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Eine nette kleine Erpressung, ein großzügiges Honorar und angenehme Arbeitsbedingungen – der Auftrag, den Graf Joseph zu Schwelm-Legden zu vergeben hat, hört sich nach einem Traum für jeden Privatdetektiv an.

Aber schon bald nachdem Georg Wilsberg seine Ermittlungen aufgenommen hat, taucht die berühmte Leiche im Keller des Schlosses auf und Wilsberg muss um sein Leben fürchten.

Jürgen Kehrer

 

 

 

Wilsberg und die Schloss-Vandalen

 

 

 

Kriminalroman

 

 

 

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E-Book © 2013 by GRAFIT Verlag GmbH

Printausgabe © 2000 by GRAFIT Verlag GmbH

Chemnitzer Str. 31, D-44139 Dortmund

www.grafit.de, info@grafit.de

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagzeichnung: Peter Bucker

eISBN 978-3-89425-896-2

Der Autor

 

 

Jürgen Kehrer wurde 1956 in Essen geboren. 1974 von der Zentralen Vergabestelle für Studienplätze nach Münster geschickt, fand er das Leben in dieser Stadt bald so angenehm, dass er noch heute dort wohnt.

1990 erschien sein erster Kriminalroman Und die Toten lässt man ruhen. Damit nahm die beeindruckende Karriere des sympathischen, unter chronischem Geldmangel leidenden, münsterschen Privatdetektivs Georg Wilsberg ihren Anfang. Bis heute sind siebzehn weitere Wilsberg-Romane erschienen. 1995 wurde Wilsberg für das Fernsehen entdeckt und ermittelt seitdem auch regelmäßig in der Samstagabendkrimireihe im ZDF.

Neben den Wilsberg-Krimis schreibt Jürgen Kehrer historische und in der Gegenwart angesiedelte Kriminalromane, Drehbücher fürs Fernsehen und Sachbücher.

www.juergen-kehrer.de

 

 

 

 

 

... ein grün umhegtes Haus, brütend wie ein Wasserdrach ...

Annette von Droste-Hülshoff

 

 

 

 

Dies ist ein Roman. Ähnlichkeiten mit real existierenden Wasserschlössern sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

I

 

 

Koslowski lag blutleer auf dem Seziertisch in der Pathologie. Ich konnte das Loch sehen, das die Kugel in seine Stirn gebohrt hatte. Unfähig, mich zu bewegen, stand ich am Fußende des Tisches. Dabei wusste ich genau, was jetzt kam, Koslowski hatte mich schon in etlichen Träumen damit gequält: Mein ehemaliger Partner richtete sich langsam auf und guckte mich vorwurfsvoll an.

An dieser Stelle pflegte ich gewöhnlich aufzuwachen, schweißgebadet und voller Panik. Koslowski war vor zwei Jahren ermordet worden, doch sein Mörder lief immer noch frei herum. Derjenige, den die Polizei damals der Tat verdächtigte, musste nach zwei Wochen aus der Untersuchungshaft entlassen werden, die Beweise hatten für eine Anklageerhebung nicht ausgereicht.

Ich nahm an, dass die Träume, die mich seit einiger Zeit überfielen, meinen eigenen Schuldgefühlen zuzuschreiben waren. Die Polizei hatte den Mord auf die lange Bank der ungeklärten Fälle geschoben. Wer, wenn nicht ich, hatte die verdammte Pflicht, sich um die Sache zu kümmern? Aber ich hatte keine Ahnung, wie und wo ich anfangen sollte.

Als ich diesmal aufwachte, war es schlimmer als sonst. Meine linke Brusthälfte durchzuckte ein stechender Schmerz, der linke Arm war fast taub.

Der Anfang eines Herzinfarkts, dachte ich, du bist reif!

Quatsch!, widersprach mein Verstand. Du bist ein Hypochonder, Wilsberg. Stell dich nicht so an!

Mein Verstand hatte schon mal überzeugender geklungen.

Ich tastete mit der Hand nach dem Herzschlag. Er dröhnte so unrhythmisch wie eine münsterländische Schützenkapelle. Mit zitternden Beinen stampfte ich zum Fenster. Eine lasche Herbstsonne lugte in den Garten. Ich riss das Fenster auf und sog die kühle Luft ein.

Die Schmerzen ließen nach. Ich wischte mir den kalten Schweiß von der Stirn und konzentrierte mich darauf, tief ein- und auszuatmen. Allmählich fühlte ich mich besser.

