Die SPD wirbt mit »Das Wir entscheidet«, die CDU mit »Gemeinsam erfolgreich« – die Wahlplakate unterstreichen, wie politischer Wettbewerb heute meist aussieht: konsensorientiert und ohne klare Alternativen. Der Ansatz Chantal Mouffes zielt in die entgegengesetzte Richtung: Der agonistische Wettstreit der Ideen ist ein fundamentaler Bestandteil des Politischen. Daher plädiert Mouffe für einen radikalen Pluralismus: Wir müssen sicherstellen, dass unterschiedliche Modelle präsentiert und diskutiert werden können – und zwar auf der nationalen, der europäischen und der globalen Ebene. Was das konkret bedeutet und welche Lehren die Linke daraus ziehen muss, erläutert die Politikwissenschaftlerin im Nachfolgeband zu ihrem vielbeachteten Buch Über das Politische (es 2483).
Chantal Mouffe, geboren 1943 in Charleroi, lehrt Politische Theorie an der University of Westminster. Ihr gemeinsam mit dem argentinischen Politikwissenschaftler Ernesto Laclau verfasstes Buch Hegemonie und radikale Demokratie gilt als ein Grundlagentext des Postmarxismus.
Agonistik
Die Welt politisch denken
Aus dem Englischen von Richard Barth
Suhrkamp
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2014
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe der edition suhrkamp 2677.
© Suhrkamp Verlag Berlin 2014
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Umschlag gestaltet nach einem Konzept von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt
eISBN 978-3-518-73607-4
www.suhrkamp.de
Vorwort
Einführung
1. Was bedeutet »agonistische Politik«?
2. Welche Demokratie für eine multipolare, agonistische Welt?
3. Ein agonistischer Ansatz für die Zukunft Europas
4. Radikale Politik heute
5. Agonistische Politik und künstlerische Praktiken
6. Schlussfolgerungen
Anhang: Und jetzt, Frau Mouffe?
Chantal Mouffe im Gespräch mit Elke Wagner
7»Opposition is true friendship.«
William Blake, The Marriage of Heaven and Hell (1793)
»Der Feind ist unsere eigene Frage als Gestalt.«
Theodor Däubler, Hymne an Italien (1916)
Die in diesem Buch dargelegten Gedanken habe ich im Lauf der vergangenen Jahre an unterschiedlichen Orten diskutiert, und manches habe ich, wenn auch in anderer Form, bereits veröffentlicht. Da der Zweck dieser Interventionen darin bestand, meinen agonistischen Ansatz in unterschiedlichen Kontexten vorzustellen und seine Relevanz für neue Gebiete zu untersuchen, musste ich zu Beginn stets die Grundprinzipien der Agonistik darlegen, so dass ein gewisses Maß an Wiederholung unvermeidlich war. Bei der Überarbeitung der einzelnen Texte für diese Publikation habe ich diese Wiederholungen, sofern sie mir nicht für die Stringenz der Argumentation notwendig erschienen, so weit als möglich zu streichen versucht. Das bedeutet, dass die meisten Kapitel zwar auf die eine oder andere Weise aus öffentlichen Vorträgen oder Konferenzbeiträgen hervorgegangen, hier jedoch nicht in der ursprünglichen Form enthalten sind. Das letzte Kapitel habe ich eigens für dieses Buch geschrieben.
Zur leichteren Einordnung der in diesem Buch diskutierten Fragen in den größeren Kontext meiner Arbeit habe ich für alle, die mit meinem Ansatz noch nicht vertraut sind, am Ende des Buches ein Interview angefügt, das ich vor einigen Jahren gegeben habe und das ursprünglich in der 2007 von Suhrkamp veröffentlichten Anthologie Und jetzt? erschienen ist.[1] Indem es eine kurze Einführung in mehrere Themen gibt, mit denen ich mich im Lauf der Jahre auseinandergesetzt habe, wird dieses Interview, wie ich hoffe, zum leichteren Verständnis meiner derzeitigen Position beitragen.
10Ich danke dem Literaturverein Het beschrijf in Passa Porta, auf dessen Einladung ich im Mai 2012 einen Monat als Writer in Residence in Brüssel verbringen durfte, um in einer sehr angenehmen Umgebung die Endfassung dieses Manuskripts zu erstellen – was mir nebenbei die Gelegenheit gab, das Kunstenfestivaldesarts zu besuchen, das sich für meine Reflexionen über künstlerische Praktiken als außerordentlich anregend erwies.
