ANDREAS
STEINHÖFEL

ANDERS

MIT BILDERN VON PETER SCHÖSSOW

Für Amy,
die zwei Wochen schneller war

PROLOG

DAVOR UND DANACH

Felix bedeutet der Glückliche. Der Name stammt aus dem Lateinischen, und er war, als die Winters ihn für ihren Sohn aussuchten, in der Hitparade der Jungennamen soeben auf Platz elf vorgerückt – Tendenz leicht steigend. Melanie Winter hatte die Liste aus dem Internet heruntergeladen und hielt sie ihrem Mann unter die Nase. Ein sorgfältig rot lackierter Fingernagel tippte wiederholt auf die elfte Zeile, und tatsächlich, erkannte André Winter: Felix stand nicht nur weit genug vorn, um später einmal belegen zu können, dass man sich mit dieser Wahl durchaus auf der Höhe der Zeit befunden hatte. Nein, in seiner hübschen Zweisilbigkeit stand der Name auch weit genug hinten, um sich deutlich von allen spitzenreitenden einsilbigen Jans und Toms und Bens abzugrenzen, die in diesem Jahr scharenweise, wie es aussah, zur Mehrung der Menschheit an den Start geschickt wurden.

André Winter studierte stumm die Liste, speziell die Ziffer vor dem Namen Felix. Elf war eine Primzahl. Primzahlen machten ihn nervös. Alles, was sich nicht in ganzzahlige Größen teilen ließ, machte ihn nervös – das uferlose Internet, die gestauchten Zahlenkolonnen unter seinen Kontoauszügen … manchmal sein ganzes Leben. Ein Primzahlenname beschwor womöglich etwas herauf, das ihm in Zukunft Kopfzerbrechen bereiten mochte.

Aber die Zukunft war weit entfernt. Die Gegenwart war ausgefüllt von einem fordernd tippenden Zeigefinger, und noch nervöser als die Elf machte André Winter das Wissen darum, wie ungehalten seine Frau reagierte, wenn sie nicht bekam, was sie wollte. Deshalb stimmte er, mit einem letzten Blick auf ihre roten Fingernägel, zu. Vermutlich war er bloß abergläubisch. Vielleicht ging alles gut.

Und alles ging gut, elf Jahre lang.

Am ersten Tag des zwölften Jahres wurde alles anders.

Die braune Strickjacke nicht geschlossen, trotz der Kälte, es war ja Herbstanfang. Nebelnasse, in der Stirn klebende schwarze Haare, die Hände zu Fäusten geballt und keuchender, stoßweiser Atem aus geöffnetem Mund … Aber dennoch, wie der Felix gegangen war, so forsch und so fest: Allein dieser trotzig entschlossene Schritt, wo doch der Junge sonst so schlurfte! Frau Heinsel war ihm auf Höhe des Nahkaufs begegnet – dieses schuhkartonförmigen neuen Flachbaus, über die Flussbrücke bequem zu erreichen von der Ulmenstraße her, der ihrer Ansicht nach dort nicht hätte gebaut werden sollen, aber wer fragte sie schon? – und im Hineingehen hatte sie sich nochmals verwundert umgedreht (und fast ihren Einkaufsroller umgerissen dabei), denn normalerweise grüßte der Felix immer, er war ja gut erzogen, in letzter Zeit wohl ein wenig in sich gekehrt, aber gegrüßt hatte er bisher immer! Diesmal aber hatte er die Nachbarin gar nicht wahrgenommen, überhaupt nichts schien er gesehen zu haben, nicht in der Welt vor sich. Aber in ihm drin, hinter den hellgrauen Augen, da hatte, nun, wie sollte man das sagen 

An dieser Stelle ihrer Erzählung pflegte Frau Heinsel eine kleine Effektpause einzulegen und den Kopf um ein paar Vertraulichkeitszentimeter vorzustrecken, bevor sie mit gesenkter Stimme weitersprach: Da hatte etwas getobt! Doch, ja. Ein Ringen und ein unhörbares Brüllen war da im Felix gewesen, an einen gefangenen Tiger oder Löwen habe man unwillkürlich denken müssen, der sich wieder und wieder gegen die stählernen Gitterstäbe seines Käfigs warf, und wenn man überlegte, dass heute sein Geburtstag gewesen war, ausgerechnet … Gott, der arme Junge!