Das war also noch nicht das Ende.

 

»Ihr Herz ist in Ordnung«, sagte Doktor Sommer. »Das EKG zeigt, dass keine Schädigung vorliegt. Wir könnten natürlich eine 24-Stunden-Messung machen, aber ich glaube nicht, dass das notwendig ist.« Er sandte mir ein beruhigendes, ärztliches Lächeln über den großen Schreibtisch. »Das, was Sie beschreiben, deutet auf ein Stresssymptom hin. So etwas kommt vor. Sie sollten es ein paar Tage ruhiger angehen lassen, möglichst wenig Kaffee trinken und auch übermäßigen Alkoholgenuss vermeiden.«

Ich erzählte ihm nichts von Koslowski und auch nicht, dass ich seit einigen Jahren trocken war.

»Wann haben Sie das letzte Mal Urlaub gemacht?«

Ich dachte nach.

»Sehen Sie! Sie sollten mal ausspannen, zwei Wochen am Meer oder in den Bergen verbringen. Reizklima ist gut für die Entspannung.«

Er kam um den Schreibtisch herum und streckte mir seine breite Hand entgegen.

Ich stand ebenfalls auf. »Danke. Ich werde darüber nachdenken.«

Ich hätte ihm sagen können, dass mir mein Kontostand jegliches Reizklima verbot. Aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass er das nicht hören wollte.

Und dann stand ich auf dem nostalgisch gepflasterten Platz in der Telgter Innenstadt – soweit man bei Telgte von einer Innenstadt sprechen konnte – und blinzelte in die kräftiger gewordene Sonne. Ich überlegte, wie ich die nächsten Stunden stressfrei verbringen sollte. Ein Besuch in einem Telgter Café fiel aus, zumindest bis zum Mittag wollte ich auf meinen geliebten Cappuccino verzichten.

Also konnte ich genauso gut nach Hause fahren, ins Büro gehen und nicht die Kontoauszüge betrachten und mir keine Gedanken darüber machen, dass bald ein Klient auftauchen musste, damit endlich wieder Geld in die Kasse des Detektivbüros Wilsberg & Partner kam.

Ein guter Anfang, wie ich fand.

 

Die Detektei nahm die vordere Hälfte meiner im münsterschen Kreuzviertel gelegenen Wohnung ein. Wilsberg & Partner hieß sie übrigens, weil ich sie zusammen mit Koslowski gegründet hatte. Nach Koslowskis Tod hatte ich den Namen einfach beibehalten, obwohl ich von da an alleine arbeitete. Abgesehen von einer studentischen Aushilfskraft, die ich gelegentlich für einfache Routineaufgaben einsetzte.

Die studentische Aushilfskraft saß an meinem Schreibtisch, als ich das Büro betrat.

»Hallo, Franka!«, sagte ich.

Franka schaute mich böse an. »Glaubst du, ich bin deine Sekretärin, oder was?«

»Nie würde ich so etwas annehmen.«

»Wieso schreibst du dann nicht auf, wo du bist und wann du zurückkommst? Ich hab was Besseres zu tun, als hier rumzuhängen und auf dich zu warten.«

Ich konnte mich nicht erinnern, mit Franka verabredet gewesen zu sein.

»Waren wir auch nicht«, antwortete sie auf meine entsprechende Frage. »Ich muss mit dir reden.«

»Warum hast du mich nicht angerufen?«

»Und was ist das?« Sie hob mein Handy hoch, das auf dem Schreibtisch gelegen hatte.

»Das muss ich wohl vergessen haben.«

»Musst du wohl.«

Ich setzte mich auf den Besucherstuhl. Er war etwas niedriger als der schwarzlederne Chefsessel auf der anderen Seite des Schreibtisches. Außerdem besaß er eine leicht nach unten geneigte Sitzfläche, was dazu führte, dass die auf ihm Sitzenden ständig nach vorne rutschten. Nach den Gesetzen der Kommunikationslehre sollte das dazu führen, dass sich potenzielle Auftraggeber verunsichert fühlten und sich meinen Honorarforderungen gegenüber aufgeschlossener zeigten. Blanke Theorie, wie sich erwiesen hatte.

Tatsache aber war, dass ich im Moment zu Franka aufblicken musste, was mir überhaupt nicht gefiel.