1 Heinrich Geiselberger (Hg.), Und jetzt? Politik, Protest und Propaganda, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007, S. 105-127.
Die in diesem Band versammelten Essays untersuchen die Relevanz des von mir in meinen bisherigen Büchern ausgearbeiteten agonistischen Ansatzes für eine Reihe von Fragen, die ich für das linke Projekt als bedeutsam erachte. Jedes Kapitel widmet sich einem anderen Thema, doch mein Ziel ist dabei stets, mich dem Problem aus politischer Sicht zu nähern. Politisch zu denken erfordert, wie Ernesto Laclau und ich in Hegemonie und radikale Demokratie argumentiert haben, sich die ontologische Dimension der radikalen Negativität bewusst zu machen.[1] Aufgrund der Existenz einer Form von Negativität, die dialektisch nicht auflösbar ist, kann einhundertprozentige Objektivität niemals erreicht werden, und der Antagonismus ist eine stets präsente Gefahr. Die Gesellschaft ist von Kontingenz durchdrungen, und jede Ordnung ist hegemonialer Natur, das heißt, sie ist Ausdruck von Machtverhältnissen. Für den Bereich der Politik bedeutet das, dass wir die Suche nach einem Konsens ohne jede Exklusion einstellen und die Hoffnung auf eine ganz mit sich versöhnte und harmonische Gesellschaft fahrenlassen müssen. Folglich kann das emanzipatorische Ideal nicht im Sinne einer Verwirklichung irgendeiner Form von »Kommunismus« formuliert werden.
Die hier dargelegten Überlegungen orientieren sich an der Kritik des Rationalismus und des Universalismus, die ich entwickelt habe, seit ich in The Return of the Political ein Demokratiemodell auszuarbeiten begann, das ich als »agonistischen Pluralismus« bezeichne.[2] Um die Dimension der radikalen Negativität in die Sphäre des 12Politischen einzubeziehen, habe ich in jenem Buch zwischen dem »Politischen« und der »Politik« unterschieden. Während ich »das Politische« auf die ontologische Dimension des Antagonismus beziehe, bezeichne ich mit »Politik« das Ensemble von Praktiken und Institutionen, deren Ziel die Organisation der menschlichen Koexistenz ist. Diese Praktiken operieren jedoch stets auf einem konflikthaften Terrain, das vom »Politischen« geprägt ist.
Die Kernthese des »agonistischen Pluralismus« habe ich später in Das demokratische Paradox weiter ausgeführt.[3] In diesem Buch habe ich argumentiert, eine zentrale Aufgabe demokratischer Politik bestehe darin, für Institutionen zu sorgen, die die Möglichkeit eröffnen, dass Konflikte eine »agonistische« Form annehmen, bei der die Opponenten nicht Gegner sind, sondern Kontrahenten, zwischen denen ein konflikthafter Konsens besteht. Mithilfe dieses agonistischen Modells wollte ich aufzeigen, dass eine demokratische Ordnung selbst dann vorstellbar ist, wenn man von der These der Unauslöschlichkeit des Antagonismus ausgeht.
Nichtsdestotrotz ist es wahr, dass politische Theorien, die diese These bejahen, letztlich als einzigen Weg, den Ausbruch eines Bürgerkriegs zu verhindern, in der Regel eine autoritäre Ordnung verteidigen. Daher meinen die meisten Politikwissenschaftler, die sich der Demokratie verschrieben haben, sie müssten sich für die Möglichkeit einer rationalen Lösung für politische Konflikte einsetzen. Ich dagegen argumentiere, dass die autoritäre Lösung keine notwendige logische Konsequenz eines solchen ontologischen Postulats ist und dass die Unter13scheidung zwischen »Antagonismus« und »Agonismus« die Entwicklung eines Demokratiemodells ermöglicht, das die Existenz radikaler Negativität nicht leugnet.