Dann das Ganze wieder von vorn, gern auch ein drittes Mal, und falls ein ungeduldiger Zuhörer signalisierte, dass er auf von vorn keine Lust hatte, wartete Frau Heinsel einfach geduldig ab, bis sie des nächsten Nachbarn habhaft werden konnte. Ihr Haus lag nahezu mittig in der Ulmenstraße, das breite Küchenfenster bot einen großzügigen Blick in jede Richtung, und wenn sie mit ihren knapp sechzig Jahren auch nicht mehr so flink war wie mit dreißig, trugen ihre Schritte sie doch schnell genug hinaus, sobald jemand die Mülltonnen zum Gehsteig schob, den Briefkasten leerte, den kurzen Fußweg in die Stadt oder zum Einkaufen antrat. Selbstverständlich versäumte sie bei solchen Gelegenheiten nie darauf hinzuweisen, dass sie wohl die Letzte gewesen war, die den Felix gesehen hatte, bevor … bevor diese … diese fürchterliche Sache passierte.

Was Frau Heinsel ausschließlich dem sehr jungen Polizeibeamten anvertraute, der sie noch am frühen Nachmittag des Unfalls aufsuchte, war ihr Bedauern darüber, dass sie im Supermarkt unverhältnismäßig lange mit der Frage beschäftigt gewesen war, ob sie Ravioli mit oder nicht doch lieber ohne Fleisch in der Soße kaufen sollte, während nur wenige Hundert Meter entfernt das Schicksal zu einem gewaltigen Rundumschlag ausholte. Der Ort des traurigen Geschehens – das Haus der Winters, die Zufahrt in die seitlich angebaute Garage – lag ja ihrem Küchenfenster unmittelbar gegenüber, nicht wahr? Was der junge Beamte freundlich bestätigte, jawohl, sonst wäre er ja auch gar nicht hergekommen, und sicherlich, Frau Heinsel hätte eine ganz hervorragende Zeugin abgegeben, wäre sie daheim gewesen.

In der Haustür stehend, blickte Hildegard Heinsel dem davonfahrenden blau-weißen Streifenwagen nach, leicht besorgt, man könne ihre rein menschliche Anteilnahme mit Sensationslüsternheit verwechselt haben. Dann warf sie die Tür zu, etwas heftiger als nötig. Die verdammten Ravioli hatten ihr alles versaut! Bis sie im Nahkauf endlich an der Kasse gestanden hatte – ohne irgendwelche Eierteigtäschchen, weil sie sich nicht hatte entscheiden können –, hatte draußen bereits, noch weit entfernt, das Sirenengeheul eines Notarztwagens die dunstige kalte Herbstluft in Streifen geschnitten.

Da war schon alles passiert.

Nach dem Unfall waren Zeit und Welt für eine Weile aus den Fugen. Der Herbst verstrich, der Winter kam und ging mit einem schmuck- und freudlosen Weihnachtsfest, das Frühjahr … Zum Sommerende, knapp sieben Wochen nachdem er aus dem Krankenhaus entlassen worden war, überraschte Felix seine Mutter im Wäschekeller, wo er ihr nüchtern, aber bestimmt ankündigte, sich ab jetzt anders zu nennen, nämlich Anders. Auf Felix werde er in Zukunft nicht mehr reagieren. Er verließ den Raum, ohne eine Antwort abzuwarten. Ein dünner Geruch hing ihm an, er zog ihn hinter sich her wie eine lange, schmutzige Schleppe, halb sommerlich, halb modrig … der Fluss?

Melanie Winter, die Arme voller Buntwäsche, starrte Felix mit offenem Mund nach. Sie spürte, wie ihre Unterlippe zitterte. Sie versuchte, tief und regelmäßig durchzuatmen. Zuletzt schüttelte sie langsam den Kopf. Es war ein müdes, resigniertes Kopfschütteln, das nicht Nein bedeutete, sondern Kapitulation: Er tut ja doch, was er will. Inzwischen befürchtete sie, befürchtete es ernsthaft, dass jeder Versuch, ihren Sohn zu verstehen – diesen merkwürdigen Jungen, der sich, seit er wieder zu Hause war, ganz und gar nicht mehr wie ihr Sohn benahm –, zum Scheitern verurteilt war. Erst vorgestern hatte sie ihn vor dem Fernseher sitzen sehen und, weil das Bild komplett in Grautönen verschwamm, im ersten Moment geglaubt, Felix schaue sich einen uralten Spielfilm an, ganz gegen seine Art – eigentlich schaltete er immer bloß zwischen den Kanälen hin und her auf der Suche nach Dokumentationen über Natur, Geschichte, Kunst, Gott weiß was. Aber Felix hatte bloß die Farbe komplett heruntergeregelt. Farbiges Fernsehen, hatte er ihr ruhig erklärt, schmerze ihm in den Augen und zerstreue seine Aufmerksamkeit, es mache seinen Eltern doch sicherlich nichts aus, gemeinsame zukünftige Fernsehabende in Schwarz-Weiß zu verbringen? Schwarz-Weiß! Melanie Winter schob die Erinnerung beiseite und musterte besorgt ihre Buntwäsche. Wenn Felix bloß nicht irgendwann auf die Idee kam 

Anders.

