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Petra Mattfeldt

Der Jahrbuchcode

Jugend-Krimi

Buntstein

Impressum

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen, oder Video, auch einzelner Text- und Bildteile.

Alle Akteure dieses Romans sind fiktiv, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind von der Autorin nicht beabsichtigt.

Copyright © 2014 by Buntstein Verlag, ein Imprint von Bookspot Verlag GmbH

1. Auflage (Print) 2014

Satz/Layout: Martina Stolzmann

Covergestaltung: Nele Schütz Design, München

Lektorat: Susanna Abt

E-Book: Mirjam Hecht

Made in Germany

ISBN: 978-3-95669-029-7 (EPUB)

ISBN: 978-3-95669-030-3 (MOBI)

www.bookspot.de

Widmung

Für meine Kinder

Weil es gar nicht genug Abenteuer geben kann!

1. Kapitel

Als Niklas am ersten Schultag nach den Sommerferien müde die Stufen zu dem alten Bauwerk hinaufstieg, ahnte er noch nicht, dass dieses Jahr das aufregendste seines bisherigen Schullebens werden sollte. Das Backsteingebäude war Anfang des 19. Jahrhunderts errichtet und seitdem immer wieder durch Anbauten erweitert worden. Im Laufe der Zeit war eine verschachtelte Anlage entstanden, in der sich die neuen Schüler in den ersten Tagen regelmäßig verirrten. Das alte Gemäuer mit den kleinen Treppen und die modernen Erweiterungen und Verbindungen von einem Trakt zum anderen gaben Niklas auch nach fünf Jahren, die er inzwischen auf diese Schule ging, das Gefühl, immer noch etwas Unbekanntes und Geheimnisvolles entdecken zu können. Der in seinen Augen wichtigste Umbau stand unmittelbar bevor: Die alte Turnhalle sollte abgerissen und durch eine neue, größere ersetzt werden. Die neue Halle würde die vorgeschriebenen Maße haben, um dort künftig die Punktspiele im Basketball austragen zu können. Als begeisterter Basketballspieler konnte Niklas es kaum erwarten.

Der schlaksige Junge mit der mokkafarbenen Haut und den Locken war jetzt in der neunten Klasse, was zu seinem großen Bedauern bedeutete, dass er sich dringend in einer Arbeitsgemeinschaft anmelden musste. Um die Zulassung fürs Abitur zu bekommen, waren mindestens dreißig Stunden nachzuweisen, die er bisher nicht einmal ansatzweise zusammenbekommen hatte. Seit er das Gymnasium besuchte, waren die Schuljahre nur so verflogen. Bisher hatte er es gerade mal auf ein halbes Jahr in der Theater-AG gebracht. Das war in der siebten Klasse, und genau genommen auch nur, weil Lilly dabei war. Soweit er wusste, hatte sie bei jeder Theateraufführung der letzten Jahre die Hauptrolle gespielt. Kein Wunder. Lilly mit ihrer Ausstrahlung, ihren langen, glatten blonden Haaren, der zierlichen Figur und natürlich diesen unglaublich blauen Augen! Beim Gedanken an sie spürte er leichte Röte im Gesicht aufsteigen. Um sich abzulenken, beschleunigte er seinen Schritt, bis er den Raum mit dem Schild erreicht hatte, auf dem in großen Lettern »JAHRBUCH-AG« stand. Hätte Niklas gewusst, wie sehr sich sein Leben von diesem Moment an verändern würde, hätte er die Tür vielleicht gar nicht erst geöffnet.

»Bin ich zu früh?«

Er war in der offenen Tür stehen geblieben und sah den Schulrektor, der in lässiger Haltung auf dem Pult saß, fragend an.

»Nicht zu früh. Nur der Erste, würd’ ich sagen.« Dr. Dornbracht musterte Niklas mit mäßigem Interesse. Ihm war nicht entgangen, dass die Jugendlichen, die sich für die Jahrbuch-AG einschrieben, das meist nicht ganz freiwillig taten. In der Regel meldeten sich nur jene an, die während der letzten Schuljahre nicht genügend Pflichtstunden zusammengebracht hatten. Also mussten sie auf den letzten Drücker die AG nehmen, die unter den Schülern auf das geringste Interesse stieß und somit stets Plätze frei hatte: die Jahrbuch-AG. Wie der Name schon sagte, stellte diese AG ein Buch über das abgelaufene Schuljahr zusammen – einschließlich Fotos und kurzen Textbeiträgen –, etwas, was bei den meisten Schülern ein Gähnen hervorrief.

