Einen derartigen Auftrag hatte er noch nie: Detektiv Wilsberg soll herausfinden, warum die Studentin Corinna Selbstmord begangen hat. Haben tatsächlich Außerirdische sie in den Tod getrieben?
Währenddessen spürt Wilsbergs Partner Koslowski dem betrügerischen Kompagnon des Bauunternehmers Disselbeck nach - und wird bei einem Einsatz ermordet ...
Jürgen Kehrer
Irgendwo da draußen
Kriminalroman
© 2013 by GRAFIT Verlag GmbH
Nach den Regeln der neuen deutschen Rechtschreibung korrigierte Fassung des Kriminalromans
Jürgen Kehrer: Irgendwo da draußen
© 1998 by GRAFIT Verlag GmbH
Chemnitzer Str. 31, D-44139 Dortmund
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Umschlaggestaltung: Peter Bucker
eISBN 978-3-89425-894-8
Jürgen Kehrer, geboren 1956 in Essen, lebt in Münster. Er ist der geistige Vater des Buch- und Fernsehdetektivs Georg Wilsberg. Neben bisher achtzehn Wilsberg-Krimis (zuletzt zus. mit Petra Würth: Todeszauber), verfasste er mehrere Wilsberg-Drehbücher, veröffentlichte historische Kriminalromane, Sachbücher zu realen Verbrechen, den Thriller Fürchte dich nicht! sowie zahlreiche Kurzgeschichten mit und ohne Wilsberg, von denen viele in Wilsbergs Welt nachzulesen sind.
www.juergen-kehrer.de
Ich tötete ihn, weil er aus Vinaróz stammte.
(Max Aub)
Dies ist ein Roman. Sollten Sie in der Handlung und den Figuren Bezüge zu tatsächlichen Geschehnissen und real existierenden Personen erkennen, ist das Ihr Problem.
Es war an einem Montagmorgen im Oktober, als eine Frau am Telefon fragte: »Was kostet bei Ihnen die Untersuchung eines Todesfalles?«
Ich spielte gerade Solitär am Computer, die Karten lagen günstig, ich hätte zweifellos eine gute Zeit geschafft. Aber das Geschäft ging vor. »Kommt darauf an.«
»Worauf?«
»Ob es sich um Mord, Selbstmord, Unfall oder Krankheit handelt. Fast noch wichtiger als die Todesart sind jedoch der Ort und die näheren Umstände. Nehmen wir mal an, die Person, um die es geht, ist in Südamerika verschollen. Dann wird die Untersuchung enorm teuer, allein wegen der Reisekosten.«
»Nein, nein«, sagte die Frau schnell. Ihre Stimme klang kühl und beherrscht. »Die Person ist in Münster verstorben. Deshalb rufe ich ja Ihr Unternehmen an. Und es war Selbstmord.«
»Daran besteht kein Zweifel?«
»Nein, leider nicht. Sie hat sich mit Tabletten umgebracht. Es gab Andeutungen, und sie hat einen Abschiedsbrief hinterlassen.«
»Was, wenn ich fragen darf, wollen Sie denn dann untersuchen lassen?«
Sie zögerte einen Moment. »Das möchte ich nicht am Telefon erörtern.«
Ich sagte, ich sei zu einem persönlichen Gespräch bereit, blätterte eine Weile in meinem fast leeren Kalender, um ihr dann die freudige Mitteilung zu machen, dass ich in einer Stunde noch einen Termin frei hätte. Und im Anschluss an das Gespräch, nach Kenntnis aller Fakten und so weiter, würde ich ihr einen Kostenvoranschlag unterbreiten.
Sie dachte über meinen Vorschlag nach. Ich war sicher, dass ich den Auftrag an Land ziehen würde, wenn sie erst einmal ihre Geschichte erzählt hatte. Notfalls konnte ich immer noch mit Preisnachlässen arbeiten.
»Nun gut, ich komme.«
»Wissen Sie, wo Sie uns finden?«
»Ja, kein Problem, ich kenne mich in Münster aus.«
»Sehr schön. Ach, ich habe am Anfang Ihren Namen nicht verstanden.«
»Ich habe gar keinen Namen genannt.«
Ich wartete.
