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Inhalt

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Titel

Das Zimmermädchen

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

Impressum

Kurzbeschreibung

Autorenporträt

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Das Zimmermädchen

1

Sie hat die Tür geöffnet und den letzten Schritt getan. Bleibt noch mal stehen, dreht sich um, eine Bö bläst Haare ins Gesicht. Das Gebäude liegt erdrückend dort, obwohl seine Front aus Glas ist. So viel Glas, hat Lynn gedacht, vor sechs Monaten, als sie das Gebäude zum ersten Mal sah, so viel Glas und diese aufgeklebten Vogelsilhouetten: Warum nicht Mauer, Stein, Beton? Oder Gitter? Die Bushaltestelle liegt nicht weit entfernt. Ein Taxi wäre um einiges zu teuer. Und jetzt? Sie kennt das Ziel und kennt es nicht. Weiß, was zu tun ist, und weiß es nicht. Folgt dem Weg, der vorgegeben ist. Den Rucksack lässt sie auf den Schultern, muss sich an der Haltestelle auf die Kante der Bank setzen, weil sonst der Platz im Rücken nicht reicht. Sie schaut auf ihre Turnschuhe, verfranst, sie hebt den Blick, an der Haltestelle warten Menschen, die sie nicht kennt. Einer nuckelt ab und zu an einer Zigarette. Ein anderer geht im Wiegetritt auf und ab. Alte Frau studiert Fahrplan im Glaskasten und nutzt Finger als Lesehilfe. An Bushaltestellen hat Lynn gern ihr Spiel gespielt: Was wäre, wenn? Hat sich vorgestellt: Was wäre, wenn keiner mich wahrnähme? Die Menschen sähen nicht an mir vorbei, sie sähen durch mich hindurch. Als existierte ich nicht. Das wäre ebenso schön wie schauerlich. Wenn niemand mich sieht, bin ich zu nichts mehr verpflichtet, wenn niemand mich sieht, gehe ich auf in einer Lösung aus Ruhe und lebe wie unter Wasser. Doch wenn niemand mich sieht, bin ich auch nichts mehr, niemand mehr, nur noch Geist, nein, kein Geist, nur noch Stück Luft, das nicht mal mehr wehen kann, auf immer zum Stillstand verdonnert.

Als der Bus kommt, steht sie auf, ihr Rucksack schrammt an der Wand des Häuschens entlang, kaum hörbares Geräusch. In Bussen immer dieser Gestank von Erbrochenem. Das steckt in den Sitzen drin. Das lässt sich nicht rauskriegen. Der Bus beschleunigt, eine Landstraße, die Kurve legt sich auf Lynns Magen. Rechts vor ihr liest jemand Zeitung. Jede Minute blättert er um, indem er die Hände vor der Nase zusammenführt. Ohne Zeitung sähe das aus wie eine gymnastische Übung. So schnell, denkt Lynn, kann er gar nicht lesen. Lynn hat seit Jahren keine Zeitung mehr angefasst, ihr Ekel vor Druckerschwärze ist zu groß. Sie wird allmählich unruhig, als der Bus sich der Stadt nähert. Ein Mann, vier Reihen vor ihr, trinkt aus einer Büchse Bier und macht plötzlich ohne Grund ein Victory-Zeichen. Aber Lynn schafft es nicht, sich abzulenken. Es nähert sich der Punkt in der Zeit, da sie aufstehen und den Bus verlassen und vom Busbahnhof über die Straße gehen und noch einmal abbiegen und die Haustür aufschließen und die Treppe hochsteigen, die Wohnungstür öffnen und ihre Wohnung betreten muss, in der sie sechs Monate lang nicht gewesen ist. Es wird dunkel sein in der Wohnung. Dunkel und kalt. Die Rollläden werden geschlossen sein. Das war Lynns Schlusstat gewesen vorm Verlassen: Rollläden schließen. Es wird müffeln in der Wohnung. Es wird nach Staub riechen. Nach vertrockneten Pflanzen. Lynn wird niesen müssen. Vielleicht wird ein totes Insekt auf der Fensterbank liegen.