Als ich im Lauf der vergangenen Jahre über weltweite politische Entwicklungen nachgedacht habe, hat sich mir die Frage aufgedrängt, welche Konsequenzen mein Ansatz für die internationalen Beziehungen haben könnte. Was bedeutet die These, dass jede Ordnung hegemonialer Natur ist, auf der internationalen Ebene? Heißt das, dass es zur derzeitigen unipolaren Welt und allen damit einhergehenden negativen Folgen keine Alternative gibt? Von der Illusion einer kosmopolitischen Welt jenseits von Hegemonie und Souveränität müssen wir uns ohne Zweifel verabschieden. Doch ist das nicht die einzig denkbare Lösung, denn es ist auch eine andere vorstellbar: eine Pluralisierung der Hegemonien. Meines Erachtens könnte ein multipolarer Ansatz, der auf Beziehungen zwischen regionalen Polen auf Augenhöhe setzt, ein Schritt hin zu einer agonistischen Ordnung sein, in der Konflikte zwar nicht aus der Welt geschafft, aber mit geringerer Wahrscheinlichkeit eine antagonistische Form annehmen würden.
Ein weiterer Aspekt meiner Überlegungen betrifft die Konsequenzen, die sich aus dem hegemonialen Ansatz für radikale Projekte ergeben, deren Ziel eine andere gesellschaftliche und politische Ordnung ist. Wie kann man eine solche neue Ordnung herbeiführen? Welche Strategie sollte man dabei verfolgen?
Vom traditionellen revolutionären Ansatz hat man sich weitgehend verabschiedet, er wird jedoch zusehends durch einen anderen ersetzt, der, wenn auch auf ande14re Weise, unter der Bezeichnung »Exodus« viele Mängel des Ersteren reproduziert. In diesem Buch wende ich mich gegen die kompromisslose Ablehnung der repräsentativen Demokratie durch jene, die eine Strategie der Abkehr von politischen Institutionen befürworten, anstatt eine Umgestaltung des Staates durch einen agonistischen Kampf um die Hegemonie anzustreben. Ihr Glaube an die Realisierbarkeit einer »absoluten Demokratie«, in der die Multitude in der Lage sein soll, sich selbst zu organisieren, ohne dass es eines Staates oder politischer Institutionen bedürfte, zeugt von einem mangelnden Verständnis dessen, was ich als »das Politische« bezeichne.
Sicherlich, die Verfechter dieser Position stellen die These der zunehmenden Homogenisierung des »Volkes« unter der Kategorie des »Proletariats« infrage und betonen stattdessen die Vielfalt der »Multitude«. Die Existenz radikaler Negativität zur Kenntnis zu nehmen impliziert jedoch nicht nur anzuerkennen, dass das Volk mannigfaltig, sondern auch, dass es gespalten ist. Diese Gespaltenheit kann nicht überwunden, sie kann nur auf unterschiedliche Weise institutionalisiert werden, wobei manche Formen egalitärer sind als andere. Meinem Ansatz zufolge besteht radikale Politik aus einer Vielzahl von Schritten auf einer Vielfalt institutioneller Terrains, die der Konstruktion einer neuen Hegemonie dienen. Es ist ein »Stellungskrieg«, dessen Ziel nicht der Aufbau einer Gesellschaft jenseits von Hegemonie, sondern der Prozess der Radikalisierung der Demokratie ist – der Aufbau demokratischerer, egalitärerer Institutionen.
Und noch einem weiteren Thema habe ich, haupt15sächlich aufgrund zahlreicher Einladungen durch Kunsthochschulen, Museen und Biennalen, in den vergangenen Jahren besondere Aufmerksamkeit geschenkt: Kann ein agonistischer Ansatz Künstlern dabei helfen, den Charakter ihrer Interventionen im öffentlichen Raum theoretisch zu fassen? Welche Rolle können artistische und kulturelle Praktiken im Rahmen des Ringens um die Hegemonie spielen? Im derzeitigen postfordistischen Stadium des Kapitalismus kommt dem kulturellen Terrain eine strategische Position zu, weil die Produktion von Affekten eine immer wichtigere Rolle spielt. Da es für den Prozess der kapitalistischen Verwertung von entscheidender Bedeutung ist, sollte dieses Terrain ein zentraler Ort für Interventionen durch gegenhegemoniale Praktiken sein.
