Der falsche Nero
Roman
Mit einer Nachbemerkung von Gisela Lüttig
Textgrundlage:
Lion Feuchtwanger, Gesammelte Werke in Einzelbänden,
Band 9, Aufbau-Verlag GmbH, Berlin 1994
ISBN 978-3-8412-0611-4
Aufbau Digital,
veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, Februar 2013
© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin
Bei Aufbau erstmals 1947 erschienen; Aufbau ist eine
Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG
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Umschlaggestaltung capa design, Anke Fesel
unter Verwendung des Holzstichs „Nero im Circus“, um
1900, nach W. Peters,
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Inhaltsübersicht
Erstes Buch - Anstieg
1. Zwei Politiker
2. Die Stadt Edessa
3. Der Töpfer Terenz
4. Streckmännchen streckt sich
5. Varro sichtet einen Plan
6. Terenz verwandelt sich
7. Varro leistet sich den Spaß
8. Ein östlicher König
9. Ein Schiedspruch
10. Geduld tut not
11. Manchmal ist der krümmste Weg der gradeste
12. Terenz verwandelt sich ein zweites Mal
13. Ein verkleideter Fürst
14. Zwei Schauspieler
15. Ein Soldat und brav
16. Der Gast der Göttin Tarate
17. Streckmännchen und der Orient
18. Varros Spiel zieht Kreise
19. Romantik und Pensionsberechtigung
20. Varro prüft seine Puppe
Zweites Buch - Höhe
1. Von der Macht
2. Römische Treue
3. Frontos Zweifel und Chancen
4. Terenz lebt sich ein
5. Neros Hochzeit
6. List
7. Vernunft und Leidenschaft
8. Noch ein römischer Offizier
9. Ein Krieg im Orient
10. Lohn der Geduld
11. Die Versuchung des Fronto
12. Seelen finden sich
13. Große Politik
14. Fabrikation eines Kaisers
15. Das große Verbrechen
16. Der Sänger der großen Flut
17. Die Woche der Messer und Dolche
18. Demut und Stolz
19. Rivalen
20. Die Offenbarung des Joannes
21. Eitelkeit der Eitelkeiten
22. Zwischenbilanz
Drittes Buch - Abstieg
1. Vernunft und Kriegsglück
2. Eine Ungläubige
3. Zwei Männer aus dem Volk
4. Welch ein Künstler
5. Claudia Acte
6. Cejon und das Unberechenbare
7. Dreh dich, Kreisel
8. Wahn
9. Zwei Enttäuschte
10. Der Auferstandene
11. Das Labyrinth
12. Der Bestattete
13. Das Geschöpf erhebt sich gegen den Schöpfer
14. »Fran«
15. Der Gott auf der Fledermaus
16. Eine radikale Lösung
17. Drei Hände
18. Der Kaiser und sein Freund
19. Die Nacht zum fünfzehnten Mai
20. Reflexionen über die Gewalt
Viertes Buch - Sturz
1. Das schamlose Lied
2. Der verhüllte Schrein
3. Ein gewissenhafter Vater
4. Der tote Kamerad
5. Arbeiten und nicht verzweifeln
6. Ein verhängnisvolles Bad
7. Das Geschöpf macht sich selbständig
8. Terenz zeigt sein Inneres
9. Die Stimme des Volkes
10. Abschied von Edessa
11. Der Großkönig
12. Der Verborgene
13. Gerechtigkeit, das Fundament der Staaten
14. Realpolitik
15. Varro verschwindet im Osten
16. Der Neid der Götter
17. Der Dreiköpfige Höllenhund
18. Auch er diente der Vernunft
Zu diesem Band
Was gewesen ist, das gleiche wird sein, und was geschehen ist, das gleiche wird geschehen, und es geschieht nichts Neues unter der Sonne. Und geschieht auch etwas, von dem man sagt: Siehe, das ist neu, ist’s doch zuvor auch geschehen in den Zeiten, die vor uns gewesen sind. Man gedenkt nicht derer, die zuvor gewesen sind; also auch der Späteren wird man nicht gedenken.
Prediger 1, 9 –11
Als sich Senator Varro an diesem sechsten März nach dem Regierungsgebäude der kaiserlich römischen Provinz Syrien begab, schauten die Passanten seiner Sänfte lange nach. Vor zwei Tagen hatte der neue Gouverneur Cejon die Insignien seines Amtes feierlich übernommen, Beile und Rutenbündel, und es war aufgefallen, daß Senator Varro, der mächtigste Mann der Provinz, der Zeremonie ferngeblieben war. Als er jetzt, verspätet, seine Aufwartung machte, fragte sich die ganze Stadt Antiochien, wie er und der neue Mann sich wohl zueinander stellen würden.
Es war heller Frühling, ziemlich kühl, von den Bergen her kam ein frischer Wind. Man bog in die lange, prächtige Hauptstraße ein. Senator Varro, ein kleines Lächeln um die starken Lippen, nahm mit geübtem Aug wahr, daß schon vor vielen öffentlichen Gebäuden und großen Geschäftshäusern Büsten des neuen Gouverneurs zu sehen waren, von beflissenen Beamten und Bürgern aufgestellt. Aus der schnell vorübergleitenden Sänfte beschaute er die Büsten. Auf krampfig zurückgedrehten Schultern saß da ein kleiner, harter, knochiger Kopf. Wie lange war es her, daß er diesen Kopf zuletzt in Fleisch und Blut gesehen hatte? Zwölf, nein, dreizehn Jahre. Damals war er voll von wohlwollender Verachtung für dieses Gesicht gewesen. Damals hatte er selber, Varro, den Platz an der Sonne gehabt, Kaiser Nero hatte ihn verhätschelt, der andere aber, dieser Cejon, der sich den Kaiser nicht hatte zum Freund machen können, war trotz seiner hohen Geburt und seiner großen Titel ein Mann ohne Einfluß gewesen, in steter Furcht, eine Laune des Kaisers könnte ihn wegfegen. Heute war der geniale Nero vermodert. An seiner Stelle saß auf dem Palatin Kaiser Titus, Beamte und Militärs von enger Denkart regierten das Reich, und der kleine, mickerige, verachtete Cejon hatte brav die Karriere gemacht, zu der er von Geburt vorbestimmt war. Jetzt also herrschte er als kaiserlicher Gouverneur in dieser reichen, mächtigen Provinz Syrien, in der er selber, Varro, als Privatmann lebte. Als Privatmann; denn man hatte ihn längst von der Liste des Senats gestrichen, und wenn die Leute ringsum schrien: »Es lebe der Senator Varro, der Erlauchte«, so war das schiere Höflichkeit.
