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Erst mit Verzögerung registriert Georg Wilsberg, dass er den letzten Augenblick im Leben des Professors Günter Kaiser fotografisch festgehalten hat.

Eine Kugel beendet jäh den Versuch des Sprachwissenschaftlers, sich einer Studentin unsittlich zu nähern – und aus dem schlichten Überwachungsauftrag, den die Professorengattin dem Detektiv erteilt hat, ist ein Mordfall geworden.

Jürgen Kehrer

 

 

 

Wilsberg und der tote Professor

 

 

 

Kriminalroman

 

 

 

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E-Book © 2013 by GRAFIT Verlag GmbH

Printausgabe © 2002 by GRAFIT Verlag GmbH

Chemnitzer Str. 31, D-44139 Dortmund

www.grafit.de, info@grafit.de

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagzeichnung: Peter Bucker

eISBN 978-3-89425-898-6

Der Autor

 

 

Jürgen Kehrer wurde 1956 in Essen geboren. 1974 von der Zentralen Vergabestelle für Studienplätze nach Münster geschickt, fand er das Leben in dieser Stadt bald so angenehm, dass er noch heute dort wohnt.

1990 erschien sein erster Kriminalroman Und die Toten lässt man ruhen. Damit nahm die beeindruckende Karriere des sympathischen, unter chronischem Geldmangel leidenden, münsterschen Privatdetektivs Georg Wilsberg ihren Anfang. Bis heute sind siebzehn weitere Wilsberg-Romane erschienen. 1995 wurde Wilsberg für das Fernsehen entdeckt und ermittelt seitdem auch regelmäßig in der Samstagabendkrimireihe im ZDF.

Neben den Wilsberg-Krimis schreibt Jürgen Kehrer historische und in der Gegenwart angesiedelte Kriminalromane, Drehbücher fürs Fernsehen und Sachbücher.

www.juergen-kehrer.de

 

 

 

 

 

Die Geister, um die es mir am meisten Leid tat, waren nicht die toten.

Jonathan Lethem

 

 

 

 

 

Dies ist ein Roman. Wer sich mit einer der erfundenen Figuren identifizieren möchte, sollte sein Selbstbild überprüfen.

 

I

 

 

Ich mochte Professor Günter Kaiser nicht. Dabei kannte ich ihn nicht einmal. Ich beobachtete ihn aus rund fünfzig Metern Entfernung, auf dem kleinen Monitor meiner Digitalkamera. Von dem Gebäude des Aegidiimarktes, in dessen Treppenflur ich stand, hatte ich einen guten Einblick in Kaisers Zimmer auf der anderen Seite der Johannisstraße.

Kaiser war Professor für Sprachwissenschaft am Philologischen Fachbereich der Westfälischen Wilhelms-Universität. Außerdem betatschte er gerne Frauen. Drei Stunden hatte ich im Treppenhaus zugebracht, und im Moment fotografierte ich bereits seinen zweiten Versuch, dieser Neigung nachzugehen.

Die erste Frau, der er unter die Bluse gegriffen hatte, schien zum Personal des Instituts zu gehören. Die Art, wie sie miteinander redeten, ließ darauf schließen, dass sie sich schon lange kannten. Zuerst hatten sie offenbar Themen besprochen, die ihre Arbeit betrafen. Die Frau wirkte sachlich und konzentriert, sie strahlte eine gewisse Kühle aus, wozu die weiße Bluse, der graue Rock und die hochgesteckten Haare beitrugen. Vielleicht war das aber auch nur ihre Strategie, den Professor nicht unnötig zu reizen.

Als er hinter sie trat und seine breite Hand an ihren Hals legte, versteifte sich ihr Rücken kaum merklich. Sie drehte den Kopf und ich sah ihr gefrorenes, halb spöttisches Lächeln. Sie schien die Berührung erwartet zu haben und als ähnlich angenehm zu empfinden wie den morgendlichen sauren Geschmack im Mund.