Um auf diese sehr unterschiedlichen Themen eingehen zu können, ist dieses Buch wie folgt gegliedert. Das erste Kapitel rekapituliert in groben Zügen den agonistischen Ansatz, den ich im Lauf der Jahre in einer Reihe von Büchern ausgearbeitet habe. Zugleich grenzt es meinen Zugang von anderen agonistischen Theorien ab. Um die antagonistische Dimension zu betonen, die die Sphäre des Politischen kennzeichnet, gilt mein Augenmerk insbesondere der Unterscheidung zwischen ethischen und politischen Zugängen sowie der Notwendigkeit, dass agonistische Theorien den Zusammenhang zwischen Agonismus und Antagonismus zur Kenntnis nehmen, anstatt die Realisierbarkeit eines »Agonismus ohne Antagonismus« zu postulieren.
Nachdem ich meine theoretische Problematik dargelegt habe, wende ich mich in den darauffolgenden Ka16piteln einer Reihe unterschiedlicher Themen zu: einem agonistischen Ansatz für die internationalen Beziehungen, Integrationsmodellen für die Europäische Union, unterschiedlichen Sichtweisen radikaler Politik und schließlich dem Verhältnis zwischen Politik und kulturellen sowie künstlerischen Praktiken. Im zweiten Kapitel setze ich mich mit einigen Fragen auseinander, die das Konzept einer multipolaren Welt aufwirft. Ein Thema aufgreifend, das ich bereits in Über das Politische behandelt habe, wo ich verschiedene kosmopolitische Projekte kritisiert und mich für eine multipolare Welt ausgesprochen habe, untersuche ich nunmehr, welche Implikationen es mit sich bringt, die Welt als ein Pluriversum zu sehen. Dabei weise ich die Position zurück, Demokratisierung setze Verwestlichung voraus, und verteidige die These, dass das demokratische Ideal in verschiedenen Kontexten unterschiedlich umgesetzt werden kann.
Einige Leser werden möglicherweise überrascht sein von meiner Kritik an der Art und Weise, wie Soziologen und Politologen das Wort »modern« benutzen, um westliche Institutionen zu beschreiben. Habe ich nicht selbst das westliche Modell wiederholt als »moderne Demokratie« charakterisiert? Tatsächlich habe ich das in jüngeren Schriften nicht mehr getan und vermeide es jetzt, von »moderner Demokratie« zu sprechen. Mir ist bewusst geworden, dass ich damit meiner Behauptung vom kontextualistischen Charakter der liberalen Demokratie widerspreche, wonach diese kein fortgeschrittenes Stadium in der Entwicklung der Rationalität oder Moralität darstellt.
Meiner festen Überzeugung nach wird es für links17gerichtete Intellektuelle höchste Zeit, sich eines pluralistischen Ansatzes zu bedienen und jene Spielart des Universalismus zurückzuweisen, die die rationale und moralische Überlegenheit der westlichen Moderne postuliert. Gerade jetzt, da der Arabische Frühling in mehreren Ländern des Nahen Ostens die Frage auf die politische Tagesordnung gesetzt hat, wie der Aufbau einer Demokratie vonstattengehen kann, kommt diesem Punkt aus meiner Sicht größte Bedeutung zu. Es wäre ein höchst verhängnisvoller Fehler, diese Länder zur Übernahme des westlichen Modells zu drängen und damit die Augen davor zu verschließen, welche zentrale Rolle dem Islam in ihrer Kultur zukommt.
Die Europäische Union ist das Thema des dritten Kapitels, in dem ich die Relevanz des agonistischen Ansatzes für die denkbaren Formen der europäischen Integration untersuche. Dabei setze ich mich dafür ein, die EU im Sinne einer »Demoi-kratie« zu verstehen, die aus einer Vielzahl unterschiedlicher Demoi zusammengesetzt ist, die je eigene Räume für die praktische Ausgestaltung der Demokratie bieten. Außerdem analysiere ich die Ursachen der zunehmenden Entfremdung vom europäischen Projekt und betone, wie wichtig die Entwicklung einer neuen Vision ist, die eine Alternative zur neoliberalen Politik darstellt, von der die aktuelle Krise ausgelöst worden ist.