Trotzdem spürte Varro auch jetzt, als er die Büsten des neuen Gouverneurs musterte, dieselbe leise, mit Wohlwollen gemischte Geringschätzung, die er, der Gleichaltrige, schon für den Knaben empfunden hatte. Lucius Cejon war aus reicher, uradeliger Familie und nicht unintelligent. Doch eine alte, dumme Geschichte schmälerte das Ansehen der Familie: ein Cejon, Urgroßvater dieses Lucius, hatte vor einundsiebzig Jahren in einer Schlacht gegen einen gewissen Armin als einer der ersten die Waffen weggeworfen, und Lucius hatte von frühester Jugend an das Gefühl, an ihm liege es, diesen Fleck vom Namen seiner Familie zu tilgen. Er hatte sich, der dürre, blutlose Junge, schon als Zehn- oder Zwölfjähriger angestrengt, Gesicht und Haltung groß und würdig erscheinen zu lassen, hatte sich, obwohl ein wenig schwächlich, krampfig stolz unter den andern gereckt. Allein diese erzwungene Forschheit hatte die Kameraden nur gereizt, sich mit doppelter Freude über ihn lustig zu machen. Was für einen Spitznamen hatten sie doch in der Schule für ihn gehabt? Senator Varro zog die Brauen zusammen, dachte angestrengt nach; aber er konnte nicht mehr auf den Namen kommen.
Es wird nicht ganz einfach sein, dem guten Cejon nach so langen Jahren unter so veränderten Umständen gegenüberzustehen. Die Beziehungen Varros zur Regierung der Provinz Syrien waren recht kompliziert. Im Regierungsgebäude hielt man ihn, den Römer Varro, von jeher für den gefährlichsten Gegner des heutigen römischen Regimes in Syrien. Wie wird das erst unter Cejon werden, der die mitleidige, feindselige Verachtung des Varro von damals bestimmt nicht vergessen hat.
»Heil dem Senator Varro, dem Erlauchten«, rief es von allen Seiten. Varro ließ die Vorhänge der Sänfte weiter zurückschlagen und richtete sich höher, daß sein fleischiges, gebräuntes Gesicht mit der mächtigen Stirn, der starken, gebogenen Nase und den vollen Lippen den Massen besser sichtbar werde. Befriedigt genoß er die Verehrung ringsum. Er fühlte sich dem neuen Vertreter des Reichs überlegen. Sich hier in Antiochien durchzusetzen, wog schwerer, als in Rom auf dem Palatin beliebt zu sein. Im Rom von heute, im Rom der Flavier, des Titus, brauchte man Geburt und Geld, nichts sonst. Hier in Antiochien, inmitten dieses mißtrauischen, sensiblen Mischvolks von Griechen, Syrern, Juden, mußte man sich ständig durch Leistung und Persönlichkeit bewähren, das Zutrauen der beweglichen Hunderttausende täglich neu erwerben. Dieser Osten war gefährlich, gerade darum liebte ihn Varro. Er hat es geschafft, hat sich in Syrien durchgesetzt. Er kann heute dem Vertreter des römischen Kaisers als eine Macht gegenübertreten, die überaus real ist, obwohl sie sich auf keine Verträge und Privilegien stützen kann.
Man war am Palais des Gouverneurs angelangt. Schon waren in der Vorhalle zwischen den Konsularabzeichen und den Rutenbündeln des neuen Herrn die Schreine mit den Wachsbildern seiner Ahnen aufgestellt, ein verhüllter unter ihnen, der jenes Urgroßvaters, der das Geschlecht geschändet hatte. Gouverneur Cejon wagte offensichtlich nicht, es den Varro entgelten zu lassen, daß der an der Zeremonie der Amtsübergabe nicht teilgenommen hatte. Er kam selber in die menschengefüllte Halle. Vor aller Augen umarmte und küßte er ihn, der kleine, magere Herr hing bei dieser Umarmung ein wenig grotesk an dem stattlichen Senator, und vor aller Ohren, mit seiner dünnen, scharfen Stimme, bezeigte er seine Freude, den Jugendgefährten so blühend wiederzusehen. Dann, mit Herzlichkeit, führte er ihn in sein Privatkabinett.
Dort also saßen die beiden Herren einander gegenüber. Gouverneur Cejon hielt sich dürr, klein und sehr aufrecht in dem breiten, orientalischen Sessel, nur die Hälfte der Sitzfläche einnehmend, rieb sich mit den Nägeln der einen Hand die Fläche der andern und schaute Varro höflich spähend ins Gesicht. In diesem lausigen Antiochien, dachte er, scheinen sie ihn noch für jemanden zu halten, unsern alten Varro. Aber was ist er? Ein Degradierter, ein Deklassierter. In Rom kräht kein Hahn mehr nach ihm. Wenn man ihn nennt, erinnern sie sich dunkel: Ach, Varro, ist das nicht der, den Kaiser Vespasian wegen irgendeines Skandals von der Liste des Senats gestrichen hat? Er soll jetzt in Syrien viel Geld gemacht haben. Das hat er wohl, und wenn man die Akten studiert, dann sieht man, daß er auch bei den Machthabern jenseits der Grenze Einfluß hat. Aber was ist das schon? Was für ein Abstieg für einen Römer, der einmal im Senat gesessen war, an den lächerlichen Höfen dieser eingeborenen Häuptlinge herumzulungern, dieser Priester und Scheichs mit ihren armseligen Königstiteln. Und auch dort werden wir es ihm besorgen. Mein Vorgänger war zu schlapp. Sonst hockte dieser Abenteurer Varro mir nicht so frech gegenüber.
Denn Varro saß auf seinem Sofa, die Waden übereinandergeschlagen, auf östliche Art, lässig, und seine Miene war gutmütig, geradezu herzlich. Er kannte genau die Gedanken des andern. Er wußte, daß der ihn geringschätzte und doch heimliche Furcht vor ihm hatte. Das schuf ihm bösartige Befriedigung. Ja, da saß er und leistete es sich, die Politik der Verständigung mit dem Osten, wie Kaiser Nero sie begonnen, gegen den Willen der heutigen Machthaber, der Flavier, weiterzuführen. Sie hatten ihn abgesägt; Vespasian hatte ihn unter einem schmählichen, ironischen Vorwand von der Liste des Senats gestrichen. Aber erreicht hatten sie nichts. Er hatte einfach von seinen syrischen Besitzungen statt von Rom aus seine alte Verständigungspolitik weiterbetrieben, und die neuen Herren mit ihren schneidigen, römisch-militaristischen Methoden waren gegen ihn nicht aufgekommen. Die kleinen Könige, die regierenden Bürgermeister und Priesterfürsten der Staaten zwischen der Grenze des römischen und parthischen Reichs sahen den Repräsentanten Roms nicht in dem Gouverneur in Antiochien, sondern in ihm. Auf ihn übertrugen sie die Verehrung und Liebe, deren der beseitigte Kaiser Nero sich hier im Osten erfreut hatte. Es war eine unsichtbare Herrschaft, die Varro da aufgerichtet hatte, aber sie war fest und zäh. Die Regierung der römischen Provinz Syrien hätte sich seiner gerne entledigt, aber sie brauchte, so lästig und anspruchsvoll er war, seine Hilfe und Vermittlung, wenn sie nicht mit den Grenzstaaten ständigen Kleinkrieg haben wollte.