Kaiser öffnete die obersten Knöpfe der Bluse, dann schob er seine Hand hinein und knetete die linke Brust wie einen Hefeteig. Sie ließ ihn fünf Sekunden gewähren, bevor sie die Hand herauszog und ihn zurückschob. Eigentlich war es kein Zurückschieben, eher stützte sie ihre Hand auf seinem hellblau karierten Hemd ab, um eine Distanz zwischen sich und seinen lüsternen Fingern zu schaffen. Dabei redete sie auf ihn ein, nicht wütend oder beleidigt, sondern so, wie man mit jemandem redet, der einem die Karriere vermasseln kann.

Kurz darauf verschwand die Frau. Kaiser schaute ihr mit verkniffenem Gesichtsausdruck hinterher. Offensichtlich hatte er sich mehr versprochen. Aber er kaute nicht lange an seiner Niederlage. Wie ich gerade beobachten konnte.

Kaiser war dreiundfünfzig, hatte mir seine Frau erzählt. Ein Mann in den so genannten besten Jahren, die vermutlich deshalb so heißen, weil das Ende schon absehbar ist.

Seine Frau war zwanzig Jahre jünger und eine ehemalige Doktorandin des Professors. Darüber, wie sich die beiden näher kennen gelernt hatten, hatte ich inzwischen eine klare Vorstellung. Marie Kaiser war eine schöne Frau, groß, schlank, mit langen braunen Haaren. Ein leichter Anflug von Stress lag auf ihrem schmalen Gesicht, zwei scharfe Falten zwischen Nase und Mund sprachen dafür, dass im Hause Kaiser nicht nur Idylle herrschte. Und natürlich die Tatsache, dass sie einen Privatdetektiv engagierte.

Marie hatte Kaiser nach ihrer Promotion geheiratet. Es gab eine Vorgängerin, über die man nicht sprach. Marie verzichtete auf ihren Beruf, wurde Hausfrau und Mutter. Mittlerweile regelten zwei Kinder im Krabbelalter ihren Tagesablauf, sodass nur wenig Zeit blieb, in der sie darüber nachdenken konnte, wie ein anderes Leben ausgesehen hätte, eine akademische Karriere, ein Leben ohne Kaiser.

Sie wusste, dass sie nicht die Einzige gewesen war, der Kaiser eine intensive Beratung auf der Couch seines Arbeitszimmers hatte zukommen lassen. Wer als gut aussehende Studentin eine bessere Note haben oder eine wackelige Prüfung bestehen wollte, ging zu Kaiser. Aber er hatte Marie geschworen, dass sich mit ihr alles verändert habe, dass sie seine Erfüllung sei, dass er nie wieder mit einer Studentin schlafen würde. Und sie hatte ihm geglaubt.

»Wollen Sie es wirklich wissen?«, hatte ich sie gefragt.

»Ja.« Sie zog die Nasenflügel zusammen. »Ich muss wissen, woran ich bin. Ich will nicht ständig mit einer Lüge leben.«

Wir saßen in einem Café in der Innenstadt, im stickigen Inneren, wo wir fast unter uns waren. Wer keine Allergie gegen Sonnenstrahlen hatte oder auf Diskretion achten musste, bevorzugte die Tische auf der Fußgängerstraße vor dem Café.

»Ich habe solche Jobs schon oft gemacht«, erklärte ich. »Und hinterher gab es meistens Heulen und Zähneknirschen. Man kann mit einer Lüge leben, aber nicht mit hässlichen Fotos.«

»Ich dachte, Sie sind Privatdetektiv und kein Lebensberater.«

Ich grinste. »Ich wollte Sie nur warnen. Ich kann Ihnen zwar Scherben vor die Füße werfen, doch wegfegen müssen Sie sie selbst.«

»Was macht Sie so sicher, dass mein Mann fremdgeht?«

»Weil es immer einen Grund gibt, bevor man einen Privatdetektiv anruft. Wenn Sie Ihrem Mann vertrauen würden, säße ich nicht hier.«