»Leiten Sie die AG, Dr. Dornbracht?«

Zu Niklas’ Erleichterung schüttelte der Rektor den Kopf.

»Nein. Ich habe hier nur aufgeschlossen. Es gibt gar keine Fachkraft, die die AG leitet. Sie besteht ausschließlich aus Schülern. Und die müssen dafür sorgen, rechtzeitig vor den nächsten Sommerferien das fertige Jahrbuch abzuliefern, um ihre Teilnahmebestätigung zu erhalten. So einfach ist das!«

Niklas bemühte sich, seine Freude darüber nicht zu offensichtlich zu zeigen. Mit Dr. Dornbracht sollte man es sich besser nicht verderben. Der Schulleiter wurde zwar von den Schülern respektiert, hatte andererseits aber auch den Ruf, seine Klassen hart ranzunehmen. Er war einer der Lehrer, die ohne die leiseste Vorwarnung Arbeiten schreiben ließen, völlig unerwartet kleine Prüfungen abhielten und auch mal die Eltern einbestellten, wenn ihnen das Verhalten eines Schülers gegen den Strich ging. Bei alldem war er zwar nicht unfair, doch die Aussicht, ein ganzes Jahr lang eine AG bei ihm zu belegen, fand Niklas nicht gerade reizvoll.

Der Rektor erhob sich vom Pult und rückte beim Aufstehen seine Krawatte gerade. Er war auffallend groß, trug einen grauen Anzug, und sein Haar war bis auf wenige silberne Stellen dunkel und voll. Wie alt er wohl war? Durch seine sportliche Figur wirkte Dr. Dornbracht vermutlich jünger, als er tatsächlich war. Zwischen vierzig und fünfundvierzig, schätzte Niklas.

»Dieses Jahr wird es etwas schwierig für euch. Diejenigen, die in den letzten Jahren dabei waren, haben alle vor den Sommerferien Abitur gemacht. Es ist also keiner mehr da, der euch helfen könnte.« Der Schulleiter grinste schräg und kam auf Niklas zu, der noch immer wie angewurzelt in der Tür stand.

»Ihr könnt euch also nur die Exemplare der letzten Jahre vornehmen und auf die Bilder und Dateien zugreifen, die im Computer sind.« Er drückte Niklas einen großen und einen kleineren Schlüssel in die Hand.

»Was ist das?«

»Der Sicherheitsschlüssel ist für die Tür dieses Raums. Und der Kleine für das Pult da drüben. Da ist alles drin. Und da du der Erste bist, ernenne ich dich hiermit zum Verantwortlichen der diesjährigen Jahrbuch-AG. Viel Spaß dann.«

Er schob sich an Niklas vorbei, dem es wortwörtlich die Sprache verschlagen hatte.

»Ach ja, wie heißt du gleich?«

»Niklas, Niklas Rehberg.«

»Gut, Niklas. Dann viel Erfolg. Wer weiß, vielleicht kommen ja noch ein paar Schüler.«

Pfeifend schlenderte Dr. Dornbracht den Flur entlang und ließ einen völlig verdutzten Niklas zurück. Er blieb noch einem Moment im Türrahmen stehen, ging dann zum Pult hinüber und nahm den Platz ein, auf dem eben noch der Rektor gesessen hatte. Er sah sich um. Der Raum war alles andere als schön. Die weiß gestrichenen Wände waren nackt und kahl, kein einziges Poster oder Bild schmückte sie. In den anderen AG-Räumen, die Niklas kannte, gab es Grünpflanzen und Schränke, zumindest eine Uhr. Hier jedoch standen lediglich sechs Tische, zwölf Stühle und das Pult. Alles wirkte trostlos, und Niklas’ Stimmung war auf dem Tiefpunkt angelangt. Er ärgerte sich grün und blau. Hätte er sich doch nur früher um eine vernünftige AG bemüht! Nicht nur, dass er sich für die langweiligste AG angemeldet hatte, nun war ihm auch noch die Verantwortung für das Jahrbuch aufgebrummt worden, für etwas, was ihn nicht im Mindesten interessierte.