Erst abends im Bett, in einem jener Momente kurz vor dem Einschlafen, wenn es ihr nicht mehr gelang, unangenehme Wahrheiten abzuwehren … erst abends im Bett ließ sie widerwillig den Gedanken zu, dass Felix nicht nur eine nachvollziehbare, sondern geradezu auch konsequente Entscheidung getroffen hatte: Dieser schreckliche, ganz und gar schreckliche Unfall hatte ihren Sohn verändert. Er war anders. Mehr hatte auch André dazu nicht gesagt, der die Neuigkeit zusammen mit dem Abendessen aufgetischt bekommen hatte und dem, falls sie sich nicht täuschte, sogar so etwas wie Erleichterung anzumerken gewesen war: Der Felix, den sie beide gekannt hatten, war verschwunden, dieser andere Junge, der jetzt in ihrem Haus wohnte, hatte sich einen passenden neuen Namen gegeben. Die Welt des neben ihr im Dunkel liegenden, gleichmäßig atmenden Mannes, wie ihre eigene zersplittert seit dem Unfall, hatte ein Stück Gleichgewicht zurückgewonnen. Das konnte nur gut sein. Aber es konnte sie nicht ernsthaft dazu bewegen, Felix bei diesem lächerlichen neuen Namen zu rufen; natürlich nicht.

Das war ihr letzter zusammenhängender Gedanke, bevor sie in einen Schlaf voller farbloser Träume glitt. Drei Minuten später erhob sich neben ihr André Winter, der geduldig darauf gewartet hatte, dass seine Frau ihrerseits ruhiger und flacher zu atmen begann, leise aus dem Bett. Er schlüpfte in seine Hausschuhe und schlich im Dunkeln am Kinderzimmer vorbei durchs Treppenhaus hinunter in die Küche. Im kalten Licht des geöffneten Kühlschranks ließ er zwei Würfel aus dem Eisfach in ein Glas klimpern, goss Milch und einen Schluck Schlagsahne darüber und verbrachte einige Minuten damit, durch den Wintergarten, über Rasen und Straße hinweg, gegen die dunklen Fassaden des Tauchmann’schen und des Heinsel’schen Hauses gegenüber zu starren. Schließlich trug er das Glas ins Wohnzimmer, gab aus einer Flasche auf der Anrichte einen guten Teil Wodka hinzu sowie, aus einer weiteren Flasche, einen ordentlichen Schuss Kaffeelikör und stürzte den eiskalten Drink in einem Zug hinunter.

Gut.

Dann eben Anders.

Abschließendes Ergebnis der polizeilichen Untersuchungen in der Unfallsache Felix Winter (Rohschrift des Protokolls zur Durchsicht an PK Claus Tauchmann, Leiter Ermittlungsdienst):

Um 11.15 Uhr des 7. Oktober beklagte sich Felix Winter bei seiner Klassenlehrerin über Schwindelgefühle und Übelkeit. Die Lehrerin, Sabine Rücker-Neufeld, entschied daraufhin, ihm die zwei letzten Unterrichtsstunden freizugeben. Eine Verständigung der Eltern (Handy, Sekretariat) zwecks Abholung lehnte Felix Winter mit der Begründung ab, er gehe lieber zu Fuß, die frische Luft werde ihm sicherlich guttun. Um 11.20 Uhr verließ er das Schulgelände.

Gegen 12.40 Uhr wurde Felix Winter von seiner Nachbarin Hildegard Heinsel erkannt, die ihm auf dem Weg zum Einkaufen entgegenkam. Der Junge habe auf sie einen abwesenden, sehr mit sich beschäftigten Eindruck gemacht. (Die Heinsel hat außerdem irgendwas erzählt bezüglich von ihr im Nahkauf nicht erstandener Eierteigwaren. Erschien mir unwesentlich, aber gehört das trotzdem ins Protokoll? Dann noch was mit Tigern und Löwen.)

[Re: Teigwaren können draußen bleiben. Das Viehzeug auch.]

Gegen 12.45 Uhr näherte Felix Winter sich seinem Zuhause in der Ulmenstraße 17, wo sein Vater damit beschäftigt war, auf der rechten Breitseite des Walmdachs eine fünf Meter lange Lichterkette anzubringen. Es war der elfte Geburtstag seines Sohnes, die mit bunten Glühbirnen ausgestattete Kette, ergänzt um zwei jeweils daran befestigte Einsen (LHB 70 × 610 × 410 mm; je 19 Glühbirnen in den Gehäusen, einfarbig hell) sollte Felix Winter, wenn er aus der Schule nach Hause kam, überraschen. Was sie dann ja auch tat.