Sie nickte. »Schießen Sie Ihre hässlichen Fotos. Um mich müssen Sie sich nicht kümmern.«

Ich stand auf und steckte die fünfhundert Euro Anzahlung ein. »Sie hören von mir.«

 

Sie würde von mir hören und vor allem sehen. Die Digitalkamera klickte, als Professor Kaiser den Reißverschluss herunterzog. Der Reißverschluss befand sich auf der Rückseite eines Kleides, das eine Studentin trug, die an Kaisers Schreibtisch lehnte. Die Studentin warf ihren Kopf in den Nacken und lachte. Sie hatte blonde gegelte Haare und einen Schmollmund. Sie war ein wenig unsicher, aber nicht überrascht. Sicher hatte sie mit Überlegung das stoffarme Kleid gewählt, das bis knapp über den Po reichte.

Kaiser hob die Frau auf seinen Schreibtisch und stellte sich zwischen ihre Beine. Sie lehnte sich zurück, damit er sie nicht küssen konnte. Ich schwenkte die Kamera, die sich von allein scharf stellte. Ich sah den kleinen Schwitzfleck unter dem Arm der Studentin. Kaisers Schweißflecken reichten bis zum Bauchnabel. Es war ein warmer Junitag, auch Münster konnte im Sommer schöne Tage haben.

Das Kleid, von professoraler Hand geschoben, rutschte über die Schulter der Blondine. Ein blasser Oberarm kam zum Vorschein. Der größte Teil der fünfzigtausend Studenten Münsters kam aus dem Münsterland und dem Emsland, wo der helle Teint der Nordländer dominierte. Die Studentin trug keinen BH. Eine ebenso blasse wie üppige Brust, passend zur Rembrandt-Figur der Sitzenden, fiel in die geöffnete Hand des Wissenschaftlers.

Kaiser beugte sich hinunter und lutschte an der Brustwarze. Er ließ sich Zeit. Die Sprechstunde war längst beendet. Später würde er sich bei seiner Frau darüber beklagen, dass ihn die Studenten mit ihren nervenden Fragen so lange im Institut festgehalten hatten.

Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn. Das Kleid hing inzwischen auf den Hüften. Die Studentin stützte sich auf dem Schreibtisch ab, damit Kaiser ihren Slip über den Po ziehen konnte. Einen Moment lang glaubte ich, er würde wie ein LKW-Fahrer an der Trophäe riechen, doch er beherrschte sich, warf das schwarze Textil auf den Boden und bleckte die Zähne zu einem Haifischlächeln.

Dann nahm die Handlung rasant an Fahrt auf. Kaiser stürzte sich mit seinem massigen Körper auf die Blonde und presste sie auf den Schreibtisch. Dachte ich zuerst, war mir nach ein paar Sekunden jedoch nicht mehr so sicher. Der Professor blieb regungslos, die Blondine fing an zu zappeln. Waren die Hitze und die Aufregung zu viel für den Sexualforscher gewesen? Hatte er einen Schwächeanfall oder Schlimmeres erlitten?

Die Frau drückte und schob, bis die leblose Gestalt vom Schreibtisch fiel. Kaiser lag jetzt auf der von mir abgewandten Seite des Möbels, ich konnte ihn nicht mehr sehen. Die Studentin richtete sich auf, in ihrem Gesicht stand der Ausdruck nackter Panik. Sie sprang vom Schreibtisch, schnappte ihre Schuhe und rannte, das Kleid hochziehend, aus dem Raum.

Ich blätterte die letzten Aufnahmen zurück und vergrößerte den Ausschnitt. Tatsächlich, ich hatte mich nicht getäuscht: Auf dem weißen Oberkörper der Frau schmierte etwas Rotes, das eindeutig nach Blut aussah. Ich ging noch ein paar Aufnahmen zurück. Und dann sah ich, dass ich den Moment fotografiert hatte, in dem Kaisers Brust von einer Kugel getroffen worden war.