Und wie es aussah, würde er der Einzige in dieser AG bleiben. Selbst wenn er überhaupt ein Jahrbuch zustande brachte, mit denen der letzten Jahre würde es bestimmt nicht mithalten können. Er sah auf die Uhr. Zehn vor zwei. Noch zehn Minuten bis zum Beginn der AG. Es konnten also durchaus noch Schüler kommen. Und wenn nicht, würde er hier eine Schulstunde allein herumsitzen und alte Jahrbücher wälzen.

Das Schuljahr fing ja gut an! Er hegte die stille Hoffnung, dass wenigstens die Lehrer besser waren als in den letzten zwei Jahren. Aber schlimmer konnte es kaum kommen. Bei so manchem Pädagogen bezweifelte Niklas, dass dieser je ein Studium abgeschlossen hatte. Beispielsweise bei Herrn Thurn, seinem Chemielehrer. Woche für Woche führte er mit den Schülern Versuche durch, von denen einer nach dem anderen danebenging. Herr Thurns Frage im Anschluss daran – »Und, was konntet ihr beobachten?« – war in der Klasse längst zum Treppenwitz geworden. Herr Thurn wollte von ihnen gewiss nicht hören, was sie bei den Versuchen tatsächlich beobachtet hatten, denn das hätte gar nicht passieren sollen. So schrieben die Schüler brav das von der Tafel ab, was dem Chemielehrer zufolge hätte eintreten müssen, wenn ihm der Versuch gelungen wäre.

Und auch in Deutsch konnte es nur besser werden. Seine Lehrerin der letzten zwei Jahre war vor den Sommerferien in Frühpension gegangen. Was für ein Glück. So konnte sie keinen weiteren Schaden anrichten. Unzählige Deutschstunden hatte sie damit vergeudet, den Schülern ihr gemeines Verhalten vorzuwerfen und die Gekränkte zu geben. Und da wunderte sich diese alte Schachtel auch noch, dass sie keiner mehr ernst nahm! Ausgerechnet Niklas musste in ihre Klasse geraten, wo er doch Deutsch als Leistungskurs nehmen wollte. Doch nun, da zwei Jahre ungenutzt verstrichen waren, würde er sich das wahrscheinlich abschminken können. In Gedanken ging er die restlichen Fächer des vor ihm liegenden Schultags durch, als ein ihm unbekanntes Kugelgesicht mit Rotschopf in den Raum lugte.

»Ist das hier die Jahrbuch-AG?«

Niklas sprang vom Pult auf und ging seinem Leidensgenossen freudig entgegen. Er war mehr als erleichtert, wenigstens einen Mitstreiter an seiner Seite zu haben.

»Klar, Jahrbuch, das ist hier. Ich bin Niklas Rehberg, 9d.«

Er schüttelte dem verblüfft dreinblickenden Jungen kräftig die Hand.

»Philipp Andres, 8b. Freut mich.«

Ein weiterer Junge betrat den Raum. Den kannte Niklas allerdings, und er hob nur kurz die Hand und presste ein »Hi« durch die Lippen.

Philipp hingegen schien von der netten Begrüßung durch Niklas geradezu elektrisiert, er ging auf den Neuankömmling zu, ergriff seine rechte Hand und schüttelte sie heftig.

»Philipp Andres, 8b!«, rief er begeistert.

»Hast du ’ne Schraube locker? Lass sofort meine Hand los, Fettbacke, sonst setzt es was!« Der Neue zog seine Hand zurück, und Philipp sah Niklas fragend an.

»Das ist Eltis Benner«, erklärte der. »9d, genau wie ich.«

»Eltis? Klingt fast wie Iltis!« Philipp kicherte.

»Du kriegst gleich eine, Fettklops!«

Eltis hob drohend die Faust. Niklas machte eilig einen Schritt auf ihn zu.

»Halt den Ball flach, Alter. Es war nur ’n Spruch, und außerdem stimmt es. Wenn du hier mitmachen willst, reißt du dich direkt zusammen. Deine übliche Nummer zieht hier nicht, klar?«

Auch Eltis machte einen Schritt auf Niklas zu. Sie standen sich gegenüber wie zwei Kampfhunde, die sich jeden Moment aufeinander stürzen würden.