Varro also lächelte in seinem Innern, wie er den andern steif und gereckt dasitzen sah mit dem auszeichnenden Purpurstreifen. Für seine neuen Untertanen mochte dieser Vertreter Roms gebieterisch und machtvoll aussehen: er, Varro, las ihm von dem bleichen, da und dort mit hektischer Röte gefleckten Gesicht die Unsicherheit ab. Er nahm wahr, mit welcher Mühe dieser Cejon seine Haltung erkämpfte, nahm wahr, daß er mit seinen knapp fünfzig Jahren ein alter Mann war, verbraucht durch die ewige Anstrengung, zu repräsentieren, die Schmach des unseligen Ahns zu tilgen. Ein fast fröhliches Mitleid überkam den Varro bei diesem Anblick. Armer Cejon, dachte er, armer Schulkamerad. Mir imponierst du nicht, mit mir wirst du nicht so leicht fertig. Cejon aber dachte: Der hat es leicht, der Varro. Das lebt, das genießt in diesem verrotteten Osten, während unsereiner sich abschindet, das Reich zusammenzuhalten.
Während sie so dachten, hatte Varro längst eine geläufige Konversation angefangen. Er gönne, führte er vielwortig aus, dem Cejon die Ehre und das Glück eines so fetten Postens. Schade nur, daß man ihn gerade in diese verdammt schwierige Provinz gesetzt habe. Syrien könne auch die Kraft eines sehr starken Mannes aufreiben. »Im Grunde«, schloß er und lachte ein kleines, vertrauliches Lachen, es war, als klopfe er dem andern die Schulter, »im Grunde bin ich froh, daß ich der Privatmann bin und Sie der Gouverneur.«
Er hat es also nicht verwunden, dachte Cejon gutgelaunt, daß man ihn aus dem Senat hinausgeschmissen hat. »Ich höre«, sagte er munter, »daß Sie hier immerhin nicht gerade müßig gewesen sind.« – »Natürlich nicht«, meinte gemütlich Varro. »So alt, daß wir ganz still sollten sitzen können, sind wir doch noch nicht. Wenn man nicht wenigstens sein bißchen Kulturpolitik hätte, dann wüßte man nicht, was man mit seiner Zeit anfangen soll. Auch ist es ja kein Geheimnis, daß mein Herz dem Osten gehört.« Und nachdenklich, geradezu besorgt, fügte er hinzu: »Ihnen freilich, mein Cejon, Schal- und Kernrömer, der Sie sind, muß dieser verworrene, verfilzte Osten recht unbehaglich sein. Wenn man zu ihm kein inneres Verhältnis hat –.« Er zuckte die Achseln, vollendete nicht.
Der andere, aufrecht, starr sitzend, strich wieder mit den Nägeln der einen Hand die Fläche der andern. Die roten Flecken auf seinen blassen, knochigen Wangen hatten sich verstärkt, er sandte dem Varro einen schiefen Blick, seine trockene Stimme knarrte. »Scharfe Grenzen ziehen«, sagte er, »römisches Wesen bis zum Euphrat durchsetzen und nichts Fremdes von jenseits hereinlassen. Wenn einer diese Aufgabe so klar vor Augen sieht wie ich, dann hat er vielleicht doch gerade dadurch ein inneres Verhältnis zu den Menschen und Dingen hier.« Und bemüht, seinem Ton die Schärfe zu nehmen, fast beiläufig, fügte er hinzu: »Es tut mir so leid, mein Varro, daß ich bei der Romanisierung unseres Ostens auf Ihre Unterstützung werde verzichten müssen.« – »Wieso?« wunderte sich Varro. »Habe ich nicht für einen Mann, hinter dem keine Armee steht, auf diesem Gebiet allerhand geleistet?« – »Wird nicht bestritten«, gab höflich der Gouverneur zu. »Sie haben viel dazu beigetragen, in dieser Provinz römisch-griechisches Wesen durchzusetzen. Aber Sie haben leider auch mehr Östliches eingeschleppt als irgendein Römer vor Ihnen.« – »Das habe ich«, räumte befriedigt Varro ein. »Und sehen Sie, mein Lieber«, fuhr Cejon fort, »da sind wir bedenklich, das haben wir nicht gern. Auch kämen Sie«, setzte er nicht ohne Bosheit hinzu, »sicher in Gewissenskonflikt, wenn ich Sie in bestimmten Fällen um Rat anginge. Denn wie könnte in unsern ewigen Streitigkeiten mit dem Osten ein Mann gut römisch raten, der nicht nur römischer Bürger, sondern gleichzeitig Untertan des parthischen Großkönigs und Bürger des Staates von Edessa ist.« Er hat sich gut vorbereitet, anerkannte in seinem Innern Varro, er hat meine Akten gut studiert. Er ist noch mein guter, alter Feind. Wahrscheinlich hat er dieses Syrien und keine andere Provinz gerade deshalb erstrebt, weil ich hier sitze.
Cejon hatte sich während seiner letzten Worte noch höher aufgereckt. Varro beschaute ihn. Ich werde leicht mit ihm fertig werden, freute er sich. Er ist und bleibt ein Schwächling. Freilich lassen sich gerade solche Schwächlinge manchmal in ihrer künstlichen Forschheit zu plötzlichen Gewalttaten von unübersehbaren Folgen hinreißen. Und da fiel ihm auf einmal der Spitzname wieder ein, auf den er sich die ganze Zeit vergeblich besonnen hatte: Streckmännchen. Natürlich, Streckmännchen. So hatten sie in der Schule den Cejon geheißen nach jenen Holzpuppen, die man während der Saturnalien zu benutzen pflegte, Holzpuppen mit beweglichen Gliedmaßen, die man spaßhafterweise mittels eines kleinen Hebels aus ihrer kauernden Stellung sich recken und wieder zusammenfallen lassen konnte. Und zwar hatten sie ihn so genannt, um seine Anstrengungen zu verhöhnen, sich größer zu machen, als er war.
Varro wurde vergnügt, als ihm Cejons Spitzname wieder einfiel. Er glitt von der Politik fort. Erkundigte sich beflissen nach dem Privatleben des Gouverneurs, nach seiner Stimmung. Es stellte sich heraus, daß Cejon fürchtete, es werde ihm nicht gerade leichtfallen, sich in die zuchtlose Welt dieser östlichen Stadt einzuleben. Daphne, der Vorort Antiochiens, in dem die meisten Aristokraten und reichen Herren ihre Villen hatten, eine Stätte, berüchtigt in der ganzen Welt um ihrer schamlosen Üppigkeit willen, war nicht eben die angenehmste Nachbarschaft für einen römischen Beamten, der sich zu den Anschauungen der Stoiker bekannte.