Und noch etwas anderes wurde mir klar: Der Täter musste sich ganz in meiner Nähe aufhalten. Der Schuss war ganz offensichtlich aus einer der Etagen des Hauses abgefeuert worden, in dem ich mich befand.

Ich lauschte. Ich hatte keinen Schuss gehört, also hatte der Täter wohl einen Schalldämpfer benutzt. Auf jeden Fall war er bewaffnet und ich nicht. Deshalb gab es keinen Grund, mich zu unüberlegten Heldentaten hinreißen zu lassen.

Ein Stockwerk über mir wurde eine Tür geöffnet und wieder geschlossen. Ich versteckte die Kamera hinter dem Rücken und schlenderte wie ein zufälliger Besucher die Treppe hinauf. Als ich den Flur erreichte, setzte sich auf der linken Seite gerade einer der beiden Aufzüge in Bewegung. Auf der anderen Seite, die an die Johannisstraße grenzte, gab es drei Türen. Zwei waren verschlossen, die dritte nicht. Sie führte in einen Lagerraum, in dem große Kartons standen. Außerdem lag ein leichter Schwefelgeruch in der Luft. Kein Zweifel, der Täter hatte von hier aus geschossen.

Der Aegidiimarkt war nicht nur ein weitläufiges Gebäudeensemble, das einen rot gepflasterten Innenhof umstand, mit Geschäften, der Volkshochschule und Wohnungen, er verfügte zu allem Überfluss auch noch über eine Tiefgarage mit mehreren Etagen und hunderten von Parkplätzen. Falls der Täter motorisiert war und sich in die Schlange der abfahrenden Kaufsüchtigen einreihte, würde ich ihn nicht identifizieren können. Ich rannte die Treppe hinunter und hoffte, dass er das Gebäude zu Fuß verließ, erkennbar an einem Koffer oder einem länglichen Behälter und einem betont gleichmütigen Gesichtsausdruck.

Nachdem ich drei Minuten auf dem Innenhof gewartet hatte, war ich mir sicher, dass er mit dem Auto geflüchtet sein musste. Ich holte mein Handy aus der Tasche und ließ mich im Polizeipräsidium mit Hauptkommissar Stürzenbecher verbinden.

Stürzenbecher grunzte. »Was willst du, Wilsberg?«

»Eine schwere Körperverletzung oder einen Mord melden.«

»Toll. Kannst du dich nicht entscheiden?«

»Ich bin hundert Meter vom Opfer entfernt. Das lässt keine exakte Diagnose zu.«

»Und wer ist das Opfer?«

»Professor Günter Kaiser vom Philologischen Fachbereich der Uni Münster.«

»Was ist mit ihm passiert?«

»Jemand hat auf ihn geschossen.«

»Fantastisch«, knurrte Stürzenbecher. »Ich wollte nächste Woche in Urlaub fahren. Hast du vielleicht auch den Namen des Täters?«

»Tut mir Leid, damit kann ich nicht dienen.«

»Dachte ich es mir doch«, maulte der Hauptkommissar. »Anstatt einem alten Mann die Arbeit zu erleichtern, versaust du mir den Urlaub. Na schön, wo finde ich diesen Kaiser?«

Ich beschrieb die Lage des Instituts für Sprachwissenschaft und empfahl ihm, den Notarzt zu verständigen, falls es die Sekretärin des Professors noch nicht getan hatte. »Vielleicht hast du ja Glück und Kaiser ist gar nicht tot. Dann kannst du den Fall auf einen deiner Leute abschieben.«

»Glück«, sagte Stürzenbecher, bevor er auflegte, »Glück kenne ich nicht.«

 

Kaisers Sekretärin stand unter Schock und brabbelte unverständliche Sätze vor sich hin. Ich trat durch die geöffnete Tür in das Zimmer des Professors. Ein Mann im grauen Hausmeisterkittel und eine ältere Frau, die nach Verwaltung aussah, standen mit zitternden Beinen und blutigen Händen neben dem merkwürdig gekrümmten Körper, der in einer großen Blutlache schwamm. Sie hatten versucht, Kaiser wieder zu beleben. In den täglichen Arztserien mochte das gelingen, die Wirklichkeit war brutaler. Kaiser war tot, absolut tot. Wahrscheinlich war er schon tot gewesen, als er auf der blonden Studentin gelegen hatte.

