lich von dem tech­ni­schen Form­wus­te weg­zu­las­sen.

Mr. Tul­king­horn blickt über die Bril­le und fängt tiefer un­ten von Neu­em an. Myla­dy fin­det es nicht der Mühe wert, ihm ihre Auf­merk­sam­keit zu schen­ken. Sir Lei­ces­ter in sei­nem Lehn­stuhl blickt ins Feu­er und scheint ein stol­zes Wohl­ge­fal­len an den ju­ris­ti­schen Wie­der­ho­lun­gen und Weit­schwei­fig­kei­ten, die ihm wie na­tio­na­le Boll­wer­ke er­schei­nen, zu fin­den. Die Hit­ze ist zu­fäl­lig groß, wo Myla­dy sitzt, und der Hand­schirm ist we­ni­ger nütz­lich als schön; er ist un­schätz­bar, aber klein. Myla­dy setzt sich an­ders und er­blickt da­bei die Pa­pie­re auf dem Tisch, – be­sieht sie nä­her, be­sieht sie noch nä­her und fragt im­pul­siv: »Wer hat denn das ge­schrie­ben?«

Mr. Tul­king­horn hält, ver­wun­dert über die Leb­haf­tig­keit und den un­ge­wohn­ten Ton der Gnä­di­gen, inne.

»Es ist das, was Sie eine Kanz­lis­ten­hand­schrift nen­nen?« fragt sie, blickt ihn wie­der in ih­rer teil­nahms­lo­sen Wei­se an und spielt mit dem Schirm.

»Nicht so ganz. Wahr­schein­lich hat sie den Kanz­lei­ch­a­rak­ter erst an­ge­nom­men, als sie schon aus­ge­bil­det war. Wa­rum fra­gen Gnä­digs­te?«

»Um eine Ab­wechs­lung in die­se ab­scheu­li­che Ein­för­mig­keit zu brin­gen. Bit­te, fah­ren Sie fort.«

Mr. Tul­king­horn liest wei­ter.

Die Hit­ze wird grö­ßer. Die Gnä­di­ge be­deckt das Ge­sicht mit dem Schirm. Sir Lei­ces­ter nickt ein, fährt plötz­lich auf und ruft:

»He? Was sag­ten Sie?«

»Ich fürch­te«, flüs­tert Mr. Tul­king­horn, der has­tig auf­ge­stan­den ist, »Lady Ded­lock be­fin­det sich nicht wohl.«

»Ich füh­le mich nur schwach«, lis­pelt Myla­dy mit wei­ßen Lip­pen. »Wei­ter nichts; aber es ist wie die Schwä­che des To­des. Spre­chen Sie nicht mit mir. Klin­geln Sie und las­sen Sie mich in mein Zim­mer brin­gen!«

Mr. Tul­king­horn zieht sich in ein an­de­res Zim­mer zu­rück. Klin­geln schel­len, Schrit­te kom­men und ge­hen, und Stil­le tritt wie­der ein. End­lich bit­tet der ge­pu­der­te Mer­kur Mr. Tul­king­horn, wie­der her­ein­zu­kom­men.

»Es geht Myla­dy jetzt be­reits bes­ser«, sagt Sir Lei­ces­ter und winkt dem Ad­vo­ka­ten, Platz zu neh­men, um sich al­lein vor­le­sen zu las­sen. »Ich bin sehr er­schro­cken. Ich kann mich nicht er­in­nern, dass Myla­dy je­mals ohn­mäch­tig ge­wor­den wäre. Aber das Wet­ter ist ab­scheu­lich, und sie hat sich auf un­serm Gut in Lin­colns­hi­re wirk­lich töd­lich ge­lang­weilt.«

3. Kapitel – Die Geschichte einer Jugend

Es wird mir sehr schwer, den An­fang zu fin­den, um mei­nen Teil der Ge­schich­te nie­der­zu­schrei­ben, denn ich weiß, dass ich nicht be­son­ders ge­scheit bin. Ich wuss­te das im­mer. Schon als ganz klei­nes Mäd­chen pfleg­te ich zu mei­ner Pup­pe zu sa­gen, wenn wir al­lein bei­sam­men wa­ren: Lie­be Pup­pe, ich bin nicht klug, du weißt es selbst und musst mit mir Ge­duld ha­ben, Herz­chen. Und dann saß sie in einen großen Arm­stuhl ge­lehnt mit dem rot und wei­ßen Ge­sicht und den ro­si­gen Lip­pen da und starr­te mich an – oder viel­mehr ins Lee­re –, wäh­rend ich em­sig näh­te und ihr alle mei­ne Ge­heim­nis­se er­zähl­te.

Mei­ne lie­be alte Pup­pe!

Ich war als Kind so in mich ge­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­