»Ich habe keinen Bock mehr«, sagte sie gerade. »Der Job geht mir fürchterlich auf den Geist. Den ganzen Tag Kartons schleppen und in Dosen abgefüllte Tierleichen in Regale packen. Ich will nicht mehr, verstehst du?«

»Gibt's nicht auch Gemüse?«

»Was?«

»Ich mein ja nur.«

»Gemüse nennst du das? Dieses bis zur Geschmacklosigkeit kastrierte Zeug, das in einer widerwärtigen, mit Chemikalien vollgepumpten Tunke schwimmt? Bah!« Franka kam in Fahrt. »Davon abgesehen, habe ich null, absolut nichts herausgefunden. In meiner Gegenwart hat niemand auch nur einen Lutscher oder eine Packung Erdnüsse geklaut. Und meine lieben Kolleginnen und Kollegen behandeln mich, als hätte ich eine ansteckende Krankheit. Anscheinend haben die noch nie jemanden gesehen, der ein bisschen Farbe in den Haaren hat.«

Franka hatte eine Menge Farbe, rote, blaue und grüne, in den wild nach allen Seiten abstehenden Haaren. Und sie arbeitete an dem einzigen Fall, der die Detektei zurzeit beschäftigte. Eine Supermarkt-Kette hatte uns engagiert, weil in einer münsterschen Filiale ein überdurchschnittlicher Prozentsatz an Waren verschwand. Entweder, folgerte der Personalchef, klaute das Personal selbst oder ein Teil der Beschäftigten gestattete externen Komplizen Fischzüge durch den Laden. Unsere Aufgabe bestand darin, den oder die Schuldigen unter dem Personal ausfindig zu machen. Der Supermarkt-Kette kam es dabei weniger auf den materiellen Schaden an, vielmehr wollte sie ein Exempel statuieren. Eine fristlose Kündigung sprach sich im gesamten Konzern herum und disziplinierte auch diejenigen, die selbst mit dem Gedanken spielten, das Eigentumsrecht nicht so eng auszulegen. So war Franka zu ihrem Job als Regalauffüllerin gekommen.

»Na ja ...«, begann ich.

»Was soll das heißen, Georg?«, unterbrach mich Franka.

»Das soll heißen, dass wir es uns nicht leisten können, einen Auftrag abzulehnen.«

»Wir?«, fragte sie böse. »Warum machst du den Job nicht selbst?«

»Ich bitte dich!«, protestierte ich. »Du bist eingearbeitet, deine Kollegen kennen dich. Noch sind sie vorsichtig, aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie dich für ungefährlich halten und wieder mit den Klauereien anfangen. Wenn du noch ein, zwei Wochen weitermachst ...«

»Höchstens drei Tage.«

»Eine Woche«, schlug ich vor. »Falls du bis dahin nichts erreicht hast, gehen wir zum Personalchef und erklären ihm die Sache. Nebenbei verdienst du ja nicht schlecht.«

»Wo wir gerade vom Geld reden«, hakte Franka unerbittlich nach. »Meinen Lohn vom Supermarkt kriege ich erst Ende des Monats. Was ist mit der Prämie, die du mir versprochen hast?«

»Nun ...«

»Sag nicht, dass du ein Problem hast!«

»Deine Prämie resultiert quasi aus dem Honorar, das wir der Supermarkt-Kette in Rechnung stellen. Es ist also dringend notwendig ...«

Franka bedachte mich mit einem vernichtenden Blick. »Warum bin ich nur so gutmütig?«

»Weil du möchtest, dass die Detektei weiterlebt. Weil du eine geborene Detektivin bist. Und weil du, trotz deiner ganzen Meckerei, freundschaftliche Gefühle für mich empfindest.«

Das saß. Sie war gerührt.

»Übrigens, während deiner Abwesenheit hat jemand angerufen.« Sie las den Namen von dem vor ihr liegenden Notizblock ab. »Graf Joseph zu Schwelm-Legden. Joseph mit ph, hat er ausdrücklich betont. Die Rechtschreibreform scheint am deutschen Adel vorbeigegangen zu sein.«

»Die idiotische Rechtschreibreform gilt sowieso nicht für Eigennamen«, belehrte ich sie. »Und gewöhnliche Sterbliche schreiben Josef seit Jahrhunderten mit f.«

»Wie auch immer, er erwartet deinen Besuch.«

»Graf Joseph zu Schwelm-Legden«, wiederholte ich skeptisch. »Klingt nach einem Hochstapler oder Heiratsschwindler. Hat er gesagt, was er von mir will?«

»Nein. Nur, dass du zu seinem Schloss kommen sollst.«

»Schloss?«, staunte ich.