Der Raum war überhitzt und stank nach Blut und Schweiß. Ich schaute mich um und verglich die Eindrücke mit dem, was ich durch meine Kamera gesehen hatte. In der Ecke stand ein abgewetztes Sofa, auch der Schreibtisch hatte schon bessere Tage erlebt. An den Wänden hatte Kaiser ein paar Porträts aufgehängt. Sie zeigten ernst blickende Männer in grauen Anzügen, weißen Hemden, eng gebundenen Krawatten und Hornbrillen, vermutlich berühmte Sprachforscher, die Kaisers Weg in die Wissenschaft geebnet hatten.

Ansonsten gab es wenig Auffälliges, nur die üblichen Berge von Büchern, Papieren, gebundenen Examens- und Hausarbeiten. Auf dem Schreibtisch lag Kaisers randlose Brille. Immerhin unterschied er sich in diesem Punkt von seinen Vorbildern.

Ein junger, weiß gekleideter Notarzt und zwei Sanitäter stürmten herein. Die Sanitäter wollten ihre Geräte auspacken, aber der Arzt winkte ab. Den Vorschriften entsprechend suchte er Kaisers Puls, den er erwartungsgemäß nicht fand. Mit zwei Fingern drückte er die Augen des Toten zu, dann zupfte er die Latexhandschuhe von den Händen und warf sie auf seinen Arztkoffer.

»Offenbar liegt hier ein Gewaltverbrechen vor«, wandte er sich an den Hausmeister. »Ist die Polizei schon verständigt?«

»Ja«, sagte ich.

»Sie müssen warten, bis die Polizei Ihre Personalien aufgenommen hat.«

»Aber, wir haben doch nichts ...«, stammelte die Frau.

»Vorschrift«, sagte der Arzt.

»Sie sollten sich um die Sekretärin kümmern«, schlug ich vor.

Der Arzt warf mir einen scharfen Blick zu. »Danke für den Hinweis.«

Die Hitze ließ uns alle ein wenig gereizt werden.

Der Hausmeister und die Frau drehten sich zu mir um, trauten sich aber nicht, die Frage zu stellen, die ihnen auf der Zunge lag.

Draußen wurde es lauter, Stürzenbecher und seine Leute waren eingetroffen. Der Hauptkommissar und der Notarzt begegneten sich auf der Türschwelle.

»Exitus«, sagte der Arzt. »Hoher Blutverlust durch eine Verletzung in der Herzgegend. Der Tod dürfte sehr schnell eingetreten sein.«

Das medizinische Personal verschwand, dafür füllte sich der Raum mit Kriminalpolizisten in legerer Freizeitkleidung. Stürzenbecher schaute kurz zu Kaiser, dann zu dem Fenster hinter dem Schreibtisch, in dessen Glas ein kleines Loch mit Splitterkranz zu erkennen war.

»Der Täter muss von dort drüben geschossen haben.« Stürzenbecher deutete auf die roten Ziegel des Aegidiimarktes. »Willschrei und Hannemann, guckt mal, ob ihr etwas findet.«

»Vierter Stock, ein Lagerraum«, sagte ich.

Stürzenbecher schaute mich überrascht an. »Ihr habt's gehört.« Das galt den beiden Kripoleuten. »Und Sie beide«, damit waren der Hausmeister und die Frau gemeint, »warten bitte draußen, bis wir Ihre Aussage aufgenommen haben.«

»Dürfen wir ...« Die Frau zeigte ihre blutigen Handflächen.

»Ja, natürlich, waschen Sie sich ruhig die Hände, aber bleiben Sie in der Nähe.«

Das Paar schien froh, den Ort des Schreckens verlassen zu können.