»Ach ja? Wer ist der Kerl? Dein Bruder? Und wieso entscheidest du, wer hier mitmacht und wer nicht? Hast du hier das Sagen oder was?«

Niklas hielt die Schlüssel hoch, die Dr. Dornbracht ihm übergeben hatte, und klimperte.

»Ganz genau, du Blitzmerker. Also, Philipp ist dabei. Und wenn du auch mitmachen willst, passt du dich an, klar?«

Eltis zögerte einen Moment. Dann wandte er sich ab und schlenderte zu einem der Stühle hinüber.

»Ich sitz hier nur meine Zeit ab. Macht ihr doch, was ihr wollt.« Er lehnte sich zurück und legte die Füße auf den Tisch.

»Hi! Ich weiß, ich bin spät dran. Entschuldigt bitte!«

Niklas erkannte die Stimme auf Anhieb. Blitzschnell drehte er sich zur Tür.

»Hallo! Ich bin Lilly Hesterberg, 9a.«

»Philipp Andres, freut mich.«

»Hi, Niklas. Du bist auch dabei? Das ist ja super! Wir beide mal wieder als Team, was?« Sie zwinkerte ihm strahlend zu, und Niklas’ Knie wurden weich. So sehr er sich auch bemühte, ihm wollte einfach kein lockerer Spruch über die Lippen kommen. Noch während er um eine Antwort rang, wandte sich Lilly Eltis zu.

»Hi, Eltis.«

Bildete er es sich nur ein, oder lag tatsächlich Missbilligung in Lillys Stimme? Komisch, dachte Niklas. Lilly war doch zu jedem nett. Bei Gelegenheit würde er sie darauf ansprechen, nahm er sich vor. Doch im Moment war er einfach nur froh, dass sie mit von der Partie war. Ein echter Lichtblick, wenn man bedachte, wie der Tag begonnen hatte. Endlich fand er seine Stimme wieder.

»Hey, Lilly. Klasse, dass du dabei bist. Ich hatte ja gar keine Ahnung, dass du dich für das Jahrbuch interessierst. Was ist denn mit der Theater-AG?«

An Philipp gewandt sagte Niklas: »Die sind da nämlich aufgeschmissen ohne Lilly.«

Lächelnd schüttelte das Mädchen den Kopf.

»Nee, es reicht allmählich. Ich habe jetzt vier Jahre lang immer die Hauptrolle gespielt. Zeit für was Neues!« Ihre Augen funkelten.

»Und du. Was hat dich hierher verschlagen?«

Niklas zögerte.

»Willst du eine ehrliche Antwort?«

Lilly nickte.

»Ich muss meine AG-Pflichtstunden vollkriegen.«

Sie grinste.

»Hab’ ich mir schon gedacht. Aber warum hast du nicht einfach die Basketball-AG belegt? So einen klasse Spieler wie dich könnten die da gut gebrauchen.«

»Ich kotz gleich!«, schallte es von Eltis herüber.

Niklas beachtete ihn überhaupt nicht. Ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen, setzte er seine Unterhaltung mit Lilly fort.

»Mein Verein ist gerade aufgestiegen. Dieses Jahr geht es um die Landesligameisterschaft. Da müssen wir jetzt alles geben. Wenn ich noch woanders spiele, ist die Verletzungsgefahr zu groß. Jetzt auszufallen wäre echt ärgerlich.«

»Verstehe.« Lilly nickte.

»Und du Philipp, wie steht’s mit dir?«

Philipp hatte das Gespräch wie ein Tennismatch verfolgt und immer zwischen Niklas und Lilly hin- und hergesehen. Die Blicke, die beide tauschten, waren ihm durchaus nicht entgangen.

»Ehm, na ja. Also jedenfalls nicht nur, weil ich die Pflichtstunden voll kriegen muss. Ich dachte einfach, dass so ein Jahrbuch vielleicht Spaß machen könnte.«

Lilly betrachte ihn kurz. Er war ihr offensichtlich auf Anhieb sympathisch. Mit seinem rundlichen Gesicht, den unzähligen Sommersprossen, der leicht fülligen Figur und den etwas zu kurz geratenen Beinen war Philipp nicht gerade ein Mädchenschwarm. Doch Lilly schien zu ahnen, dass sie mit ihm jede Menge Spaß haben würde.