Eigentlich hatte der Antrittsbesuch des ehemaligen Senators bei dem Gouverneur lange genug gedauert. Doch Cejon hielt Varro zurück und begann von neuem, von politischen Geschäften zu sprechen. »Sagen Sie, mein Varro«, fragte er, »wollen Sie auch jetzt noch, wo im Regierungsgebäude kein Fremder sitzt, sondern ich, Schwierigkeiten machen wegen Ihrer Steuer für die Inspektion der Truppen von Edessa?« Für die Kosten der römischen Garnison in der Stadt Edessa, der Hauptstadt des gleichnamigen, nominell unabhängigen Königreichs jenseits des Euphrat, hatte nämlich laut Vertrag dieses Königreich Edessa aufzukommen. Der römische Gouverneur aber erhob außerdem in Syrien eine Sondersteuer für seine alljährliche »Inspektion der Truppen jenseits der Grenze«. Der Fiskus von Antiochien vertrat nun den Standpunkt, Varro, als Bürger der kaiserlich römischen Provinz Syrien, sei verpflichtet, diese »Inspektionsteuer« zu entrichten; Varro aber hielt dafür, da er schon als Bürger von Edessa seine Steuer für die Truppen zahle, wäre das Doppelbesteuerung. Es ging nicht um die sechstausend Sesterzien, die weder für Varro noch für die Regierungskasse von Bedeutung waren, es ging um Prinzipielles. Es ärgerte die Regierung in Antiochien, daß dieser große Herr Varro, von Rom degradiert und gerade noch im Besitz des römischen Bürgerrechts, ihr gegenüber nach Willkür den römischen oder den Untertan eines der mesopotamischen Fürstentümer herauskehrte. Deshalb ging um diese Steuer zwischen der Regierung von Syrien und Varro ein langer, höflicher und erbitterter Streit.
Auch jetzt wieder brachte Varro die alten Gesichtspunkte vor, die dem Gouverneur schon aus den Akten vertraut waren. Es sei eine solche Doppelbesteuerung nicht nur juristisch unzulässig, sie sei auch politisch gefährlich; denn es werde durch sie der zweideutige, Edessa feindliche Charakter der dortigen Garnison unterstrichen.
Der Gouverneur hörte sich die langatmigen Ausführungen geduldig an. »Alles schön und gut«, meinte er schließlich, kameradschaftlich zuredend. »Aber ich an Ihrer Stelle würde mir jetzt, da ein Freund in diesem Hause sitzt, trotzdem ernstlich überlegen, ob Sie nicht Ihre mesopotamischen und parthischen Staatsangehörigkeiten aufgeben sollten. Sie hätten dann vielleicht Aussicht, Ihre frühere römische Stellung wiederzuerlangen.«
Varro horchte hoch. Wie der Mann gleich bei der ersten Begegnung ins Zeug ging, das war allerhand. »Wie meinen Sie das?« fragte er geradezu. »Heißt das, daß man daran denkt, mich wieder in den Senat aufzunehmen?«
Cejon fand, er sei dem andern etwas zu schnell entgegengekommen, und flüchtete hinter einen amtlich trockenen Ton zurück. »Ich habe allerdings«, erwiderte er, »dergleichen auf dem Palatin angeregt, und ich hatte den Eindruck, meine Anregung habe kein ungeneigtes Ohr gefunden. Bindende Zusagen freilich«, beeilte er sich hinzuzufügen, »kann man nicht machen. Aber ich stelle anheim, meine Worte ernstlich zu erwägen.«
Varro verbarg mit Mühe seinen Jubel. Sie haben es also gemerkt, die flavischen Kaiser, die Parvenüs, die Verhaßten, daß sie ohne ihn in ihrem Osten nicht weiterkommen. In die Liste des Senats wollen sie ihn wieder aufnehmen. Freundlich von ihnen. Aber auf ein so plumpes Manöver fällt ihnen ein Varro nicht herein. Wenn sie ihn dann glücklich in Rom haben, werden sie ihn nach einem Vierteljahr ein zweites Mal aus dem Senat hinaussetzen, und diesmal werden sie gewitzt sein und ihn endgültig kaputtmachen. Senator in Rom. Was für ein billiger Köder. Und dafür soll er alles aufgeben, was er mühsam hier aufgebaut hat, seine Bestrebungen, Ost und West zu verschmelzen, und soll mithelfen an der phantasielosen Politik der neuen Herren, die das Schwergewicht des Reichs nach dem Westen legen wollen und eine Mauer aufrichten gegen den Osten? Danke, meine Herren. Ich ziehe es vor, »Vetter des Königs von Edessa« zu bleiben. Ich bin lieber »Freund des Großkönigs der Parther« als »Erlauchter Herr« in Rom.
Er dankte dem Gouverneur für die Mühe, die dieser sich in Rom um seine Sache gemacht habe. »Ich hoffe«, erwiderte Cejon und gab den beamtenhaft kalten Ton auf, »daß wir auf diesem Weg bald zu einer Verständigung kommen.« – »Ich hoffe es auch«, sagte Varro, doch jetzt sprach er so trocken, daß es wie eine Absage klang.
Cejon hielt es denn auch für angebracht, die andere Seite des Problems herauszukehren. »Wir müssen einfach«, erklärte er, »unsern Zwiespalt aus der Welt schaffen. Denken Sie, mein Varro, wie unangenehm, wenn ich einmal gezwungen sein sollte, Maßnahmen gegen Sie zu ergreifen.« – »Ja, mein Cejon«, antwortete Varro und verbarg hinter besonderer Höflichkeit den Hohn über eine so leere Drohung, »das wäre unangenehm für uns beide. Denn bei dem Gewicht, das man in den mesopotamischen Staaten zu Recht oder Unrecht auf meine geringe Person legt, dürften sich solche Maßnahmen ohne eine kostspielige militärische Expedition kaum in die Praxis umsetzen lassen. Und was wäre im besten Fall dabei zu gewinnen? Prestige. Wie ich aber die Herren auf dem Palatin kenne, sind sie nicht gerade geneigt, für Prestige Geld auszugeben.« Er stand auf, trat ganz nahe an den Gouverneur heran, legte ihm vertraulich den Arm auf die Schulter. »Oder soll ich Ihre Worte als ein Ultimatum auffassen?« fragte er mit einem so herausfordernden Lächeln, daß der andere spüren mußte, was er sich dabei dachte, nämlich: Streckmännchen. Denn nachdem Cejon mit soviel Intensität um ihn geworben hatte, glaubte Varro, er könne es sich leisten, in ihm nicht mehr den Vertreter Roms und einer Idee zu sehen, sondern nur mehr Streckmännchen, den Schulkameraden.
Es wird sich zeigen, daß das ein Irrtum war und daß er es sich nicht leisten konnte. Vorläufig aber begnügte sich Gouverneur Cejon, die Schulter vor soviel Intimität um ein Unmerkliches zurückzuziehen, und erwiderte höflich, seine Worte seien nur als freundschaftliche Anregung aufzufassen, keineswegs als Ultimatum. Dann, nachdem man noch ein paar belanglos liebenswürdige Sätze ausgetauscht hatte, konnte sich Varro endlich verabschieden.