»Wenn du schon weißt, von wo der Täter geschossen hat«, Stürzenbecher kam auf mich zu, »warum hast du ihm dann nicht guten Tag gesagt?«

»Wollte ich ja, aber er war schon weg.«

Hauptkommissar Stürzenbecher ging auf die sechzig zu und versuchte nicht länger, diese Tatsache zu verbergen. Die Aussicht auf den baldigen Ruhestand ließ sogar eine bei ihm bislang unbekannte Lässigkeit durchschimmern. Statt der gewohnten Beamtenuniform trug er ein weinrotes Polo-Shirt unter einem italienischen Sommeranzug, und auf dem von der Sonne geröteten Gesicht spross ein grauer Dreitagebart. Nur der weiße Strohhut fehlte, sonst hätte er als Kommissardarsteller durchgehen können.

»Erzähl!«, befahl Stürzenbecher.

Ich erzählte von meinem Auftrag und den Fotos, die ich geschossen hatte. Zur Demonstration zeigte ich ihm das Bild, das Kaisers Ableben dokumentierte.

Stürzenbecher schnalzte. »Fesche Braut. Gibt's von ihr noch mehr Fotos?«

»Es reicht für einen Herrenabend in der Polizeikantine.«

»Andere Frauen?«

»Eine.« Ich suchte eine Aufnahme von der Frau mit dem grauen Rock und der weißen Bluse. »Ich glaube, sie gehört zum wissenschaftlichen Personal. Aus erotischer Sicht geben die Fotos nicht so viel her. Kaiser hat nur ihre Brust begrapscht.«

Stürzenbecher grinste. »Unser Professor war ja ein richtiger Lüstling.«

»Was willst du von einem Mann erwarten, der weiße Tennissocken zu schwarzen Mokassins trägt?«

Der Hauptkommissar drehte sich um und betrachtete den Toten. Kaisers Hosenbeine waren hochgerutscht, auf den behaarten Beinen und den weißen Socken klebten Blutflecken.

»Dir ist ja klar, dass deine Klientin ein Motiv hat?«

»Sie wird keinen Privatdetektiv engagieren, der fotografiert, wie sie ihren Mann erschießt.«

»Wenn ich dich nicht kennen würde, wärst du auch verdächtig.«

»Was soll das denn?«, fragte ich erstaunt.

»Nun«, er schaute mich an, »du warst zur Tatzeit an genau der Stelle, von der aus geschossen wurde. Sie könnte dich engagiert haben, damit du ihren Mann erledigst.«

»Und wer hat fotografiert?«

»Kann man diese Digitalkameras nicht auch an ein Zielfernrohr anschließen?«

»Bist du zu lange in der Sonne gewesen?«

»Ich sagte ja: Wenn ich dich nicht kennen würde. Dummerweise kenne ich dich besser, als mir lieb ist.« Er schüttelte den Kopf. »Ein Mord an der Uni. Ich höre schon, wie die alle gedrechselt daherreden. Dabei habe ich nicht mal Abitur.«

»Du könntest mich als wissenschaftlichen Berater auf Honorarbasis einstellen. Ich habe eine abgeschlossene Hochschulausbildung.«

Stürzenbecher lachte. Es klang, als ob ein Deutschschweizer Küchenschrank sagen würde. »Bei allem Verständnis für deine Geldnöte: Du bist nicht objektiv. Ich kann zwar nur einfache Sätze zusammenschrauben, aber ich merke genau, wenn mir jemand Schmu erzählt.«

Stürzenbechers Handy klingelte. Willschrei und Hannemann hatten den Lagerraum gefunden. Der Hauptkommissar sagte, sie sollten auf die Spurensicherung warten. Nachdem er das Gespräch beendet hatte, rief er: »Brünstrup!«

Eine Frau mit braunem Pferdeschwanz näherte sich.