»Sieht nicht so aus, als wenn außer uns noch jemand kommen würde«, stellte Niklas mit einem Blick zur Tür fest.

»Auch egal.« Lilly schien bester Laune. »In so einer kleinen Gruppe lässt es sich sowieso viel besser arbeiten.«

Das war es, was Niklas neben ihrer netten Art und ihrem Aussehen am meisten an Lilly mochte – ihren unvergleichbaren und unerschütterlichen Optimismus. »Sehe ich genauso. Also, fangen wir an?«

»Hat denn keiner von euch bisher so ein Jahrbuch gemacht?« Philipp schien ein wenig verunsichert.

»Wir sind genau so jungfräulich wie du.« Niklas grinste.

»Habt ihr vor, die Gute-Laune-Nummer das ganze Jahr über durchzuziehen?« Eltis machte ein angewidertes Gesicht, nahm die Beine vom Tisch und stand auf.

Niklas, Lilly und Philipp sahen sich an. Dann antworteten alle gleichzeitig, als hätten sie sich abgesprochen: »Jaaaa!« Die drei lachten prustend los.

Eltis verdrehte genervt die Augen und ließ sich auf den Stuhl zurückfallen. »Was für’n Shit«, murmelte er und verschränkte die Arme vor der Brust.

2. Kapitel

Schon von weitem stieg Niklas Essensduft in die Nase. Eilig schloss er das schmiedeeiserne Tor hinter sich und lehnte sein Fahrrad gegen die Wand des Carports. Das Haus seiner Eltern war früher einmal ein Bauernhof gewesen. Niklas’ Vater hatte während seines Architekturstudiums Basketball gespielt, und zwar im Profibereich. Später dann, als er sich ganz seinem Beruf widmete und den Leistungssport aufgegeben hatte, erwarb er für wenig Geld das Haus, in dem die Rehbergs jetzt wohnten. Er ließ fast das gesamte Gebäude bis auf die Grundmauern niederreißen und verwandelte es in ein modernes, großzügiges Anwesen, das halbrund um einen Innenhof gebaut war. Hinter dem Haus ging der Garten in ein angrenzendes Wäldchen über, das ebenfalls zum Grundstück gehörte. Es war eine ruhige Gegend am Rande von Braunschweig, die früher von Landwirtschaft geprägt gewesen war. Das sah man unter anderem daran, dass die Häuser – die meisten davon ehemalige Gehöfte – nicht wie in anderen Vororten dicht an dicht, sondern im großen Abstand zueinander standen. An der anderen Seite des Hauses führte, nur durch ein Mäuerchen begrenzt, ein kleiner Pfad zu einer Wiese, die an weitläufige Weizenfelder grenzte.

Niklas mochte sein Elternhaus und die Gegend, in der er aufgewachsen war. Er freute sich darauf, gleich das Haus zu betreten und zusammen mit den Schuhen den Schultag abzustreifen, ehe er zu seiner Mutter in die Küche ging, um mit ihr zu plaudern.

Er hatte viel von ihr, nicht nur die Hautfarbe. Seine Großmutter, also die Mutter seiner Mutter, stammte aus Nigeria. Ihre Haut war richtig schwarz. Die Hautfarbe seiner Mutter war schon nicht mehr so dunkel, eher mokkafarben, und Niklas’ Haut noch einen Tick heller. Fast bedauerte er, dass seine Herkunft nicht mehr so eindeutig ersichtlich war. Ganz besonders, seit er gemeinsam mit seinen Großeltern und seinen Eltern das Heimatdorf seiner Großmutter besucht und dort die lebensfrohesten und freundlichsten Menschen getroffen hatte, denen er jemals begegnet war. Er mochte diese Menschen, deren Wurzeln er in sich trug. Es war zwar schon einige Jahre her, dass sie dort gewesen waren. Aber Niklas hatte noch immer ihren Gesang in den Ohren und erinnerte sich an eine überwältigende Gastfreundschaft, die er so bisher nirgendwo erlebt hatte. Seiner Mutter war es genau so ergangen, und sie kochte mit viel Leidenschaft die Gerichte nach, die man ihnen damals serviert hatte. Genau wie ihren nigerianischen Verwandten lag ihr der Rhythmus im Blut. Was man beim Kochen sehen konnte, denn sie tanzte gern dazu. Niklas hatte sie schon oft dabei beobachtet. Er fand sie ein wenig verrückt, jedenfalls war sie ganz anders als die Mütter seiner Freunde. Doch Niklas mochte das.