»Katja Lahrmann-Tiemen, mit Bindestrich.«
»Ich erwarte Sie, Frau Lahrmann-Tiemen.«
»Hast du den Fisch an der Angel?«, fragte Koslowski, nachdem ich aufgelegt hatte.
»So gut wie.« Ich grinste meinen Partner an. Unsere Schreibtische standen sich gegenüber, sodass wir uns ohne langen Dienstweg unterhalten konnten. »Frau Lahrmann-Tiemen möchte wissen, wie es zu einem Selbstmord gekommen ist.«
»Wer ist tot?«
»Hat sie nicht gesagt. Ich nehme an, ein Verwandter.«
Koslowski nickte. »Ein bisschen schmutzige Wäsche waschen, wie?«
»Darauf läuft es wohl hinaus.« Ich klickte im Solitär-Menü auf Karten geben. Der Computer war vergrätzt, dass ich so viel Zeit vertrödelt hatte, und prompt schaffte ich es bei den nächsten drei Spielen nicht, die elektronische Patience aufzulösen. Anschließend erreichte ich als beste Zeit 122 Sekunden. Franka kam locker auf Zeiten unter 100 Sekunden, aber das war die Gnade der Jugend.
Nachdem ich genug gespielt hatte, steckte ich mir einen Zigarillo in den Mund und schaute paffend aus dem Fenster.
Die Bäume unten auf der Straße färbten sich in allen Schattierungen zwischen Gelb und Dunkelrot. Ich mochte den Herbst, solange er nicht feucht und kalt war und von den Bäumen nur traurige Skelette übrig ließ. Auch meiner Haut ging es in dieser Zwischenzeit am besten. Sie konnte weder die stechende Sommersonne leiden noch die trockene Heizungsluft im Winter. Im Herbst gab sie sich friedlich und mit einem Minimum an Juckreiz. Eigentlich war der Herbst die ideale Jahreszeit, wenn nicht der Vorgeschmack auf trostlose Wintermonate in der Luft liegen würde. Und wer bis zum Herbst niemanden gefunden hat, der bleibt lange Zeit allein, wie ein deutscher Dichterfürst so oder ähnlich gedichtet hatte.
Koslowski hatte sich wieder in den Haufen Papiere vertieft, der vor ihm auf dem Tisch lag. Er arbeitete an dem größten und zurzeit einzigen Fall, der das Detektivbüro Wilsberg & Partner beschäftigte. Ein Bauunternehmer glaubte, dass er von seinem Kompagnon betrogen wurde. Es ging um Subunternehmen, Leiharbeiter und einige andere unerfreuliche Aspekte des internationalen Kapitalismus. Nach den ersten gemeinsamen Besprechungen hatte ich meinem Partner das Feld überlassen. Koslowski kam mit Bauarbeitern besser klar als ich. Mithilfe von Alkohol und Gesprächen an der untersten Stammtischkante holte er aus ihnen Informationen heraus, die sie einem ehemaligen Akademiker wie mir nie auf die Nase binden würden. Und es machte ihm auch noch Spaß.
Andererseits war ein Erfolg auch dringend notwendig. Denn abgesehen von ein paar kleineren Routineaufträgen, verlief die Geschäftsentwicklung schleppend. Vor gut zwei Monaten hatten Koslowski und ich bei Security Check gekündigt und uns selbstständig gemacht. Hubert Disselbeck, der Bauunternehmer, war unsere große Chance. Sollten wir den Job zu seiner Zufriedenheit abwickeln, würde sich das in seiner Branche herumsprechen. Wenn nicht, blieb uns nur der Trost, dass unsere Fixkosten relativ gering waren.
Die Detektei Wilsberg & Partner residierte nämlich in meiner Vierzimmerwohnung im münsterschen Kreuzviertel. Ich hatte nicht einmal meinen Untermieter Jan vor die Tür setzen müssen, da er sein Betriebswirtschaftsstudium im Sommer erfolgreich beendet hatte. So konnten die wenigen, gleichwohl erforderlichen innenarchitektonischen Maßnahmen sozialverträglich durchgeführt werden. Aus den beiden vorderen Zimmern der Wohnung, die wir durch eine Holzwand im Flur vom hinteren Teil, meinen Privaträumen, abtrennten, machten wir ein Büro und ein Besprechungszimmer, ausgestattet mit zweckmäßigen und schlichten Möbeln. Nicht gerade Sperrmüll, aber nur zwei Preisklassen darüber.