Stürzenbecher drückte ihr die Kamera in die Hand. »Treiben Sie jemanden auf, der die beiden Frauen identifizieren kann, die auf den Aufnahmen zu sehen sind. Wir brauchen Namen und Adressen. Und wenn die Spurensicherung drüben fertig ist, soll sie sich den Raum hier vornehmen. Wird vermutlich nicht viel bringen, aber es kann nicht schaden zu wissen, wer alles seine Fingerabdrücke hinterlassen hat.«

Brünstrup nickte und machte sich auf den Weg.

»Ach, Brünstrup!«

Der Pferdeschwanz blieb stehen.

»Zeigen Sie den Zeugen bitte nur Fotos, auf denen die Damen korrekt bekleidet sind. Wir wollen ja nicht noch mehr Wirbel verursachen.«

Brünstrup versprach, darauf zu achten.

Stürzenbecher nahm meinen Arm. »Und wir beide gehen jetzt zu der Witwe und überbringen ihr die traurige Nachricht.«

II

 

 

Wir fuhren auf der Von-Esmarch-Straße nach Westen. Hinter den naturwissenschaftlichen Fachbereichen der Universität, einigen alten Klinikgebäuden und neuen Studentenwohnheimen begann der Stadtteil Gievenbeck. Hier war in den letzten Jahren viel gebaut worden. Das Repertoire reichte von Reihenhäusern über Doppelhaushälften bis zu Einfamilienhäusern. Wenn die Einwohner soziales Elend sehen wollten, mussten sie sich schon in ihre teuren Autos setzen und nach Kinderhaus oder Berg Fidel fahren.

»Was weißt du über Kaiser?«, fragte Stürzenbecher.

»Nicht viel. Ich habe den Auftrag erst gestern bekommen.«

»Eine Idee, wer ihn nicht leiden konnte?«

»In Anbetracht von Kaisers ausgeprägter Libido kommen dafür einige Dutzend betrogene Ehemänner und Freunde infrage.«

Stürzenbecher grunzte. »Hast du zur Abwechslung mal eine gute Nachricht?«

»Tut mir Leid.«

»Ehrlich gesagt, ich stehe sowieso nicht darauf, auf Mallorca am Strand zu braten und mir am Abend den Bauch mit fettigen Tapas vollzuschlagen.«

»Wenn man's so sieht ...«

»Meine Frau kann alleine fahren und vielleicht die Bekanntschaft eines netten Spaniers machen, der darauf spezialisiert ist, Touristinnen abzuschleppen.«

»Wie selbstlos.«

»Und wem habe ich das alles zu verdanken?«

»Mir nicht. Der Mörder hätte auch geschossen, wenn ich nicht da gewesen wäre.«

»Bist du da so sicher?«

Ich schaute ihn von der Seite an. Stürzenbechers Gesicht lag in unergründlichen Falten.

Wir bogen in eine ruhige Wohnstraße ein. Einige Kinder führten ihre Metallroller spazieren. Das Haus der Kaisers stand auf einer handtuchgroßen Rasenfläche, die Blumen vor der weißen Haustür waren frisch gewässert.

Stürzenbecher parkte und stellte den Motor ab. Er blieb noch einen Moment sitzen, während er mit gerunzelter Stirn zu dem einstöckigen Haus blickte, das von der Abendsonne in gleißendes Licht getaucht wurde.

»Also los! Bringen wir es hinter uns.«

Die Hitze war gegen Abend schwüler geworden. Es roch nach einem Gewitter. Stürzenbecher drückte auf die Klingel. Das Dingdong provozierte ein aufgeregtes Getrappel von Kinderfüßen.

»Warte!«, rief eine Frauenstimme im Inneren.

Sekunden später öffnete sich die Tür. Marie Kaiser hatte ihren Arm schützend um die Schulter eines etwa fünfjährigen Mädchens gelegt. Sie schaute zuerst mich an, dann, mit zunehmendem Erstaunen, meinen Begleiter.

»Frau Kaiser?«, fragte Stürzenbecher.