[Re: Keine dramatischen Ausschmückungen. Außerdem Leuchtmittel, nicht Glühbirne!]

Die Lichterkette war unhandlich und schwieriger anzubringen als von André Winter vermutet. Die Einsen lagen unbefestigt rechter Hand von ihm auf dem abfallenden Walmdach. Wegen des Neigungswinkels Dachfirst/​Dachkante ist von oben der unmittelbar ans Haus angrenzende Gartenteil nicht einsehbar. Man muss davon ausgehen, dass Felix Winter seinen Vater schon von weitem auf dem Dach gesehen hatte und, beim Haus angekommen, am Fuß der Leiter stehend, diesen rufen oder ihn ansprechen wollte, eventuell sogar zu ihm hinaufzuklettern vorhatte, aber nicht mehr dazu kam.

[Re: Geht’s auch etwas weniger verschnörkelt? Wurde der Neigungswinkel vermessen?]

Laut André Winter kam eine Eins ins Rutschen, ohne dass er sie berührt hatte. Sehr langsam. Er sah sie über die Dachkante kippen und fallen. War dann erstaunt über das ausbleibende Krachen/​Zerbersten und ging davon aus, die Eins sei unbeschädigt im Gras gelandet. Gleichzeitig hörte er das ihm bekannte Motorengeräusch des roten SUV-Ford Explorer der Familie, in dem Melanie Winter, begleitet von ihrer Nachbarin Susanne Walser (also Beifahrerin), von Besorgungen aus der Stadt nach Hause kam. Das Dach über die Leiter verlassen konnte André Winter zu diesem Zeitpunkt nicht, da sogleich ebenfalls die andere Eins ins Rutschen geraten war, die er mit gestrecktem Arm festzuhalten versuchte, was ihm auch gelang.

[Re: Soeben gleichfalls]

Felix Winter wurde von der linken Längskante der Eins schräg oberhalb des rechten Ohrs hinter der Schläfe getroffen. Der Aufprall brachte ihm eine oberflächliche, aber reichlich blutende Platzwunde von gut drei Zentimetern Länge bei (Gewicht der Eins: 3700 Gramm). Dass er nicht schrie oder nach seinem Vater rief, dürfte lt. Notarzt dem durch den Aufprall/​Schlag hervorgerufenen Schock zuzuschreiben sein.

Ungeachtet seiner Verletzung bewegte Felix Winter sich ums Haus herum und an der Haustür vorbei auf die Garage zu, vermutlich, weil er das Motorengeräusch ebenfalls identifiziert, eventuell auch den Wagen erkannt hatte und zu seiner Mutter wollte. Melanie Winter nahm indessen schwungvoll die Einfahrt und steuerte auf die offen stehende Garage zu. Der Ford Explorer rammte ihren plötzlich auftauchenden Sohn an der linken Körperseite und schleuderte ihn zurück gegen die rechte Hauswand, wo er mit der bereits verletzten Schläfe gegen das Mauerwerk prallte (s. Anlage Fotos, Blutspuren). Felix Winter glitt an der Hauswand herab und blieb bewusstlos liegen. Die beiden Frauen verließen schreiend den Wagen. Der Vater kam hinzu und verständigte sofort den Notarzt. Diagnose vor Ort lautete auf schweres Schädel-Hirn-Trauma. Abtransport ins Unfallkrankenhaus zur Versorgung und weiteren Untersuchung erfolgte um 13.14 Uhr. Aktuell hat Felix Winter das Bewusstsein noch nicht wiedererlangt.

Das Koma, in das der Unfall Felix katapultierte, währte genau 263 schreckliche Tage. Und Nächte. André Winter, der Gott auf Knien dafür dankte, dass er ihm den Sohn zurückgegeben hatte, kam nie auf die Idee, diese Zahl genauer anzuschauen. Hätte er es getan, wären ihm möglicherweise zwei Dinge aufgefallen:

263 war eine Primzahl.

Es war außerdem exakt die Anzahl jener Tage, die seine Frau vor elf Jahren mit Felix schwanger gewesen war.