Und sein bester Freund Jonas ebenfalls. Vielleicht war er deshalb fast mehr bei Niklas als bei sich zu Hause. Niklas’ Mutter bezeichnete Jonas immer als ihren zweiten Sohn. Und so behandelte sie ihn auch. Niklas und Jonas kannten sich bereits, seit sie zusammen eingeschult worden waren. Sie wohnten nur einen Steinwurf voneinander entfernt und gingen jeden Tag gemeinsam zur Schule. Als Jonas’ Mutter kurz darauf den Entschluss fasste, wieder zu arbeiten, wollte sie ihn zu einer Tagesmutter geben. Frau Rehberg bot jedoch an, dass Jonas mittags bei ihnen essen konnte, und hinterher könnten die Jungen dann gemeinsam ihre Hausaufgaben erledigen. Natürlich waren die beiden Feuer und Flamme, als Jonas’ Eltern dem Vorschlag zustimmen. Seitdem waren sie die dicksten Kumpel und absolut unzertrennlich. In den ersten beiden Grundschuljahren war Niklas Klassensprecher und Jonas sein Vertreter. In den letzten beiden Grundschuljahren war es dann genau anders herum, und sie vertauschten die Rollen. Zu Beginn des zweiten Schuljahres traten sie dem örtlichen Basketballverein bei. So verbrachten sie noch mehr Zeit miteinander und trainierten auch in ihrer Freizeit regelmäßig zusammen.

»Euch gibt es nur noch im Doppelpack«, pflegte Niklas’ Mutter scherzhaft zu sagen.

Nach dem Ende der Grundschulzeit entschlossen sich Jonas’ Eltern, ihn auf eine Privatschule zu schicken, während Niklas auf ein öffentliches Gymnasium ging. Jonas’ Eltern meinten, dass ihr Sohn durch die Privatschule bessere Chancen hätte, während Niklas’ Eltern das ganz anders sahen.

Doch das war auch schon das Einzige, was Niklas und Jonas trennte. Ansonsten waren sie einander so ähnlich wie eineiige Zwillinge. Bis auf das Aussehen natürlich. Zwar war auch Jonas’ Haut gebräunt, aber nur in den Sommermonaten. Die Haare hellblond, die Augen blau, hatte er die gleiche schlanke Figur wie Niklas. Und beide hatten sie Locken. Man hätte sie tatsächlich für Brüder halten können, der eine hell, der andere dunkel.

Und obwohl sie beide jetzt verschiedene Schulen besuchten, aß Jonas nach wie vor bei den Rehbergs. Niklas’ Mutter hatte keine Widerworte geduldet, als es darum ging, ob Jonas trotz der unterschiedlichen Schulzeiten noch zum Essen kommen sollte. So war im Grunde alles beim Alten geblieben, mit der Besonderheit, dass Jonas oftmals schon da war, wenn Niklas nach Hause kam.

So war es auch heute. Niklas ging wie immer durch den Hintereingang, die Küchentür, die direkt zum Hof führte, ins Haus. Bess, seine Border-Collie-Hündin, stand schwanzwedelnd an der Tür und tippelte aufgeregt von einer Pfote auf die andere.

»Hi!«, sagte Niklas, als er die Küche betrat. »Bess, lass mich rein. Ja, meine Süße, ich freu mich auch, dich zu sehen.« Bess sprang aufgeregt an Niklas hoch, sodass er beinahe das Gleichgewicht verlor. Jonas deckte gerade den Tisch ein, und Frau Rehberg rührte in einem der Kochtöpfe.