Natürlich hätte ich gern ein Nobelbüro in bester Lage und eine Sekretärin gehabt. Doch die mussten auf bessere Zeiten warten. Vorläufig genügte ein Anrufbeantworter. Außerdem verbrachte ich sowieso die meiste Zeit im Büro. Was sich jetzt hoffentlich ändern würde. Dank Katja Lahrmann-Tiemen, mit Bindestrich.
Als ich sie sah, schraubte ich den virtuellen Kostenvoranschlag sofort um einen vierstelligen Betrag nach oben. Die Perlenkette und das elegante, dunkelblaue Outfit drückten aus, dass Geld nicht zu ihren vorrangigen Problemen zählte.
Unter der Verkleidung steckte eine Frau von Mitte dreißig, mit gefärbter, hellblonder Pagenfrisur und scharfen Gesichtszügen, die Wachsamkeit verrieten. Keine Spinnerin, wie ich befürchtet hatte, sondern ein Typ aus der Abteilung coole Geschäftsfrau.
Ich lotste sie in das Besprechungszimmer und bot ihr einen Kaffee an.
»Nein, danke, ich habe einen nervösen Magen.«
»Etwas anderes vielleicht?«
»Haben Sie Koffeinfreien?«
»So etwas führen wir leider nicht.«
»Dann lieber gar nichts.« Sie musterte skeptisch die Einrichtung.
Ich lächelte. »Es ist noch etwas provisorisch. Wir haben die Räumlichkeiten erst vor zwei Monaten bezogen.«
»Ach, Sie sind neu im Geschäft?« Sie hielt ihre Handtasche fest umklammert, bereit, jederzeit den Rückzug anzutreten.
»Nein, im Gegenteil«, bemühte ich mich, ihr Misstrauen zu zerstreuen. »Mein Partner und ich sind seit Jahren, was sage ich, seit Jahrzehnten im Detektivgewerbe tätig. Zuletzt haben wir bei einem großen Sicherheitsunternehmen gearbeitet. Sie haben es, in aller Bescheidenheit, mit erfahrenen Männern zu tun.«
Sie blieb spröde. »Und jetzt haben Sie sich selbstständig gemacht?«
»Ja. Eine neue Herausforderung. Was ist tödlicher als die tägliche Routine?«
Sie schaute mich direkt an. »Verstehen Sie mich richtig: Ich brauche jemanden, der umsichtig vorgeht. In dieser Geschichte ist vielen Menschen Leid zugefügt worden. Ich möchte nicht, dass noch mehr Gefühle verletzt werden.«
»Ich verstehe«, antwortete ich ernst.
Wir schwiegen. Offensichtlich rang sie noch immer mit ihrer Entscheidung.
»Sie sprachen von einem Todesfall«, begann ich vorsichtig. »Wer ist gestorben?«
Sie seufzte. »Meine Schwester. Meine kleine Schwester Corinna. Das heißt, so klein war sie nicht mehr. Sie ist neunundzwanzig Jahre alt geworden, stand kurz vor dem Abschluss ihrer Promotion.«
»Und wann …«
»Vor sechs Wochen.«
Erneute Pause.
Ich ergriff die Initiative: »Warum hat sie sich umgebracht? Prüfungsstress? Liebeskummer?«
»Nein.«
Katja Lahrmann-Tiemens Augen irrten durch den Raum, bis sie an dem gerahmten Druck eines impressionistischen Gemäldes hängen blieben. Aus dem Katalog Moderne Bürogestaltung. »Sie glaubte, dass sie von Außerirdischen entführt wird.«
»Außerirdische?« Ich setzte mich aufrechter hin. In meiner langen Berufslaufbahn war mir schon einiges untergekommen. Entführungen durch Außerirdische zählten nicht dazu.