Er verließ das Regierungsgebäude leichten, starken Schrittes, schickte Sänfte und Begleitung fort, ging zu Fuß nach Haus durch die schönen Straßen Antiochiens. In den letzten Jahren hatte er manchmal gespürt, daß er nicht mehr in der ersten Jugend war; jetzt fühlte er sich knabenhaft frisch. Seine Feinde, diese Flavier, hatten ihm einen großen Dienst erwiesen, indem sie ihm den Cejon auf den Hals schickten. Es freute ihn, daß das nüchterne, militaristische, patriotisch enge Rom von heut, das er so sehr haßte, ihm nun gerade in Gestalt dieses Cejon gegenübertrat. Das wird ein fröhlicher Kampf werden, dachte er. Das gute, alte Streckmännchen. Und er fühlte sich im vorhinein als Sieger.
Weiß und prunkvoll lag auf ihren Hügeln die Stadt Edessa, die Hauptstadt des gleichnamigen Königreichs, unter den großen Siedlungen Mesopotamiens die nördlichste. Wenn man sie von ferne betrachtete, dann schaute sie durchaus griechisch her mit ihren Tempeln und Säulenhallen, mit ihrem Zirkus, ihren Theatern, Bädern, Sportschulen. Innerhalb ihrer Mauern aber sah man nur wenig griechische Inschriften und hörte selten ein griechisches Wort. Vielmehr waren ihre Bewohner ein krauses Gemisch von Syrern, Babyloniern, Armeniern, Juden, Persern, Arabern, und griechisch-römisch waren nur ihre Häuser.
Südlich von Edessa dehnte sich die Steppe. Die Stadt selber aber lag wasserreich und fruchtbar an ihrem Flusse Skirtos, »dem Springer«, und die Winde von den Bergen her, die das Zwischenstromland gegen Armenien abgrenzten, machten ihre Luft frisch und rein.
Edessa lag am Kreuzpunkt vieler Straßen. Es war eine reiche Stadt. Der Gewürz- und Parfümhandel Arabiens und Indiens ging über sie, auch ein großer Teil des Handels mit Perlen und kostbaren Seidenstoffen. Weithin berühmt war sie um ihrer schönen Bauten willen. Fernher kamen Fremde, um den uralten Tempel der Tarate zu besichtigen, mit dem schwärzlichen Bronzebild der Göttin und ihren seltsamen priapischen Symbolen, den Tempel des Mithras, die Universität, vor allem aber das Labyrinth, eine gewaltige Grotte im Fels am linken Ufer des Flusses Skirtos mit Hunderten von engen, verschlungenen, endlos verzweigten Gängen, Stollen, Kammern und Treppen.
Die Gründung der Stadt Edessa verlor sich in grauer Vorzeit. Osroëne hatte sie ursprünglich geheißen, die Löwenstadt. Hettiter, Assyrer, Babylonier, Armenier, Makedonier hatten hier geherrscht. Zuletzt, vor dreihundert Jahren, waren Araber eingedrungen, und sie hatten sich bis jetzt behauptet. Heute, als einer der kleinen Pufferstaaten zwischen dem römischen und dem Partherreich, war Edessa ständig bedroht. Die Stadt zog aber auch großen Vorteil aus ihrer Neutralität; sie verkaufte sie in den ständigen Kriegen zwischen den beiden Großstaaten mit Gewinn jeweils an den einen oder andern.
Die arabischen Fürsten Edessas, wiewohl sie in ihrem Herzen immer Araber blieben, förderten nach Kräften die aramäische Kultur, die diesem Erdteil als die höchste galt. Die Universität von Edessa war unbestritten die beste des Zwischenstromlandes und konnte zeitweise auch mit der Hochschule von Antiochien rivalisieren.
Die Stadt barg viele Heiligtümer, und viele Götter wurden in ihr verehrt. An ihrer Spitze stand die Göttin Tarate, auch wohl »die Göttin Syrien« genannt; ihr war der städtische Quellteich geweiht und seine roten Fische. Verehrt wurden neben ihr der Stier- und Beilgott Labyr, der Gott des Labyrinths, und andere uralte Götter Assurs, ein Löwengott auf der Höhe, sowie der große Beel und Nebu. Ferner der persische Gott Mithras, die arabischen Sterngötter Aumu, Aziz und Dusaris sowie die griechischen und römischen Gottheiten. Auch Jahve, der Judengott, hatte manche Anhänger in Edessa; selbst sein eingeborener Sohn, Christus genannt, »der Gesalbte«, hatte hier schon Bekenner gefunden.
Viele zehntausend Menschen wohnten in der schönen Stadt, weiße und braune: arabische Fürsten und ihre Ratgeber, griechische und syrische Kaufleute und Grundherren, persische Astrologen, jüdische Handwerker und Gelehrte, dazu die Offiziere und Soldaten der römischen Garnison; fast immer auch waren Wanderzüge von Beduinen in der Stadt, und zwischen diesen Völkerschaften flitzte noch das krause Gemengsel der zahllosen Leibeigenen. Sie alle, Weiße, Schwarze und Braune, mit ihren Rindern, Kamelen, Schafen, Ziegen und Hunden, lebten, atmeten, wimmelten durcheinander, sprachen vielerlei Sprachen, verehrten auf vielerlei Arten vielerlei Götter, aßen, tranken, schliefen miteinander, machten Geschäfte, heirateten, zerstritten und versöhnten sich; keiner hätte ohne den andern leben können, jeder war im Grunde froh, daß jeder andere da war, und alle waren sie stolz auf ihre Stadt Edessa, die liebste, schönste der Welt.
Herrscher Edessas war König Mallukh, der Fünfte seines Namens, sein Kanzler war Scharbil, der Erzpriester der Tarate; Kommandant der römischen Garnison war Oberst Fronto. Wirklicher Machthaber in Edessa aber war Senator Varro.
Unter den vielen Unternehmungen, die Varro in Edessa gegründet hatte, war auch eine keramische Fabrik, die er einem seiner »Schutzbefohlenen«, dem Töpfer Terenz, an der Roten Gasse eingerichtet hatte. Daß sich dieser Terenz noch immer als »Schutzbefohlener« des Varro bezeichnete, geschah freilich aus purer Anhänglichkeit; denn er war längst ein gemachter Mann, der keines andern Schutz bedurfte. Ja, er hatte es zum Zunftmeister der Töpferinnung von Edessa gebracht.
Dabei war seine Fabrik keineswegs die größte der Stadt, und Terenz zeichnete sich auch nicht etwa durch besonderen Sachverstand aus. Die Arbeit in den Werkstätten leitete vielmehr seine Frau, und das Kaufmännische besorgte ein kilikischer Leibeigener namens Knops. Den Terenz selber sah man selten in seiner Fabrik. Oft aber konnte man ihm auf der Straße begegnen oder in den Schenken. Als Zunftmeister der Töpferinnung hatte er viel herumzulaufen und mit vielen Menschen zu sprechen. Bald wurde er im Interesse seines Gewerbes beim Magistrat oder bei den Räten König Mallukhs vorstellig, bald hatte er die Innung bei einer städtischen Zeremonie zu vertreten oder eines ihrer Feste zu organisieren.