»Ja. Was ist daran Besonderes? Ich habe in der Schule gelernt, dass es im Münsterland rund achtzig Wasserburgen und -schlösser gibt. Das Münsterland ist sozusagen berühmt für seine Wasserschlösser. Und in vielen von ihnen hausen noch Grafen, Fürsten und Freiherren, die auf eine Ahnenreihe zurückblicken können, die bis zum Hofstaat Karls des Großen reicht.«

Ich erinnerte mich an Sonntagsausflüge mit meiner damaligen Ehefrau Imke und meiner Tochter Sarah, bei denen wir Burg Vischering und Schloss Nordkirchen besichtigt hatten.

Franka sagte: »Wenn du mich fragst, wäre es ziemlich viel Aufwand für einen Hochstapler, ein ganzes Schloss anzumieten, um einen mittellosen Detektiv anzulocken. Und Graf Joseph wäre auch der erste Heiratsschwindler, der es auf eine schwule Ehe abgesehen hat.«

»Ist ja schon gut«, stoppte ich ihre Sticheleien. »Was hat der Graf nun genau gesagt?«

»Er bat mich, ihn mit dem Chef der Detektei zu verbinden. Ich sagte, mein Chef sei gerade dienstlich unterwegs.« Sie schnitt eine Grimasse. »Daraufhin dachte er kurz nach und formulierte, ich zitiere, wie folgt: Sagen Sie Ihrem Chef: Falls er an einem lukrativen Auftrag interessiert sei, möge er doch bitte leichtes Reisegepäck mitbringen. Der Auftrag wird vermutlich mehrere Tage in Anspruch nehmen. Ach ja, dann erwähnte er noch, dass du in seinem Schloss wohnen kannst.«

»In seinem Schloss?« Der Auftrag begann mich tatsächlich zu interessieren.

»Warum kriegst du eigentlich immer die Sahnejobs und ich die miesen? Können wir nicht tauschen? Du füllst Regale auf und ich fahre zum Schloss.«

»Kommt überhaupt nicht in Frage«, grinste ich. »Der Graf erwartet einen kompetenten, erfahrenen, mit Lebensweisheit ausgestatteten Privatdetektiv.«

»Das ist frauenfeindlich und diskriminierend«, maulte Franka. »Ich hasse dich.«

»Wie heißt eigentlich das Schloss?«, lenkte ich ab.

»Schloss Disselburg bei Disselburg. Jede Wette, dass den Schwelm-Legdens früher nicht nur das Schloss, sondern auch der Ort gehörte.«

»Und wo liegt das?«

»Im Kreis Borken, in der Nähe der holländischen Grenze.«

Kreis Borken, der westlichste und abgelegenste der münsterländischen Landkreise, fast schon Niederrhein. Ich holte eine Landkarte aus der Schublade und wir suchten gemeinsam. Disselburg lag auf einem Landzipfel, der sich in holländisches Territorium hineinschob, ungefähr hundert Kilometer von Münster entfernt.

Eine gemütliche Fahrt durchs Münsterland und ein paar Tage in einem Schloss kamen dem stressfreien Programm, das mir Doktor Sommer empfohlen hatte, vermutlich recht nahe. Und nebenbei verdiente ich auch noch Geld.

»Tja, dann packe ich mal meine Reisetasche.«

Ich ging vom Büro in die Wohnung, warf das, was von der sauberen Unterwäsche noch übrig war, und einen reichlich gefüllten Arzneibeutel in die Tasche und überlegte, was man in Adelskreisen für schick hielt. Andererseits war die Auswahl nicht sehr groß. Die Anzüge aus meiner Zeit als praktizierender Jurist waren nicht nur hoffnungslos veraltet, sondern passten mir auch nicht mehr. Seit jenen, längst vergangenen Jahren hatte mein Bauchumfang leider erheblich zugenommen.

Schließlich entschied ich mich für eine fast neue Jeans und mein bestes Sakko, das ich im vorletzten Winterschlussverkauf erstanden hatte. Falls es zu festlichen Aktivitäten kommen sollte, konnte ich nur hoffen, dass es in Disselburg einen Smoking-Verleih gab.