»Sie halten das für verrückt, nicht wahr? Ich war der gleichen Meinung. Wir alle, meine Eltern, mein Mann und ich, haben versucht, ihr die Geschichte auszureden. Vielleicht war das ein Fehler. Vielleicht hätten wir Corinna ernster nehmen sollen.«
Ich räusperte mich. »Wie oft kamen die Entführungen vor?«
»Das weiß ich nicht. Zum ersten Mal will Corinna entführt worden sein, als sie acht oder neun war. Damals hat sie uns nichts davon erzählt. Die Außerirdischen wandten eine Methode an, um die Erinnerung auszulöschen. Dann passierte lange Zeit nichts. Erst vor etwa einem Jahr setzten die Entführungen wieder ein. Seitdem allerdings regelmäßig. Manchmal kamen die Außerirdischen alle paar Wochen, unter Umständen sogar an mehreren Nächten hintereinander.«
»Und wie genau, äh, liefen die Entführungen ab?«
»Sie konnten überall stattfinden, im Auto, im Supermarkt, meistens jedoch, wenn Corinna im Bett lag, abends oder nachts. Sie sah ein Licht, das durchs Fenster kam, und dann spürte sie, dass sich jemand im Raum befand. Sie redete von kleinen grauen Wesen, die sie beruhigten und ihr sagten, dass alles in Ordnung sei.«
»Die Wesen sprachen deutsch?«
»Es funktionierte telepathisch, Corinna hörte Stimmen in ihrem Kopf. Sie wollte nicht mitkommen, zumindest später nicht, als sie wusste, was passieren würde. Sie versuchte, sich zu wehren, sträubte sich gegen die Entführung, doch die kleinen grauen Wesen duldeten keinen Widerstand. Sie lähmten sie in gewisser Weise, ohne sie zu betäuben. Corinna bekam mit, wie sich ihr Körper vom Bett erhob und durchs Zimmer schwebte. In diesem Zustand konnte sie durch geschlossene Fenster oder Wände fliegen. Corinna erzählte, dass sie ihr Haus von oben gesehen habe, ja, die ganze Stadt. Die Wesen brachten sie zu einem Raumschiff, wo verschiedene Untersuchungen und Experimente durchgeführt wurden. Nach diesen Prozeduren, die mehrere Stunden dauern konnten, haben die Außerirdischen meine Schwester wieder in ihrem Bett abgesetzt.«
Ich war sprachlos. Die Geschichte klang so verrückt, dass ich nicht wusste, wie ich mit ihr umgehen sollte. Mit Dieben, Betrügern und Mördern kannte ich mich aus. Aber wie verhielt sich ein professioneller Geisterjäger?
»Glauben Sie nicht, dass Corinna das alles nur geträumt hat, dass sie von Halluzinationen geplagt wurde?«
»Dass sie psychisch krank war?«, führte Katja Lahrmann-Tiemen meinen Gedanken brutal zu Ende. »Ja, selbstverständlich habe ich das gedacht. Und ich habe ihr geraten, sich um Hilfe zu bemühen, zu einem Psychiater oder Psychotherapeuten zu gehen. Das hat sie auch getan. Nur – man konnte nichts feststellen. Corinna war definitiv nicht geisteskrank. Sie war eine fleißige Studentin, bis zu ihrem Tod hat sie zielstrebig an ihrer Doktorarbeit geschrieben. Auch in anderen Dingen des täglichen Lebens hat sie umsichtig und kompetent gehandelt. Keinesfalls machte sie den Eindruck einer psychisch labilen oder geistig verwirrten Persönlichkeit. Das ist ja das Seltsame.«
»Merkwürdig«, murmelte ich.
»Nicht wahr«, bestätigte Lahrmann-Tiemen.