Das vierte Kapitel widmet sich der Gegenüberstellung zweier Modelle radikaler Politik. In erster Linie richtet sich dabei meine Argumentation gegen die von der italienischen Autonomia-Bewegung inspirierte und von postoperaistischen Theoretikern wie Michael Hardt, Antonio 18Negri und Paolo Virno theoretisch ausgearbeitete Strategie des »Rückzugs aus«. Diese Theoretiker fordern den Exodus aus dem Staat und aus traditionellen politischen Institutionen sowie die Abkehr von der repräsentativen Demokratie. Ich befürworte demgegenüber eine Strategie der »Auseinandersetzung mit«. Eine solche Strategie umfasst eine Vielzahl von gegenhegemonialen Schritten, die nicht auf Desertion, sondern auf eine grundlegende Umgestaltung der bestehenden Institutionen abzielen. Das Problem bei jener Form von radikaler Politik, wie sie die Exodus-Theoretiker vertreten (so das Ergebnis meiner Untersuchung des jeweiligen theoretischen Unterbaus, auf dem diese beiden entgegengesetzten Strategien beruhen), liegt in ihrem mangelhaften Verständnis des Politischen. Deutlich zeigt sich das in ihrer Weigerung, die unauslöschliche Dimension des Antagonismus zu akzeptieren.
Im letzten Kapitel wende ich mich dem Thema der kulturellen und künstlerischen Praktiken zu und beteilige mich an der laufenden Diskussion über die Auswirkungen des postfordistischen Kapitalismus auf den kulturellen und künstlerischen Bereich. Einigen Denkern zufolge ist die Kommodifizierung so weit fortgeschritten, dass es keinen Raum mehr gebe, in dem Künstler eine kritische Rolle spielen könnten. Andere widersprechen dieser pessimistischen Diagnose und beharren darauf, dass eine solche Möglichkeit noch immer bestehe, allerdings nur außerhalb der Welt der Kunst.
Meiner Meinung nach können kulturelle und künstlerische Praktiken durchaus eine kritische Rolle wahrnehmen, indem sie agonistische öffentliche Räume schaffen, in 19denen gegenhegemoniale Initiativen gegen die neoliberale Hegemonie gestartet werden können. Im Rückgriff auf Antonio Gramsci betone ich, welche entscheidende Funktion dem Bereich des Kulturellen bei der Herstellung eines »Common Sense« zukommt und wie notwendig künstlerische Interventionen sind, um die postpolitische Sichtweise infrage zu stellen, die gegenwärtige Ordnung sei alternativlos. Dazu stelle ich meine Sichtweise einmal mehr der der postoperaistischen Theoretiker gegenüber, mit denen ich mich auch schon im dritten Kapitel befasst habe. Diesmal liegt das Augenmerk allerdings auf ihrer Interpretation des Übergangs vom Fordismus zum Postfordismus und der Rolle, die kulturelle Praktiken bei diesem Übergang spielen.
Im letzten Kapitel schließlich untersuche ich im Lichte der beiden bereits erwähnten Modelle radikaler Politik, des postoperaistischen und des agonistischen, die Protestbewegungen der jüngsten Zeit. Ich bin der Auffassung, dass diese Bewegungen als Reaktion auf den Mangel an agonistischer Politik in liberalen Demokratien begriffen werden sollten und dass sie nicht die Abkehr von liberalen demokratischen Institutionen fordern, sondern deren Radikalisierung.
Dieses Buch enthält mehrere theoretisch-politische Interventionen in Bereichen, in denen es meines Erachtens notwendig ist, etablierte linke Positionen zu hinterfragen. Es zielt darauf ab, unter all jenen, deren Ziel die Infragestellung der derzeitigen neoliberalen Ordnung ist, eine agonistische Debatte in Gang zu bringen.