Nachdem ich mit Franka verabredet hatte, dass wir uns gegenseitig auf dem Laufenden hielten, eilte ich leichtfüßig davon, begleitet von ihren neidischen Blicken.

Die Herzattacke hatte ich schon fast vergessen.

II

 

 

Ich nahm die Autobahn bis Dülmen und zockelte dann über eine Landstraße Richtung Westen durch Merfeld und den Merfelder Bruch, in dem sich die angeblich letzten Wildpferde Europas tummeln.

Wildpferde sah ich keine, nur weiße Kühe und jede Menge Maisfelder, die den Blick auf die flache münsterländische Landschaft verstellten.

Bei Sandbeck kam ich auf eine neu gebaute Bundesstraße, die mich um Borken herumführte, und hinter Bocholt tauchten die Hinweisschilder nach Disselburg auf. Das Schloss lag ein paar Kilometer außerhalb der Stadt. Schon von Weitem sah ich die graugrünen Turmspitzen in der Sonne glänzen. Ich stellte den Wagen auf dem Besucherparkplatz ab und schlenderte über einen Kiesweg zur Behausung von Graf Joseph zu Schwelm-Legden.

Disselburg war ein Wasserschloss, ein doppelter Ring von Wassergräben umgab die rotbraunen Schlossmauern. Große, weiß gerahmte Fenster lockerten die Fassaden auf und mit bunten Blumen bewachsene Inseln, auf denen ich Statuen und Putten entdeckte, erstreckten sich zwischen den Kanälen. Das Ganze war umgeben von einer weitläufigen Parklandschaft, in der uralte Bäume ihre mächtigen Kronen erhoben.

Über eine holländisch anmutende Zugbrücke erreichte ich die erste bebaute Insel, die durch einen schmalen Wasserlauf vom eigentlichen Schloss getrennt war. Die drei Flügel des zwei Stockwerke hohen Gebäudes entsprachen dem Baustil des Schlosses, fielen allerdings etwas niedriger und schlichter aus. Was früher vermutlich die Kammern der vielköpfigen Dienerschaft beherbergt hatte, gab sich jetzt als Schlosshotel Disselburg zu erkennen.

Eine kleine, mit Steinlöwen verzierte Brücke führte mich zum barocken Schlossportal. Es wurde wahrscheinlich nur geöffnet, wenn Königin Beatrix mal vorbeischaute, gewöhnliche Sterbliche mussten die links davon gelegene, aus dem mittleren zwanzigsten Jahrhundert stammende Weißlacktür benutzen. Über und neben der Tür hingen Schilder mit der Aufschrift Museum und einer Preisliste, Graf Joseph hatte also nichts gegen zahlende Besucher.

Dem Mann an der Kasse erklärte ich, dass ich nicht zahlen wolle, weil mich der Graf erwartete. Es folgte ein kurzes Telefongespräch, in dem der Graf oder der Hofmarschall seine Einwilligung gab, dann bekam ich einen Grundriss des Schlosses durch den Kassenschlitz geschoben, und ein Kugelschreiber markierte die Stelle, an der ich um Einlass begehren sollte.

Die gräfliche Familie bewohnte den gesamten Nordflügel des Schlosses. Nachdem ich den gepflasterten Innenhof und eine antike Hofküche durchquert hatte, musste ich mich von einer Videokamera begutachten lassen, bevor sich eine Stahltür summend öffnete und ich in einem nüchternen weißen Flur stand.

Auch wenn ich mir bis dahin noch keine Gedanken über das Arbeitszimmer eines Grafen gemacht hatte, so erwartete ich doch ein nach Geschichte riechendes Ensemble aus dunkler Eiche und roten Plüschsesseln. Und war dementsprechend überrascht, als ich in ein helles, mit modernen Designermöbeln ausgestattetes Büro gelangte. Nicht einmal PC und Drucker fehlten auf der Arbeitsplatte, hinter der sich ein etwa fünfzigjähriger Mann aus einem grauen Ledersessel erhob.

»Schön, dass Sie gekommen sind, Herr Wilsberg«, sagte Graf Joseph zu Schwelm-Legden. Er trug eine beige Kordhose und ein Tweedsakko im Schottenstil. Landadel eben.

Ich stellte die Reisetasche ab. »Ihr Angebot klang verlockend, Herr ...«

»Graf oder Schwelm-Legden, wie Sie wollen.« Seine Stimme war dünn und hoch.