Er war ein Mann anfang der Vierzig, rötlichblond, von rosig fahler Haut, mit breitem Gesicht, starker Unterlippe, kurzsichtigen, grauen Augen, ein bißchen dicklich, stattlich alles in allem und sehr römisch von Aussehen. Die Innung der Töpfer war stolz auf ihren Zunftmeister. Nicht nur weil er geborener Stadtrömer war, sondern besonders, weil er vornehm und bedeutend aussah und, als ein Mann von mancherlei geistigen Interessen, gut reden konnte. Das Lateinische sprach er mit schönem, stadtrömischem Akzent, auch das Griechische und das Aramäische waren ihm geläufig, obwohl ihm die Aussprache des Buchstabens Th, der in beiden Sprachen eine große Rolle spielt, Schwierigkeiten bereitete. Einige fanden allerdings, er höre sich zu gerne reden, und richtig war, daß es, wenn man einmal den gewaltigen Strom seiner Rede entfesselt hatte, nicht leicht hielt, ihn wieder zum Stehen zu bringen. Aber er machte Eindruck, das war keine Frage. Er wußte sich Air zu geben und unbefangen mit großen Herren umzugehen; ja, sein Gesicht konnte einen Ausdruck von Hochmut und Unzufriedenheit annehmen, der seine Partner einschüchterte. Auch auf Repräsentation verstand er sich. Es war sein Verdienst, daß bei den Festen der Handwerker, vor allem bei dem großen Fest im März, die Zunft der Töpfer besonders gut abschnitt. Dabei kam ihm zustatten, daß er ein gebildeter Mann war. Weite Stellen aus den griechischen und römischen Klassikern wußte er auswendig, er konnte mit Zitaten um sich werfen, interessierte sich fürs Theater, und die Aufführung des alljährlichen Festspiels der Töpfer, dessen Organisation ihm oblag, zog viele Leute an. Alles, was in Edessa zum Töpferhandwerk Beziehungen hatte, war stolz auf diesen repräsentativen Vorstand. Sogar die Lehrlinge, obwohl sie in den Werkstätten des Terenz viel Prügel bekamen, zogen es vor, dort zu arbeiten statt bei milderen Herren.
Es erhöhte die Wirkung des Terenz, daß um ihn und um sein Schicksal etwas Dunkles war, ein Geheimnis. Er war vor elf Jahren nach Edessa gekommen, abgerissen, kümmerlich, mit einem verwilderten, rötlichblonden Bart. Damals hätte man ihm zutrauen mögen, daß er, wie es das griechische Sprichwort von den Handwerkern behauptete, sich ins Armgelenk schneuzte. Niemand hätte in jenem Terenz den späteren Zunftmeister vorausahnen können. Leute, die sich in Rom auskannten, erzählten, die Werkstätten des Terenz hätten dort guten Ruf gehabt, selbst der kaiserliche Hof habe bei ihm gekauft, ja, es verlautete, Terenz habe zum Hof des Nero geheimnisvolle, persönliche Beziehungen gehabt.
Terenz selber und seine Leute, seine Frau Caja und der Leibeigene Knops, schwiegen sich über seine römische Vergangenheit aus. Höchstens wenn Terenz in gehobener Stimmung war, nach einer geglückten Rede etwa oder nach einer wohlgelungenen Darbietung der Zunft, deutete er an, wie geringfügig ihm ein solcher Erfolg vorkomme, wenn er zurückdenke an jene Zeit, da er noch in der kaiserlichen Residenz ein und aus gegangen sei; doch mehr als eine solche vage Andeutung war nicht aus ihm herauszuholen.
Was sich aber mit dem Töpfer Terenz in Rom ereignet hatte, war dies:
Sein Vater war noch Leibeigener gewesen in der Familie des Varro. Der alte Varro hatte den anstelligen Mann freigelassen und ihm eine Töpferwerkstatt eingerichtet. Der Sohn Terenz aber hatte am Töpfergewerbe wenig Spaß, er interessierte sich für höhere Dinge, für Theater und Politik. Wenn er über öffentliche Angelegenheiten oder über Kunst sprach, dann rühmten seine Freunde sein Verständnis und seinen tiefen Blick und fanden, er sei zu gut zum Töpfermeister. Terenz kümmerte sich also schon zu Lebzeiten des Vaters wenig und nach dessen Tode gar nicht um die Werkstatt. Die ging denn auch schnell zurück. Sowie sein Vermögen sich verflüchtigte, verloren seine Freunde ihren früheren Enthusiasmus, und niemand mehr wollte ihm für seine gewandten Reden und langen Zitate Ehre oder gar Geld geben. Kein Wunder, daß er, der mit zweiundzwanzig Jahren satt, robust und nicht eben bedeutend ausgesehen hatte, jetzt, nah an den Dreißig, ein schwammiges, mißmutiges, durch Bitterkeit geradezu vergeistigtes Gesicht bekam.
Und da stellte sich etwas Merkwürdiges heraus. Kaiser Neros Antlitz nämlich hatte lange Zeit hager aus der Umrahmung eines rötlichen Bartes herausgestochen; allmählich aber war er verfettet, und als er sich mit Achtundzwanzig den Bart abnehmen ließ, erschien sein nacktes Gesicht verändert: schwammig, blasiert und fast immer verdrießlich. Eines Tages nun, wie Terenz dem Senator Varro seine allmorgendliche Aufwartung als »Schutzbefohlener« machte, nahm Varro verblüfft wahr, daß der vergrämte Töpfer auf einmal dem verfetteten, mißmutigen Kaiser zum Verwechseln ähnlich sah. Genau so zog Nero die Brauen über den kurzsichtigen Augen zusammen, genau so schob er die starke Unterlippe vor. Dem Senator Varro kam eine Idee. Man mußte für den anspruchsvollen Nero immer neue Zerstreuungen ersinnen: er beschied den Töpfer auf den Palatin, um ihn dem Kaiser vorzuführen.
Diese Vorführung war für Terenz eine gefährliche Sache. Wenn der Kaiser schlecht aufgelegt war, dann konnte er den Doppelgänger das merkwürdige Naturspiel recht bitter entgelten lassen.
Allein das Experiment glückte. Zwar wünschte Nero nicht, daß andere wahrnähmen, daß das kaiserliche Antlitz zweimal in der Welt sei, und er ordnete an, daß Terenz die Frisur zu ändern und, niemandem sichtbar, auf dem Palatin zu bleiben habe, bis ihm ein Bart gewachsen sei. Doch im übrigen fand er Spaß an der seltsamen Ähnlichkeit. Ja, er begnügte sich nicht mit der einen Vorführung. Er beschied den Töpfer ein zweites Mal und dann oft und abermals auf den Palatin. Dort wurde ihm der Bart wieder abrasiert, Neros Friseur machte ihn zurecht, und der Kaiser ergötzte sich daran, wie Terenz seinen Gang, seine Gesten, seinen Tonfall nachmachte. Er korrigierte, wenn ihm etwas nicht zu stimmen schien. Mehrmals auch ließ er seinen Lieblingsaffen herbeibringen, daß der an dem Spiel teilnehme, und wenn der Töpfer und der Affe ihn imitierten, hallte der Saal vom Lachen des Kaisers wider.