1 Ernesto Laclau/Chantal Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien: Passagen Verlag 1991 [1985].
2 Chantal Mouffe, The Return of the Political, London/New York: Verso 1993.
3 Chantal Mouffe, Das demokratische Paradox, Wien: Turia + Kant 2008 [2000].
Im Lauf der vergangenen Jahre haben agonistische Ansätze in der Politikwissenschaft zunehmend an Einfluss gewonnen. Allerdings gibt es diese Ansätze in einer Vielzahl von Ausrichtungen, was immer wieder für Verwirrung sorgt. Da dieses Buch die Relevanz meines Verständnisses von Agonistik für unterschiedliche Bereiche ergründen soll, ist es notwendig zu klären, was genau meinen Ansatz kennzeichnet und wie er sich von anderen agonistischen Theorien unterscheidet. Daher möchte ich zunächst die Eckpunkte des theoretischen Modells rekapitulieren, das meinen Betrachtungen über das Politische zugrunde liegt, so wie ich es in Hegemonie und radikale Demokratie gemeinsam mit Ernesto Laclau ausgearbeitet habe.[1]
Um das Wesen des Politischen zu erfassen, so die von uns in jenem Buch vertretene These, sind zwei zentrale Begriffe unerlässlich, »Antagonismus« und »Hegemonie«. Beide verweisen darauf, wie wichtig es ist, sich die Dimension der radikalen Negativität vor Augen zu führen, die sich in der omnipräsenten Möglichkeit des Antagonismus manifestiert. Diese Dimension behindert unserer Argumentation zufolge die vollständige Totalisierung der Gesellschaft und steht der Möglichkeit einer Gesellschaft jenseits von Spaltungen und Machtkämpfen entgegen. Dies wiederum macht es notwendig, sich mit dem Fehlen eines letzten Urgrundes abzufinden und mit der Unentscheidbarkeit, von der jede Ordnung durchdrungen ist. In unseren Begriffen macht es dies erforderlich, sich die »hegemoniale« Natur jedweder ge22sellschaftlichen Ordnung bewusst zu machen und sich die Gesellschaft als Produkt einer Reihe von Praktiken vorzustellen, die darauf abzielen, in einem Umfeld der Kontingenz eine Ordnung zu schaffen. Unter »hegemonialen Praktiken« verstehen wir die Artikulationspraktiken, durch die eine gegebene Ordnung geschaffen und die Bedeutung der gesellschaftlichen Institutionen festgelegt wird. Dieser Sichtweise zufolge ist jede Ordnung die temporäre und gefährdete Artikulation kontingenter Praktiken. Die Dinge könnten immer auch anders liegen, und jede Ordnung basiert auf dem Ausschluss anderer Möglichkeiten. Jede Ordnung ist immer auch Ausdruck einer bestimmten Konstellation von Machtverhältnissen. Was zu einem bestimmten Zeitpunkt als die »natürliche« Ordnung akzeptiert wird, einschließlich dessen, was als gesunder Menschenverstand gilt, ist das Ergebnis sedimentärer hegemonialer Praktiken. Es ist niemals die Manifestation einer tieferen Objektivität, die außerhalb der Praktiken liegt, die sie ins Leben gerufen haben. Jede Ordnung kann daher durch antihegemoniale Praktiken infrage gestellt werden, die versuchen, sie zu re-artikulieren und eine andere Form der Hegemonie zu installieren.
In The Return of the Political, Das demokratische Paradox und Über das Politische habe ich diese Reflexionen über »das Politische«, im Sinne der antagonistischen Dimension, die allen menschlichen Gesellschaften inhärent ist, weiter ausgearbeitet.[2] Zu diesem Zweck habe ich vorgeschlagen, zwischen »dem Politischen« und »der Politik« zu unterscheiden. »Das Politische« bezieht sich auf die Dimension des Antagonismus, der viele Formen annehmen und in unterschiedlichen sozialen Bezie23hungen zutage treten kann. Es ist eine Dimension, die sich niemals gänzlich eliminieren lässt. »Politik« verweist demgegenüber auf das Ensemble von Praktiken, Diskursen und Institutionen, das eine bestimmte Ordnung zu etablieren und das menschliche Zusammenleben unter Bedingungen zu organisieren versucht, die von der Dimension des »Politischen« beeinflusst und deshalb immerzu potenziell konfliktträchtig sind.
Wie ich in meinen Schriften wiederholt betont habe, sind politische Fragen nicht einfach nur fachspezifische, von Experten zu lösende Probleme. Echte politische Fragen schließen immer Entscheidungen ein, die eine Wahl zwischen gegensätzlichen Alternativen erfordern. Diese Tatsache kann die vorherrschende Strömung im liberalen Denken, die von einem rationalistischen, individualistischen Ansatz geprägt ist, nicht erfassen, und darum ist der Liberalismus unfähig, ein adäquates Modell der pluralistischen Natur der sozialen Welt, einschließlich der mit dem Pluralismus verbundenen Konflikte, zu entwickeln. Dabei handelt es sich um Konflikte, für die es niemals eine rationale Lösung geben kann, und daraus ergibt sich die Dimension des Antagonismus, die menschliche Gesellschaften charakterisiert.