Inzwischen stand er vor mir und schüttelte meine Hand. Mit seinen grauen Schläfen, der Nickelbrille und den wulstigen Lippen hätte er in einem deutschen Fernsehfilm die Rolle eines kauzigen, aber nicht unsympathischen Staatsanwalts besetzen können.

»Ich sehe, Sie haben Ihr Gepäck gleich mitgebracht. Sehr gut. Das Hotel auf der Vorburg wird Ihnen gefallen. Es hat vier Sterne und die Restaurantküche ist auch sehr ordentlich.«

»Vielleicht sollten wir vorher ein paar Dinge klären«, schlug ich vor.

»Ach ja, natürlich.« Er lachte kurz und glockenhell wie ein Wiener Sängerknabe. »Sie wissen ja gar nicht, worum es geht. In unserer kleinen Welt verliert man leicht die Maßstäbe. Hier in der Gegend zerreißen sich die Leute das Maul darüber, aber im fernen Münster ...«

Ich wartete auf eine Erklärung, die vorläufig ausblieb.

»Kommen Sie, ich zeige Ihnen das Schloss. Dabei erzähle ich Ihnen alles.«

Ohne meine Antwort abzuwarten, eilte er voraus. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen.

Beim Reden unterstrich er seine Worte mit schwungvollen Armbewegungen. »Das Schloss ist seit einigen Jahrhunderten im Besitz unserer Familie, genauer gesagt, seit dem Dreißigjährigen Krieg. Eigentlich stammen die Grafen zu Schwelm aus dem Süddeutschen, der größte Teil meiner Verwandtschaft lebt noch dort. Einer meiner Vorfahren war während des Krieges Obrist in der kaiserlichen Armee ...«

»Sie meinen den Dreißigjährigen Krieg?«, vergewisserte ich mich.

»Selbstverständlich. Er war nördlich von Münster stationiert, um die Angriffe der Schweden abzuwehren. Anscheinend hat er sich recht tapfer geschlagen, denn der Fürstbischof von Münster hat ihm zum Dank das Amt Legden geschenkt. Deshalb Schwelm-Legden, verstehen Sie. Und irgendwie«, der Graf stieß sein überraschendes Lachen aus, »hat er sich dieses kleine Schloss unter den Nagel gerissen, mit nicht ganz sauberen Methoden, wie aus den alten Urkunden zu entnehmen ist. Das heißt, damals war es noch kein Schloss, sondern eine Burg. Zum Schloss ist es erst im achtzehnten Jahrhundert umgebaut worden.«

Wir stiegen eine Treppe hinauf, dann öffnete er eine Tür und wir befanden uns in einem großen, fast unmöblierten Saal, dessen Boden aus langen Holzplanken bestand.

»Der Rittersaal«, sagte der Graf. »Ich benutze ihn manchmal für Theater- oder Musikdarbietungen. Da oben sehen Sie meine Vorfahren.«

Ich schaute nach oben und sah eine Reihe von Gemälden, auf denen mehr oder weniger gelangweilte Damen und Herren den jeweiligen Schick ihrer Zeit zur Schau trugen.

Der Graf war bereits wieder vorausgeeilt. Ich folgte ihm in den nächsten Raum, der mit seinem Prunkbett und den kunstvoll verzierten Möbeln aus einer anderen Epoche zu stammen schien.

Der Graf deutete auf einen Schreibtisch. »Ein Stück von André Charles Boulle, dem Hoftischler Ludwigs XIV., davon gibt es nicht viele in Europa. Und auch die Gemälde sind etwas wertvoller als die nebenan. Dort hängt ein van Goyen und da drüben ein Breughel.« Er sprach Breughel holländisch aus, mit kehligem ch.

Drei Museumsbesucher betraten den Raum und starrten uns neugierig an.

Der Graf ließ sich davon nicht beirren. »Wir befinden uns hier auf dem ältesten Teil der Anlage, der sogenannten Motte. Die Wasserburgen sind ja ungefähr zur gleichen Zeit entstanden wie die Bergburgen. Und zunächst hat man versucht, künstliche Hügel, eben Motten, zu errichten. Aber das funktionierte im flachen Münsterland nicht besonders gut, die kleinen Hügelchen waren nicht geeignet, Feinde wirksam abzuwehren. Also hat man angefangen, Wassergräben zu bauen und das Wasser vorbeifließender Bäche zu stauen. Diese Gräften stellten einen hervorragenden Schutz gegen Angreifer dar. Zumindest so lange, bis die Entwicklung der Kriegstechnik weit reichende Kanonen hervorbrachte. Kommen Sie!« Er winkte mich zu einem Erker.