»Hallo Niklas. Ich möchte zu gern wissen, wie sie das macht.« Sie deutete auf Bess. »Genau fünf Minuten, bevor du auf den Hof fährst, steht sie aufgeregt an der Tür und kriegt sich fast nicht wieder ein. Und zwar ganz gleich, zu welcher Zeit du Schulschluss hast.«

»Na, wie war dein erster Tag?« Jonas blickte ihn erwartungsvoll an.

»Ja, erzähl«, bat Niklas’ Mutter. »Habt ihr neue Schüler in der Klasse bekommen? Ist was Besonderes passiert?«

»Eigentlich nicht.« Niklas löste sich von Bess. »Wir haben einen Neuen in der Klasse, Marvin. Er macht die neunte noch mal. Scheint ein netter Typ zu sein.«

Seine Mutter legte den Kochlöffel beiseite.

»Hast du dich bei einer Arbeitsgemeinschaft angemeldet?« Sie zog forschend die Augenbrauen hoch. Noch am Morgen hatte sie Niklas eindringlich ermahnt, die AG nicht zu vergessen. Sie wusste, dass er alles andere als begeistert war. Doch wenn er jetzt nicht begann, die Pflichtstunden zu absolvieren, wann dann?, hatte sie gemeint.

»Hab’ ich!«

Sie atmete erleichtert aus und lächelte.

»Bei welcher? Und wie ist es?«

»Bei der Jahrbuch-AG!«

»Jahrbuch? Das ist bei uns die AG, die man nur dann macht, wenn man irgendwie die Pflichtstunden vollkriegen muss«, warf Jonas ein.

Niklas sah ihn augenzwinkernd an.

»Ach so, bei euch auch, hm?«

»Ja, aber es hat auch was Gutes.« Niklas grinste.

»Nämlich?«

»Lilly ist auch in der AG.«

Jonas pfiff anerkennend durch die Zähne. »Die Lilly?«

»Die Lilly!«

Frau Rehberg strahlte. »Oh, das freut mich.« Sie wusste, dass Niklas bereits seit der Grundschule für Lilly schwärmte. Und ihr Sohn versuchte auch nicht, das zu Hause zu verstecken.

»Dummerweise ist auch Eltis dabei«, sagte Niklas.

»Eltis Benner?« Jonas verzog fast angewidert das Gesicht. Eltis war in der Grundschule mit Niklas, Jonas und Lilly in eine Klasse gegangen. Jonas und Eltis hatten sich nie leiden können. Sie waren oft aneinandergeraten, und einmal hatten sie sich so sehr geprügelt, dass ihre Eltern sie abholen mussten.

Jonas erinnerte sich noch genau daran, obwohl es lange her war. In der Pause hatten die Jungen immer Fußball gespielt. Da es nur ein Feld gab, mussten sie sich einigen, wer mit wem zusammenspielte. Eltis, schon immer ein Quertreiber, wollte bestimmen, dass ein anderer Junge, Fabian, nicht mitmachen durfte, weil er angeblich zu schlecht spielte. Jonas hatte seinen neuen Lederball dabei und sagte Eltis, dass Fabian sehr wohl mitspielen würde, Eltis aber nicht, wenn er nicht aufhörte. Jonas deutete dabei auf den Ball und erklärte, dass er entschied, wer mit seinem Ball spielen durfte.

Da zog Eltis blitzschnell einen Bleistift hervor und rammte ihn mit voller Wucht in den Ball, aus dem zischend die Luft wich. Daraufhin rastete Jonas völlig aus und schlug auf Eltis ein, bis einige andere dazwischen gingen.

Am Ende gab es einen kaputten Ball, zahlreiche Schrammen und bei Eltis eine aufgeplatzte Lippe. Allein das war den ganzen Ärger wert gewesen, sagte sich Jonas später. Auch wenn sie sich vor der Rektorin gegenseitig um Entschuldigung bitten mussten, gerieten sie, wann immer sie sich begegneten, auf der Stelle aneinander. Oft war es Lilly zu verdanken, dass sie sich nicht erneut prügelten.

»Vielleicht hat Eltis ja auch eine gute Seite«, wandte Frau Rehberg ein. »Gib ihm eine Chance.«

Das war typisch für Niklas’ Mutter. Sie fand bei allem und jedem etwas Gutes. Niklas hatte aber jetzt keine Lust, ihr zu erzählen, warum bei Eltis Hopfen und Malz verloren war. Er hatte Hunger, und sein Magen knurrte.