Das typische Verständnis von Pluralismus lautet wie folgt: Wir leben in einer Welt, in der es wahrlich viele Perspektiven und Werte gibt, aber aufgrund empirischer Einschränkungen ist es uns unmöglich, sie alle einzunehmen. Zusammen genommen könnten sie jedoch ein harmonisches, konfliktfreies Ensemble bilden. Wie ich gezeigt habe, muss eine solche Sichtweise, wie sie in der liberalen politischen Theorie dominiert, das Politische 24in seiner antagonistischen Dimension negieren. In der Tat gehört zu den wichtigsten Grundsätzen dieser Spielart des Liberalismus der rationale Glaube an die Möglichkeit, einen universellen, vernunftbasierten Konsens herzustellen. Insofern nimmt es nicht wunder, dass das Politische den blinden Fleck des Liberalismus darstellt. Indem er den unentrinnbaren Augenblick der Entscheidung – im engen Sinn des Entscheidenmüssens in einem unentscheidbaren Terrain – ins Blickfeld rückt, zeigt der Antagonismus die Grenzen eines rationalen Konsenses auf.
Die Leugnung des »Politischen« in seiner antagonistischen Dimension, so meine These, ist das, was es der liberalen Theorie verunmöglicht, ein adäquates politisches Modell zu entwickeln. Man kann das Politische in seiner antagonistischen Dimension nicht zum Verschwinden bringen, indem man es einfach leugnet oder wegwünscht. Das ist die typisch liberale Geste, doch diese Leugnung hat lediglich jene Ohnmacht zur Folge, die das liberale Denken charakterisiert, wenn es mit Antagonismen und Gewaltformen konfrontiert ist, die der liberalen Theorie zufolge einer längst vergangenen Zeit angehören, als die Vernunft noch nicht die Oberhand über die vermeintlich archaischen Leidenschaften gewonnen hatte. Hierin liegt die Wurzel der derzeitigen Unfähigkeit des Liberalismus, das Wesen und die Ursache der neuen Antagonismen zu begreifen, die seit dem Kalten Krieg aufgebrochen sind.
Ein weiterer Grund für die Blindheit des liberalen Denkens im Hinblick auf das Politische ist der Individualismus, der es daran hindert, den Entstehungsprozess kollektiver Identitäten zu verstehen. Das Politische hat 25jedoch von Anfang an mit kollektiven Formen der Identifikation zu tun, geht es in diesem Bereich doch stets um die Ausbildung eines »Wir« im Gegensatz zu einem »Sie«. Das Hauptproblem des liberalen Rationalismus ist dabei seine gesellschaftliche Logik, die auf der essentialistischen Vorstellung des »Seins als Präsenz« beruht, sowie seine Auffassung, Objektivität sei etwas den Dingen wesenhaft Eingeschriebenes. Er vermag nicht zu erkennen, dass Identität nur möglich ist, wenn sie als Differenz konstruiert wird, und dass jede gesellschaftliche Objektivität durch Akte der Macht konstituiert ist. Er weigert sich einzugestehen, dass letztlich jede Form der gesellschaftlichen Objektivität eine politische ist und die Spuren der Akte der Exklusion tragen muss, die mit ihrer Konstituierung einhergehen.
In mehreren Büchern habe ich zur Verdeutlichung dieser These die Vorstellung eines »konstitutiven Außen« verwendet. Da ihr in meiner Argumentation eine zentrale Rolle zukommt, ist es meines Erachtens notwendig, sie hier noch einmal zu erläutern.