15. – 16. JULI

WACH AUF, WACH AUF,
WER IMMER DU BIST

Das Krankenzimmer besaß nur ein Fenster. Gerry Brückhausen stellte es eben auf Kippe, als unten im Hof ein gelber Ford Focus in einen der ausschließlich für Ärzte reservierten Parkplätze einscherte. Die Fahrertür schwang auf. Zwei schlanke Beine kamen zum Vorschein, die silbern verspiegelten Gläser einer Sonnenbrille blitzten auf, dunkelblonde lange Haare glänzten, und –

»Sie hat das geblümte Sommerkleid an!«, verkündete Gerry begeistert über die Schulter. »Weißt schon. Das blaue.«

Ehe er sich bremsen konnte, hatte er bereits gegen die Scheibe geklopft. Unbedacht. Er konnte nur hoffen, dass die schönste Frau der Welt da unten sein Winken hier oben rein beruflich interpretierte: Alles in Ordnung bei Ihrem Lieblingspatienten, Frau Doktor! Einen schönen Tag noch. Ach ja, und dieses Sommerkleid sollte in einem Krankenhaus nicht zugelassen sein. Es raubt jedem den Atem.

Laura Wickert blickte zu ihm herauf, ohne den Schritt zu verlangsamen. Sie lächelte automatisch, als sie den kahlköpfigen Krankenpfleger erkannte, und winkte knapp zurück, bevor sie durch den Eingang zur Notaufnahme ins Gebäude verschwand.

»O Gott, wenn sie wüsste, wie sehr ich auf sie abfahre.« Gerry wandte sich um. »Hab ich dir jemals erzählt, wie sehr ich auf sie abfahre, Schneewittchen? Auf deine hübsche Nachbarin aus der Ulmenstraße?«

Und haben wir, was das angeht, schon mal darüber geredet, wie ziemlich geistesgestört es ist, dass ich nur dir meine Geheimnisse anvertraue?

Er trat an das Bett, das einzige in diesem Zimmer, und betrachtete den darin liegenden kleinen Patienten. Der Körper des Jungen zeichnete sich nur schwach unter der dünnen Bettdecke ab. Stecken gleich lagen die Arme auf der Decke, die Hände und Finger traurig schmal. Manchmal zuckte eine Hand über das Laken – kein ungewöhnlicher Reflex, vielleicht eine Art traumverlorene Erinnerung des Körpers daran, dass er irgendwann Kontrolle über all seine Bewegungen gehabt hatte.

Wie er es ungezählte Male im Lauf der letzten Monate getan hatte, studierte Gerry das eingefallene Gesicht in dem weißen Kissen. Die rabenschwarzen Locken, aus denen die das EEG speisenden Drähte wie zusätzliche silberne Haare herauswuchsen. Die bleiche, fast gläserne Haut. Die unwirklich roten Lippen. Ewiger Schlaf.

Schneewittchen.

Keiner auf der Station wusste, wer damit angefangen hatte. Eigentlich peinlich unpassend für einen Jungen, hatte man im Aufenthaltsraum für das Pflegepersonal befunden. Aber dann auch wieder nicht, denn noch niemand hatte sich diesem Bild entziehen können, dem Schwarz und dem Weiß und dem Rot, gepaart mit dem totengleichen Schlaf. Und war es nicht ungerecht, dass in den Märchen stets nur die Mädchen klangvolle Namen hatten? Jungs kreuzten nur auf, um irgendein Dornröschen oder Rapunzel, ein Schneewittchen oder Aschenputtel aus irgendeinem Schlamassel zu befreien, blieben dabei selber aber namenlos. Okay, dafür waren sie häufig auch nicht bloß irgendwelche Jungs, sondern Prinzen.

Trotzdem, sie sind Prinzen ohne Namen.

»Weißt du, was ich mich schon als Kind immer gefragt habe?« Gerry schlug die Bettdecke zurück und überprüfte routiniert den Sitz und den Halt von Blasenkatheter und Magensonde. »Ich hab mich gefragt, warum so ein Prinz scharf auf eine Braut sein soll, die vorher blöd genug war, in einen vergifteten Apfel zu beißen. Oder die an eine tödliche Spindel gepackt hat, obwohl es ihr ausdrücklich verboten worden war. Ich meine, hallo? Was willst du mit so einer Braut?«

Halt einfach die Klappe, Gerry! Dieser Junge wird womöglich niemals eine Braut haben. Kein Dornröschen, keine Ärztin. Er wird womöglich nie von einem Mädchen träumen, nicht mal von einem namenlosen. Also, halt die Klappe. Du machst ihn bloß traurig.

Auch die Winters redeten mit ihrem Sohn. Sie kamen jeden Tag, häufig gemeinsam. Nach neun Monaten hatte ihre Besuchsdauer sich bei ungefähr einer halben Stunde eingependelt, während sie anfangs drei, vier Stunden bei ihrem Sohn gesessen hatten. Rechnete man die vier Stunden von damals gegen die halbe Stunde von heute auf, war den Eltern also, wenn man das so sagen durfte, ein Achtel Hoffnung verblieben. Die übrigen sieben Achtel waren Resignation, Ermüdung und Zermürbung zum Opfer gefallen. Und Angst. Es gab keine Rechnung ohne Angst.