Den Terenz rührten diese Begegnungen mit Nero tief auf. Oft jetzt lächelte er verschmitzt, beglückt. Er hatte immer gewußt, daß die bösartige Laune des Schicksals, die ihn trotz seiner Begabung nicht hochsteigen ließ, vorübergehen mußte. Er dachte häufig an einen Traum, den seine Mutter geträumt hatte, als sie ihn in ihrem Schoß trug. In diesem Traum hatte sie einen hohen Berg zu ersteigen. Es war ein harter Weg, sie spürte die Wehen kommen und wollte sich hinlegen. Aber eine Stimme befahl: »Steig höher!« Sie gehorchte, doch dann erlahmte sie abermals und wollte sich ausruhen, aber da war wieder die Stimme, und erst unmittelbar unterm Gipfel durfte sie ihn gebären. Der Wahrsager aber deutete den Traum, das Kind, das sie trage, werde sehr hoch hinaufgelangen. Deshalb auch hatte man ihm den prätentiösen Namen Maximus gegeben.
Auf dem Palatin hatte man ihm eingeschärft, er habe über seine Zusammenkünfte mit dem Kaiser bei Strafe des Todes Stillschweigen zu bewahren. Es war trotzdem wahrscheinlich, daß der Leibeigene Knops etwas ahnte oder wußte; nicht nur mußten ihm die mehrwöchigen, geheimnisvollen Abwesenheiten seines Herrn auffallen, sondern auch die Aufträge, die der Palatin plötzlich der kleinen, heruntergekommenen Fabrik erteilte. Vor seiner resoluten, intelligenten Frau Caja gar das Geheimnis zu wahren, war dem Terenz einfach unmöglich. Ihr eröffnete er denn auch auf ihr Drängen, was auf dem Palatin mit ihm geschah. Doch sogar mit ihr sprach er nur selten darüber, ungern, geheimnisvoll und nie ganz offen. Niemals gestand er ihr, und selten nur sich selber, daß ihm die Berufung in die Residenz des Kaisers gelegen kam; vielmehr stimmte er ihr durch dunkles Schweigen zu, wenn sie bitter auf die Verletzung seiner Menschenwürde durch das Gesindel dort oben schimpfte. In Wahrheit aber wurde ihm das Spiel auf dem Palatin mehr und mehr zum Bedürfnis. Seine Ähnlichkeit mit dem Kaiser beglückte ihn, er verwuchs in seinem Innern immer tiefer mit seiner Rolle.
Bis dann ein jäher Umschwung kam. An jenem trüben Tag, da die Garde meuterte, war der Kaiser in eine gefährliche Lethargie versunken, und seine Vertrauten hatten, um ihn aufzumuntern, den Töpfer Terenz auf den Palatin berufen. Den hatte der Friseur rasiert und auf die übliche Art hergerichtet, als sich der Kaiser plötzlich entschloß, das Palais zu verlassen und in den Servilianischen Park zu übersiedeln. An den Töpfer Terenz, der in einem Dienerzimmer wartete, dachte kein Mensch; man vergaß ihn in dem verödeten Palast. Spät in der Nacht, da niemand sich um ihn kümmerte, drückte sich der verängstigte Mann aus der Residenz fort, um sich nach Hause zu schleichen. Die Straßen waren leer, niemand wagte sich aus Furcht vor bösen Ereignissen heraus. Plötzlich klirrte es in der Nähe. Terenz drückte sich in den Schatten, doch es war zu spät, schon hatten Bewaffnete ihn gepackt, Truppen des Senats, eine Streifschar, die auf den flüchtigen Nero fahndete. Jämmerlich beteuerte er, er sei nicht der Kaiser Nero, sondern der Töpfer Terenz. Aber die Soldaten wollten es nicht glauben; ergrimmt über die feige Haltung des Mannes, dem sie so lange göttliche Verehrung bezeigt, machten sie sich über ihn her und hätten ihn um ein Haar totgeschlagen. Nur mit Mühe brachte er sie dahin, daß sie ihn in sein Haus führten. Dort identifizierte Caja den Schlotternden, Halbtoten.
Ihr waren die Audienzen auf dem Palatin immer unheimlich gewesen. Jetzt, voll Angst vor den Maßnahmen, die der Senat gegen die Günstlinge des Nero treffen würde, bewog sie ihren Terenz, der noch bis in die Knochen erschreckt war von den Ereignissen, sogleich zu fliehen. Im grauenden Morgen stahlen sie sich zum Haus des Varro, ihres Gönners. Der Senator war noch in der Nacht aus der Stadt geflohen, nach dem Osten, sagte man ihnen. Gehetzt eilten sie ihm nach, gelangten mit ihm über die östliche Grenze.
Jetzt lag dies alles weit zurück, und man lebte gesichert, in einem gewissen Wohlstand, in dieser weißen und bunten Stadt Edessa. Frau Caja war stolz darauf, daß sie damals ihren Terenz so energisch zusammengepackt und aus dem gefährlichen Rom wegbefördert hatte. Sie selber freilich fühlte sich hier unter den Barbaren nicht gerade wohl. Die Burnusse und schmutzigweißen Kleider dieses äffischen und zu einem guten Teil tiefbraunen Volkes mißfielen ihr, das Essen schmeckte ihr nicht, sie fand die Syrer und die Griechen betrügerisch, die Araber und die Juden stinkend und abergläubisch, die Perser verrückt. Nie wird sie das Gewelsch dieser Barbaren, das hurtige Gelispel der Syrer, das gaumig gutturale Gelalle der Araber erlernen, nie sich an diese ganze barbarische Umwelt gewöhnen, an die Farbigen, die heiligen Fische, den Altar der Tarate und seine unanständigen Symbole, nie an die Affen und an die Kamele, nie an die Steppe, die sich unheimlich im Süden dehnt.
Terenz hingegen schien sich im Osten schnell und gut einzuleben. Um das Geschäft kümmerte er sich noch weniger als in Rom, das besorgten Caja und der Leibeigene Knops. Er selber ging bedeutend und geheimnisvoll herum, organisierte die Veranstaltungen der Zunft, hielt politische Reden. Man legte hier wenig Gewicht auf seine unsichere Aussprache des Buchstabens Th, er hatte ein dankbares, aufmerksames Publikum. Zwar schimpfte er vor Caja gern über den verfluchten Osten, aber wenn sie sah, wie er stattlich durch die hügeligen Straßen von Edessa schritt, von vielen Leuten begrüßt, dann hatte sie trotz seines hochmütig unbefriedigten Aussehens den Eindruck, er fühle sich wohl wie ein Fisch im Heiligen Teich der Göttin Tarate, und sie vergaß über seinem Wohlbefinden das Unbehagen, das der Osten ihr selber verursachte.