Der Bus biegt in die Remigiusstraße, fährt an der Kirche vorbei. Jeden Sonntag der Sturm der Glockenschläge. Jetzt bremst der Bus, ächzt, Lynn ist aufgestanden und zur Tür gegangen, der Bus knickt seitlich in die Knie, während die Türen aufschmatzen, Lynn ist draußen, die Sonne leuchtet wie ein Spot genau dorthin, wo Lynn steht, der Rest liegt im Schatten der Bäume. Lynn geht gleich los, beobachtet aus den Augenwinkeln ein kleines Mädchen, das in kreuzförmig angelegte Kästchen einen Stein wirft, einbeinig hinhopst und den Stein vom Boden klaubt. Dem Mädchen fallen lange, schwarze Haare ins Gesicht. Dann Hausnummer 7, Treppenstufen, Schlüssel, erste Etage, zweite, dritte, vierte, unterm Dach ihre Tür, Lynn öffnet, und alles ist so, wie sie es sich vorgestellt hat. Aber Lynn zögert nicht. Es wird eine Seite in ihr wach, die sie gut kennt und die sie mag. Lynn ratscht Rollläden hoch, öffnet Fenster, lässt Luft herein und putzt, arbeitet ohne Pause, saugt, wischt, moppt, geht in die Knie, liegt auf dem Boden, steckt Wedel in Ecken, steigt auf Stühle, wischt hohe Oberflächen, quietscht Fensterleder übers Glas, bringt schaumiges Wasser aus dem Bad ins Wohnzimmer und dreckiges zurück, schleppt Müllsäcke mit toten Pflanzen runter, stopft sie in Tonnen, geht zur Telefonzelle, ruft Pizzadienst an, vertilgt hungrig die Pizza, lässt sich in den Sessel fallen, zündet Zigarette an, pafft, betrachtet vom Sessel aus ihr Werk.

Lynn hält die neue Ruhe nicht lange aus, sie muss weiter tun, es gibt noch unendlich viel, sie weiß genau, dass sich nichts geändert hat seit ihrem Klinikaufenthalt, sie weiß genau, wie wichtig es ist, eine Aufgabe zu haben und dass sie Gefahr läuft, einen Rückfall zu erleiden, wenn sie nichts tut, wenn sie nur rumhängt, wenn die Fülle Freizeit sie zum Nachdenken und das Nachdenken sie zum Gefühl der Sinnlosigkeit und das Gefühl der Sinnlosigkeit sie zur Suche nach dem Reiz und die Suche nach dem Reiz sie zum Verbotenen treibt, so lange, bis sie nicht mehr anders kann, als loszuziehen und das Verbotene zu tun. Sie muss weiter ins Handeln flüchten, verlässt die Wohnung, die Treppe runter, ihre Turnschuhe hat sie nicht ausgezogen während des Putzens, die Hitze der Füße wird unangenehm, Lynn geht schnell. Die Welt draußen, hat Lynn gedacht, als sie gestern noch in der Klinik saß und aus dem Fenster blickte, die Welt draußen, wenn sie mich wiederhat, ob sie mich einsaugt und verschluckt, so, wie sie es immer getan hat? Ob sich was ändert? Oder ob alles so weitergeht wie vor dem halben Jahr? Ein halbes Jahr? Als ob das Jahr in der Mitte durchtrennt wird, denkt Lynn. Mit einem Hackbeil. Halbes Schwein, halbes Jahr. Blutet beides, wenn man’s trennt. Blutet auch in mir, wenn ich dran denke, ans halbe Jahr, man hat alles falsch verstanden, man hat vor allem mich falsch verstanden, als Patient bin ich nur wandelnde Akte, man hört mir nicht zu, es kommt alles daher, dass man mir nicht zuhört, und sage ich etwas, das nicht zu den Akten passt, heißt es gleich, Sie wollen es nicht wahrhaben, Sie wollen es verdrängen, Sie wollen sich nicht stellen, Sie müssen den Blick schärfen, das ist nichts Schlimmes, das kriegen wir geheilt, das hat einen Namen, Sie müssen’s zugeben, dazu stehen, es annehmen, und ich sage, da gibt’s nichts anzunehmen, das ist alles anders, als Sie denken, doch sie nicken nur bedächtig und machen eine Notiz, wahrscheinlich: Widerstand. Aber ich hab ihn aufgegeben, den Widerstand, keinen Zweck, dem zu widerstehen, was man in mir sehen will, Widerstand bröckelt, bricht, Widerstand verliert Stand, steht nicht mehr, kommt zum Erliegen, hat sich gelegt, Widerstand liegt.

Jetzt die Kontoauszüge. Lynn steht in der Bank, zückt die Karte, schiebt sie ein, 1006,56 Soll. Nichts mehr abhebbar. Keine Arbeit mehr, kein Geld mehr, Mutter will sie nicht fragen, denn die zahlt schon die Miete. Trotzdem zur Telefonzelle.

»Bin wieder zu Hause.«

»Schön, dass du anrufst«, sagt Mutter.

»Ja.«

»Wie geht’s, ich meine, was …«

»Gut, geht gut.«

»Brauchst du was?«

»Nein, nichts.«

»Besuchst du mich mal?«

»Ist ne lange Strecke, keine Ahnung, muss mich erst wieder eingewöhnen, Arbeit suchen.«

»Brauchst du Geld?«

»Nein, nein.«

»Kommst du klar?«

»Und du? Alles in Ordnung?«

»Mir geht’s gut so weit.«

»Der Garten?«

»Ja, das fängt jetzt an.«

»Hör zu, ich muss auflegen, hab kein Kleingeld mehr.«

»Was ist mit dem Telefon?«

»Das geht bald wieder.«

»Du kannst ruhig sagen, wenn …«

»Nein, ist gleich zu Ende, Mutter. Meld mich am Donnerstag.«

»Mach’s noch.«

»Mach’s noch.«

Immer dieses Mach’s noch, denkt Lynn und legt auf. Was soll das Mach’s noch? Mach’s gut, müsste es heißen, Mutter sagt immer nur Mach’s noch, und Lynn auch, aber nur zur Mutter.