Erstmals wurde dieser Begriff von Henry Staten gebraucht, der damit eine Reihe von Vorstellungen bezeichnet, die Jacques Derrida anhand von Begriffen wie »supplément«, »trace« und »différance« entwickelt hat.[3] Staten wollte damit die Tatsache herausstellen, dass die Ausbildung einer Identität stets mit der Festlegung einer Differenz einhergeht. Bei Derrida ist dieser Gedanke natürlich auf einer sehr abstrakten Ebene angesiedelt und bezeichnet jegliche Form von Objektivität. Mein Interesse erstreckt sich dagegen darauf, in den Vordergrund zu rücken, was dieser Gedanke für das Feld der Poli26tik bedeutet, und aufzuzeigen, inwiefern er für die Konstitution politischer Identitäten relevant ist. Wenn wir uns bewusst machen, dass Identitäten immer relational sind und die Affirmation einer Differenz – das heißt der Wahrnehmung von etwas »Anderem« als Konstitution des »Außen« – eine Vorbedingung für die Existenz jedweder Identität darstellt, so können wir meiner Ansicht nach verstehen, weshalb es in der Politik, deren Gegenstand stets kollektive Identitäten sind, um die Konstitution eines »Wir« geht, das als Vorbedingung für seine Existenz die Abgrenzung von einem »Sie« voraussetzt.
Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass eine solche Beziehung notwendigerweise agonistisch sein muss. Tatsächlich sind viele Wir/Sie-Beziehungen lediglich eine Frage der Anerkennung von Unterschieden. Es bedeutet jedoch, dass immer die Möglichkeit besteht, dass diese Wir/Sie-Beziehung in eine Freund/Feind-Beziehung umschlägt. Dies geschieht, wenn wir anfangen, den Anderen, die uns bis dato lediglich als anders galten, zu unterstellen, sie stellten unsere Identität infrage und bedrohten unsere Existenz. Von diesem Augenblick an, darauf hat Carl Schmitt hingewiesen, wird jede Form der Wir/Sie-Beziehung – sei sie religiöser, ethnischer oder wirtschaftlicher Natur – zum Austragungsort eines Antagonismus.
Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass eben das, was die Ausbildung politischer Identitäten ermöglicht, zugleich die Unmöglichkeit einer Gesellschaft bedingt, in der der Antagonismus eliminiert werden kann.
Vor diesem Hintergrund der allgegenwärtigen Möglichkeit des Antagonismus habe ich ein Demokratiemodell ausgearbeitet, das ich als »agonistisch« bezeichne. Ursprünglich war meine Intention eine »metaphorische Neudefinition« der liberalen demokratischen Institutionen – eine Neudefinition, die einfangen konnte, was in der pluralistischen demokratischen Politik auf dem Spiel steht. Um das Wesen demokratischer Politik und die Herausforderungen zu verstehen, vor denen sie steht, so meine Argumentation, bedarf es einer Alternative zu den beiden dominierenden Ansätzen in der demokratischen politischen Theorie.
Dem einen Ansatz, dem aggregativen Modell, zufolge ist das, was politische Akteure antreibt, die Durchsetzung ihrer Interessen. Der andere Ansatz, das deliberative Modell, betont demgegenüber die Rolle der Vernunft und moralischer Überlegungen. Was beide Modelle ausblenden, ist die zentrale Bedeutung kollektiver Identitäten sowie die entscheidende Rolle, die Affekte bei deren Konstitution spielen.
Ich behaupte, dass man demokratische Politik unmöglich verstehen kann, ohne »Leidenschaften« als treibende Kraft auf dem Feld der Politik zur Kenntnis zu nehmen. Das agonistische Modell zielt auf all jene Fragen ab, die von den beiden anderen Modellen aufgrund ihrer rationalistischen, individualistischen Ausrichtung nicht sinnvoll beantwortet werden können.
Lassen Sie mich kurz meine Argumentation aus Das demokratische Paradox rekapitulieren. Wenn wir die 28Dimension des »Politischen« zur Kenntnis nehmen, so beginnen wir zu erkennen, dass eine der größten Herausforderungen, die eine pluralistische, liberale, demokratische Politik bewältigen muss, in dem Versuch besteht, den potenziellen Antagonismus zu entschärfen, der menschlichen Beziehungen innewohnt. Die entscheidende Frage ist meiner Ansicht nach nicht, wie man einen Konsens ohne jede Exklusion herstellen kann, würde das doch die Konstruktion eines »Wir« ohne ein korrespondierendes »Ihr« erfordern. Das jedoch ist unmöglich, da die Konstitution eines »Wir«, wie soeben erläutert, stets die Abgrenzung von einem »Ihr« voraussetzt.