»Sind die Entführungen niemandem aufgefallen? Ich meine, wenn Ihre Schwester aus dem Supermarkt schwebte, muss das doch für einigen Wirbel gesorgt haben.«
Meine Besucherin schüttelte den Kopf. »Die Außerirdischen vermeiden jedes Aufsehen. Sie wollen nicht entdeckt werden. Fragen Sie mich nicht, warum! Wenn das Entführungsopfer mit anderen Menschen zusammen ist, benutzen die Außerirdischen eine Technik, die meine Schwester Ausschalten nannte. Das heißt, die Augenzeugen werden in eine Art Trance versetzt und können sich später an nichts erinnern. Um Ihnen ein Beispiel zu geben: Corinna erzählte von einer Autofahrt, die sie mit drei Kommilitonen gemacht hatte. Plötzlich, ohne erfindlichen Grund, lenkte der Fahrer das Auto an den Straßenrand. Und dann sah meine Schwester auch schon dieses Licht auf sie zukommen. Während der ganzen Phase, die der Entführung vorausging, konnte sie ihre Mitfahrer beobachten. Sie saßen mit offenen Augen, aber anscheinend ohne etwas zu bemerken, neben ihr. Als Corinna wieder zu sich kam, waren zwei Stunden vergangen. Die drei anderen fühlten sich benommen und waren fest davon überzeugt, eine längere Pause gemacht zu haben.«
»Verstehe«, sagte ich.
Sie guckte mich wütend an. »Heucheln Sie kein Verständnis! Ich erwarte nicht, dass Sie das glauben, was ich Ihnen erzähle. Ich glaube es ja selbst nicht. Ich gebe nur wieder, was meine Schwester mir berichtet hat. Sie hat versucht, mich davon zu überzeugen, dass das alles wahr ist, und ich habe abgeblockt. Unsere Beziehung hat darüber einen Bruch bekommen, Corinna hat sich von mir zurückgezogen. Das ist einer der Punkte, die ich mir heute vorwerfe: Ich hätte sie ernster nehmen müssen.«
Ich verlagerte mein Körpergewicht auf dem harten Holzsessel. Auf Dauer waren diese Stühle zweifellos unbequem. Ganz oben auf der Anschaffungsliste notierte ich gedanklich ein paar Sitzkissen.
»Mir ist noch nicht ganz klar, worin Sie die Aufgabe unseres Detektivbüros sehen.« Wollte die Frau ernsthaft, dass wir auf die Suche nach Außerirdischen gingen? Andererseits: Wenn sie dafür bezahlte, würde ich mich auch nach UFOs umschauen. Es gab Schlimmeres.
»Sie sollen keine UFOs jagen«, sagte sie, als hätte sie meine Gedanken erraten. »Meine Schwester ist tot. Ich möchte die Ursache erfahren. Das bin ich ihr schuldig.«
Ich suchte krampfhaft nach einem Ansatzpunkt. »Hatte sie Angst vor den Entführungen? Waren sie unangenehm, schmerzhaft?«
»Genau das«, antwortete Lahrmann-Tiemen. »Corinna hatte entsetzliche Angst vor den Entführungen. Die Außerirdischen führten Untersuchungen an ihr durch. Sie tasteten sie ab, machten Experimente mit ihr, unter anderem auch sexuelle. Das war so grausam und ekelhaft, dass ich es hier nicht wiederholen möchte. Und hinterher fühlte sich Corinna zerschlagen, verletzt, auf eine gewisse Weise vergewaltigt. Sie versuchte alles, um die Entführungen zu vermeiden. Sie ließ nachts das Licht an, schlief neben dem Bett, versteckte sich bei Freunden. Es half nichts. Die Außerirdischen fanden sie überall.«
Ich holte Luft. »Reicht Ihnen das als Erklärung nicht aus? Solche Erfahrungen, egal, ob eingebildet oder nicht, dürften genügen, um jemanden in den Wahnsinn zu treiben, oder eben …«
»Wenn es mir genügen würde, wäre ich nicht hier«, schnappte sie. »Aber, bitte! Ich kann auch zu einer anderen Detektei gehen.«
»So habe ich das nicht gemeint«, beeilte ich mich zu versichern. »Ich wollte ausdrücken, ich brauche, äh, mehr Anhaltspunkte, um …«
»Ich will wissen«, unterbrach sie mein Gestammel, »ob andere zu ihrem Tod beigetragen haben. Zum Beispiel ihr Freund …«
Ich horchte auf. »Sie hatte einen Freund?«
»Ja. Was ist daran ungewöhnlich?«
»Nichts. Ist er auch entführt worden?«
»Nein, aber er hat sie bestimmt nicht von ihrem Glauben abgebracht. Er ist nämlich Ufologe, Mitglied in einem Klub, in dem sie Berichte über Sichtungen von UFOs austauschen. Fotos, auf denen ein paar helle Punkte zu erkennen sind, die fliegende Untertassen darstellen sollen.«
»Roswell«, warf ich ein, um meine Kompetenz zu beweisen.