»Ja?«

»Ich bin Hauptkommissar Stürzenbecher von der münsterschen Kripo. Herrn Wilsberg kennen Sie ja.«

»Was ...« Sie blickte mich fragend an.

Ich zuckte verlegen mit den Schultern.

»Dürfen wir eintreten?«, fragte Stürzenbecher.

»Ja, natürlich, entschuldigen Sie.«

Der jüngere Bruder des Mädchens spielte auf dem Fußboden des Wohnzimmers mit Autos. Die Terrassentüren waren weit geöffnet, brachten aber nicht den Hauch einer Abkühlung. Ich spürte, dass das Hemd auf meinem Rücken klebte.

»Aus welchem Grund ...«

»Frau Kaiser«, unterbrach sie Stürzenbecher, »gibt es jemanden, der sich vorübergehend um die Kinder kümmern könnte?«

»Warum? Nun sagen Sie doch endlich ...«

»Nur eine halbe Stunde«, bat Stürzenbecher. Er benutzte seine beruhigende Stimme, die ähnlich entspannend wirkte wie das ernste Gesicht eines Arztes nach einer komplizierten Operation.

Ich setzte mich in einen Polstersessel und vermied den Blickkontakt mit meiner Klientin. Stürzenbecher hatte eine Menge Erfahrung und wusste sicher, was er tat. Trotzdem war es die reinste Psycho-Folter. Natürlich ahnte Marie Kaiser längst, dass etwas Schreckliches passiert war, selbst wenn sie sich einredete, dass es jede Menge harmloser Alternativen gab.

»Nike, Wotan, wir gehen mal kurz zu Tante Helga.«

Die Kinder protestierten, auch sie spürten die Spannung, die in der Luft lag. Quengelnd ließen sie sich von ihrer Mutter nach draußen ziehen.

Stürzenbecher fiel schnaufend in einen Sessel. »Daran werde ich mich wohl nie gewöhnen.«

»Ja«, antwortete ich matt.

Marie Kaisers Gesicht war bleich vor Anspannung, als sie zurückkehrte.

»Warum sind Sie hier?«

»Setzen Sie sich bitte«, sagte Stürzenbecher.

»Ich will mich nicht setzen, verdammt noch mal!«, brach es aus ihr heraus. »Ich will wissen, was los ist.«

»Setzen Sie sich!«, sagte Stürzenbecher.

Die Frau setzte sich.

»Frau Kaiser, ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Mann tot ist.«

»Was?«

»Er ist vor knapp zwei Stunden erschossen worden. Soweit wir den Tathergang zum jetzigen Zeitpunkt rekonstruieren können, hat der Täter vom gegenüberliegenden Gebäude aus auf Ihren Mann, der sich in seinem Arbeitszimmer in der Uni befand, geschossen. Die Schussverletzung führte unmittelbar zum Tod. Ihr Mann hat nicht gelitten, Frau Kaiser.«

»Wer?«

»Das wissen wir noch nicht.«

Im Raum wurde es still. Draußen zwitscherten die Vögel in ängstlicher Erwartung des Gewitters.

Marie Kaiser weinte nicht, sie brach auch nicht zusammen. Sie saß regungslos auf dem Sofa.

»Und was haben Sie ...« Die unvollständige Frage galt mir.

»Ich habe zum Zeitpunkt des Anschlags fotografiert.«

»Sie meinen, Sie haben fotografiert, wie mein Mann erschossen wurde?«

Ich bejahte.

»War er allein?«

»Nein.« Ich bemühte mich, das Wort so neutral wie möglich klingen zu lassen, aber sie wusste sofort Bescheid.

»Er war mit einer Frau zusammen?«

»Frau Kaiser«, mischte sich Stürzenbecher ein, »ich weiß, wie schwierig die Situation für Sie ist. Trotzdem möchte ich Sie bitten, mir ein paar Fragen zu beantworten. Bei einer Morduntersuchung sind die ersten Stunden die wichtigsten. Was man am Anfang versäumt, kann man später nie mehr aufholen.«

Marie Kaiser schwieg.