Wenn die Eltern nicht redeten, hörten sie gemeinsam mit ihrem Sohn Musik. Eine kleine Soundbox stand auf dem Nachttisch, sie war gelegentlich eingeschaltet, auch wenn die Winters nicht zu Besuch waren, irgendein Radiosender oder Musik von einem Stick, größtenteils alte Hits der Neunziger, wie Gerry anfangs befremdet festgestellt hatte. Vermutlich hatten seine Eltern den Kleinen mit ihrer eigenen alten Lieblingsmucke angefixt, einer willkürlichen Mischung aus Pop- und Rocktiteln von Guns n’ Roses, Madonna und dem fürchterlichen Gejaule der Kelly Family. Letztere hatte Gerry als Kind ebenfalls geliebt, auch wenn er eher gestorben wäre, als das zuzugeben. Kelly Family war für Mädchen.

Er checkte mit einem gründlichen Blick die Monitore. Zu heftige Ausschläge der Vitalfunktionen in die eine wie die andere Richtung würden von den Intensivgeräten mit entsprechenden Alarmtönen signalisiert, aber er ging trotzdem gern auf Nummer sicher. Alles okay. Der Blutdruck des Jungen war gewohnt niedrig, das EEG zeigte die üblichen, typisch lang gezogenen Delta-Wellenlinien an. Traumloser Tiefschlaf. Hoffentlich nicht für immer.

»Streng dich an, Schneewittchen.« Gerry legte seine warme Hand auf die kühle Hand des Jungen. »Und mach keinen Scheiß, verstanden? Ich hau jetzt ab in die Mittagspause.«

Er ging zum Waschbecken und drehte den Hahn auf. Er hatte gerade auf den Seifenspender gedrückt und streckte die Hände unter das laufende Wasser, als er spürte, dass etwas sich veränderte, und zwar exakt –

Jetzt.

Sein Magen krampfte sich ruckartig zusammen. Fahrstuhl. Der Nacken wurde ihm warm, als drückte erhitzter Atem dagegen. Er suchte das leere Zimmer hinter sich im Spiegel nach Bewegung ab, blickte in seine erschreckten Augen, gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie die in warmem Goldbraun schwimmenden Pupillen zu winzigen Punkten zusammenschnurrten.

Er drehte sich ruckartig um und kniff die Augen zusammen.

Da war nichts.

Oder doch, da war …

Da wäre ein Lichtreflex gewesen, aus Richtung des Bettes, ein Aufblitzen, wo nichts war, das aufblitzen konnte. Hatte Felix die Augen geöffnet? Er hatte noch niemals, zu keiner Zeit die Augen geöffnet. Auch jetzt waren sie geschlossen. Zudem wäre jedwede Regung des Jungen von den Maschinen verraten worden, doch deren monotones Piepen hatte sich während der letzten Minute um keinen Deut geändert.

Gerry atmete tief ein und aus und befahl sich, nicht mehr zu zittern. Er wandte sich wieder um und wusch die Hände fertig, dann musterte er sich nachdenklich im Spiegel. Manche Leute bekamen von Anstrengung oder Übermüdung dunkle Ringe unter die Augen. Unter seinen Augen bildeten sich, bei derselben Beanspruchung, nicht dunkle, sondern helle Ringe. Er schüttelte seine Hände ab und kniff sich in beide Wangen, um etwas Farbe hineinzuzaubern. Gott bewahre, dass er mit diesem leichenblassen Gesicht Laura über den Weg lief.

Scheißschichtdienst.

Keine drei Fußminuten vom Krankenhaus entfernt lag der behäbig dahinströmende Fluss. Die schmale Straße dorthin querte die einspurigen Bahngleise und führte am alten Mühlengebäude vorbei zur hölzernen Obermühlsbrücke. Vor einigen Jahren war, im Rahmen einer Kunstaktion, Maschendraht entlang der Geländer befestigt worden, um das Anbringen von Liebesschlössern daran zu ermöglichen; einfache Vorhängeschlösser, eigentlich, auf die Pärchen ihre Namen gravieren ließen, um die Schlösser dann an der Brücke zu befestigen. Die romantischsten unter ihnen warfen die Schlüssel danach fort, manche direkt hinunter in den Fluss. Auf siebenundvierzig Schlösser kam Gerry im Vorübergehen. Magere Ausbeute. Bei seiner letzten Zählung, irgendwann im Frühjahr, waren es noch einundfünfzig gewesen. Bei vier Pärchen hatte es nicht für die Ewigkeit gereicht. Und überhaupt: zu wenig Liebe auf der Welt.