»Das ergänzt sich doch großartig, nicht wahr? Er schwärmt davon, dass uns Abgesandte anderer Welten besuchen, sie, ich meine Corinna, geht noch einen Schritt weiter. Ich konnte ihn von Anfang an nicht leiden, meine Schwester hätte etwas Besseres verdient gehabt, er ist so ein …« Sie suchte nach dem richtigen Ausdruck und fand keinen. »Und dann war da noch diese Gruppe.«
»Welche Gruppe?«
»Ich habe sie scherzhaft Anonyme Entführte genannt. Hauptsächlich Frauen, die alle mehrmals an Bord von Raumschiffen gewesen sein wollen. Das Komische – ich zitiere wieder meine Schwester – war, dass sie ähnliche Erfahrungen gemacht hatten. Das hat sie natürlich in der Überzeugung bestärkt, keinen Hirngespinsten aufzusitzen. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Einerseits tat es Corinna gut, mit Gleichgesinnten zu reden, andererseits bekamen die Entführungsgeschichten einen immer realeren Charakter.«
»Haben Sie Namen?«, fragte ich. »Ich würde mich gern mit einigen dieser Entführten unterhalten.«
»Wie gesagt, man bleibt anonym. Aus verständlichen Gründen. Das sind keine Teenies, die auf Friedhöfe schleichen und satanistische Messen feiern, sondern Leute, die im Beruf stehen, Beamte, Lehrerinnen. Da möchte man nicht, dass solche Geschichten publik werden. Es könnte den Job kosten.«
»Und wie haben sie sich gefunden?«
»Keine Ahnung. Fragen Sie Peter! Peter Hofknecht, das ist, war der Freund meiner Schwester.«
Ich dachte nach. »Sie haben erwähnt, dass die Außerirdischen eine Technik beherrschen, mit der sie die Erinnerung an die Entführung auslöschen können.«
»Richtig. Sie produzieren Tarnerinnerungen. So nannte das meine Schwester.«
»Wie hat es Corinna geschafft, diese Barriere zu durchbrechen? Sie kannte Details ihrer Aufenthalte in den Raumschiffen. Und die anderen Entführten, die sich in der Gruppe getroffen haben, offensichtlich auch.«
Katja Lahrmann-Tiemen beugte sich ein wenig vor. »Finden Sie es heraus! Es hat mit Hypnose zu tun, so viel habe ich aus Corinna herausbekommen. Unter Hypnose können die Erinnerungen wiedergewonnen werden. Aber wer sie hypnotisiert hat, das entzieht sich meiner Kenntnis.«
»Glauben Sie …« Ich wagte es nicht, den Satz zu Ende zu sprechen.
»Was?«
»Können Sie sich vorstellen, dass der Hypnotiseur Corinna die Entführungen eingeredet hat?«
Ihre Gesichtszüge verhärteten sich. »Der Gedanke ist mir gekommen, das gebe ich zu. Und wenn es so ist, dann muss diese Person zur Rechenschaft gezogen werden.«
Ich nickte. »Der Auftrag wird mir immer klarer. Ich denke, wir können für Sie tätig werden, Frau Lahrmann-Tiemen.«
»Schön.« Sie entspannte sich etwas. »Jetzt hätte ich doch gern ein Glas Wasser.«
Ich holte ihr ein Glas Mineralwasser aus der Küche.