»Hast du vielleicht Bock, mir nachher beim Durchschauen der Jahrbücher ein bisschen zu helfen?«, fragte Niklas.

Jonas nickte. »Klar. Wie viele sind es denn?«

»Zwanzig Jahrbücher verteilt auf vier macht für jeden fünf. Abgesehen von Lilly und Eltis ist noch einer aus der achten Klasse dabei. Er heißt Philipp. Der ist in Ordnung.«

»Und wenn Jonas dir hilft, werdet ihr es bestimmt schnell schaffen«, meinte Frau Rehberg, während sie eine köstlich duftende Auflaufform auf den Tisch stellte. »Aber jetzt wird erstmal gegessen. Papa kommt heute Mittag nicht, er macht dafür früher Schluss. Wir wollen nachher noch gemeinsam los und nach neuen Gartenmöbeln sehen.«

»Wieso? Unsere Gartenmöbel sind doch okay.«

Niklas’ Mutter verdrehte die Augen. »Jetzt fang du mir nicht auch noch an! Und lass das ja nicht Papa hören. Ich will neue Gartenmöbel, basta.«

Jonas grinste breit, und auch Niklas konnte sich ein Lachen nicht verkneifen.

»Schon klar, Mama. Hab’ verstanden. Wir brauchen ganz dringend neue Gartenmöbel.«

»Geht doch!«, sagte seine Mutter. »Und jetzt lasst es euch schmecken, ihr beide.«

Nach dem Essen gingen die Jungen nach oben in Niklas’ Zimmer. Ihre Hausaufgaben erledigten sie in null Komma nichts, um sich schnell die Jahrbücher vorzunehmen. Es waren die der Jahrgänge 1994 bis 1998.

»Scharfe Frisuren«, meinte Jonas, während er sich die Bilder ansah.

»Und die Klamotten sind echt der Hammer«, sagte Niklas. »In Farbe wäre das ganze noch besser. Am besten finde ich bei solchen alten Schinken immer, wenn man die Leute wiedererkennt. Also in diesem Fall die Lehrer.« Jonas grinste.

»Die hier«, Niklas deutete auf eines der Bilder, »ist meine Englischlehrerin. Nur eben zwanzig Jahre jünger und mit einer echt beknackten Frisur. Und der da, den habe ich ab jetzt in Physik. Lass mal sehen. Ja genau, Herr Berthold. Scheint ganz nett zu sein. Aber sieh dir mal das Zeug an, das er auf dem Bild trägt.«

»Besonders das Karohemd ist erste Sahne«, stellte Jonas grinsend fest.

Sie blätterten noch eine Weile die Jahrbücher durch, als Niklas plötzlich stutzte. Er hatte das Jahrbuch von 1998 aufgeschlagen auf dem Schoß liegen.

»Gib mir bitte mal das Jahrbuch von 1997. Hier ist, glaube ich, ein Fehler passiert.«

Jonas reichte ihm den Band. Er selbst sah sich gerade den 1995er Jahrgang an.

»Wieso, was ist los?«

Niklas blätterte schnell die Seiten um, als suchte er etwas Bestimmtes.

»Ich vergesse nie ein Gesicht, das weißt du doch. Und der Junge auf dem einen Bild war im Jahrgangsbuch zwei Jahre zuvor auch schon mal bei der Klasse 10c abgebildet.« Er schlug eine weitere Seite um und hielt Jonas das Buch hin.

»Hier, siehst du. Der Junge da ganz rechts außen.«

Jonas sah sich das Bild an und suchte in der Bildunterschrift nach dem Namen.

»Nikolas Klein. Was ist mit ihm?«

Niklas nahm sich den 1998er Band wieder vor und hielt Jonas auch diesen unter die Nase.

»Schau mal hier. Ganz rechts außen der Junge. Das ist derselbe.«

Jonas fuhr erneut mit dem Finger die Bildunterschrift entlang.

»Markus Schmidt. Hm, sieht tatsächlich genauso aus. Aber der Name stimmt nicht.«

Niklas zögerte einen Moment. »Zähl mal eben die abgebildeten Schüler durch und dann die Namen in der Bildunterschrift.«