Laura und Gerry. Das wär mal was.

Breite Bohlen polterten leise unter seinen Schritten. Als Kind hatte er mit einem Freund bäuchlings auf dieser Brücke gelegen und kopfüber, mit an Stöcke gebundenen Magneten, unter dem Geländer hindurch, versucht, Alteisen aus dem Fluss zu angeln. Natürlich erfolglos, sah man von ein paar Kronenverschlüssen von Bierflaschen ab oder einer gelegentlichen rostigen Konservenbüchse. Jemand sollte nach Schlüsseln angeln, überlegte Gerry jetzt. Und nach den Schlössern.

Hinter der Brücke gabelte sich der Weg. Nach links knickte er ab zum Sportplatz und führte, kastanienbeschattet, daran vorbei, weiter in Richtung jenes kleinen Stadtteils – der einzige auf dieser Seite des Flusses –, in dem Schneewittchens unglückliche Eltern wohnten, plus, nicht zu vergessen, la belle dame vom geblümten Kleid. Folgte man dem Weg nach rechts, so gabelte er sich nach kaum fünfzig Metern erneut: Geradezu und abrupt bergan, vorbei an hinter blickdichten Hecken liegenden Wochenendgrundstücken und weitläufigen Pferdeweiden, ging es hinauf auf den bewaldeten Enzberg. Blieb man lieber im Tal und nahm die kleine asphaltierte Straße nach rechts, gelangte man schon bald in ein der Stadt vorgelagertes Auengebiet. Dort hatten Naturschützer den Fluss in sein gegabeltes, ursprüngliches Bett zurückgezwungen, auf einer riesigen Weide grasten Rinder, norwegische Ponys und ein gutes Dutzend Kamerunschafe.

Gerrys Ziel lag näher; unmittelbar hinter der Brücke, in einer kleinen Senke unterhalb des Weges, war eine Holzbank aufgestellt. Hier, im Schatten und Schutz eines großen Ahornbaums, saß fast nie jemand. Gerry nahm Platz, holte ein Sandwich aus seinem Rucksack, die Thermoskanne mit Tee – Minze – und atmete einmal tief durch. In einer knappen Stunde musste er zurück sein, noch diesen Freitagnachmittag sowie den Abend, dann war Wochenende. Das Wetter war grandios, bisher war der Sommer ein guter gewesen. Gerry begann zufrieden das Sandwich zu mümmeln und schaute über den Fluss. Das Wasser war kristallklar, seit zwei Wochen war kein Regen gefallen. Die Lahn war hier keine zehn Meter breit und kaum einen halben Meter tief, und das auch nur nach kräftigen Regenfällen. In trockenen Sommern zog sie sich so weit in ihr steiniges Bett zurück, dass man darüberspucken konnte. Genau das hatte er als Junge getan, auch hier hatte er mit Freunden gespielt, die Hosenbeine hochgekrempelt, war durchs Wasser gewatet, hatte mit zugespitzten Stöckchen nach Elritzen gezielt, wenn auch nie – wie auch, kein Mensch war so schnell – einen dieser flitzenden, flinken kleinen Fische getroffen. Und etwas weiter flussaufwärts … Gerry schaute automatisch nach links. Dicht belaubte Weiden behinderten die Sicht, und dennoch spürte er, wie seine Kopfhaut sich zusammenzog.

Die Nixengrube. Oben bei den Schwarzerlen, wo die Lahn breiter war, wilder und tiefer. Ein Hohlraum im Flussboden, eine geologische Verwerfung, angeblich, oder bloß ein Spalt im felsigen Untergrund. Drei, vier Meter tief, angeblich, und dunkler als Mitternacht. Tödlich, angeblich, wenn man so dumm war, die steile Böschung zum Flussufer hinabzuklettern und sich dem strudelnden Wasser auch nur auf zehn Schritt zu nähern, denn dann kam sie, schoss aus dem tuschefarbenen Wasser heraus und holte dich: das Flussweib, ein Halbwesen, eine Nixe mit spitzen Fangzähnen und schwarzen Schuppen, Schuppen scharf wie Skalpelle, die um ihr vor langer Zeit von Fischern getötetes Kind trauerte. Immer wieder holte sie deshalb ein fremdes Kind zu sich herunter in die wässrige Tiefe, und dort weinte sie schon bald über einem neuen Leichnam dunkle Tränen aus kalten Augen, und in stürmischen Nächten streckte sie den Kopf aus den Fluten und sang ihr scharrendes, klagendes Lied. Die Drohung, ins Erler Loch geworfen zu werden, wenn man einem elterlichen Gebot nicht gehorchte, hatte ganze Generationen von kleinen Jungen und Mädchen mit Angst erfüllt. Womöglich funktionierte die Geschichte noch heute. Gerry schüttelte sich. Bei ihm hatte sie funktioniert.