Und jetzt? Lynn könnte die nächsten Tage versuchen, was alle versuchen, könnte ihren Zeitungsekel überwinden und Zeitungen wälzen, könnte mit Fingerkuppe Stellenanzeigen entlangfahren, könnte Telefonnummern rausschreiben und von der Telefonzelle aus mit ihren Restkröten die Nummern wählen, könnte sich Absagen einhandeln, könnte im Internetcafé surfen, könnte das Arbeitsamt aufsuchen, könnte Aushänge machen an den Schwarzen Brettern der Stadt, könnte bei der Jobvermittlung vorbeigehen, könnte dieses oder jenes tun, aber sie weiß, dass es nur Zappeln wäre, sie weiß, dass sie nur eine einzige Chance hat: Früher oder später wird sie bei Heinz enden, sie wird Heinz aufsuchen müssen, es ist unausweichlich, es lässt sich nicht umgehen, denkt Lynn. Ihr Entschluss steht fest. Sie zerquetscht die Zigarette.

Lynn weiß genau, was er will. Sie weiß genau, wie er funktioniert. Springt auf gewisse Sprache an, nur diese paar Worte, die sich mit seiner Phantasie decken. Ist nicht allzu schwer. 1748 Schritte sind zu setzen. Sie ist den Weg zigmal gegangen. Heinz wird zu Hause sein, er wird nichts zu tun haben, er wird sich ausruhen vom Geschäftskrieg, er wird vorm Fernseher sitzen, er wird ihr die Tür aufmachen, so viel ist sicher. Ihre Schritte fallen kürzer aus. Deswegen sind es mehr als sonst. Jeder Tag ist Verkürzung der Zeit, jeder Schritt Verkürzung des Wegs. Noch ist das Licht nicht ganz vom Himmel verschwunden, noch bleibt ein Dämmer, der alles bedeckt, noch kann nicht von Dunkelheit gesprochen werden, noch sind Leute auf dem Weg, unterwegs, unterm Weg. Aber es ist kalt, der Sonne fehlt Kraft. Die letzte Krümmung, einmal noch über die Schulter schauen, um das Fahrzeugnähern abzuschätzen, einmal die Straße überqueren und nicht unter Räder kommen, einmal Laterne, dann schon sein Haus. Es steht einzeln und allein, kein Reihenhaus, Lynn klingelt, das Licht im Flur knipst sich an, Heinz öffnet.

»Du?«

»Ich.«

Hör zu, es ist vorbei, will er sagen, sie weiß, es ist schon lange vorbei, ich will nichts von dir, wird sie sagen, nicht das, was du denkst, das ich will. Sie lässt ihn nicht zu Wort kommen, sie drängt ihn in die Wohnung, in den Flur, sie weiß genau, was sie tun muss, sie weiß genau, was er hören will, sie verwandelt sich in seine Phantasien, und gegen seine eigenen Phantasien ist jeder Mensch machtlos. Gelingt es, die Phantasien zu knacken, dann knackt man den Menschen, und niemand kennt Heinz’ Phantasien besser als sie, Lynn Zapatek. Wenn man eine Blume so schnell zum Wachsen brächte, denkt sie, wie das Halma-Männlein zwischen meinen Lippen. Lynn weiß, dass sie danach schnell verschwinden muss, sie darf ihn nicht mit ihrer Gegenwart belasten, sie muss dafür sorgen, dass sie nur Flüchtigkeit bleibt, Erinnerung, Traum, sie ist schon an der Tür und sagt ihm, du weißt, wo du mich finden kannst, und dann ist sie draußen, sie wartet nicht ab, ob er noch was sagt und was er sagt, sie denkt, ich hab alles richtig gemacht, ich hab ihm gegeben, was er haben will, Verfügbarkeit ist das, was er wünscht, er wird sich schon melden, da bin ich mir sicher.

Zu Hause steht Lynn lange im Bad. Vor Spiegeln kommt sie nie zu sich. Hat Spiegel schon immer gehasst. Wenn sie vor Spiegeln steht, sieht sie nie sich selbst. Sieht nur große Augen, glatte Haut, Haare, die zurückgebunden sind, volle Lippen, Schultern und ein paar Muttermale. Wer ist das?, denkt sie, verlässt das Bad und kramt aus der Handtasche ihren Ausweis. Linda Maria Zapatek, liest sie, 1975 geboren, eins fünfundsechzig groß, Haarfarbe braun, Augenfarbe grün. Das, denkt sie, bin ich?