Es stak aber hinter seinem mürrischen Wesen mehr echter Verdruß, als sie ahnte. Terenz fühlte sich alt werden, ohne daß seine großen Gaben nach Verdienst gewürdigt worden wären. Was war das schon, hier unter den Barbaren vor ein paar schmutzigen, ungebildeten Handwerkern der große Mann zu sein? Ach, seine Blütezeit war damals in Rom gewesen. Mit heißer Sehnsucht dachte er zurück an die Stunden auf dem Palatin. Vor allem ein Erlebnis aus jener Zeit verklärte sich ihm immer mehr. Eines Tages nämlich hatte sich Nero den Spaß gemacht, an seiner Statt den Töpfer Terenz eine Botschaft an den Senat verlesen zu lassen. Da war also dieser Töpfer Terenz vor den »Berufenen Vätern« gestanden im kaiserlichen Purpur und hatte den Lautlosen, in Demut und Unterwerfung Erstarrten die kaiserliche Botschaft verkündet. Jetzt in Edessa schien ihm sein damaliges Auftreten vor dem Senat die Krönung seines Lebens. Er vergaß, daß er, zuerst wenigstens, jämmerliche Angst gehabt hatte, weiche Knie, hohlen Magen und Bauchgrimmen. Er wußte nur mehr, wie im Verlauf der Rede immer stärkere Zuversicht in ihm hochgestiegen war. Er sah vor sich die ehrfurchtsvollen Gesichter der Senatoren, alle hatten sie ihn für den wahren Nero genommen, und mit Recht: er war wirklich Nero gewesen.
Es war ihm schwergefallen, das ungeheure Erlebnis für sich allein zu bewahren, aber er hatte sich überwunden, er hatte es nicht einmal Caja anvertraut. Nicht nur deshalb, weil solche Redseligkeit den Tod hätte zur Folge haben können, sondern vor allem, weil er fürchtete, die große Stunde könnte, wenn er einem so banalen Menschen wie seiner Frau davon mitteilte, ihren Glanz verlieren und besudelt werden. Caja hätte sicher in seinem Erlebnis nichts anderes erblickt als einen frechen Spaß, den der Kaiser sich mit seinem Senat erlaubte, und die Gefahr für ihn, das armselige Werkzeug dieses Spaßes. Sie hätte nur den Affen des Nero in ihm gesehen und niemals begriffen, daß in dieser Stunde vor dem Senat er der wirkliche Nero gewesen war. Er gab also der Lockung nicht nach, er erzählte Caja nichts, er schwieg standhaft.
Auch in Edessa schwieg er. Manchmal aber bedrängte ihn die Sehnsucht nach dem Verlorenen allzu schmerzlich. Dann zog es ihn in die Einsamkeit, und er spielte sich selber sein Auftreten vor dem Senat noch einmal vor. Am meisten liebte er das Labyrinth, jene gewaltige Grotte im Fels am Ufer des Skirtos mit den zahllosen verschlungenen Gängen, mit dem Wirrsal von Treppen, Stollen und Kammern. Dreitausend solcher Kammern, sagte man, zähle das Labyrinth, und in seiner letzten, heimlichsten habe in der Urzeit der mißgestaltete Sohn des Stiergottes Labyr gehaust, halb Gott, halb Stier auch er, sich nährend von den Knaben und Mädchen, die er dem Volk abzwang. Später hatten die gewaltigen Gewölbe den alten Königen als Grabstätte gedient, und ihre Schatten hausten noch dort. Geheimnis und Schauer war um das Labyrinth, und wer sich unvorsichtig, ohne sein verwickeltes System zu kennen, zu tief hineinwagte, mochte wohl wirklich nicht mehr herausfinden und dort umkommen. Terenz liebte den Ort, er stieg immer tiefer hinab, es wehte Größe und Geheimnis in dieser Tiefe, und allmählich fand er sich in der Wirrnis besser zurecht als die meisten andern. Hier, wo die Schatten der alten, großen Könige umgingen, wagte er es, wieder Nero zu sein, hielt Reden an einen unsichtbaren Senat, und wenn seine Worte dumpf und hohl zurückkamen, spürte er die Nähe der Götter.
Einmal hatten spielende Knaben sich weiter als sonst in die Höhle vorgewagt. Sie hörten die dumpfe Stimme tief aus dem Innern und flohen entsetzt zurück. Am Eingang warteten sie voll Furcht und Spannung. Aber als sie den Töpfer Terenz aus der Höhle kommen sahen, löste sich ihre ängstliche Erwartung in Gelächter, sie machten ihn nach, seine großspurige Haltung, seinen majestätischen Gang, liefen ihm voran, verspotteten ihn mit künstlich tiefen Stimmen. Da packten den Terenz Scham, Ekel und das Gefühl der Leere und Aussichtslosigkeit seines jetzigen Lebens derart, daß er am liebsten in die Höhle zurückgeflohen und dort gestorben wäre.
Diese Erfahrung hinter sich, beschloß er, den Palatin für immer zu vergessen. Er lernte mit doppelter Beflissenheit Klassiker auswendig, betrieb mit verbissener Energie die Geschäfte der Zunft und brachte es so weit, daß die Erinnerung an Rom nur selten mehr in ihm hochstieg.
Ende April, bei seiner üblichen Inspektionsreise, sagte sich Gouverneur Cejon in Edessa an, um die römische Garnison zu besichtigen, die die Stadt gemäß ihrem »Freundschaftsvertrag« mit dem römischen Kaiser hatte aufnehmen müssen.
Cejons Ansichten über den Osten hatten sich in der kurzen Zeit seiner Amtsführung noch versteift. Mit diesem Osten, hatte man ihm gesagt, könne man nicht fertig werden, wenn man auf die traditionelle Art hart und römisch vorgehe; durch seine Weichheit und aalige Glätte entziehe sich das Land jedem Zugriff. Es stimmte, daß gute Römer, Pompejus, Crassus und mancher andere, sich an diesem weichen Osten die Zähne ausgebissen hatten. Aber wenn damals jene Methoden zu direkt gewesen waren, heute, die befriedete Provinz Syrien und sieben Legionen im Rücken, durfte man es sich leisten, dem verdammten orientalischen Pack die römische Faust zu zeigen. »Ich bin neugierig, mein Cejon«, hatte bei der Abschiedsaudienz auf dem Palatin, skeptisch lächelnd, Kaiser Titus zu ihm gesagt, »wie jetzt Sie mit unserm lieben Osten fertig werden.« Cejon straffte sich. Beim Jupiter, Majestät: Cejon wird fertig werden.
Die Stadt Edessa empfing den Stellvertreter des Kaisers korrekt und ehrerbietig. König Mallukh sandte Geschenke, Teppiche, Perlen, erlesene männliche und weibliche Leibeigene. Klein, aufrecht, nahm Cejon die Höflichkeitsbezeigungen der Behörden entgegen. In seinem harten Griechisch knarrte er die vorgeschriebenen höflichen Antworten.