Links konnte man einen Teil der Nachbarinsel mit dem Hotelgebäude erkennen und vor uns schwamm ein englischer Garten im Wasser.

»Neben dem Herrschaftssitz, dem Palas, entstand eine zweite Insel, die Vorburg, auf der das Gesinde und die Besatzungen untergebracht waren. Und dort«, er zeigte auf die geometrische Gartenlandschaft, »wurde Gemüse angebaut. Während einer Belagerung musste man sich unter Umständen längere Zeit selbst versorgen.«

Er nickte versonnen. »Dann kamen die Kanonen, die auch dicke Mauern in Schutt und Asche legen konnten, und es kam noch etwas anderes, nämlich – Versailles.« Er riss die Arme auseinander. »Das große, herrliche, wunderbare Versailles, Ausdruck des Absolutismus, der unumschränkten Macht des Herrschers. Alle deutschen Kleinfürsten schielten nach Versailles, wollten in repräsentativen Schlössern residieren. Wissen Sie, was aus den Bergburgen wurde?«

Ich war überrascht. »Äh ... nein.«

»Sie verkamen zu Ruinen. Am Rhein können Sie die hohlen Stümpfe besichtigen. Als Festungen hatten sie ausgedient und zu Schlössern ließen sie sich nicht umbauen. Abgesehen davon, dass das Leben auf einem zugigen Gipfel nicht besonders angenehm war. Aber unsere kleinen Wasserburgen – die erlebten plötzlich eine Renaissance. Schutzwälle wurden abgerissen, Fenster vergrößert, barocke Giebel und Portale angebaut, und auf die flachen Befestigungsanlagen wurden Haubentürme gesetzt. Voilà!« Er strahlte. »So entstand Schloss Disselburg. Der Sohn des Obristen hat mit den Umbauten angefangen, im 18. Jahrhundert wurden sie vollendet. Ein Johann Conrad Schlaun hat nicht daran mitgebaut, aber immerhin Ambrosius von Oelde, auch ein berühmter münsterländischer Baumeister. Sicher haben Sie die holländischen Einflüsse bemerkt?«

Ich bestätigte, dass mir genau dies aufgefallen sei.

Er schmunzelte. »Die Nähe zu den Niederlanden hat dazu geführt, dass auch holländische Baumeister ihre Kunst einbrachten. Disselburg ist eine Mischung aus niederländischer Leichtigkeit und westfälischer Bodenhaftung. Ein Kleinod, wie es seinesgleichen sucht.«

Ich hatte viel Zeit, sollte auf ärztlichen Rat jeden Stress vermeiden und wollte ihn nicht drängen, doch langsam hätte ich wirklich gerne gewusst, wofür er einen Privatdetektiv brauchte.

»Schauen Sie sich das Maßwerkfenster einmal genau an!«, bat er mich.

Ich schaute und merkte, dass einige Glasscheiben und Verstrebungen neuer aussahen als andere.

»Das ist das Problem«, sagte der Graf. »Die Fenster werden von jenseits der Gräfte mit einer Steinschleuder beschossen. Es gibt spezielle Anglerschleudern, die eine solche Reichweite besitzen.«

Eingeschossene Fenster, das war alles. Ich konnte meine Enttäuschung nicht verbergen.

»Sieht nach einem Kinderstreich aus«, sagte ich matt.

»Das meint die Polizei auch«, nickte der Graf. »Obwohl die Kinder schon etwas älter sein dürften, denn die Anschläge erfolgen meist in den späten Abendstunden.«

Bäume und Büsche wuchsen bis an den Rand der Gräfte und dahinter erstreckte sich der ringförmige Park. Zweifellos ein gutes Versteck.

Graf Joseph runzelte die Stirn. »Sie halten das für Kinkerlitzchen? Darf ich Ihnen eine Zahl nennen: Der Schaden beträgt bereits mehr als zehntausend Mark, nicht mitgerechnet die mögliche Beeinträchtigung der wertvollen Gemälde und Möbel durch Zugluft und Feuchtigkeit.«

»Tatsächlich?«