»Ein paar Fragen muss ich Ihnen noch stellen, um mir ein Bild von Ihrer Schwester machen zu können.«
»Bitte!«
»Wie würden Sie sie charakterisieren?«
»Sie war …« Lahrmann-Tiemen griff sich an die Stirn. »Es ist schwierig, gegenüber der eigenen Schwester objektiv zu sein. Sie war ein ernster Mensch, ja, schon als Kind war sie oft in sich gekehrt und verschlossen.«
»Depressiv?«
»Nein. Sie konnte auch auftauen und richtig lustig sein. Allerdings kam das recht selten vor.«
»Hatte sie ernsthafte Krankheiten?«
»Nicht, dass ich wüsste. In der Pubertät gab es ein paar Probleme, sie neigte zeitweise zur Magersucht. Aber das ist sicher nichts Ungewöhnliches für Mädchen oder junge Frauen in diesem Alter.«
»Gibt es andere Geschwister?«
»Wir waren zu zweit. Und wir lebten in einem gut behüteten Elternhaus. Mein Vater hatte eine leitende Position in einem Versicherungsunternehmen, er ist inzwischen pensioniert. Unsere Mutter war immer für uns da. Im Prinzip haben wir alles bekommen, was wir wollten. Vater hat unsere Studien finanziert. Und selbst wenn Corinna materielle Schwierigkeiten gehabt hätte – sie wusste, dass sie sich jederzeit an mich wenden konnte, mein Mann besitzt eine größere Werbeagentur in Bremen.«
Beruhigend zu wissen, dachte ich. »Stammen Sie aus Münster?«
»Nein. Wir haben in Steinfurt gelebt, genauer gesagt in Schöppingen, das ist ein kleines Dorf in der Nähe von Burgsteinfurt. Meine Eltern leben noch heute dort. Vater ist jeden Morgen nach Münster zur Arbeit gefahren. Corinna und ich sind in Steinfurt aufs Gymnasium gegangen. Da stank es morgens in der Klasse manchmal ganz schön nach Kuhstall.« Katja Lahrmann-Tiemen lächelte zum ersten Mal. »Es war ziemlich ländlich, damals.«
Ich notierte einige Namen und Telefonnummern und klappte dann mein Notizbuch zu. »Um auf Ihre Eingangsfrage zurückzukommen …«
Sie runzelte die Stirn. »Welche Eingangsfrage?«
»Wie viel bei uns eine Todesfalluntersuchung kostet.«
»Ach so.« Sie grinste spöttisch. »Ich wusste nicht, wie ich anfangen sollte.«
»Nun, ich würde Ihnen das Fünf-Tage-Paket vorschlagen. Das heißt, wir checken fünf Tage lang alle infrage kommenden Personen, den Tathergang und so weiter ab. Anschließend erhalten Sie einen ausführlichen Bericht. Dann können Sie entscheiden, ob Sie mit dem Ergebnis zufrieden sind oder ob Sie weitere Untersuchungen wünschen. Der Tagessatz beträgt vierhundert Mark, Spesen und außergewöhnliche Aufwendungen gehen extra. Eine Anzahlung von fünfhundert Mark ist im Voraus zu leisten.«
Sie zückte widerspruchslos ihr Scheckbuch.
»Und?«, fragte Koslowski, als ich das Büro betrat.
»Ich habe ihr das Fünf-Tage-Paket verkauft.«
»Welches Fünf-Tage-Paket?«
»Fünf Tage à vierhundert Mark. Klingt wie ein Sonderangebot, stimmt’s? Ist mir eingefallen, als sie von der Werbeagentur ihres Mannes erzählte.«
Koslowski verzog anerkennend den Mund. »Nicht schlecht. Und wer ist tot?«
»Ihre Schwester. Hat sich umgebracht, weil sie ständig von Außerirdischen entführt wurde.«
»Im Ernst?«
»Ja. Es waren keine netten Außerirdischen, verstehst du, sondern so fiese, kleine, graue Männchen, die in ihren Raumschiffen unanständige Sachen mit ihr gemacht haben.«
»Und was willst du jetzt machen? Aliens jagen?« Seine Mundwinkel zuckten, dann prustete er los. Als er sich wieder beruhigt hatte, sagte er: »Hey, kauf dir doch so einen schicken Metallicanzug, wie ihn die Ghostbusters getragen haben. Und dann baust du eine Geisterfalle. Das möchte ich sehen, wie sich ein Außerirdischer darin verfängt.« Ein erneuter Lachanfall folgte.
Ich erzählte ihm die ganze Geschichte.