Er nahm einen letzten Schluck Tee, bevor er den Rucksack packte und durch den Sommer, diesen prächtigen Sommer, über die polternde Holzbrücke zurück zum Dienst ging. Später an diesem Tag fragte ihn ein Reporter der lokalen Zeitung nach dem ersten Gedanken, den er gehabt hatte, als er auf dem Gang vor der Intensivstation die weinende helle Kinderstimme hörte, die laut seinen Namen rief. Gerry antwortete dem Reporter, er könne sich daran nicht erinnern, im ersten Augenblick sei da nur Ungläubigkeit gewesen, dann rasende Freude. Doch das war eine Lüge.

Gerry Brückhausen hatte an die schwarze Nixe gedacht.

Bergwälder Landbote vom 16. Juli:

Ein Wunder in Bergwald

Weit über die Grenzen unserer Stadt hinaus nahmen unzählige Menschen Anteil am Schicksal des kleinen Felix Winter. Im vergangenen Oktober, an seinem elften Geburtstag, fiel Felix nach einem tragischen Unfall ins Koma. Jetzt ist er daraus überraschend erwacht. Laut der behandelnden Ärztin, Dr. Laura Wickert, gab es keinerlei Anzeichen dafür, dass sich am Zustand des Jungen so plötzlich etwas ändern würde. Der Fall sei ein Wunder, wenn auch momentan noch ein Wunder mit Einschränkung. »Offenbar verfügt Felix über keine Erinnerung an die Zeit vor dem Unfall oder an den Unfall selbst«, so die Ärztin. »Eine solche retrograde Amnesie ist nicht ungewöhnlich und sollte rasch abklingen. Felix dürfte schon bald wieder ein ganz normales Leben führen.« Die überglücklichen Eltern des Jungen eilten nach Erhalt der Nachricht sofort ins Krankenhaus. Ein ausführlicher Bericht sowie Interviews folgen in der morgigen Ausgabe des Landboten.

Es gab drei Menschen in Bergwald, die jenen ersten Zeitungsartikel besonders aufmerksam lasen, mehr als flüchtig, und mehr als nur einmal. Diese drei Menschen waren eine Frau, ein alter Mann und ein Kind. Sie wohnten in verschiedenen Teilen der Stadt. Das Kind kannte sowohl die Frau als auch den alten Mann. Die Frau kannte lediglich das Kind. Der alte Mann wiederum kannte keinen der beiden. Und doch hatten sich, teils mit, teils ohne ihr Wissen, die Lebenswege dieser drei Menschen bereits berührt. In den kommenden Wochen nun sollten sie sich unaufhaltsam und endgültig miteinander verschlingen. Denn jeder der drei kannte Felix Winter.

Sabine Rücker-Neufeld saß auf dem Balkon, auf dem Tisch vor sich ein kühles Glas Sekt, das zum Ritus gehörte, mit dem sie den Tag der Zeugnisvergabe abschloss und zugleich den Beginn der Sommerferien begrüßte. Wieder ein Schuljahr um, das fünfundzwanzigste in ihrem Beruf, ein Vierteljahrhundert, Grundgütiger. Fünfundzwanzig Jahre Schüler, Eltern, Schulverwaltung; ein permanentes, unmöglich zu befriedendes Kriegs- und Krisengebiet. Um darin als Lehrer zu überleben, so hatte ein Kollege es einmal formuliert, brauchtest du drei Dinge, genauer gesagt – ha, ha! – sogar vier: einen unbestechlichen Verstand, ein mitfühlendes Herz und Eier aus Stahl. Sosehr Sabine Rücker-Neufeld der bildhafte Rückgriff unter die Gürtellinie missfiel, so recht musste sie dem Kollegen heimlich geben. Ohne Weitsicht und Einfühlungsvermögen, gepaart mit einer guten Portion Durchsetzungskraft, war man in diesem Beruf, über kurz oder lang, zum Untergang verurteilt.

Es war später Mittag, die Sonne schien kräftig warm, aber die Luft war bewegt und frisch; Sabine trug eine dünne Strickjacke. Sie hatte mit ihrem Mann hier draußen angestoßen, bevor der sich seufzend auf den Weg zum Wochenendeinkauf gemacht hatte. Seitdem fiel ihr Blick, ob sie wollte oder nicht, immer wieder auf die aufgeschlagene Tageszeitung. Der kurze Bericht, dazu das Foto, das man beim Landboten