Am Ende stimmte er meiner Hypothese zu: »Okay, finde den Hypnotiseur und häng ihm die Sache an. Aber lass dir Zeit damit. Es reicht, wenn du ihn am fünften Tag aufs Kreuz legst.«
Da waren wir einer Meinung.
Als Nächstes brachte ich den Scheck zur Bank. Als ich zurückkam, raffte Koslowski gerade seine Unterlagen zusammen und wollte aufbrechen.
»Wie ist es eigentlich mit deinem Fall?«, fragte ich. »Bist du einen Schritt weitergekommen?«
»Ja, ich glaube, ich weiß jetzt, wie es funktioniert.«
»Erzähl!«, sagte ich und steckte mir einen Zigarillo an. »Schließlich muss ich auf dem Laufenden sein. Nur für den Fall, dass Disselbeck hier anruft.«
Er setzte sich wieder.
»Warte!«, sagte ich. »Ich muss mir erst einen Kaffee holen.«
»Bring mir einen mit!«, rief er mir nach.
Die Kaffeemaschine in der Küche war immer gut gefüllt. Das war eine der Grundvoraussetzungen detektivischen Arbeitens. Als nächste Anschaffung nach den Sitzkissen notierte ich mir eine original italienische Espressomaschine, mit heißer Luft zum Aufschäumen für die Milch. Bei den zweitausend Mark, die Katja Lahrmann-Tiemen einbrachte, musste das eigentlich drinsitzen.
»Igitt«, machte Koslowski, als er den Kaffee probierte, »der schmeckt ja wie eingeschlafene Füße.«
Ich ließ das Bild einer chromglänzenden Espressomaschine vor seinen Augen erscheinen.
»Ich hätte lieber ein bisschen Cash in der Tasche«, schmetterte er meinen Vorschlag ab.
Er war eben ein Mann ohne Visionen.
»Also«, begann er seine Erläuterungen, »das Bauunternehmen Disselbeck & Wallhorst arbeitet mit Subunternehmern zusammen, die wiederum ausländische Bauarbeiter rankarren, zum Beispiel Portugiesen, die für neun oder zehn Mark die Stunde arbeiten, während deutsche Bauarbeiter in die Röhre gucken. Soweit alles klar und Disselbeck bekannt. Ich hab mich nun auf etlichen Baustellen herumgetrieben und festgestellt, dass die Portugiesen oder Italiener nach und nach durch Männer ersetzt werden, die eindeutig osteuropäisch aussehen und reden, Polen, Ukrainer, was weiß ich, die mit fünf oder sechs Mark die Stunde abgespeist werden. Die sind teilweise nicht einmal ausgebildet, da wird Pfusch produziert, gelegentlich fällt eine Mauer zusammen oder Schlimmeres. Disselbeck ist auch schon einigen Subunternehmern auf die Schliche gekommen und hat sie vor die Tür gesetzt. Nur, und das ist das Merkwürdige, plötzlich tauchen diese Leute wieder an anderen Stellen auf, und zwar bei Subunternehmern, mit denen Disselbeck und Wallhorst seit Jahren zusammenarbeiten. Was meinst du, wie das kommt?«
Das war eine rhetorische Frage, und ich zollte Koslowski das gebührende Staunen.
»Ich habe meine Fühler zu einer Bank ausgestreckt, über die etliche Kontobewegungen laufen. Da sitzt eine alte Bekannte von mir, mit der hab ich … na ja, ist ja egal. Was ich sagen will, ist, ein Teil des Geldes, das die Subunternehmer von Disselbeck & Wallhorst kassieren, fließt an eine Firma namens Interwork Company in Brüssel. Ich schätze, von dort aus werden die Osteuropäer dirigiert.«
»Aber was haben die Subunternehmer davon? Immerhin riskieren sie, von Disselbeck keine Aufträge mehr zu kriegen.«
»Druck, so etwas funktioniert über Druck. Interwork Company wird ein paar erstklassige russische Mafiakiller auf der Lohnliste haben. Und im Vergleich zur russischen Mafia ist die sizilianische Mafia ein reiner Pfadfinderverein. Die sizilianischen Mafiosi küssen ihre Opfer oder lassen ihnen Warnungen zukommen. Solche Sentimentalitäten sind russischen Mafiakillern fremd.«